Vorsprung durch Lyrik? Kreatives Schreiben als vitales Element einer Lehrkunst zur Freiheit der Gesellschaft
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 567-583 © 2021 Matthias Fechner - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0053 Matthias Fechner Vorsprung durch Lyrik? Kreatives Schreiben als vitales Element einer Lehrkunst zur Freiheit der Gesellschaft 1. Die Geschichte des Bildungswesens Johann Ignaz von Felbigers (1724- in Deutschland ist geprägt vom Wech- 1788) an den Schulen Österreich-Un- selspiel zwischen Vereinheitlichung garns geschaffen. Dieses gewaltige und Individualisierung als Determinan- Werk wirkte als Bindemittel für die ten der Lehrkunst im Spannungsfeld Kohärenz der k.u.k. Monarchie, deren von Norm und Freiheit. Um die Be- Herrschaft auf eine nicht immer har- deutung des Kreativen Schreibens in monische Vielfalt von Ethnien und dieser Konstellation besser verstehen Sprachen in Mittelosteuropa gebaut zu können, wird zuerst ein Exkurs in war. Lehrkunst war hier nicht unbe- dessen Geschichte, oder vielmehr: dingt gefordert. Ähnliches vollzog sich Vorgeschichte unternommen. Die Aus- in den Bildungsreformen Preußens wirkungen uniformer Sprache, aber (1717 und 1807). Diese dienten vor auch entsprechende historische Wei- allem einer Wiederherstellung inter- chenstellungen, mit Folgen für Schule nationaler Konkurrenzfähigkeit, die und Universität (und damit auch für die sich damals in erster Linie militärisch Gesellschaft), werden in einführender manifestierte. Wilhelm von Humboldts Kürze rekapituliert. Ergänzt durch freiheitlicher Impuls der zweiten Re- einen Praxisbericht aus Seminaren formphase von 1807 – Trennung von zum Kreativen Schreiben von Lyrik, Staat und Hochschule – beschränk- die ich mit meiner Kollegin Petra von te sich weitgehend auf Universitä- der Lohe in den vergangenen Jahren ten und wurde durch die Karlsbader (2017-19) an der damaligen Cusanus Beschlüsse (1819) mit einer strikten Hochschule gegeben habe. Schließ- Zensur nachträglich geknebelt. Der lich versuche ich, den allgemeinen Philosoph Johann Friedrich Herbart Stand, die Chancen, vermeidbaren unterstützte Humboldt nicht nur bei Abwege und Wirkungen des Kreati- der Durchsetzung seiner Reformen. ven Schreibens im Hochschulbereich Ebenso entwarf der Kant-Nachfolger in Deutschland auszuloten. einen Lehransatz, der von ihm und 2. Eine einheitliche Rechtschreibung, seinem Schüler Tuiskon Ziller im Laufe ein gemeinsamer Lehrplan und eine des 19. Jahrhunderts zu einem fester allgemeingültige Verwaltungsordnung gefügten System entwickelt wurde. Ei- wurden ab 1774 durch die Reformen nerseits kamen diese „Formalstufen“ 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 567 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
den Lehrenden entgegen, weil sie den waren sie auf Brotberufe (in Medizin Unterricht strukturierten, in ein hoch- und Rechtswissenschaft) vorbereitet differenziertes System einbetteten und worden. Ihre künstlerische Tätigkeit den Wissenserwerb effizienter gestal- entwickelte sich daneben mehr oder teten. Andererseits wurden der indi- weniger frei, erschien damit gerade- viduellen Kreativität und damit auch zu von Gott begnadet. Dieses litera- der Lehrkunst Grenzen gesetzt. Die rische Gottesgnadentum erstreckte Übernahme von Hegels dialektischer sich in Deutschland anfangs fast aus- Methode in den Aufbau des Deut- schließlich auf Männer aus Bürgertum schaufsatzes zeitigte eine ähnliche und Adel. Später wurde die zu Beginn Wirkung, wurde durch Struktur und eher männlich geprägte Literatur des argumentatives Abwägen doch we- 19. Jahrhunderts von Bestsellerau- nigstens formal ein Eindruck von Ob- torinnen – beispielsweise Eugenie jektivität erweckt. Gleichzeitig stellte Marlitt, Ottilie Wildermuth, Marie Nat- (und stellt) der simple Textaufbau eine husius – ergänzt, die in ihrer Literatur Einladung zum schematisierten Den- die Werte der gleichen, herrschenden ken dar, das Freiheitsimpulse sicher Gesellschaftsschichten vertraten. nicht begünstigt(e). In der beginnen- Kleinbürger, Bauern, Arbeiter, Frauen den Industrialisierung konnte man dies derselben Stände verfügten dagegen jedoch volkswirtschaftlich nicht unbe- über keinerlei Möglichkeiten, aktiv und dingt als Nachteil werten. Staat und frei an literarischen Diskursen zu par- Wirtschaft expandierten. Dringend tizipieren. Falls ihre Lebensumstände wurden funktionierende Verwalter literarisch behandelt wurden, geschah und Arbeiter benötigt. Der pädagogi- dies – wie im Naturalismus – durch schen Freiheit der Lehrenden wurden wohlwollende Mediatoren aus dem im Bereich der Volksschule durch die Bürgertum. Auch die praxisbezoge- Stiehlschen Regulative (1854-72) kurz nen Bildungsreformen der 1890er darauf sogar noch engere Grenzen Jahre änderten an dieser Konstellation gesetzt. Belletristik wurde in diesem nichts. Im Gegenteil: Über Reform- Kontext lediglich rezeptiv, zur Heran- schulen (Hermann Lietz, Berthold bildung von Sekundärtugenden ver- Otto, Paul Geheeb u.v.m.) erschlos- wendet. Dabei spielten die Inhalte sen sie – auch und gerade unter fast eine Rolle, aber auch das möglichst programmatischem Einsatz der Lehr- fehlerfreie Schreiben von Diktaten kunst – Handwerk, Gewerbe und und nicht zuletzt das Auswendigler- Landwirtschaft pädagogisch für die nen von Gedichten, wie etwa Schil- gehobenen Stände. Die Mehrheit der lers Bürgschaft (1799) oder Fontanes Bevölkerung wurde dagegen weiter- John Maynard (1886). Indirekt sorgten hin auf den Besuch der Volksschule der Geniekult Kants und die Deutsche festgelegt. Und man konnte von Glück Romantik zudem dafür, dass dichte- sprechen, wenn die Schüler dort auf rische Autoritäten, als wichtige Ver- Lehrkünstler trafen – und nicht etwa mittler von Tugenden, nicht hinterfragt auf frustrierte Prügelpauker. werden konnten. Denn Goethe und 3. Erst nach den mörderischen Verwer- Schiller, die nobilitierten Alphamänner fungen des 1. Weltkriegs und dem der deutschen Literatur, verdankten Zusammenbuch des Kaiserreichs im ihre künstlerischen Fähigkeiten keiner November 1918 ermöglichten es die profanen Ausbildung. In ihren Studien durch Kultuspolitiker der Weimarer 568 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Republik (Konrad Haenisch, Carl turbetrieb ausgeschlossen blieben. Heinrich Becker u.a.) angestoßenen Zudem verlieh eine literarische