Vorsprung durch Lyrik? Kreatives Schreiben als vitales Element einer Lehrkunst zur Freiheit der Gesellschaft

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 567-583
                      © 2021 Matthias Fechner - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0053

                                           Matthias Fechner

            Vorsprung durch Lyrik?
 Kreatives Schreiben als vitales Element einer
    Lehrkunst zur Freiheit der Gesellschaft

1. Die Geschichte des Bildungswesens                              Johann Ignaz von Felbigers (1724-
   in Deutschland ist geprägt vom Wech-                           1788) an den Schulen Österreich-Un-
   selspiel zwischen Vereinheitlichung                            garns geschaffen. Dieses gewaltige
   und Individualisierung als Determinan-                         Werk wirkte als Bindemittel für die
   ten der Lehrkunst im Spannungsfeld                             Kohärenz der k.u.k. Monarchie, deren
   von Norm und Freiheit. Um die Be-                              Herrschaft auf eine nicht immer har-
   deutung des Kreativen Schreibens in                            monische Vielfalt von Ethnien und
   dieser Konstellation besser verstehen                          Sprachen in Mittelosteuropa gebaut
   zu können, wird zuerst ein Exkurs in                           war. Lehrkunst war hier nicht unbe-
   dessen Geschichte, oder vielmehr:                              dingt gefordert. Ähnliches vollzog sich
   Vorgeschichte unternommen. Die Aus-                            in den Bildungsreformen Preußens
   wirkungen uniformer Sprache, aber                              (1717 und 1807). Diese dienten vor
   auch entsprechende historische Wei-                            allem einer Wiederherstellung inter-
   chenstellungen, mit Folgen für Schule                          nationaler Konkurrenzfähigkeit, die
   und Universität (und damit auch für die                        sich damals in erster Linie militärisch
   Gesellschaft), werden in einführender                          manifestierte. Wilhelm von Humboldts
   Kürze rekapituliert. Ergänzt durch                             freiheitlicher Impuls der zweiten Re-
   einen Praxisbericht aus Seminaren                              formphase von 1807 – Trennung von
   zum Kreativen Schreiben von Lyrik,                             Staat und Hochschule – beschränk-
   die ich mit meiner Kollegin Petra von                          te sich weitgehend auf Universitä-
   der Lohe in den vergangenen Jahren                             ten und wurde durch die Karlsbader
   (2017-19) an der damaligen Cusanus                             Beschlüsse (1819) mit einer strikten
   Hochschule gegeben habe. Schließ-                              Zensur nachträglich geknebelt. Der
   lich versuche ich, den allgemeinen                             Philosoph Johann Friedrich Herbart
   Stand, die Chancen, vermeidbaren                               unterstützte Humboldt nicht nur bei
   Abwege und Wirkungen des Kreati-                               der Durchsetzung seiner Reformen.
   ven Schreibens im Hochschulbereich                             Ebenso entwarf der Kant-Nachfolger
   in Deutschland auszuloten.                                     einen Lehransatz, der von ihm und
2. Eine einheitliche Rechtschreibung,                             seinem Schüler Tuiskon Ziller im Laufe
   ein gemeinsamer Lehrplan und eine                              des 19. Jahrhunderts zu einem fester
   allgemeingültige Verwaltungsordnung                            gefügten System entwickelt wurde. Ei-
   wurden ab 1774 durch die Reformen                              nerseits kamen diese „Formalstufen“

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den Lehrenden entgegen, weil sie den                    waren sie auf Brotberufe (in Medizin
      Unterricht strukturierten, in ein hoch-                 und Rechtswissenschaft) vorbereitet
      differenziertes System einbetteten und                  worden. Ihre künstlerische Tätigkeit
      den Wissenserwerb effizienter gestal-                   entwickelte sich daneben mehr oder
      teten. Andererseits wurden der indi-                    weniger frei, erschien damit gerade-
      viduellen Kreativität und damit auch                    zu von Gott begnadet. Dieses litera-
      der Lehrkunst Grenzen gesetzt. Die                      rische Gottesgnadentum erstreckte
      Übernahme von Hegels dialektischer                      sich in Deutschland anfangs fast aus-
      Methode in den Aufbau des Deut-                         schließlich auf Männer aus Bürgertum
      schaufsatzes zeitigte eine ähnliche                     und Adel. Später wurde die zu Beginn
      Wirkung, wurde durch Struktur und                       eher männlich geprägte Literatur des
      argumentatives Abwägen doch we-                         19. Jahrhunderts von Bestsellerau-
      nigstens formal ein Eindruck von Ob-                    torinnen – beispielsweise Eugenie
      jektivität erweckt. Gleichzeitig stellte                Marlitt, Ottilie Wildermuth, Marie Nat-
      (und stellt) der simple Textaufbau eine                 husius – ergänzt, die in ihrer Literatur
      Einladung zum schematisierten Den-                      die Werte der gleichen, herrschenden
      ken dar, das Freiheitsimpulse sicher                    Gesellschaftsschichten        vertraten.
      nicht begünstigt(e). In der beginnen-                   Kleinbürger, Bauern, Arbeiter, Frauen
      den Industrialisierung konnte man dies                  derselben Stände verfügten dagegen
      jedoch volkswirtschaftlich nicht unbe-                  über keinerlei Möglichkeiten, aktiv und
      dingt als Nachteil werten. Staat und                    frei an literarischen Diskursen zu par-
      Wirtschaft expandierten. Dringend                       tizipieren. Falls ihre Lebensumstände
      wurden funktionierende Verwalter                        literarisch behandelt wurden, geschah
      und Arbeiter benötigt. Der pädagogi-                    dies – wie im Naturalismus – durch
      schen Freiheit der Lehrenden wurden                     wohlwollende Mediatoren aus dem
      im Bereich der Volksschule durch die                    Bürgertum. Auch die praxisbezoge-
      Stiehlschen Regulative (1854-72) kurz                   nen Bildungsreformen der 1890er
      darauf sogar noch engere Grenzen                        Jahre änderten an dieser Konstellation
      gesetzt. Belletristik wurde in diesem                   nichts. Im Gegenteil: Über Reform-
      Kontext lediglich rezeptiv, zur Heran-                  schulen (Hermann Lietz, Berthold
      bildung von Sekundärtugenden ver-                       Otto, Paul Geheeb u.v.m.) erschlos-
      wendet. Dabei spielten die Inhalte                      sen sie – auch und gerade unter fast
      eine Rolle, aber auch das möglichst                     programmatischem Einsatz der Lehr-
      fehlerfreie Schreiben von Diktaten                      kunst – Handwerk, Gewerbe und
      und nicht zuletzt das Auswendigler-                     Landwirtschaft pädagogisch für die
      nen von Gedichten, wie etwa Schil-                      gehobenen Stände. Die Mehrheit der
      lers Bürgschaft (1799) oder Fontanes                    Bevölkerung wurde dagegen weiter-
      John Maynard (1886). Indirekt sorgten                   hin auf den Besuch der Volksschule
      der Geniekult Kants und die Deutsche                    festgelegt. Und man konnte von Glück
      Romantik zudem dafür, dass dichte-                      sprechen, wenn die Schüler dort auf
      rische Autoritäten, als wichtige Ver-                   Lehrkünstler trafen – und nicht etwa
      mittler von Tugenden, nicht hinterfragt                 auf frustrierte Prügelpauker.
      werden konnten. Denn Goethe und                      3. Erst nach den mörderischen Verwer-
      Schiller, die nobilitierten Alphamänner                 fungen des 1. Weltkriegs und dem
      der deutschen Literatur, verdankten                     Zusammenbuch des Kaiserreichs im
      ihre künstlerischen Fähigkeiten keiner                  November 1918 ermöglichten es die
      profanen Ausbildung. In ihren Studien                   durch Kultuspolitiker der Weimarer

