Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 - Entwicklungen, Bedarfe und Angebote
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Autorenschaft Matthias Schulz Unter Mitwirkung von Iris Groß, Ralph Denzer, Sandra Nicklas und Céline Rheingans Impressum Herausgeber: Magistrat der Landeshauptstadt Wiesbaden Sozialleistungs- und Jobcenter und Amt für Soziale Arbeit Abteilung Grundsatz und Planung Konradinerallee 11 | 65189 Wiesbaden Tel.: 0611 31-3597 | Fax: 0611 31-3951 E-Mail: sozialplanung@wiesbaden.de Druck: Druck-Center der Landeshauptstadt Wiesbaden Titelbilder: Marish bei www.shutterstock.com (bearbeitet) Auflage: 200 Stück Download: http://www.wiesbaden.de/sozialplanung Mai 2021
Verzeichnisse Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG 5 2 SOZIALE LAGE UND STRUKTUR DER ÄLTEREN BEVÖLKERUNG IN DER STADT WIESBADEN 7 WER GEHÖRT ZUR GRUPPE DER „ÄLTEREN MENSCHEN“? 7 BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG 7 BESONDERE LAGEN 11 EINSAMKEIT UND ALLEINLEBEN IM ALTER 11 ALTERSARMUT 13 ZUSAMMENFASSUNG 19 3 ANGEBOTE FÜR ÄLTERE MENSCHEN 21 OFFENE ALTENARBEIT 21 STADTWEITE ANGEBOTE 23 STADTTEILORIENTIERTE ALTENARBEIT 25 PROFESSIONELLE VERNETZUNG 31 BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT 32 DIENSTE FÜR HAUSWIRTSCHAFTLICHE HILFE 33 BERATUNGSANGEBOTE 34 4 WOHNEN 37 WOHNRAUMANPASSUNG 37 ALTENWOHNANLAGEN 37 WOHNGELD 41 GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN 42 5 PFLEGE 43 RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN UND ZUSTÄNDIGKEITEN 43 SOZIALE PFLEGEVERSICHERUNG (SGB XI) 43 KOMMUNALE EBENE 45 LANDESEBENE 47 PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT 47 ANZAHL PFLEGEBEDÜRFTIGER PERSONEN 47 ALTERSSTRUKTUR ALLER PFLEGEBEDÜRFTIGEN 49 LEISTUNGSARTEN 51 PFLEGEGRADE 54 LEISTUNGEN UND EINRICHTUNGEN 55
Verzeichnisse HAUSNOTRUF 55 SELBSTORGANISIERTE PFLEGE 55 AMBULANTE PFLEGEDIENSTE 56 AMBULANTE BETREUUNGSDIENSTE 57 ANGEBOTE ZUR UNTERSTÜTZUNG IM ALLTAG 58 TEILSTATIONÄRE PFLEGE 59 KURZZEITPFLEGE UND VERHINDERUNGSPFLEGE 60 VOLLSTATIONÄRE DAUERPFLEGE 61 SONDERERHEBUNG PFLEGEANBIETER 69 ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG DER PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT 73 LINEARE PROGNOSE 74 ZU ERWARTENDE VERÄNDERUNG DER BEDARFE AN PFLEGELEISTUNGEN 77 6 KOMMUNALE EINFLUSSMÖGLICHKEITEN UND ENTWICKLUNGSPOTENTIALE 79 7 AUSBLICK 85 ANHANG 87 LITERATURVERZEICHNIS 91
Verzeichnisse Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Altersstruktur der Wiesbadener Bevölkerung ........................................................................... 8 Abbildung 2: Anteil der 65-Jährigen und Älteren nach Ortsbezirk in Prozent (2019) (kartiert) ................. 9 Abbildung 3: Bevölkerungsprognose ............................................................................................................... 11 Abbildung 4: Anteil der 75-Jährigen in Einpersonenhaushalten an allen Haushalten mit Menschen ab 75 Jahren nach Ortsbezirk in Prozent (kartiert) ...................................................................... 12 Abbildung 5: Leistungsberechtigte nach Kapitel 3, 4 und 7 innerhalb und außerhalb von Einrichtungen ....................................................................................................................................................... 14 Abbildung 6: Quote der Grundsicherungsempfänger*innen nach dem SGB XII über 65 Jahre außerhalb von Einrichtungen in den Ortsbezirken (kartiert) ................................................. 16 Abbildung 7: Leistungsberechtigte nach Kapitel 7 SGB XII innerhalb und außerhalb von Einrichtungen im Zeitverlauf ............................................................................................................................... 