Ver- Reformen, den begabtesten jungen öffentlichung noch keine individuelle Männern der Arbeiterklasse und des Stimme. Politische und wirtschaftliche Kleinbürgertums, ihre Stimmen lite- Interessen sorgten nicht selten für die rarisch vernehmbar zu machen. Viele Begrenzung der auktorialen Artikulati- der damaligen Autoren versanken onsfähigkeit. Die Sozialfaschismusthe- zwar später in den Zeitläuften, aber se der KPD als ideologisch motivierte, einige – insbesondere Mitglieder des ferngesteuerte Attacke auf die Sozial- Bundes Proletarisch-Revolutionärer demokratie wäre nur ein Beispiel für Schriftsteller – nutzten die Aufforde- eine Manipulation des Denkens und rung, sich nun selbst literarisch zu arti- Handelns, die von der Literatur nicht kulieren, in ebenso konsequenter wie aufgelöst, sondern durch politische orthodoxer Weise, als Arbeiterkorres- Vorgaben an kommunistische Autoren pondenten, Redakteure, Romanauto- noch verstärkt wurde. Darüber hin- ren. Nach 1945 sollten dann solche, aus sorgten ausgeprägte Soziolekte ideologisch bewährten Autoren wie in breiten Kreisen der Gesellschaft Otto Gotsche, Hans Marchwitza oder für eine Festigung reaktionärer So- Willi Bredel nicht unbedeutende Auf- zialstrukturen. Siegfried Kracauer gaben in der Kulturpolitik der SBZ beschreibt in seiner Studie Die Ange- bzw. der DDR übernehmen. Und doch stellten die erstarrte Sprache junger, hinterlässt gerade diese emanzipa- kleinbürgerlicher Menschen, die noch torische Entwicklung in mehrfacher im freundschaftlichen Briefwechsel in Weise ein Unbehagen. Die Fähigkeit Floskeln aus der Berufswelt kommu- zur literarischen Artikulation fand we- nizieren.1 Die schon damals präzise niger in deutschen Volksschulen statt, analysierte Manipulation der öffentli- sondern war vielmehr durch Entwick- chen Meinung – beispielsweise durch lungen in der Sowjetunion inspiriert. Walter Lippmann – legt es nahe, dass Dort hatte Valeri Jakovlevich Brjussov die nicht immer bewusste Übernahme 1921 ein Literaturinstitut gegründet, vorgefertigter Wendungen, Schlag- in dem ‚Proletarier‘ das literarische worte, Argumente sich lähmend auf Schreiben erlernen sollten. Nach individuelle Erkenntnisprozesse aus- einer zwischenzeitlichen Schließung wirkte. Es ist diskutierbar, ob diese (1929) veranlasste Maxim Gorki 1933 Konstellation die Machtübernahme eine Neugründung, die noch heute am der Nationalsozialisten begünstigte. Tverskoi Boulevard in Moskau exis- Doch die destruktive Wirkung mani- tiert. Das visionäre Konzept aber – mit pulativer Parolen, insbesondere die Schwerpunkten auf der Forschung, eindimensionale Propaganda von der Ausbildung von Schriftstellern, Kommunisten und Nazis, wurde ver- Literaturkritikern und -wissenschaft- mutlich noch verstärkt: Durch eben lern – wurde sofort in den Dienst einer jene Unfähigkeit vieler Menschen, ei- totalitären Ideologie gestellt. Befremd- genständig zu denken und sich indi- lich erscheint im Rückblick auch, dass viduell zu artikulieren. Als Lehre aus bis auf wenige Ausnahmen (Marie- dieser Zeit gilt noch heute, dass eine luise Fleisser) vor allem Frauen, die Wiederholung autoritär gesetzter und nicht Bürgertum oder Adel entstamm- nicht hinterfragbarer Parolen, eine ten, vom deutschsprachigen Litera- Begrenzung der Sprache, damit des 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 569 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
demokratischen Diskurses, den Weg mussten die Kritik der Tagungsteilneh- in eine Diktatur ebnen können. mer stumm über sich ergehen lassen. 4. Obwohl das Ende des 2. Weltkrie- Diese Form von Literaturkritik und Tex- ges in Deutschland bedeutende tentwicklung kann aus heutiger Sicht Chancen auf pädagogischem Gebiet kaum als künstlerisch, sondern eher eröffnete – erinnert sei nur an den vi- als autoritär eingeschätzt werden. sionären Bericht der amerikanischen Und doch diente sie dazu, den Autor Zook-Kommission und die reformpäd- vom Thron der Gottbegnadung auf agogischen Impulse in der SBZ – spiel- den einfachen Stuhl des schreibenden te das Kreative Schreiben dabei noch Menschen zu verweisen; was immer- immer keine größere Rolle. Individu- hin eine graduelle Demokratisierung elle Artikulationsfähigkeit sollte in den von Schreib- und Veröffentlichungs- Bildungssystemen beider Seiten des prozessen darstellte. Denn in den Eisernen Vorhangs in Europa primär Fünfziger und Sechziger Jahren pub- im Rahmen (mehr oder weniger sub- lizierten noch viele ehemalige Autoren til) gelenkter Debatten auf politischem der NS-Gottbegnadeten-Liste, die Feld geschult werden. Daran anknüp- sich im Dritten Reich als von göttlicher fend versuchte das 1955 gegründete Vorsehung auserwählt betrachten Leipziger Literaturinstitut jedoch, die durften und keinerlei Rechenschaft literarische Ausdrucksfähigkeit außer- über ihr damals bestens honoriertes gewöhnlich begabter und (wenigstens Schreiben ablegen mussten. [Solange äußerlich) ideologisch zuverlässiger dieses der Nazi-Ideologie entsprach.] Angehöriger der Arbeiter- und Bau- Auch der Geniebegriff schwebte noch ernklasse zu erweitern. Und genau lange über den literarischen Feldern. dort durfte nun beobachtet werden, Selbst Dichtern wie Rolf Dieter Brink- wie das Experiment scheiterte, indi- mann und Thomas Kling wurde viel viduelle Kreativität in dogmatischer später eine Genialität zugeschrieben, Weise zu formen. Der Widerspruch die ihre – scheinbar aus dem Nichts konnte nicht aufgelöst werden: Das entstandenen – Fähigkeiten (und vor Institut war außergewöhnlich erfolg- allem ihren frühen Tod) mit dem Man- reich, indem es zahlreiche eigenstän- tel des Mythischen umgab. dig denkende Autoren hervorbrachte, 5. Kurz nach dem Fall der Mauer änderte die in der Lage waren, ihre Kritik am sich deshalb wenig im deutschspra- System und seiner Regierung in de- chigen Raum. Im Zuge der Übernah- zidierter Weise zu artikulieren.2 Der me versuchten westdeutsche Politiker tonangebende Literaturbetrieb im sogar reflexartig das Leipziger Institut westlichen Teil Deutschlands vertrau- abzuwickeln, weil es ökonomisch, te dagegen auf die ordnende Kraft der ideologisch und pädagogisch nicht Gruppe 47. Bei deren Treffen stellten in das Bildungssystem der Bundes- sich die „Genies“ – Paul Celan, Inge- republik zu passen schien. Die hefti- borg Bachmann und andere mehr – gen Proteste belehrten sie immerhin regelmäßig ein. Sie