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Republik (Konrad Haenisch, Carl                              turbetrieb ausgeschlossen blieben.
     Heinrich Becker u.a.) angestoßenen                           Zudem verlieh eine literarische Ver-
     Reformen, den begabtesten jungen                             öffentlichung noch keine individuelle
     Männern der Arbeiterklasse und des                           Stimme. Politische und wirtschaftliche
     Kleinbürgertums, ihre Stimmen lite-                          Interessen sorgten nicht selten für die
     rarisch vernehmbar zu machen. Viele                          Begrenzung der auktorialen Artikulati-
     der damaligen Autoren versanken                              onsfähigkeit. Die Sozialfaschismusthe-
     zwar später in den Zeitläuften, aber                         se der KPD als ideologisch motivierte,
     einige – insbesondere Mitglieder des                         ferngesteuerte Attacke auf die Sozial-
     Bundes Proletarisch-Revolutionärer                           demokratie wäre nur ein Beispiel für
     Schriftsteller – nutzten die Aufforde-                       eine Manipulation des Denkens und
     rung, sich nun selbst literarisch zu arti-                   Handelns, die von der Literatur nicht
     kulieren, in ebenso konsequenter wie                         aufgelöst, sondern durch politische
     orthodoxer Weise, als Arbeiterkorres-                        Vorgaben an kommunistische Autoren
     pondenten, Redakteure, Romanauto-                            noch verstärkt wurde. Darüber hin-
     ren. Nach 1945 sollten dann solche,                          aus sorgten ausgeprägte Soziolekte
     ideologisch bewährten Autoren wie                            in breiten Kreisen der Gesellschaft
     Otto Gotsche, Hans Marchwitza oder                           für eine Festigung reaktionärer So-
     Willi Bredel nicht unbedeutende Auf-                         zialstrukturen. Siegfried Kracauer
     gaben in der Kulturpolitik der SBZ                           beschreibt in seiner Studie Die Ange-
     bzw. der DDR übernehmen. Und doch                            stellten die erstarrte Sprache junger,
     hinterlässt gerade diese emanzipa-                           kleinbürgerlicher Menschen, die noch
     torische Entwicklung in mehrfacher                           im freundschaftlichen Briefwechsel in
     Weise ein Unbehagen. Die Fähigkeit                           Floskeln aus der Berufswelt kommu-
     zur literarischen Artikulation fand we-                      nizieren.1 Die schon damals präzise
     niger in deutschen Volksschulen statt,                       analysierte Manipulation der öffentli-
     sondern war vielmehr durch Entwick-                          chen Meinung – beispielsweise durch
     lungen in der Sowjetunion inspiriert.                        Walter Lippmann – legt es nahe, dass
     Dort hatte Valeri Jakovlevich Brjussov                       die nicht immer bewusste Übernahme
     1921 ein Literaturinstitut gegründet,                        vorgefertigter Wendungen, Schlag-
     in dem ‚Proletarier‘ das literarische                        worte, Argumente sich lähmend auf
     Schreiben erlernen sollten. Nach                             individuelle Erkenntnisprozesse aus-
     einer zwischenzeitlichen Schließung                          wirkte. Es ist diskutierbar, ob diese
     (1929) veranlasste Maxim Gorki 1933                          Konstellation die Machtübernahme
     eine Neugründung, die noch heute am                          der Nationalsozialisten begünstigte.
     Tverskoi Boulevard in Moskau exis-                           Doch die destruktive Wirkung mani-
     tiert. Das visionäre Konzept aber – mit                      pulativer Parolen, insbesondere die
     Schwerpunkten auf der Forschung,                             eindimensionale Propaganda von
     der Ausbildung von Schriftstellern,                          Kommunisten und Nazis, wurde ver-
     Literaturkritikern und -wissenschaft-                        mutlich noch verstärkt: Durch eben
     lern – wurde sofort in den Dienst einer                      jene Unfähigkeit vieler Menschen, ei-
     totalitären Ideologie gestellt. Befremd-                     genständig zu denken und sich indi-
     lich erscheint im Rückblick auch, dass                       viduell zu artikulieren. Als Lehre aus
     bis auf wenige Ausnahmen (Marie-                             dieser Zeit gilt noch heute, dass eine
     luise Fleisser) vor allem Frauen, die                        Wiederholung autoritär gesetzter und
     nicht Bürgertum oder Adel entstamm-                          nicht hinterfragbarer Parolen, eine
     ten, vom deutschsprachigen Litera-                           Begrenzung der Sprache, damit des

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demokratischen Diskurses, den Weg                           mussten die Kritik der Tagungsteilneh-
   in eine Diktatur ebnen können.                              mer stumm über sich ergehen lassen.
4. Obwohl das Ende des 2. Weltkrie-                            Diese Form von Literaturkritik und Tex-
   ges in Deutschland bedeutende                               tentwicklung kann aus heutiger Sicht
   Chancen auf pädagogischem Gebiet                            kaum als künstlerisch, sondern eher
   eröffnete – erinnert sei nur an den vi-                     als autoritär eingeschätzt werden.
   sionären Bericht der amerikanischen                         Und doch diente sie dazu, den Autor
   Zook-Kommission und die reformpäd-                          vom Thron der Gottbegnadung auf
   agogischen Impulse in der SBZ – spiel-                      den einfachen Stuhl des schreibenden
   te das Kreative Schreiben dabei noch                        Menschen zu verweisen; was immer-
   immer keine größere Rolle. Individu-                        hin eine graduelle Demokratisierung
   elle Artikulationsfähigkeit sollte in den                   von Schreib- und Veröffentlichungs-
   Bildungssystemen beider Seiten des                          prozessen darstellte. Denn in den
   Eisernen Vorhangs in Europa primär                          Fünfziger und Sechziger Jahren pub-
   im Rahmen (mehr oder weniger sub-                           lizierten noch viele ehemalige Autoren
   til) gelenkter Debatten auf politischem                     der NS-Gottbegnadeten-Liste, die
   Feld geschult werden. Daran anknüp-                         sich im Dritten Reich als von göttlicher
   fend versuchte das 1955 gegründete                          Vorsehung auserwählt betrachten
   Leipziger Literaturinstitut jedoch, die                     durften und keinerlei Rechenschaft
   literarische Ausdrucksfähigkeit außer-                      über ihr damals bestens honoriertes
   gewöhnlich begabter und (wenigstens                         Schreiben ablegen mussten. [Solange
   äußerlich) ideologisch zuverlässiger                        dieses der Nazi-Ideologie entsprach.]
   Angehöriger der Arbeiter- und Bau-                          Auch der Geniebegriff schwebte noch
   ernklasse zu erweitern. Und genau                           lange über den literarischen Feldern.
   dort durfte nun beobachtet werden,                          Selbst Dichtern wie Rolf Dieter Brink-
   wie das Experiment scheiterte, indi-                        mann und Thomas Kling wurde viel
   viduelle Kreativität in dogmatischer                        später eine Genialität zugeschrieben,
   Weise zu formen. Der Widerspruch                            die ihre – scheinbar aus dem Nichts
   konnte nicht aufgelöst werden: Das                          entstandenen – Fähigkeiten (und vor
   Institut war außergewöhnlich erfolg-                        allem ihren frühen Tod) mit dem Man-
   reich, indem es zahlreiche eigenstän-                       tel des Mythischen umgab.
   dig denkende Autoren hervorbrachte,                      5. Kurz nach dem Fall der Mauer änderte
   die in der Lage waren, ihre Kritik am                       sich deshalb wenig im deutschspra-
   System und seiner Regierung in de-                          chigen Raum. Im Zuge der Übernah-
   zidierter Weise zu artikulieren.2 Der                       me versuchten westdeutsche Politiker
   tonangebende Literaturbetrieb im                            sogar reflexartig das Leipziger Institut
   westlichen Teil Deutschlands vertrau-                       abzuwickeln, weil es ökonomisch,
   te dagegen auf die ordnende Kraft der                       ideologisch und pädagogisch nicht
   Gruppe 47. Bei deren Treffen stellten                       in das Bildungssystem der Bundes-
   sich die „Genies“ – Paul Celan, Inge-                       republik zu passen schien. Die hefti-
   borg Bachmann und andere mehr –                             gen Proteste belehrten sie immerhin
   regelmäßig ein. Sie erschienen auf                          soweit, dass das Institut 1993 zwar
   dem „elektrischen Stuhl“, um ihre                           geschlossen, danach aber wieder
   unveröffentlichten Texte zum intellek-                      eröffnet wurde. Die Unsicherheiten
   tuellen Abschuss preiszugeben. Die                          dieser Übergangszeit führten auch zu
   Autoren durften ihre Texte nach der                         einem grundsätzlichen Überdenken
   Lesung nicht verteidigen, sondern                           des Bildungssystems. Denn nach dem