18 Abbildung 8: Teilnehmende an den stadtweiten sozialkulturellen Angeboten der offenen Altenarbeit in Wiesbaden nach Kategorie 2019 und 2020 ............................................................................ 23 Abbildung 9: Besuche bei den städtischen Seniorentreffs (ST) und „Treffpunkten Aktiv“ (TA) in Wiesbaden 2019 und 2020 ........................................................................................................ 26 Abbildung 10: Angebote für Senior*innen in Wiesbaden (kartiert).............................................................. 29 Abbildung 11: Anzahl neue Klient*innen in den Beratungsstellen pro Jahr ............................................... 35 Abbildung 12: Beratungsangebote in Wiesbaden (kartiert) ......................................................................... 36 Abbildung 13: Senior*innenwohnanlagen in Wiesbaden (kartiert) .............................................................. 39 Abbildung 14: Wohngeldbeziehende ............................................................................................................... 41 Abbildung 15: Rechtliche Meilensteine der Pflegeversicherung nach Datum des Inkrafttretens ........... 46 Abbildung 16: Pflegebedürftige und Pflegebedürftigkeitsquoten ................................................................ 50 Abbildung 17: Empfänger*innen von Pflegeversicherungsleistungen ab 65 Jahren nach Leistungsart 51 Abbildung 18: Zusammensetzung der Leistungsarten der Pflegeversicherung........................................ 53 Abbildung 19: Pflegegrad nach Alter und für Wiesbaden insgesamt ......................................................... 54 Abbildung 20: Vergütung ambulanter Dienste in Wiesbaden in Punktwerten (Kastengrafik) ................. 57 Abbildung 21: Anbieter und Kosten der Angebote zur Unterstützung im Alltag in Wiesbaden ............... 59 Abbildung 22: Infobox zur Pflegeaufsicht und Qualitätsstandards .............................................................. 62 Abbildung 23: Altenpflegeheime nach Größenklassen und durchschnittlicher Anzahl der vollstationären Pflegeplätze .................................................................................................... 62 Abbildung 24: Kostenfaktoren für vollstationäre Pflege ................................................................................ 64 Abbildung 25: Bundesweiter Vergleich der Pflegekosten (vdek) ................................................................ 65 Abbildung 26: Vollstationäre Dauer- und Tagespflegeeinrichtungen in Wiesbaden (kartiert) ................ 66 Abbildung 27: Wohnortnahe Versorgung. Versorgungsquote vollstationäre Dauerpflege nach Ortsbezirken in Prozent (kartiert) ............................................................................................ 69 Abbildung 28: Pflegegrade, Altersstruktur und Verweildauer der Pflegebedürftigen nach Art der Pflegeleistung in Wiesbaden ................................................................................................... 71 Abbildung 29: Einflussfaktoren auf die zukünftige Entwicklung der Pflegebedarfe .................................. 74 Abbildung 30: Prognose der Anzahl der Pflegebedürftigen ......................................................................... 75 Abbildung 31: Prognose verschiedener Parameter ...................................................................................... 76 Abbildung A-32: Standards stationäre Altenpflege (Mai 2014).................................................................... 89