erschienen auf soweit, dass das Institut 1993 zwar dem „elektrischen Stuhl“, um ihre geschlossen, danach aber wieder unveröffentlichten Texte zum intellek- eröffnet wurde. Die Unsicherheiten tuellen Abschuss preiszugeben. Die dieser Übergangszeit führten auch zu Autoren durften ihre Texte nach der einem grundsätzlichen Überdenken Lesung nicht verteidigen, sondern des Bildungssystems. Denn nach dem 570 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Sputnik-Schock (1957) und Georg erwerben. In den beiden letztgenann- Pichts Kampfschrift von der Bildungs- ten Einrichtungen wird das Schreiben katastrophe (1964) orientierte sich die also sinnvollerweise mit Blick auf an- Quantifizierung pädagogisch erzielter dere Künste studiert. Daneben gibt Leistungen im Schulwesen vor allem es im tertiären Bildungsbereich eine an der Systemkonkurrenz zwischen Reihe kleinerer Studiengänge (Z.B. an Ost und West. Nachdem diese Pola- der Alice Salomon Hochschule Berlin) risierung aufgelöst schien, wurden die und individueller Initiativen (Z.B. von nun freigewordenen, enormen Energi- Wolfgang Braungart an der Universi- en in die individuelle Konkurrenz ge- tät Bielefeld). lenkt. Unter anderem die PISA-Tests Das sollte jedoch nicht darüber definierten ab der Jahrtausendwende hinwegtäuschen, dass Kreatives die statistisch vermessenen Felder, Schreiben im Sekundären Bildungs- auf denen dieser internationale Wett- bereich und vor allem an angel- bewerb der Schulkinder wahrgenom- sächsischen Universitäten deutlich men werden sollte: Lesekompetenz, stärker vertreten ist. Diese Kons- mathematische Kompetenz, naturwis- tellation ist kein Zufall, sondern hat senschaftliche Grundbildung. Kre- sich in Abhängigkeit von Strukturen ativität und eine Bildung außerhalb der jeweiligen Bildungssysteme ent- direkter ökonomischer Verwertbar- wickelt. Der Föderalismus und die keit wurden dabei kategorisch aus- Unterschiedlichkeit der Schularten in geschlossen. Auch die Prüfung der Deutschland haben gerade aufgrund nachhaltigen Wirksamkeit von Päd- ihrer Vielfalt und der daraus resul- agogik – im Grunde unabdingbares tierenden Unübersichtlichkeit auch Maß einer jeden Lehrkunst – wurde Freiräume und Nischen erhalten. Vor ausgeblendet; die nach fünf, zehn, allem in den unteren Klassenstufen zwanzig oder mehr Jahren zu stellen- besteht die Möglichkeit, im Unter- den Fragen einer Langzeitstudie nach richt vergleichsweise frei mit dem dem noch immer Erinnerten, den prä- Schreiben von Literatur umzugehen. genden Momenten, vielleicht sogar Experimente können aber sogar noch biographischen Weichenstellungen in den Abschlussprüfungen gewagt der Schulzeit wurden (und werden) werden. So stellte beispielsweise ignoriert. Baden-Württemberg im Abitur und 6. Insofern ist es nicht verwunderlich, im Realschulabschluss Aufgaben- dass auch das Kreative Schreiben stellungen zum Kreativen Schreiben in der Bundesrepublik weiterhin eine zur Wahl. Dabei hatten die Schüler Randexistenz fristete. 1999 gründete die Möglichkeit, einen eigenen Text der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil zu gestalten, in Anlehnung an eines immerhin das Institut für Kreatives der belletristischen Schwerpunktthe- Schreiben und Kulturjournalismus men des Lehrplans. Die noch immer an der Universität Hildesheim. In der breite Bildung, die an vielen weiter- Schweiz wurde 2006 das Schweize- führenden Schulen in Deutschland rische Literaturinstitut an der Hoch- vermittelt wird, erleichtert es dage- schule der Künste Bern eröffnet; an gen, im spezialisierten deutschen der Universität für Angewandte Küns- Hochschulsystem – insbesondere te in Wien kann man seit 2009 einen nach den Bologna-Reformen – derar- Bachelor-Abschluss der Sprachkunst tige Freiheiten als scheinbar obsolet 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 571 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
erachten zu dürfen. Anders verhält es sich mit leichter Verzögerung auch sich in den Vereinigten Staaten. Dort in Großbritannien ab. Nachdem Mal- schwächelt der sekundäre Bildungs- colm Bradbury und Angus Wilson bereich, weshalb an Universitäten 1970 den ersten Studiengang für vor allem im ersten Jahr eine breite Kreatives Schreiben an der Univer- Allgemeinbildung vermittelt wird, um sity of East Anglia eingeführt hat- Versäumtes aufzuholen. Die Studien- ten, folgten bis 2020 insgesamt 53 gänge für Kreatives Schreiben sind weitere Universitäten im Vereinig- Teil eines groß angelegten Bildungs- ten Königreich, jeweils mit teilweise programms, nicht nur Treibhäuser mehreren Studiengängen.5 eines übersättigten Buchmarktes. 7. Einerseits darf diese Entwicklung Gleichzeitig verweist das Kreati- grundsätzlich positiv bewertet wer- ve Schreiben in den Vereinigten den. Die Studierenden üben ihre Staaten auf eine wesentlich länge- literarischen Fähigkeiten aktiv, im ei- re Tradition und – damit verbunden genen Schreiben und der Kritik des – höhere Akzeptanz. Bereits 1897 Schreibens anderer. Sie lernen, sich wurden an der University of Iowa differenziert und multiperspektivisch erste Seminare im Kreativen Schrei- zu artikulieren, schulen ihre Texther- ben angeboten; 1922 konnte dort ein meneutik. Eine grundlegende Fähig- Studienabschluss im Fach erworben keit, die in anderen Studienfächern werden. 1936 wurde an der Univer- und gesamtgesellschaftlich auf beun- sität der Iowa Writers‘ Workshop ruhigende Weise vernachlässigt wird, durch Wilbur Schramm gegründet, gerade vor dem Hintergrund einer der in den folgenden Jahren noch durch forcierte Digitalisierung erodie- einen breiteren Aufwuchs mit Kursen renden Lesefähigkeit.6 Insbesondere in Multimedia Journalismus (1943), für Studierende naturwissenschaftli- Massenkommunikation (1943) und cher und technischer Fächer könn- einem Typographie-Labor (1945) er- te die Ausbildung der (literarischen) fuhr. Die Internationalisierung wurde Kommunikationsfähigkeiten in einem gleichzeitig von Paul Engle, später Studium Generale eine Bereicherung von seiner taiwanesischen Frau Hua- darstellen.7 Zusätzlich werden Techni- ling Nieh Engle vorangetrieben. Bis ken entwickelt, hermetische Schema- heute haben Studierende aus etwa ta wissenschaftlichen Schreibens zu 120 Ländern das International Wri- durchbrechen, eigene Erkenntnisse ting Programme absolviert, während – im Sinne des Expository Writing – das Angebot noch größer