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Sputnik-Schock (1957) und Georg                           erwerben. In den beiden letztgenann-
   Pichts Kampfschrift von der Bildungs-                     ten Einrichtungen wird das Schreiben
   katastrophe (1964) orientierte sich die                   also sinnvollerweise mit Blick auf an-
   Quantifizierung pädagogisch erzielter                     dere Künste studiert. Daneben gibt
   Leistungen im Schulwesen vor allem                        es im tertiären Bildungsbereich eine
   an der Systemkonkurrenz zwischen                          Reihe kleinerer Studiengänge (Z.B. an
   Ost und West. Nachdem diese Pola-                         der Alice Salomon Hochschule Berlin)
   risierung aufgelöst schien, wurden die                    und individueller Initiativen (Z.B. von
   nun freigewordenen, enormen Energi-                       Wolfgang Braungart an der Universi-
   en in die individuelle Konkurrenz ge-                     tät Bielefeld).
   lenkt. Unter anderem die PISA-Tests                      	  Das sollte jedoch nicht darüber
   definierten ab der Jahrtausendwende                       hinwegtäuschen, dass Kreatives
   die statistisch vermessenen Felder,                       Schreiben im Sekundären Bildungs-
   auf denen dieser internationale Wett-                     bereich und vor allem an angel-
   bewerb der Schulkinder wahrgenom-                         sächsischen Universitäten deutlich
   men werden sollte: Lesekompetenz,                         stärker vertreten ist. Diese Kons-
   mathematische Kompetenz, naturwis-                        tellation ist kein Zufall, sondern hat
   senschaftliche Grundbildung. Kre-                         sich in Abhängigkeit von Strukturen
   ativität und eine Bildung außerhalb                       der jeweiligen Bildungssysteme ent-
   direkter ökonomischer Verwertbar-                         wickelt. Der Föderalismus und die
   keit wurden dabei kategorisch aus-                        Unterschiedlichkeit der Schularten in
   geschlossen. Auch die Prüfung der                         Deutschland haben gerade aufgrund
   nachhaltigen Wirksamkeit von Päd-                         ihrer Vielfalt und der daraus resul-
   agogik – im Grunde unabdingbares                          tierenden Unübersichtlichkeit auch
   Maß einer jeden Lehrkunst – wurde                         Freiräume und Nischen erhalten. Vor
   ausgeblendet; die nach fünf, zehn,                        allem in den unteren Klassenstufen
   zwanzig oder mehr Jahren zu stellen-                      besteht die Möglichkeit, im Unter-
   den Fragen einer Langzeitstudie nach                      richt vergleichsweise frei mit dem
   dem noch immer Erinnerten, den prä-                       Schreiben von Literatur umzugehen.
   genden Momenten, vielleicht sogar                         Experimente können aber sogar noch
   biographischen Weichenstellungen                          in den Abschlussprüfungen gewagt
   der Schulzeit wurden (und werden)                         werden. So stellte beispielsweise
   ignoriert.                                                Baden-Württemberg im Abitur und
6. Insofern ist es nicht verwunderlich,                      im Realschulabschluss Aufgaben-
   dass auch das Kreative Schreiben                          stellungen zum Kreativen Schreiben
   in der Bundesrepublik weiterhin eine                      zur Wahl. Dabei hatten die Schüler
   Randexistenz fristete. 1999 gründete                      die Möglichkeit, einen eigenen Text
   der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil                    zu gestalten, in Anlehnung an eines
   immerhin das Institut für Kreatives                       der belletristischen Schwerpunktthe-
   Schreiben und Kulturjournalismus                          men des Lehrplans. Die noch immer
   an der Universität Hildesheim. In der                     breite Bildung, die an vielen weiter-
   Schweiz wurde 2006 das Schweize-                          führenden Schulen in Deutschland
   rische Literaturinstitut an der Hoch-                     vermittelt wird, erleichtert es dage-
   schule der Künste Bern eröffnet; an                       gen, im spezialisierten deutschen
   der Universität für Angewandte Küns-                      Hochschulsystem – insbesondere
   te in Wien kann man seit 2009 einen                       nach den Bologna-Reformen – derar-
   Bachelor-Abschluss der Sprachkunst                        tige Freiheiten als scheinbar obsolet

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erachten zu dürfen. Anders verhält es                   sich mit leichter Verzögerung auch
      sich in den Vereinigten Staaten. Dort                   in Großbritannien ab. Nachdem Mal-
      schwächelt der sekundäre Bildungs-                      colm Bradbury und Angus Wilson
      bereich, weshalb an Universitäten                       1970 den ersten Studiengang für
      vor allem im ersten Jahr eine breite                    Kreatives Schreiben an der Univer-
      Allgemeinbildung vermittelt wird, um                    sity of East Anglia eingeführt hat-
      Versäumtes aufzuholen. Die Studien-                     ten, folgten bis 2020 insgesamt 53
      gänge für Kreatives Schreiben sind                      weitere Universitäten im Vereinig-
      Teil eines groß angelegten Bildungs-                    ten Königreich, jeweils mit teilweise
      programms, nicht nur Treibhäuser                        mehreren Studiengängen.5
      eines übersättigten Buchmarktes.                     7. Einerseits darf diese Entwicklung
      Gleichzeitig verweist das Kreati-                       grundsätzlich positiv bewertet wer-
      ve Schreiben in den Vereinigten                         den. Die Studierenden üben ihre
      Staaten auf eine wesentlich länge-                      literarischen Fähigkeiten aktiv, im ei-
      re Tradition und – damit verbunden                      genen Schreiben und der Kritik des
      – höhere Akzeptanz. Bereits 1897                        Schreibens anderer. Sie lernen, sich
      wurden an der University of Iowa                        differenziert und multiperspektivisch
      erste Seminare im Kreativen Schrei-                     zu artikulieren, schulen ihre Texther-
      ben angeboten; 1922 konnte dort ein                     meneutik. Eine grundlegende Fähig-
      Studienabschluss im Fach erworben                       keit, die in anderen Studienfächern
      werden. 1936 wurde an der Univer-                       und gesamtgesellschaftlich auf beun-
      sität der Iowa Writers‘ Workshop                        ruhigende Weise vernachlässigt wird,
      durch Wilbur Schramm gegründet,                         gerade vor dem Hintergrund einer
      der in den folgenden Jahren noch                        durch forcierte Digitalisierung erodie-
      einen breiteren Aufwuchs mit Kursen                     renden Lesefähigkeit.6 Insbesondere
      in Multimedia Journalismus (1943),                      für Studierende naturwissenschaftli-
      Massenkommunikation (1943) und                          cher und technischer Fächer könn-
      einem Typographie-Labor (1945) er-                      te die Ausbildung der (literarischen)
      fuhr. Die Internationalisierung wurde                   Kommunikationsfähigkeiten in einem
      gleichzeitig von Paul Engle, später                     Studium Generale eine Bereicherung
      von seiner taiwanesischen Frau Hua-                     darstellen.7 Zusätzlich werden Techni-
      ling Nieh Engle vorangetrieben. Bis                     ken entwickelt, hermetische Schema-
      heute haben Studierende aus etwa                        ta wissenschaftlichen Schreibens zu
      120 Ländern das International Wri-                      durchbrechen, eigene Erkenntnisse
      ting Programme absolviert, während                      – im Sinne des Expository Writing –
      das Angebot noch größer wurde: mit                      allgemeinverständlicher       darzustel-
      Studiengängen in New Media Arts                         len, eine größere Reichweite bei der
      and Literature (ab 1968), Überset-                      Vermittlung von Inhalten zu erlangen.
      zung (1974 gegründet von Gayatri                        Gleichzeitig entstünde in einem ent-
      Spivak) und Expository Writing, also                    sprechend ausgestatteten Studium
      dem allgemein verständlichen Ver-                       Generale im Verbund mit anderen
      fassen wissenschaftlicher Texte (ab                     Fächern ein Raum, in dem Defizite
      1976).3 Inzwischen haben Studie-                        aus dem schulischen Bereich aufge-
      rende in den Vereinigten Staaten die                    arbeitet werden könnten, wie dies bei-
      Wahl zwischen 155 Master-Studi-                         spielsweise im Tübinger Fichte Kolleg
      engängen für Kreatives Schreiben.4                      geschieht. Der gemeinsame Rekurs
      Eine ähnliche Entwicklung zeichnet                      auf Bildungsgüter, die immer auch