Verzeichnisse Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Städtevergleich zum Bevölkerungsstand 2019 ............................................................................. 8 Tabelle 2: Geförderte Seniorentreffs freier Träger in Wiesbaden ............................................................... 27 Tabelle 3: Angebote für Senior*innen in Wiesbaden (Liste) ........................................................................ 30 Tabelle 4: Dienste für hauswirtschaftliche Hilfe und Jahresstunden 2019 ................................................ 34 Tabelle 5: Senior*innenwohnanlagen in Wiesbaden (Liste) ........................................................................ 40 Tabelle 6: Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegegrad und Leistungsart in Euro pro Monat .. 44 Tabelle 7: Weitere Leistungen der Pflegeversicherung unabhängig vom Pflegegrad ............................. 45 Tabelle 8: Vollstationäre Dauer- und Tagespflegeeinrichtungen in Wiesbaden (Liste) ........................... 67 Tabelle A-9: Bevölkerungsprognose für Wiesbaden nach Prognosejahr und Altersgruppen ................. 87 Tabelle A-10: Datentabelle zu Geodatenabbildungen .................................................................................. 88 Abkürzungsverzeichnis AWA Altenwohnanlage a.v.E. Außerhalb von Einrichtungen BMA Bundesministerium für Arbeit BMG Bundesministerium für Gesundheit BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b.W. besondere Wohnformen EEE Einrichtungseinheitlicher Eigenanteil EM Erwerbsminderung FPfZG Familienpflegezeitgesetz Grusi Grundsicherung GSW Gemeinnütziges Siedlungswerk GmbH HAG Hessisches Ausführungsgesetz HGBPAV Ausführungsverordnung zum Hessischen Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleis- tungen HSL Hessisches Statistisches Landesamt HLU Hilfe zum Lebensunterhalt HzP Hilfe zur Pflege LHW Landeshauptstadt Wiesbaden MDK Medizinischer Dienst der Krankenkassen PflegeZG Pflegezeitgesetz PfluV Pflegeunterstützungsverordnung PSG Pflegestärkungsgesetz SGB Sozialgesetzbuch TSVG Terminservice- und Versorgungsgesetz vdek Verband der Ersatzkassen WE Wohneinheiten
5 1 Einleitung Viele Menschen haben konkrete Vorstellun- versorgen, er soll aber auch für die Betroffe- gen darüber, was sie im Alter erleben wollen nen selbst sichtbar machen, welche sie be- und wie und wo sie leben werden. Auch wir, treffenden Infrastrukturen existieren und wel- als Stadt und Amt für Soziale Arbeit, planen che Herausforderungen und Entwicklungen fürs Alter. Auch wir machen uns Gedanken in diesem Bereich vor uns liegen. darüber, wie unsere Stadt jetzt und zukünftig auch für ältere Menschen attraktiv und le- Der Bericht stellt damit die Grunddaten für benswert sein kann. Damit versuchen wir die zukünftige Planungsprozesse und sozialpoli- Lebensverhältnisse der älteren Bürger*innen tische Entscheidungen dar. Das Ausloten zu verbessern, wichtige Entwicklungen und tatsächlicher über die reinen Zahlen und Vo- Informationen abzubilden und Entwicklun- rausberechnungen hinausgehender Bedarfe gen zu antizipieren. der älteren Bevölkerung kann und soll zu- Der vorliegende Bericht ist der vierte umfas- künftig auch mit Hilfe von Beteiligungsver- sende Bericht der Altenhilfeplanung der fahren geschehen. Stadt Wiesbaden.1 Der erste Bericht dieser Art entstand direkt nach der Einführung der Der Bericht unterscheidet vier grundlegende Pflegeversicherung im Jahr 1996 und fokus- Themen, die in jeweils einem Kapitel bear- sierte noch hauptsächlich auf die Themen beitet werden. Hilfe und Pflege. Wenngleich noch heute