wurde: mit allgemeinverständlicher darzustel- Studiengängen in New Media Arts len, eine größere Reichweite bei der and Literature (ab 1968), Überset- Vermittlung von Inhalten zu erlangen. zung (1974 gegründet von Gayatri Gleichzeitig entstünde in einem ent- Spivak) und Expository Writing, also sprechend ausgestatteten Studium dem allgemein verständlichen Ver- Generale im Verbund mit anderen fassen wissenschaftlicher Texte (ab Fächern ein Raum, in dem Defizite 1976).3 Inzwischen haben Studie- aus dem schulischen Bereich aufge- rende in den Vereinigten Staaten die arbeitet werden könnten, wie dies bei- Wahl zwischen 155 Master-Studi- spielsweise im Tübinger Fichte Kolleg engängen für Kreatives Schreiben.4 geschieht. Der gemeinsame Rekurs Eine ähnliche Entwicklung zeichnet auf Bildungsgüter, die immer auch 572 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gesellschaftliche Werte symbolisieren, auf Studierende anderer Fächer aus, fällt dann leichter, die soziale Verstän- die wenigstens zeitweise in der Lage digung wird verbessert. Keinesfalls wären, die Seminare zu besuchen, um unterschätzt werden sollten darüber die bereits genannten kommunikativen hinaus therapeutische Aspekte. Stu- Fähigkeiten weiterzuentwickeln. dierende lernen, eigene Probleme zu Doch andererseits treten in dieser artikulieren, sie in einen therapeuti- Konstellation Nebenwirkungen auf: schen Bereich zu überführen; anstatt Das Hauptanliegen vieler Studieren- sie untergründig wuchern zu lassen, der des Kreativen Schreibens ist es – was einem geregelten Studium kaum wenigstens im angelsächsischen Kul- dienlich ist. Rezeptiv kann eine gründli- turraum – scheinbar nicht mehr, in che, unvoreingenommene Textherme- erster Linie individuelle Fähigkeiten zu neutik auch die zwischenmenschliche entwickeln, sondern sich – stilistisch Empathie stärken. Wer willens ist, und inhaltlich angepasst – möglichst sich mit einer längeren Interpretation früh erfolgreich auf dem Literaturmarkt auf Lyrik von Bert Papenfuss einzu- zu positionieren.8 Die Lehrkunst wird in lassen, könnte auch eher bereit sein, die Rolle eines Erfüllungsgehilfen der anstrengende Diskussionen zu führen, Vermarktung gedrängt. Gleichzeitig bei denen die eigene, künstlich beru- bedingt die Vielzahl der Studiengän- higte Komfortzone verstörende Anstö- ge, dass eine stabile Lehrqualität – ße erhält, während das Verständnis trotz (oder aufgrund) aller Normierung für andere gesellschaftliche Positio- und Leistungsmessung – nicht immer nen wächst. Eine Lehrkunst, die eine gewährleistet werden kann.9 Die Ge- präzise, unvoreingenommene Herme- fahren dieser Expansion, so ließe sich neutik dieses Dritten – jenseits der folgern, bestehen folglich in einem Subjektivität von Lehrer und Schüler – Wachstum belangloser Publikationen umgeht, läuft stets Gefahr auf dem und einer noch stärkeren Kommerzi- Niveau kommoder Selbstvergewisse- alisierung des Literatur- und Studien- rung zu erlahmen. marktes. Formal und inhaltlich mutige Dabei möchte ich keineswegs eine Veröffentlichungen werden in dieser Pathologisierung des gegenwärtigen Konstellation benachteiligt, eventuell Studiums herbeischreiben. Vielmehr sogar geächtet. Begünstigt werden haben wir uns mit dem Phänomen stattdessen eher biedermeierliche auseinanderzusetzen, dass die immer Ansätze, indem beflissen couragierte virulenter werdenden, psychischen Autoren ihre wohltemperierte Rebel- Probleme von Schülern der Sekun- lion tunlichst am Marktklima und der darstufe nicht automatisch mit dem politischen Großwetterlage orientie- Abitur und der Studienimmatrikulation ren. Man darf ebenso einen Quali- beseitigt sind. Umgekehrt sollte für tätsverlust in der rasch aufgeblähten das literarische Schreiben in Deutsch- akademischen Lehre prognostizieren, land möglich sein, was für den Sport, der dazu führte, dass viele der – in den das Schauspiel, die Bildenden Küns- angelsächsischen Ländern fast durch- te, den Journalismus gilt: Dass es weg gebührenpflichtigen – Studien- Leistungszentren gibt, an denen au- gänge nicht zuletzt dazu dienten, ihren ßergewöhnlich begabte Studierende Studierenden einen Abschluss zu ver- gezielt gefördert werden. Und diese leihen – was wiederum die Kommerzi- Förderung strahlte wiederum positiv alisierung der Hochschulen forcierte. 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 573 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Gewiss tragen diese Folgerungen im Vordergrund stehen sollte, wurde einen modellhaften, allzu normativen bei der Möglichkeit von Mehrfach- Charakter. Sie geben die Nuancen nennungen eine breite Auswahl an nicht wieder, die in der Praxis zwi- Gattungen und Genres präsentiert. schen den einzelnen Universitäten, Im letzten, hier näher beschriebenen den Studiengängen, den Seminaren, Seminar vom Februar 2019 mit 27 den Ansätzen der Dozierenden, der Studierenden – aus allen Studiengän- Vielfalt der Studierenden bestehen. gen10 des gleichen Jahres – waren Kin- Und selbstverständlich macht es derbücher (10 Nennungen) vertreten, dabei einen Unterschied, ob Dreh- Ratgeber und Philosophische Werke bücher, Romane, Reportagen oder (8), literarische Prosa (26), Trivialro- Lyrik geschrieben werden. Für den mane (1), Lyrik und Songs (3) und Umgang mit Kreativem Schreiben im Dramen (3). Überwiegend wurden die deutschen Hochschulwesen stellt Bücher von den Eltern geschenkt oder sich deshalb die Frage, wie in der ge- von Freunden empfohlen. Klassische genwärtigen Situation die Vorteile des Schullektüren wurden in geringerem angelsächsischen Systems übernom- Maße genannt. Scheinbar zufällige men und dessen Nachteile vermieden Begegnungen mit Literatur – wie das werden können. Finden von Gioconda Bellis La mujer 8. Ohne den Umweg über theoretische habitada (1988) in einem Autonomen Entwürfe nehmen zu müssen, bot Zentrum kamen ganz selten vor. Meine sich mir an der damaligen Cusanus Stichprobe trägt zwar keinen gesell- Hochschule in Bernkastel-Kues die schaftlich repräsentativen Charakter, Möglichkeit, zwischen 2016 und 2019 zumal es sich um Studierende an einen eng begrenzten Praxisversuch einer Reformhochschule handelte. Sie unternehmen zu können, mit mehre- entspricht aber teilweise den Erkennt- ren Blockseminaren zum Kreativen nissen einer umfassender angelegten Schreiben, hauptsächlich von Lyrik. Studie Kila van der Starres, die für Auch weil es sich jeweils