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gesellschaftliche Werte symbolisieren,                          auf Studierende anderer Fächer aus,
  fällt dann leichter, die soziale Verstän-                       die wenigstens zeitweise in der Lage
  digung wird verbessert. Keinesfalls                             wären, die Seminare zu besuchen, um
  unterschätzt werden sollten darüber                             die bereits genannten kommunikativen
  hinaus therapeutische Aspekte. Stu-                             Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
  dierende lernen, eigene Probleme zu                             Doch andererseits treten in dieser
  artikulieren, sie in einen therapeuti-                          Konstellation Nebenwirkungen auf:
  schen Bereich zu überführen; anstatt                            Das Hauptanliegen vieler Studieren-
  sie untergründig wuchern zu lassen,                             der des Kreativen Schreibens ist es –
  was einem geregelten Studium kaum                               wenigstens im angelsächsischen Kul-
  dienlich ist. Rezeptiv kann eine gründli-                       turraum – scheinbar nicht mehr, in
  che, unvoreingenommene Textherme-                               erster Linie individuelle Fähigkeiten zu
  neutik auch die zwischenmenschliche                             entwickeln, sondern sich – stilistisch
  Empathie stärken. Wer willens ist,                              und inhaltlich angepasst – möglichst
  sich mit einer längeren Interpretation                          früh erfolgreich auf dem Literaturmarkt
  auf Lyrik von Bert Papenfuss einzu-                             zu positionieren.8 Die Lehrkunst wird in
  lassen, könnte auch eher bereit sein,                           die Rolle eines Erfüllungsgehilfen der
  anstrengende Diskussionen zu führen,                            Vermarktung gedrängt. Gleichzeitig
  bei denen die eigene, künstlich beru-                           bedingt die Vielzahl der Studiengän-
  higte Komfortzone verstörende Anstö-                            ge, dass eine stabile Lehrqualität –
  ße erhält, während das Verständnis                              trotz (oder aufgrund) aller Normierung
  für andere gesellschaftliche Positio-                           und Leistungsmessung – nicht immer
  nen wächst. Eine Lehrkunst, die eine                            gewährleistet werden kann.9 Die Ge-
  präzise, unvoreingenommene Herme-                               fahren dieser Expansion, so ließe sich
  neutik dieses Dritten – jenseits der                            folgern, bestehen folglich in einem
  Subjektivität von Lehrer und Schüler –                          Wachstum belangloser Publikationen
  umgeht, läuft stets Gefahr auf dem                              und einer noch stärkeren Kommerzi-
  Niveau kommoder Selbstvergewisse-                               alisierung des Literatur- und Studien-
  rung zu erlahmen.                                               marktes. Formal und inhaltlich mutige
	  Dabei möchte ich keineswegs eine                               Veröffentlichungen werden in dieser
  Pathologisierung des gegenwärtigen                              Konstellation benachteiligt, eventuell
  Studiums herbeischreiben. Vielmehr                              sogar geächtet. Begünstigt werden
  haben wir uns mit dem Phänomen                                  stattdessen eher biedermeierliche
  auseinanderzusetzen, dass die immer                             Ansätze, indem beflissen couragierte
  virulenter werdenden, psychischen                               Autoren ihre wohltemperierte Rebel-
  Probleme von Schülern der Sekun-                                lion tunlichst am Marktklima und der
  darstufe nicht automatisch mit dem                              politischen Großwetterlage orientie-
  Abitur und der Studienimmatrikulation                           ren. Man darf ebenso einen Quali-
  beseitigt sind. Umgekehrt sollte für                            tätsverlust in der rasch aufgeblähten
  das literarische Schreiben in Deutsch-                          akademischen Lehre prognostizieren,
  land möglich sein, was für den Sport,                           der dazu führte, dass viele der – in den
  das Schauspiel, die Bildenden Küns-                             angelsächsischen Ländern fast durch-
  te, den Journalismus gilt: Dass es                              weg gebührenpflichtigen – Studien-
  Leistungszentren gibt, an denen au-                             gänge nicht zuletzt dazu dienten, ihren
  ßergewöhnlich begabte Studierende                               Studierenden einen Abschluss zu ver-
  gezielt gefördert werden. Und diese                             leihen – was wiederum die Kommerzi-
  Förderung strahlte wiederum positiv                             alisierung der Hochschulen forcierte.

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  Gewiss tragen diese Folgerungen                                im Vordergrund stehen sollte, wurde
   einen modellhaften, allzu normativen                           bei der Möglichkeit von Mehrfach-
   Charakter. Sie geben die Nuancen                               nennungen eine breite Auswahl an
   nicht wieder, die in der Praxis zwi-                           Gattungen und Genres präsentiert.
   schen den einzelnen Universitäten,                             Im letzten, hier näher beschriebenen
   den Studiengängen, den Seminaren,                              Seminar vom Februar 2019 mit 27
   den Ansätzen der Dozierenden, der                              Studierenden – aus allen Studiengän-
   Vielfalt der Studierenden bestehen.                            gen10 des gleichen Jahres – waren Kin-
   Und selbstverständlich macht es                                derbücher (10 Nennungen) vertreten,
   dabei einen Unterschied, ob Dreh-                              Ratgeber und Philosophische Werke
   bücher, Romane, Reportagen oder                                (8), literarische Prosa (26), Trivialro-
   Lyrik geschrieben werden. Für den                              mane (1), Lyrik und Songs (3) und
   Umgang mit Kreativem Schreiben im                              Dramen (3). Überwiegend wurden die
   deutschen Hochschulwesen stellt                                Bücher von den Eltern geschenkt oder
   sich deshalb die Frage, wie in der ge-                         von Freunden empfohlen. Klassische
   genwärtigen Situation die Vorteile des                         Schullektüren wurden in geringerem
   angelsächsischen Systems übernom-                              Maße genannt. Scheinbar zufällige
   men und dessen Nachteile vermieden                             Begegnungen mit Literatur – wie das
   werden können.                                                 Finden von Gioconda Bellis La mujer
8. Ohne den Umweg über theoretische                               habitada (1988) in einem Autonomen
   Entwürfe nehmen zu müssen, bot                                 Zentrum kamen ganz selten vor. Meine
   sich mir an der damaligen Cusanus                              Stichprobe trägt zwar keinen gesell-
   Hochschule in Bernkastel-Kues die                              schaftlich repräsentativen Charakter,
   Möglichkeit, zwischen 2016 und 2019                            zumal es sich um Studierende an
   einen eng begrenzten Praxisversuch                             einer Reformhochschule handelte. Sie
   unternehmen zu können, mit mehre-                              entspricht aber teilweise den Erkennt-
   ren Blockseminaren zum Kreativen                               nissen einer umfassender angelegten
   Schreiben, hauptsächlich von Lyrik.                            Studie Kila van der Starres, die für
   Auch weil es sich jeweils um Blockse-                          die Niederlande nachwies, dass der
   minare von zwei aufeinanderfolgenden                           Umgang mit Lyrik dort gegenwärtig
   Tagen handelte, schien es uns nicht                            vor allem über soziale Kontakte entwi-
   angebracht, Gedichte vor Ort unter                             ckelt wird, nicht aber primär institutio-
   künstlichen Bedingungen schreiben                              nell oder individuell stattfindet.11 Eine
   zu lassen. Stattdessen waren die Stu-                          Konstellation, die sich in Deutschland
   dierenden eingeladen, eigene Lyrik                             beispielsweise vom Schulfach Ge-
   vorab einzureichen, die in einer Übung                         schichte unterscheidet, wo Wissen
   besprochen wurde.                                              vorwiegend in der Schule erworben
	  Zu Beginn des Seminars waren die                               wurde.12 Natürlich ist Lyrik die kleins-
   Studierenden aufgefordert, ein Buch                            te und damit potenziell zugänglichste
   vorzustellen, das sie in vielleicht ent-                       Gattung, passt also am besten zu die-
   scheidender Weise beeinflusst oder                             sem Vermittlungsweg. Dennoch stellt
   beeindruckt hatte. Die Gruppengröße –                          sich die Frage, ob der Umgang mit
   zwischen 12 und 27 Teilnehmer –                                Literatur im schulischen Bereich nicht
   gestattete eine gemeinsame und dis-                            noch ein gewisses Entwicklungsdesi-
   ziplinierte Besprechung durchaus.                              derat birgt, wie dies von der OECD
   Obwohl der Seminarplan unschwer er-                            bekanntlich in ähnlicher Weise für alle
   kennen ließ, dass vor allem Belletristik                       Fächer in Deutschland angemahnt

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wird.13 Denn die Vermittlung von Bil-                       Kontext: die Epochenmerkmale, den
  dung durch unmittelbare Bezugsper-                          biographischen Hintergrund des Dich-
  sonen im Familien- und Freundeskreis                        ters oder der Dichterin, den unmittel-
  benachteiligt letztendlich die ohnehin                      baren Zusammenhang der Entstehung
  Benachteiligten, die sogenannten                            des Gedichtes. Auch der Verweis auf
  bildungsfernen Bevölkerungsschich-                          das Hinzuziehen von Sekundärliteratur
  ten. Auf diese Weise wird soziale                           war uns erwähnenswert.
  Ungleichheit perpetuiert – und damit                      	  Das klingt banal, ist es aber nicht,
  die Unfreiheit, die eigene Lebenslage                       wenn auf dieser Grundlage eine eige-
  verbessern zu können. Es sollte auch                        ne und neue Interpretation entworfen
  hier nicht vergessen werden, dass die                       werden kann. Denn das vielleicht zä-
  qualitative Gewichtung der Lehrpläne                        heste Vorurteil, das nach wie vor den
  nach Schularten diese Ungleichheit                          Schulunterricht heimsucht, besteht
  fester zementiert. Es ist lebensfremd                       wohl in der Annahme, dass die auto-
  zu denken, dass Schüler allein, weil                        ritativ durch Lehrer, Lektürehilfe und
  sie in einer „bildungsfernen“ Familie                       Erwartungshorizont gegebene Inter-
  aufwachsen, kein Interesse an an-                           pretation richtig sei. Richtiger jedenfalls
  spruchsvoller Literatur, an Theater,                        als andere Versionen, die dagegen als
  Oper oder den Bildenden Künsten                             fehlerhaft kritisiert werden müssten.
  entwickeln können. Tatsächlich haben                        Die kreative Freiheit des Lesens und
  sie es ohne häusliche Förderung                             Interpretierens kann auf diese Weise
  schwerer, was wiederum durch eine                           durch eine bürokratische Hermeneu-
  niedrigschwellige Vermittlung, eine                         tik unterdrückt werden. Aus dieser
  realistische Erwartungshaltung der                          Perspektive scheint die Wiedergabe
  Lehrenden und eine heterogene Zu-                           autorisierter Informationen korrekter zu
  sammensetzung der Schülerschaft                             sein als die präzise Eigenlektüre des
  ausgeglichen werden kann.14                                 Gedichts und die Ausbildung eines
	  Nach der Vorstellungsrunde erläu-                          individuellen, möglicherweise ebenso
  terten meine Kollegin und ich mittels                       faktenbasierten Erkenntnisprozesses.
  einer Präsentation die Grundlagen                           In der wissenschaftlichen Forschung
  einer angemessenen Lyrikinterpre-                           verhält es sich bekanntermaßen um-
  tation. Dabei ging es auch um den                           gekehrt. Dort sollte die Interpretation
  ersten, subjektiven Eindruck, vor                           zwar an die Sekundärliteratur anknüp-
  allem aber um die Erschließung des                          fen, den Kontext des Gedichtes ein-
  Inhaltes, um Ambiguitäten, Fragen                           beziehen. Doch eine Auslegung, die
  der Form wie Reimschema und Vers-                           lediglich Vorarbeiten anderer wieder-
  maß, dann aber ebenso um Wortwahl,                          gibt, in Vortrag oder Publikation keine
  Syntax, Stilmittel, eine mögliche Defi-                     neuen Akzente setzt, wird bestenfalls
  nition des Genres und der Gattung.                          verhalten rezipiert. Lehrkunst besteht
  Fragen zum lyrischen Subjekt bzw.                           also in der Hinführung darauf, die ei-
  zur Sprecherperspektive wurden                              gene Lesart (kritisch) mit den Erkennt-
  ebenso geklärt wie die Beziehung                            nissen fachlich anerkannter Vor-Leser
  zwischen abstraktem und realem                              zu kontrastieren.
  Autor. Schließlich behandelten wir –                      	  Da das Seminar fast ausschließlich
  losgelöst von der textimmanenten                            von fachfremden Studierenden (Phi-
  Interpretation – die Wichtigkeit der                        losophen und Ökonomen) besucht
  Bezüge zum literaturhistorischen                            wurde, vertieften wir den Methodenteil

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an literaturgeschichtlichen Beispielen                       der Verse. In diesem Sinne bewirken
 in der Praxis. Die Übungen erstreck-                         gerade die scheinbar zugänglichen,
 ten sich von Goethes Ein gleiches                            anthologisierten Klassiker – mit ihrer
 (1780) über die Genese von Con-                              Orientierung an Ästhetik und Form –
 rad Ferdinand Meyers Der römische                            eine etwas geringere Resonanz, we-
 Brunnen (1866-1882), symbolisti-                             nigstens im tertiären Bildungsbereich.
 scher und expressionistischer Lyrik,                      9. Die Frage nach der Begegnung mit
 Brechts Radwechsel (1953) bis hin                            einem biographisch entscheidenden
 zu Peter Handkes Aufstellung des                             Werk wurde in der übernächsten Ein-
 1. FC Nürnberg (1968) und Langua-                            heit aus ökonomischer Perspektive
 ge Poetry von Robert Grenier: oh he                          analysiert. Ein von mir entworfener
 got a shoe from the waves (1985).                            Impulsvortrag zum Einfluss von Unter-
 Den Abschluss bildete die unmittel-                          nehmensgruppen auf Umsatz und Ver-
 bare Gegenwart, mit Ann Cottens                              trieb in Verlagswesen und Buchhandel
 Rosa Meinung (2010) und damals                               sollte dabei auf die Beschränkungen,
 noch unveröffentlichten Gedichten                            die Unfreiheit unserer Auswahlmög-
 aus Gerhard Falkners Schorfhei-                              lichkeiten im Buchhandel hinweisen.
 de-Zyklus (2019). Interessanterweise                         Fokussiert auf den Deutschen Buch-
 erfuhren die eher leserzentrierten, her-                     preis konnte festgestellt werden,
 metischen Gedichte von Handke und                            dass von dessen Verleihung fast aus-
 Grenier tatsächlich die stärkste Reso-                       schließlich die marktstarken Verlage
 nanz. Nach Erklärung des jeweiligen                          großer Unternehmensgruppen wie
 Kontextes wurden die Gedichte als                            Holtzbrinck (Kiepenheuer & Witsch,
 solche ernstgenommen und intensiv                            Rowohlt, S. Fischer), Random House /
 interpretiert. Greniers Einzeiler löste                      Bertelsmann (Luchterhand, DVA,
 eine differenzierte Diskussion aus,                          Knaus, Heyne u.a.) und Bonnier (Ber-
 die nach vierzig Minuten durch meine                         lin Verlag, Piper) bzw. größere un-
 Kollegin und mich beendet werden                             abhängige Literaturverlage (Hanser,
 musste. Auch Ann Cottens Gedicht,                            Suhrkamp, Aufbau) profitieren. Die
 eine poetische Subversion judikativer                        Preisverleihung selbst verstärkt die
 Herrschaftsarchitektur,      namentlich                      Bekanntheit, damit ebenso die Aufla-
 des Landgerichts Berlin-Moabit („Die-                        genhöhe des jeweils ausgezeichneten
 ser Prunk im schmalen Schoße / ist                           Romans15. Ein Effekt, der sich auch
 der Trödelväter Schaum“), wirkte we-                         bedingt durch die Konzentration des
 niger provokativ oder konsternierend,                        Buchhandels auf wenige Sortimenter,
 sondern eher inspirierend, und wurde                         die mit großen Verkaufsflächen, absat-
 rege diskutiert.                                             zorientiertem Markzugang und einem
	  Hier zeichneten sich bereits Er-                           schnell drehenden Angebot arbeiten.
 kenntnisfacetten zur aktuellen Lyrik-                        Vor allem unterhaltsame Romane pro-
 rezeption ab, die nicht überraschen                          sperieren in diesem ökonomisch defi-
 dürften: Je stärker die hermetischen                         nierten System, während das Drama
 Qualitäten eines Gedichtes, desto in-                        im subventionierten Theater einen
 terpretationsoffener, desto freier und                       Schutzraum gefunden hat, (herme-
 intensiver kann die rezeptive Diskus-                        tische) Lyrik oder unbequeme Lite-
 sion ausfallen – bei entsprechender                          ratur überhaupt verdrängt wird. Als
 literaturhistorischer Kontextualisierung                     ‚frei‘ – im Sinne mannigfaltiger, leicht