um Blockse- die Niederlande nachwies, dass der minare von zwei aufeinanderfolgenden Umgang mit Lyrik dort gegenwärtig Tagen handelte, schien es uns nicht vor allem über soziale Kontakte entwi- angebracht, Gedichte vor Ort unter ckelt wird, nicht aber primär institutio- künstlichen Bedingungen schreiben nell oder individuell stattfindet.11 Eine zu lassen. Stattdessen waren die Stu- Konstellation, die sich in Deutschland dierenden eingeladen, eigene Lyrik beispielsweise vom Schulfach Ge- vorab einzureichen, die in einer Übung schichte unterscheidet, wo Wissen besprochen wurde. vorwiegend in der Schule erworben Zu Beginn des Seminars waren die wurde.12 Natürlich ist Lyrik die kleins- Studierenden aufgefordert, ein Buch te und damit potenziell zugänglichste vorzustellen, das sie in vielleicht ent- Gattung, passt also am besten zu die- scheidender Weise beeinflusst oder sem Vermittlungsweg. Dennoch stellt beeindruckt hatte. Die Gruppengröße – sich die Frage, ob der Umgang mit zwischen 12 und 27 Teilnehmer – Literatur im schulischen Bereich nicht gestattete eine gemeinsame und dis- noch ein gewisses Entwicklungsdesi- ziplinierte Besprechung durchaus. derat birgt, wie dies von der OECD Obwohl der Seminarplan unschwer er- bekanntlich in ähnlicher Weise für alle kennen ließ, dass vor allem Belletristik Fächer in Deutschland angemahnt 574 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
wird.13 Denn die Vermittlung von Bil- Kontext: die Epochenmerkmale, den dung durch unmittelbare Bezugsper- biographischen Hintergrund des Dich- sonen im Familien- und Freundeskreis ters oder der Dichterin, den unmittel- benachteiligt letztendlich die ohnehin baren Zusammenhang der Entstehung Benachteiligten, die sogenannten des Gedichtes. Auch der Verweis auf bildungsfernen Bevölkerungsschich- das Hinzuziehen von Sekundärliteratur ten. Auf diese Weise wird soziale war uns erwähnenswert. Ungleichheit perpetuiert – und damit Das klingt banal, ist es aber nicht, die Unfreiheit, die eigene Lebenslage wenn auf dieser Grundlage eine eige- verbessern zu können. Es sollte auch ne und neue Interpretation entworfen hier nicht vergessen werden, dass die werden kann. Denn das vielleicht zä- qualitative Gewichtung der Lehrpläne heste Vorurteil, das nach wie vor den nach Schularten diese Ungleichheit Schulunterricht heimsucht, besteht fester zementiert. Es ist lebensfremd wohl in der Annahme, dass die auto- zu denken, dass Schüler allein, weil ritativ durch Lehrer, Lektürehilfe und sie in einer „bildungsfernen“ Familie Erwartungshorizont gegebene Inter- aufwachsen, kein Interesse an an- pretation richtig sei. Richtiger jedenfalls spruchsvoller Literatur, an Theater, als andere Versionen, die dagegen als Oper oder den Bildenden Künsten fehlerhaft kritisiert werden müssten. entwickeln können. Tatsächlich haben Die kreative Freiheit des Lesens und sie es ohne häusliche Förderung Interpretierens kann auf diese Weise schwerer, was wiederum durch eine durch eine bürokratische Hermeneu- niedrigschwellige Vermittlung, eine tik unterdrückt werden. Aus dieser realistische Erwartungshaltung der Perspektive scheint die Wiedergabe Lehrenden und eine heterogene Zu- autorisierter Informationen korrekter zu sammensetzung der Schülerschaft sein als die präzise Eigenlektüre des ausgeglichen werden kann.14 Gedichts und die Ausbildung eines Nach der Vorstellungsrunde erläu- individuellen, möglicherweise ebenso terten meine Kollegin und ich mittels faktenbasierten Erkenntnisprozesses. einer Präsentation die Grundlagen In der wissenschaftlichen Forschung einer angemessenen Lyrikinterpre- verhält es sich bekanntermaßen um- tation. Dabei ging es auch um den gekehrt. Dort sollte die Interpretation ersten, subjektiven Eindruck, vor zwar an die Sekundärliteratur anknüp- allem aber um die Erschließung des fen, den Kontext des Gedichtes ein- Inhaltes, um Ambiguitäten, Fragen beziehen. Doch eine Auslegung, die der Form wie Reimschema und Vers- lediglich Vorarbeiten anderer wieder- maß, dann aber ebenso um Wortwahl, gibt, in Vortrag oder Publikation keine Syntax, Stilmittel, eine mögliche Defi- neuen Akzente setzt, wird bestenfalls nition des Genres und der Gattung. verhalten rezipiert. Lehrkunst besteht Fragen zum lyrischen Subjekt bzw. also in der Hinführung darauf, die ei- zur Sprecherperspektive wurden gene Lesart (kritisch) mit den Erkennt- ebenso geklärt wie die Beziehung nissen fachlich anerkannter Vor-Leser zwischen abstraktem und realem zu kontrastieren. Autor. Schließlich behandelten wir – Da das Seminar fast ausschließlich losgelöst von der textimmanenten von fachfremden Studierenden (Phi- Interpretation – die Wichtigkeit der losophen und Ökonomen) besucht Bezüge zum literaturhistorischen wurde, vertieften wir den Methodenteil 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 575 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
an literaturgeschichtlichen Beispielen der Verse. In diesem Sinne bewirken in der Praxis. Die Übungen erstreck- gerade die scheinbar zugänglichen, ten sich von Goethes Ein gleiches anthologisierten Klassiker – mit ihrer (1780) über die Genese von Con- Orientierung an Ästhetik und Form – rad Ferdinand Meyers Der römische eine etwas geringere Resonanz, we- Brunnen (1866-1882), symbolisti- nigstens im tertiären Bildungsbereich. scher und expressionistischer Lyrik, 9. Die Frage nach der Begegnung mit Brechts Radwechsel (1953) bis hin einem biographisch entscheidenden zu Peter Handkes Aufstellung des Werk wurde in der übernächsten Ein- 1. FC Nürnberg (1968) und Langua- heit aus ökonomischer Perspektive ge Poetry von Robert Grenier: oh he analysiert. Ein von mir entworfener got a shoe from the waves (1985). Impulsvortrag zum Einfluss von Unter- Den Abschluss bildete die unmittel- nehmensgruppen auf Umsatz und Ver- bare Gegenwart, mit Ann Cottens trieb in Verlagswesen und Buchhandel Rosa Meinung (2010) und damals sollte dabei auf die Beschränkungen, noch unveröffentlichten Gedichten die Unfreiheit unserer Auswahlmög- aus Gerhard Falkners Schorfhei- lichkeiten im Buchhandel hinweisen. de-Zyklus (2019). Interessanterweise Fokussiert auf den Deutschen Buch- erfuhren die eher leserzentrierten, her- preis konnte festgestellt werden, metischen Gedichte von Handke und dass von dessen Verleihung fast aus- Grenier tatsächlich die stärkste Reso- schließlich die marktstarken Verlage nanz. Nach Erklärung des jeweiligen großer Unternehmensgruppen wie Kontextes wurden die Gedichte als Holtzbrinck (Kiepenheuer & Witsch, solche ernstgenommen und intensiv Rowohlt, S. Fischer), Random House / interpretiert. Greniers Einzeiler löste Bertelsmann (Luchterhand, DVA, eine differenzierte Diskussion aus, Knaus, Heyne u.a.) und Bonnier (Ber- die nach vierzig Minuten durch meine lin Verlag, Piper) bzw. größere un- Kollegin und mich beendet werden abhängige Literaturverlage (Hanser, musste. Auch Ann Cottens Gedicht, Suhrkamp, Aufbau) profitieren. Die eine poetische Subversion judikativer Preisverleihung selbst verstärkt die Herrschaftsarchitektur, namentlich Bekanntheit, damit ebenso die Aufla- des Landgerichts Berlin-Moabit („Die- genhöhe des jeweils ausgezeichneten ser Prunk im schmalen Schoße / ist Romans15. Ein Effekt, der sich auch der Trödelväter Schaum“), wirkte we- bedingt durch die Konzentration des niger provokativ oder konsternierend, Buchhandels auf wenige Sortimenter, sondern eher inspirierend, und wurde die mit großen Verkaufsflächen, absat- rege diskutiert. zorientiertem Markzugang und einem Hier zeichneten sich bereits Er- schnell drehenden Angebot arbeiten. kenntnisfacetten zur aktuellen Lyrik- Vor allem unterhaltsame Romane pro- rezeption ab, die nicht überraschen sperieren in diesem ökonomisch defi- dürften: Je stärker die hermetischen nierten System, während das Drama Qualitäten eines Gedichtes, desto in- im subventionierten Theater einen terpretationsoffener, desto freier und Schutzraum gefunden hat, (herme- intensiver kann die rezeptive Diskus- tische) Lyrik oder unbequeme Lite- sion ausfallen – bei entsprechender ratur überhaupt verdrängt wird. Als literaturhistorischer Kontextualisierung ‚frei‘ – im Sinne mannigfaltiger, leicht 576 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
erschließbarer Auswahl und Ermög- als Wahrheitserfahrung, aber auch als lichung freier Meinungsäußerung – Selbstreflexion, Horizonterweiterung, kann ein solch rigide konzentrierter der Möglichkeit einer Ausbildung von Markt nur noch bedingt bezeichnet Spiritualität. Umgekehrt aber auch als werden; zumal es eine größere Anzahl differenzierte Spiegelung eigener Ge- von inzwischen fast verdrängten Klein- fühle und Gedanken, die einen Iden- verlagen gibt, die früher noch leichter titätszuwachs ermöglicht, vielleicht über unabhängige Buchhandlungen sogar fiktionale Vorbilder findet – und einen Zugang zum Leser fanden. Ob immer eine Alternative zu formaler die Algorithmen von Amazon oder die Bildung darstellt; also ein erhebliches Kurzbeschreibungen auf Ebay hier Freiheitsmoment birgt, das es wiede- Abhilfe schaffen, ist fraglich und kann rum erlaubt, sich – wenigstens über an dieser Stelle nicht weiter erörtert den Ausweg der Literatur – aus den werden. Festgehalten werden soll- Reglementierungen der Bildungswelt te jedoch, dass Wahlmöglichkeiten zurückzuziehen. Ein Lehrkünstler sollte in der Lektüre einen Gradmesser für diese Auswege kennen – und gege- die Freiheit der Lehrkunst darstellen. benenfalls auch Umwege tolerieren, Insbesondere wenn Lehrkräfte – auch vielleicht sogar anregen, die nicht in aufgrund ihres eigenen, verschulten Stunden- und Bildungsplänen karto- Studiums und kompetenzorientierter graphiert sind. Schließlich wurde die Bildungspläne – lediglich auf abzu- Arbeit an der Form betont, wobei es arbeitende Lektürevorgaben reagie- nur oberflächlich um Sprachmelodie ren, ihre Schüler aber nicht mehr mit oder sogar Sprachmagie ging, son- durchdachten eigenen Vorschlägen dern vielmehr um das Erkennen von interessieren, vielleicht sogar begeis- Narrativen, rhetorischen Mitteln, Inten- tern können. Selbst wenn es schwer tionen und der eigenen Arbeit an der ist, solche Lücken ohne entsprechen- Sprache, das Wichtigste möglichst de Kenntnis von Literaturgeschichte verdichtet, prägnant, überzeugend und Gegenwartsliteratur zu identifizie- darstellen zu können. ren, könnte bereits das Bewusstsein 10. In diesem Sinne schloss sich eine für übersehene Preziosen der Bellet- (passive) Stilübung an, bei der jeweils ristik eine Basis für die inhaltliche Er- 10 anonymisierte Zitate aus bedeuten- weiterung der Lehrkunst bilden. deren Werken der deutschsprachi- Nach dem Exkurs in die Ökonomie gen Literatur direkt ihren Verfassern folgte eine kurze Diskussion der zugeordnet werden sollten, um das durch Literatur, insbesondere Lyrik Gespür für den individuellen Stil eines angeregten emotionalen Intelligenz. Autors textimmanent zu belegen. Um Angesprochen wurden dabei drei ein Zitat aus der Deutschstunde – mit Schwerpunkte: Zuerst das Verstehen Begründung – zuzuordnen, standen entfernterer Zusammenhänge, das ein beispielsweise die Autoren Alfred Erfahren und Erkennen der Mitwelt, Döblin (Berlin Alexanderplatz, 1928), damit auch anderer Menschen erlaubt, Franz Kafka (Der Process, 1925) und eine kritische Spiegelung von Gegen- eben Siegfried Lenz (Deutschstun- wart und Zukunft ermöglicht, individu- de, 1968) zur Auswahl. Der zuord- ell und frei artikuliert. Damit verbunden nende Vorschlag musste im Plenum ist die Möglichkeit der Selbsterfahrung erläutert werden, sodass nicht nur 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 577 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
literaturgeschichtliche Kenntnisse Generation, die im Gefühl der Locke- im gemeinsamen Diskurs erneu- rung von Bindungen, der Auflösung ert wurden. Auch das Register zur von Erinnerung und Verlässlichkeit in Wahrnehmung individueller Aus- eine offene Zukunft geht. drucksmöglichkeiten konnte erweitert werden. DER TAG IST LOSE. 11. Diese Übung leitete zum vielleicht inte- ressantesten Teil des Seminars über: Die Schleife seines Schuhs Einem Planspiel, bei dem in sieben Ar- Droht ihrer eigenen Umarmung beitsgruppen aus einem Konvolut von Zu entgleiten. insgesamt 16 anonymisierten Gedich- Ich gehe; ich weiß nicht, wohin. ten fünf Texte für eine (fiktive) Antho- Jeder Schritt überrascht mich. logie ausgewählt werden sollten. Die Doch kaum ist er gesetzt, Auswahl musste im Plenum begründet Vergess ich ihn. werden, was die Möglichkeit bot, die lyrikkritische Differenzierungsfähigkeit Ich halt die Sinne ausgestreckt – der Studierenden wahrzunehmen. Wege, die auf Weiser warten. Gezählt wurde bei den einzelnen Meine Schritte sind Stiche mit dem Gedichten dann die Häufigkeit der Spaten: Auswahl. Im