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erschließbarer Auswahl und Ermög-                          als Wahrheitserfahrung, aber auch als
     lichung freier Meinungsäußerung –                          Selbstreflexion, Horizonterweiterung,
     kann ein solch rigide konzentrierter                       der Möglichkeit einer Ausbildung von
     Markt nur noch bedingt bezeichnet                          Spiritualität. Umgekehrt aber auch als
     werden; zumal es eine größere Anzahl                       differenzierte Spiegelung eigener Ge-
     von inzwischen fast verdrängten Klein-                     fühle und Gedanken, die einen Iden-
     verlagen gibt, die früher noch leichter                    titätszuwachs ermöglicht, vielleicht
     über unabhängige Buchhandlungen                            sogar fiktionale Vorbilder findet – und
     einen Zugang zum Leser fanden. Ob                          immer eine Alternative zu formaler
     die Algorithmen von Amazon oder die                        Bildung darstellt; also ein erhebliches
     Kurzbeschreibungen auf Ebay hier                           Freiheitsmoment birgt, das es wiede-
     Abhilfe schaffen, ist fraglich und kann                    rum erlaubt, sich – wenigstens über
     an dieser Stelle nicht weiter erörtert                     den Ausweg der Literatur – aus den
     werden. Festgehalten werden soll-                          Reglementierungen der Bildungswelt
     te jedoch, dass Wahlmöglichkeiten                          zurückzuziehen. Ein Lehrkünstler sollte
     in der Lektüre einen Gradmesser für                        diese Auswege kennen – und gege-
     die Freiheit der Lehrkunst darstellen.                     benenfalls auch Umwege tolerieren,
     Insbesondere wenn Lehrkräfte – auch                        vielleicht sogar anregen, die nicht in
     aufgrund ihres eigenen, verschulten                        Stunden- und Bildungsplänen karto-
     Studiums und kompetenzorientierter                         graphiert sind. Schließlich wurde die
     Bildungspläne – lediglich auf abzu-                        Arbeit an der Form betont, wobei es
     arbeitende Lektürevorgaben reagie-                         nur oberflächlich um Sprachmelodie
     ren, ihre Schüler aber nicht mehr mit                      oder sogar Sprachmagie ging, son-
     durchdachten eigenen Vorschlägen                           dern vielmehr um das Erkennen von
     interessieren, vielleicht sogar begeis-                    Narrativen, rhetorischen Mitteln, Inten-
     tern können. Selbst wenn es schwer                         tionen und der eigenen Arbeit an der
     ist, solche Lücken ohne entsprechen-                       Sprache, das Wichtigste möglichst
     de Kenntnis von Literaturgeschichte                        verdichtet, prägnant, überzeugend
     und Gegenwartsliteratur zu identifizie-                    darstellen zu können.
     ren, könnte bereits das Bewusstsein                    10. In diesem Sinne schloss sich eine
     für übersehene Preziosen der Bellet-                       (passive) Stilübung an, bei der jeweils
     ristik eine Basis für die inhaltliche Er-                  10 anonymisierte Zitate aus bedeuten-
     weiterung der Lehrkunst bilden.                            deren Werken der deutschsprachi-
     Nach dem Exkurs in die Ökonomie                            gen Literatur direkt ihren Verfassern
     folgte eine kurze Diskussion der                           zugeordnet werden sollten, um das
     durch Literatur, insbesondere Lyrik                        Gespür für den individuellen Stil eines
     angeregten emotionalen Intelligenz.                        Autors textimmanent zu belegen. Um
     Angesprochen wurden dabei drei                             ein Zitat aus der Deutschstunde – mit
     Schwerpunkte: Zuerst das Verstehen                         Begründung – zuzuordnen, standen
     entfernterer Zusammenhänge, das ein                        beispielsweise die Autoren Alfred
     Erfahren und Erkennen der Mitwelt,                         Döblin (Berlin Alexanderplatz, 1928),
     damit auch anderer Menschen erlaubt,                       Franz Kafka (Der Process, 1925) und
     eine kritische Spiegelung von Gegen-                       eben Siegfried Lenz (Deutschstun-
     wart und Zukunft ermöglicht, individu-                     de, 1968) zur Auswahl. Der zuord-
     ell und frei artikuliert. Damit verbunden                  nende Vorschlag musste im Plenum
     ist die Möglichkeit der Selbsterfahrung                    erläutert werden, sodass nicht nur