Vorfeld des Seminars Jeder hebt den Atem wurden die Studierenden gebeten, dazu eigene Gedichte einzureichen, Frischer Erde. Ich weiß nicht, die dann ebenfalls anonymisiert dem Ob ich Wildnis werde oder Garten. Konvolut beigefügt und auf die Ar- beitsgruppen verteilt wurden. Im Kon- Auch das zweitplatzierte Gedicht (Lob volut selbst befanden sich neben den der Glut, 5 von 7 Nennungen), ein her- Gedichten der Studierenden Verse metisch-spiritueller Text, den ich bei von anderen, bekannteren Lyrikern, dem Alumnus, Künstler und heutigen beispielsweise von Else Lasker-Schü- Waldorflehrer Christoph Schomann ler, Ingeborg Bachmann, Yoko Tawa- angefragt hatte, stammte aus dem da, Marion Poschmann oder Robert unmittelbaren Kontext der Hochschu- Gernhardt. Die Ergebnisse der Ar- le. Auf dem dritten Platz zeigte sich beitsgruppen erbrachten schließlich schließlich ein gemischteres Bild. Dort eine Überraschung, die sich bei nä- waren mit jeweils 3 von 7 Nennun- herer Betrachtung als folgerichtig er- gen Julia Engelmanns Stille Poeten, wies. Das Gedicht, das mit 6 von 7 Jörg Schiekes Große Schrift eines möglichen Nennungen am häufigsten schwierigen Schülers, aber auch ausgewählt wurde, kam von einem Else Lasker-Schülers Meine Mutter Master-Studierenden der Philosophie, und Joachim Kremers‘ Durch und Niklas Elsenbruch. Sein Autor verhielt Durch vertreten. Lediglich der Letzt- sich im Seminar zurückhaltend (was genannte nahm als Studierender am die Echtheit des Votums unterstrich), Seminar teil, die anderen weisen recht hatte aber seit mehreren Jahren das unterschiedliche biografische Hinter- Schreiben von Lyrik geübt. Das Ge- gründe auf.16 Auffällig war dennoch, dicht selbst, das hier in voller Länge dass sich das Votum vor allem aus zitiert wird, verdichtet in freien Ver- einer Identifikation mit den Inhalten, sen das situative Lebensgefühl einer aber auch aus der damit verbundenen 578 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Darstellungsweise erklärte. Mit an- wie ihn beispielsweise Jean Portante deren Worten: Die Resonanz auf die in seinen Seminaren an der Universität Gedichte war umso größer, je direk- Luxemburg pflegt, mit Übersetzungen ter sie das Lebensgefühl ihrer Leser und Rückübersetzungen französisch- wiedergaben. Einerseits birgt diese sprachiger Gedichte. Und natürlich Konstellation die Gefahr einer Selbst- kann Lyrik direkt in der Fremdspra- bespiegelung, bei der nur Texte posi- che, der jeweiligen Herkunftssprache tive rezipiert werden, die der eigenen oder einer Mischung aus beiden (und Seelenlage entsprechen. Andererseits weiteren Sprachen) verfasst werden. zeigt sie, dass sich über die Fähigkeit, Wichtig ist es, in jedem Falle vor dem eigene Wünsche, Hoffnungen, Be- Schreiben oder der Vorstellung eige- fürchtungen poetisch zu formulieren, ner Verse der Studierenden die theo- andere Menschen erreichen lassen. retischen Grundlagen für den Umgang Beobachtungen, Gefühle, Erkennt- mit Lyrik zu wiederholen. Textherme- nisse können mit anderen Menschen neutische Übungen mit Beispielen aus geteilt werden. Die Lehrkunst macht der Literaturgeschichte sind dabei diese Gemeinsamkeiten sichtbar, regt essenziell. Selbst wenn eigene Texte also potenziell ein tieferes gegensei- in freien Versen geschrieben wer- tiges Verständnis an. Und befördert den, sollten grundlegende formale damit auch einen konstruktiven gesell- Kenntnisse vorhanden sein. Anders schaftlichen Austausch. ausgedrückt: Wer nicht weiß, was 12. In einem Seminar bzw. einem Studi- ein Sonett ist, zeigt nicht, dass er ein um Generale bedarf dieser Austausch Dichter ist –, sondern betont lediglich auf vordefinierter Mikroebene aller- seine Indifferenz, vielleicht sogar seine dings Rahmenbedingungen, die ich Ignoranz gegenüber den formalen Sei- zusammenfassend darlegen möch- ten der Lyrik. Gleichzeitig lassen sich te. Grundsätzliche Voraussetzung ist im Rekurs auf die Lyrikgeschichte es, eine Atmosphäre von Offenheit unzählige kreative Anregungen und und Toleranz im Seminar zu schaf- Vorbilder finden, mit denen der Hori- fen. Der poetische Umgang mit sehr zont der Schreibenden erweitert, ihre individuellen Äußerungen benötigt Selbstbezogenheit gelockert werden einen Schutzraum, der erst einmal kann. Darüber hinaus konstituiert die nicht durch politisch, pädagogisch, Intertextualität – der Bezug auf an- wissenschaftlich oder künstlerisch dere Texte – ein wichtiges Kriterium normative Vorstellungen beeinträch- der Lyrik von heute. Während Slam tigt werden sollte. Wünschenswert Poetry – wie etwa bei Julia Engelmann – wäre es auch, wenn Seminare im ak- bewusst um die Selbstbezogenheit tiven Austausch mit anderen Künsten der Sprecherin kreist, sich damit auch stattfänden. Musik und Performance auf die Selbstfixierung der Adressaten liefern dafür zahlreiche Anregungen, bezieht, sind in die Gedichte von Ann wie dies etwa Timo Brunke, Martina Cotten, Monika Rinck oder Gerhard Hefter oder Bas Böttcher erfolgreich Falkner unzählige kulturgeschichtli- umsetzen. Selbstverständlich bieten che Verweise eingeflochten. Natürlich sich Kombinationen mit den Bildenden geht die Gleichung nicht auf, dass die Künsten an. Ebenso ist – insbesonde- Zahl raffinierter Anspielungen simultan re im Hochschulbereich – der kreative die Qualität des Gedichts erhöht. Wer Umgang mit Fremdsprachen denkbar, jedoch – um hier ein recht spezielles 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 579 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Beispiel zu konstruieren – ein Gedicht darüber hinaus angebracht, um früh- über Kölner Kneipen im Sommer ge- zeitig die Bildung konträrer Positionen schrieben hat, aber Rolf Dieter Brink- zwischen Kunst und Wissenschaft zu manns Einen jener klassischen nicht vermeiden. In den Vereinigten Staa- kennt, beweist damit leider auch seine ten führte diese Entwicklung bereits poetische Unbildung.17 Und schafft zur Ausgrenzung bzw. Abschottung damit denkbar schlechte Vorausset- mancher an Universitäten lehrenden zungen für die Rezeption des eigenen Dichter, die in vielerlei Hinsicht nicht Textes in der seriösen, auch akade- den herkömmlichen akademischen misch orientierten Gegenwartslitera- Regeln unterworfen sind und dadurch tur, die sich prinzipiell als (aktuellen) einen vermeintlichen Sonderstatus ge- Teil der Literaturgeschichte versteht. nießen. Fast konträr dazu scheint der Nicht