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literaturgeschichtliche      Kenntnisse                       Generation, die im Gefühl der Locke-
    im gemeinsamen Diskurs erneu-                                 rung von Bindungen, der Auflösung
    ert wurden. Auch das Register zur                             von Erinnerung und Verlässlichkeit in
    Wahrnehmung individueller Aus-                                eine offene Zukunft geht.
    drucksmöglichkeiten konnte erweitert
    werden.                                                       DER TAG IST LOSE.
11. Diese Übung leitete zum vielleicht inte-
    ressantesten Teil des Seminars über:                          Die Schleife seines Schuhs
    Einem Planspiel, bei dem in sieben Ar-                        Droht ihrer eigenen Umarmung
    beitsgruppen aus einem Konvolut von                           Zu entgleiten.
    insgesamt 16 anonymisierten Gedich-                           Ich gehe; ich weiß nicht, wohin.
    ten fünf Texte für eine (fiktive) Antho-                      Jeder Schritt überrascht mich.
    logie ausgewählt werden sollten. Die                          Doch kaum ist er gesetzt,
    Auswahl musste im Plenum begründet                            Vergess ich ihn.
    werden, was die Möglichkeit bot, die
    lyrikkritische Differenzierungsfähigkeit                      Ich halt die Sinne ausgestreckt –
    der Studierenden wahrzunehmen.                                Wege, die auf Weiser warten.
    Gezählt wurde bei den einzelnen                               Meine Schritte sind Stiche mit dem
    Gedichten dann die Häufigkeit der                             Spaten:
    Auswahl. Im Vorfeld des Seminars                              Jeder hebt den Atem
    wurden die Studierenden gebeten,
    dazu eigene Gedichte einzureichen,                            Frischer Erde. Ich weiß nicht,
    die dann ebenfalls anonymisiert dem                           Ob ich Wildnis werde oder Garten.
    Konvolut beigefügt und auf die Ar-
    beitsgruppen verteilt wurden. Im Kon-                         Auch das zweitplatzierte Gedicht (Lob
    volut selbst befanden sich neben den                          der Glut, 5 von 7 Nennungen), ein her-
    Gedichten der Studierenden Verse                              metisch-spiritueller Text, den ich bei
    von anderen, bekannteren Lyrikern,                            dem Alumnus, Künstler und heutigen
    beispielsweise von Else Lasker-Schü-                          Waldorflehrer Christoph Schomann
    ler, Ingeborg Bachmann, Yoko Tawa-                            angefragt hatte, stammte aus dem
    da, Marion Poschmann oder Robert                              unmittelbaren Kontext der Hochschu-
    Gernhardt. Die Ergebnisse der Ar-                             le. Auf dem dritten Platz zeigte sich
    beitsgruppen erbrachten schließlich                           schließlich ein gemischteres Bild. Dort
    eine Überraschung, die sich bei nä-                           waren mit jeweils 3 von 7 Nennun-
    herer Betrachtung als folgerichtig er-                        gen Julia Engelmanns Stille Poeten,
    wies. Das Gedicht, das mit 6 von 7                            Jörg Schiekes Große Schrift eines
    möglichen Nennungen am häufigsten                             schwierigen Schülers, aber auch
    ausgewählt wurde, kam von einem                               Else Lasker-Schülers Meine Mutter
    Master-Studierenden der Philosophie,                          und Joachim Kremers‘ Durch und
    Niklas Elsenbruch. Sein Autor verhielt                        Durch vertreten. Lediglich der Letzt-
    sich im Seminar zurückhaltend (was                            genannte nahm als Studierender am
    die Echtheit des Votums unterstrich),                         Seminar teil, die anderen weisen recht
    hatte aber seit mehreren Jahren das                           unterschiedliche biografische Hinter-
    Schreiben von Lyrik geübt. Das Ge-                            gründe auf.16 Auffällig war dennoch,
    dicht selbst, das hier in voller Länge                        dass sich das Votum vor allem aus
    zitiert wird, verdichtet in freien Ver-                       einer Identifikation mit den Inhalten,
    sen das situative Lebensgefühl einer                          aber auch aus der damit verbundenen

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Darstellungsweise erklärte. Mit an-                           wie ihn beispielsweise Jean Portante
    deren Worten: Die Resonanz auf die                            in seinen Seminaren an der Universität
    Gedichte war umso größer, je direk-                           Luxemburg pflegt, mit Übersetzungen
    ter sie das Lebensgefühl ihrer Leser                          und Rückübersetzungen französisch-
    wiedergaben. Einerseits birgt diese                           sprachiger Gedichte. Und natürlich
    Konstellation die Gefahr einer Selbst-                        kann Lyrik direkt in der Fremdspra-
    bespiegelung, bei der nur Texte posi-                         che, der jeweiligen Herkunftssprache
    tive rezipiert werden, die der eigenen                        oder einer Mischung aus beiden (und
    Seelenlage entsprechen. Andererseits                          weiteren Sprachen) verfasst werden.
    zeigt sie, dass sich über die Fähigkeit,                      Wichtig ist es, in jedem Falle vor dem
    eigene Wünsche, Hoffnungen, Be-                               Schreiben oder der Vorstellung eige-
    fürchtungen poetisch zu formulieren,                          ner Verse der Studierenden die theo-
    andere Menschen erreichen lassen.                             retischen Grundlagen für den Umgang
    Beobachtungen, Gefühle, Erkennt-                              mit Lyrik zu wiederholen. Textherme-
    nisse können mit anderen Menschen                             neutische Übungen mit Beispielen aus
    geteilt werden. Die Lehrkunst macht                           der Literaturgeschichte sind dabei
    diese Gemeinsamkeiten sichtbar, regt                          essenziell. Selbst wenn eigene Texte
    also potenziell ein tieferes gegensei-                        in freien Versen geschrieben wer-
    tiges Verständnis an. Und befördert                           den, sollten grundlegende formale
    damit auch einen konstruktiven gesell-                        Kenntnisse vorhanden sein. Anders
    schaftlichen Austausch.                                       ausgedrückt: Wer nicht weiß, was
12. In einem Seminar bzw. einem Studi-                            ein Sonett ist, zeigt nicht, dass er ein
    um Generale bedarf dieser Austausch                           Dichter ist –, sondern betont lediglich
    auf vordefinierter Mikroebene aller-                          seine Indifferenz, vielleicht sogar seine
    dings Rahmenbedingungen, die ich                              Ignoranz gegenüber den formalen Sei-
    zusammenfassend darlegen möch-                                ten der Lyrik. Gleichzeitig lassen sich
    te. Grundsätzliche Voraussetzung ist                          im Rekurs auf die Lyrikgeschichte
    es, eine Atmosphäre von Offenheit                             unzählige kreative Anregungen und
    und Toleranz im Seminar zu schaf-                             Vorbilder finden, mit denen der Hori-
    fen. Der poetische Umgang mit sehr                            zont der Schreibenden erweitert, ihre
    individuellen Äußerungen benötigt                             Selbstbezogenheit gelockert werden
    einen Schutzraum, der erst einmal                             kann. Darüber hinaus konstituiert die
    nicht durch politisch, pädagogisch,                           Intertextualität – der Bezug auf an-
    wissenschaftlich oder künstlerisch                            dere Texte – ein wichtiges Kriterium
    normative Vorstellungen beeinträch-                           der Lyrik von heute. Während Slam
    tigt werden sollte. Wünschenswert                             Poetry – wie etwa bei Julia Engelmann –
    wäre es auch, wenn Seminare im ak-                            bewusst um die Selbstbezogenheit
    tiven Austausch mit anderen Künsten                           der Sprecherin kreist, sich damit auch
    stattfänden. Musik und Performance                            auf die Selbstfixierung der Adressaten
    liefern dafür zahlreiche Anregungen,                          bezieht, sind in die Gedichte von Ann
    wie dies etwa Timo Brunke, Martina                            Cotten, Monika Rinck oder Gerhard
    Hefter oder Bas Böttcher erfolgreich                          Falkner unzählige kulturgeschichtli-
    umsetzen. Selbstverständlich bieten                           che Verweise eingeflochten. Natürlich
    sich Kombinationen mit den Bildenden                          geht die Gleichung nicht auf, dass die
    Künsten an. Ebenso ist – insbesonde-                          Zahl raffinierter Anspielungen simultan
    re im Hochschulbereich – der kreative                         die Qualität des Gedichts erhöht. Wer
    Umgang mit Fremdsprachen denkbar,                             jedoch – um hier ein recht spezielles

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Beispiel zu konstruieren – ein Gedicht                   darüber hinaus angebracht, um früh-
      über Kölner Kneipen im Sommer ge-                        zeitig die Bildung konträrer Positionen
      schrieben hat, aber Rolf Dieter Brink-                   zwischen Kunst und Wissenschaft zu
      manns Einen jener klassischen nicht                      vermeiden. In den Vereinigten Staa-
      kennt, beweist damit leider auch seine                   ten führte diese Entwicklung bereits
      poetische Unbildung.17 Und schafft                       zur Ausgrenzung bzw. Abschottung
      damit denkbar schlechte Vorausset-                       mancher an Universitäten lehrenden
      zungen für die Rezeption des eigenen                     Dichter, die in vielerlei Hinsicht nicht
      Textes in der seriösen, auch akade-                      den herkömmlichen akademischen
      misch orientierten Gegenwartslitera-                     Regeln unterworfen sind und dadurch
      tur, die sich prinzipiell als (aktuellen)                einen vermeintlichen Sonderstatus ge-
      Teil der Literaturgeschichte versteht.                   nießen. Fast konträr dazu scheint der
      Nicht nur deshalb wäre es wichtig,                       Nimbus der Dichter zu leiden, wenn
      dass Dichter die Seminare gleich-                        sie einen Teil ihrer Freiheit gegen das
      berechtigt mitgestalten oder einfach                     Gehalt eintauschen, das ihnen durch
      selbst geben sollten. Dabei ginge es                     Anpassung an das – mehr oder we-
      nicht vorrangig darum, den Studie-                       niger reglementierende – Wissen-
      renden in der Begegnung mit dem                          schaftssystem gewährt wird.18 Auch
      Dichter ein auratisches Erlebnis zu                      die Beschäftigung mit der eigenen
      bescheren oder ihnen sein (vielleicht)                   Disziplin auf einer Metaebene, die
      größeres Talent zu offenbaren. Prio-                     sich im angelsächsischen Kulturraum
      rität hätten vielmehr die Authentizität                  als Creative Writing Studies kontu-
      des Vermittelten, die mit den Jahren                     riert19, ist wohl nur so lange hilfreich,
      gewachsene Expertise des Künst-                          wie sie das Schreiben unterstützt,
      lers, auch im Umgang mit Grenzen in                      weiterentwickelt, verbessert – und
      Produktion und Rezeption, außerdem                       nicht Ressourcen in selbstreferenziel-
      existentielle Einblicke in das Leben                     len Schleifen bindet, die ebenso zum
      als Lyriker, in Rückschläge und Erfol-                   Abschnüren einer freien Bildung ein-
      ge des Dichtens. Dabei spielen dann                      gesetzt werden können.
      weniger Berühmtheit, Preise und Pu-                  13. Frei nach Aristoteles‘ Nikomachischer
      blikationsliste eine Rolle, sondern die                  Ethik ließe sich ein gesellschaftliches
      Befähigung des Dichters, Studieren-                      Kommunikationsmodell mit drei Ebe-
      de im eigenen Schreiben anzuregen.                       nen denken, das abschließend auch
      Dass dieser künstlerische Prozess                        die Frage beantwortet, wie das Kreati-
      der Norm formaler Bewertungen – wie                      ve Schreiben als vitales Element einer
      man sie beispielsweise aus dem Re-                       Lehrkunst zur Freiheit der Gesell-
      ferendariat kennt – entzogen werden                      schaft gesehen werden kann. Auf der
      müsste, versteht sich (fast) von selbst.                 untersten, subalternen Ebene findet
      Die Rolle des Wissenschaftlers läge                      eine lediglich reaktive, stumme Kom-
      – im gemeinsamen Seminar – dabei                         munikation statt. Die Menschen wäh-
      in der Moderation, in der Ergänzung                      len aus gesetzten Möglichkeiten: Sei
      des philologischen, literaturtheore-                     es bei Multiple Choice-Umfragen, bei
      tischen, falls notwendig auch litera-                    Wahlen oder bei der Entscheidung,
      turhistorischen Kontextes, sowie in                      welches Konsumprodukt sie erwer-
      der Seminarorganisation – eventuell                      ben. Auf der zweiten Ebene kommu-
      auch der Erschließung anderer Fä-                        nizieren die Menschen auch selbst.
      cher. Eine Zusammenarbeit scheint                        Sie artikulieren sich aktiv in vielfältiger

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Weise, mündlich und schriftlich: in                           im Oktober 2018 von der Staatsan-
    Form von Blogs, Artikeln, Vorträgen                           waltschaft München verhängte Buß-
    oder Gedichten; aber auch in non-ver-                         geld in Höhe von 800 Millionen Euro
    balen Kunstformen – nicht notwendi-                           erspart. Der Gesamtverlust lässt sich
    gerweise dialogisch, aber meistens in                         weniger genau wiedergeben, dürfte
    der Erwartung einer Reaktion seitens                          aber um ein Vielfaches höher liegen.
    potenzieller Adressaten. Auf der drit-                        Der immense Schaden einer digitali-
    ten Ebene schließlich gehen die Men-                          sierten Gesellschaft ohne poetisches
    schen bewusst und reflektiert mit den                         Korrektiv könnte auch das Milliarden-
    Möglichkeiten des gesellschaftlichen                          defizit des Dieselskandals noch als un-
    Diskurses um: In welchem Kontext, in                          bedeutende Nebenspesen erscheinen
    welcher Weise ist die Kommunikation                           lassen. 21
    am angebrachtesten, daher am wirk-
    samsten? Bei einem Weiterdenken
    von       kommunikationswissenschaftli-
    chen Modellen20 stellt sich darüber                     Anmerkungen
    hinaus die Frage, wie der Dialog ge-                    1     Kracauer, Siegfried, Die Angestellten. Frank-
    staltet werden kann, stilistisch und                          furt a.M., 3. Auflage 1980, S. 70 f.
    formal, um vielleicht einen Konsens,                    2     Vgl. die exakte Aufarbeitung der Institutsge-
    wenigstens aber eine Schnittmenge                             schichte in der DDR: Lehn, Isabelle, Macht,
    an gemeinsamem Verständnis zu er-                             Sascha und Stopka, Katja, Schreiben ler-
    zielen. Wenn das Kreative Schreiben                           nen im Sozialismus. Das Institut für Literatur
                                                                  „Johannes R. Becher“. Göttingen 2018.
    sich vom Primat technischer und uti-
                                                            3     Auch die Geschichte des Iowa Writers‘
    litaristischer Aspekte befreite, dazu                         Workshop ist wissenschaftlich aufgearbeitet.
    emanzipierte, mit bewusst gestalte-                           Vgl.: Dowling, David O., A Delicate Aggres-
    ten, poetischen Texten im richtigen                           sion: Savagery and Survival in the Iowa Wri-
    Moment an der passenden Stelle von                            ters' Workshop. New Haven u. London 2019.
    Menschen im gesellschaftlichen Dis-                     4     https://www.hotcoursesabroad.com/study/
    kurs verstanden zu werden –, dann                             training-degrees/us-usa/postgraduate/crea-
                                                                  tive-writing-courses/loc/211/slevel/3/cgory/
    hätte die Lehrkunst ihr Ziel erreicht,
                                                                  kc.3-4/sin/ct/programs.html (30/10/2020)
    der erste Schritt zur Erfüllung des Äl-                 5     Die im Ranking des Complete University Gui-
    testen Systemprogramms wäre getan.                            des erfolgreichste Hochschule, die Universi-
14. Postskriptum: Der Vorsprung, der                              tät Lancaster, bietet im Studienjahr 2020/21
    durch eine präzise Hermeneutik und                            sogar 12 unterschiedlich gewichtete Studien-
    das Kreative Schreiben von Lyrik ent-                         gänge zum Kreativen Schreiben an.
                                                            6     Vgl. Christine Sälzer, Lesen im 21. Jahrhun-
    steht, ist im Einzelfall sogar messbar. Im
                                                                  dert. Lesekompetenzen in einer digitalen
    konkreten Falle der VW-Tochter Audi                           Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse
    (Slogan seit 1971: „Vorsprung durch                           des PISA-Berichts “21st-century readers“.
    Technik“) wurde bereits im Mai 2003                           Eine PISA-Sonderauswertung der OECD ge-
    firmenintern ein anonymes Gedicht                             fördert von der Vodafone Stiftung Deutsch-
    verschickt, das angelehnt an Goethes                          land. Ohne Ort 2021. Die Autorin, eine
    „Erlkönig“ die Manipulationstechniken                         profilierte Erziehungswissenschaftlerin, stellt
                                                                  dazu fest: „In PISA 2018 war nach Berück-
    zur Umgehung der Abgas-Grenzwerte
                                                                  sichtigung des sozioökonomischen Status
    bei Dieselmotoren thematisierte. Wäre                         (sic) der Schüler*innen und Schulen in 35
    der lyrische Hinweis frühzeitig ernstge-                      Ländern und Volkswirtschaften ein negativer
    nommen und weitergegeben worden,                              Zusammenhang zwischen den Schülerleis-
    hätte dies möglicherweise bereits das                         tungen im Bereich Lesekompetenz und der

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 581

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                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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