nur deshalb wäre es wichtig, Nimbus der Dichter zu leiden, wenn dass Dichter die Seminare gleich- sie einen Teil ihrer Freiheit gegen das berechtigt mitgestalten oder einfach Gehalt eintauschen, das ihnen durch selbst geben sollten. Dabei ginge es Anpassung an das – mehr oder we- nicht vorrangig darum, den Studie- niger reglementierende – Wissen- renden in der Begegnung mit dem schaftssystem gewährt wird.18 Auch Dichter ein auratisches Erlebnis zu die Beschäftigung mit der eigenen bescheren oder ihnen sein (vielleicht) Disziplin auf einer Metaebene, die größeres Talent zu offenbaren. Prio- sich im angelsächsischen Kulturraum rität hätten vielmehr die Authentizität als Creative Writing Studies kontu- des Vermittelten, die mit den Jahren riert19, ist wohl nur so lange hilfreich, gewachsene Expertise des Künst- wie sie das Schreiben unterstützt, lers, auch im Umgang mit Grenzen in weiterentwickelt, verbessert – und Produktion und Rezeption, außerdem nicht Ressourcen in selbstreferenziel- existentielle Einblicke in das Leben len Schleifen bindet, die ebenso zum als Lyriker, in Rückschläge und Erfol- Abschnüren einer freien Bildung ein- ge des Dichtens. Dabei spielen dann gesetzt werden können. weniger Berühmtheit, Preise und Pu- 13. Frei nach Aristoteles‘ Nikomachischer blikationsliste eine Rolle, sondern die Ethik ließe sich ein gesellschaftliches Befähigung des Dichters, Studieren- Kommunikationsmodell mit drei Ebe- de im eigenen Schreiben anzuregen. nen denken, das abschließend auch Dass dieser künstlerische Prozess die Frage beantwortet, wie das Kreati- der Norm formaler Bewertungen – wie ve Schreiben als vitales Element einer man sie beispielsweise aus dem Re- Lehrkunst zur Freiheit der Gesell- ferendariat kennt – entzogen werden schaft gesehen werden kann. Auf der müsste, versteht sich (fast) von selbst. untersten, subalternen Ebene findet Die Rolle des Wissenschaftlers läge eine lediglich reaktive, stumme Kom- – im gemeinsamen Seminar – dabei munikation statt. Die Menschen wäh- in der Moderation, in der Ergänzung len aus gesetzten Möglichkeiten: Sei des philologischen, literaturtheore- es bei Multiple Choice-Umfragen, bei tischen, falls notwendig auch litera- Wahlen oder bei der Entscheidung, turhistorischen Kontextes, sowie in welches Konsumprodukt sie erwer- der Seminarorganisation – eventuell ben. Auf der zweiten Ebene kommu- auch der Erschließung anderer Fä- nizieren die Menschen auch selbst. cher. Eine Zusammenarbeit scheint Sie artikulieren sich aktiv in vielfältiger 580 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Weise, mündlich und schriftlich: in im Oktober 2018 von der Staatsan- Form von Blogs, Artikeln, Vorträgen waltschaft München verhängte Buß- oder Gedichten; aber auch in non-ver- geld in Höhe von 800 Millionen Euro balen Kunstformen – nicht notwendi- erspart. Der Gesamtverlust lässt sich gerweise dialogisch, aber meistens in weniger genau wiedergeben, dürfte der Erwartung einer Reaktion seitens aber um ein Vielfaches höher liegen. potenzieller Adressaten. Auf der drit- Der immense Schaden einer digitali- ten Ebene schließlich gehen die Men- sierten Gesellschaft ohne poetisches schen bewusst und reflektiert mit den Korrektiv könnte auch das Milliarden- Möglichkeiten des gesellschaftlichen defizit des Dieselskandals noch als un- Diskurses um: In welchem Kontext, in bedeutende Nebenspesen erscheinen welcher Weise ist die Kommunikation lassen. 21 am angebrachtesten, daher am wirk- samsten? Bei einem Weiterdenken von kommunikationswissenschaftli- chen Modellen20 stellt sich darüber Anmerkungen hinaus die Frage, wie der Dialog ge- 1 Kracauer, Siegfried, Die Angestellten. Frank- staltet werden kann, stilistisch und furt a.M., 3. Auflage 1980, S. 70 f. formal, um vielleicht einen Konsens, 2 Vgl. die exakte Aufarbeitung der Institutsge- wenigstens aber eine Schnittmenge schichte in der DDR: Lehn, Isabelle, Macht, an gemeinsamem Verständnis zu er- Sascha und Stopka, Katja, Schreiben ler- zielen. Wenn das Kreative Schreiben nen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Göttingen 2018. sich vom Primat technischer und uti- 3 Auch die Geschichte des Iowa Writers‘ litaristischer Aspekte befreite, dazu Workshop ist wissenschaftlich aufgearbeitet. emanzipierte, mit bewusst gestalte- Vgl.: Dowling, David O., A Delicate Aggres- ten, poetischen Texten im richtigen sion: Savagery and Survival in the Iowa Wri- Moment an der passenden Stelle von ters' Workshop. New Haven u. London 2019. Menschen im gesellschaftlichen Dis- 4 https://www.hotcoursesabroad.com/study/ kurs verstanden zu werden –, dann training-degrees/us-usa/postgraduate/crea- tive-writing-courses/loc/211/slevel/3/cgory/ hätte die Lehrkunst ihr Ziel erreicht, kc.3-4/sin/ct/programs.html (30/10/2020) der erste Schritt zur Erfüllung des Äl- 5 Die im Ranking des Complete University Gui- testen Systemprogramms wäre getan. des erfolgreichste Hochschule, die Universi- 14. Postskriptum: Der Vorsprung, der tät Lancaster, bietet im Studienjahr 2020/21 durch eine präzise Hermeneutik und sogar 12 unterschiedlich gewichtete Studien- das Kreative Schreiben von Lyrik ent- gänge zum Kreativen Schreiben an. 6 Vgl. Christine Sälzer, Lesen im 21. Jahrhun- steht, ist im Einzelfall sogar messbar. Im dert. Lesekompetenzen in einer digitalen konkreten Falle der VW-Tochter Audi Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse (Slogan seit 1971: „Vorsprung durch des PISA-Berichts “21st-century readers“. Technik“) wurde bereits im Mai 2003 Eine PISA-Sonderauswertung der OECD ge- firmenintern ein anonymes Gedicht fördert von der Vodafone Stiftung Deutsch- verschickt, das angelehnt an Goethes land. Ohne Ort 2021. Die Autorin, eine „Erlkönig“ die Manipulationstechniken profilierte Erziehungswissenschaftlerin, stellt dazu fest: „In PISA 2018 war nach Berück- zur Umgehung der Abgas-Grenzwerte sichtigung des sozioökonomischen Status bei Dieselmotoren thematisierte. Wäre (sic) der Schüler*innen und Schulen in 35 der lyrische Hinweis frühzeitig ernstge- Ländern und Volkswirtschaften ein negativer nommen und weitergegeben worden, Zusammenhang zwischen den Schülerleis- hätte dies möglicherweise bereits das tungen im Bereich Lesekompetenz und der 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 581 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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