Als erstes wird in Kapitel 2 die soziale Lage Pflege ein wichtiger Bestandteil des Berichts und Struktur der älteren Bevölkerung darge- ist, so hat sich doch der Fokus des Berichts stellt. Dabei geht es um Themen, wie die stark erweitert. So werden in diesem Bericht Größe, die Zusammensetzung und die öko- viele Themen besprochen und Daten analy- nomische Situation der Gruppe der älteren siert, die ältere Menschen und ihre Lebens- Menschen. Das Thema Altersarmut und Ein- bedingungen betreffen. Der letzte Bericht samkeit wird besonders hervorgehoben. dieser Art erschien im Jahr 2014. Seither hat Im darauffolgenden Kapitel 3 wird die um- sich die Rechtslage im Pflegebereich grund- fangreiche Palette der Angebote für ältere legend geändert. Mit dem Pflegestärkungs- Menschen in der Stadt Wiesbaden darge- gesetz II wurde ein neuer Pflegebegriff etab- stellt. Die Angebote reichen dabei von Seni- liert, der eine grundlegende Neubewertung orentreffs in den Stadtteilen, über Beratungs- der Pflegebedarfe und bestehenden Infra- stellen bis hin zu hauswirtschaftlichen Hilfen. strukturen erfordert. Zudem haben die The- Es folgt im Kapitel 4 das Thema Wohnen. men Alterung der Gesellschaft und zuneh- Fragen der Barrierefreiheit, der Wohnungs- mende Altersarmut an Relevanz gewonnen. politik und des gemeinschaftlichen Wohnens Der Bericht hat verschiedene Adressat*in- werden dort in Bezug auf die Gruppe der äl- nen. Er soll politische Akteur*innen in ihren teren Personen vorgestellt. Entscheidungen unterstützen, er soll institu- Das Kapitel 5 stellt das Thema Pflege umfas- tionelle Akteur*innen, die im Bereich Altenar- send dar. Nach einer kurzen Einführung in beit und Pflege tätig sind mit Informationen die rechtlichen Rahmenbedingungen wer- 1 Bisherige Wiesbadener Alten- und Pflegeberichte stammen aus den Jahren 1996, 2004, 2014.
6 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 den die Ergebnisse der Pflegestatistik vorge- stellt. Dann werden alle Leistungsbereiche und entsprechende Leistungsanbieter näher vorgestellt. Das Kapitel endet mit einer Ana- lyse der zukünftigen Entwicklungen der Pfle- gebedarfe. Der Bericht schließt mit dem Kapitel 6, das eine nicht abgeschlossene Sammlung von kommunalen Handlungsmöglichkeiten ent- hält, gefolgt vom Ausblick.
7 2 Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden Das Verständnis der demografischen und nicht über eine Altersgrenze bestimmt, son- sozioökonomischen Entwicklung bildet die dern über die Feststellung der Pflegebedürf- Grundlage für jede sinnvolle Planung. In die- tigkeit. So wird denn auch in diesem Bericht sem Kapitel wird eine Übersicht über diese keine allgemeine Zielgruppenbestimmung Entwicklung mit einem Fokus auf die ältere vorgenommen. Je nach Kapitel und themati- Bevölkerung gelegt. Dabei wird nicht nur in schem Bereich und Datenlage variiert die in die Vergangenheit und Gegenwart geschaut, den Blick genommene Personengruppe. sondern auch anhand der Prognose über die Bevölkerungsentwicklung versucht, Aussa- gen über zukünftige Entwicklungen zu tref- Bevölkerungsentwicklung fen. Es folgt eine Diskussion der Entwick- Die Landeshauptstadt Wiesbaden ist die lungstendenzen bzgl. Einsamkeit im Alter zweitgrößte Stadt in Hessen. Sie hatte am und Altersarmut. 15.12.2019 291.109 Einwohner*innen, die sich auf 147.027 Haushalte verteilten.2 Wer gehört zur Gruppe der „älte- Die Stadt hatte in den letzten zehn Jahren ei- nen durchschnittlichen positiven Wande- ren Menschen“? rungssaldo von 1.297 Personen.3 Es ziehen Der Name des Berichts legt nahe, dass die also mehr Personen zu als abwandern. Gruppe der älteren Menschen klar umrissen Hinzu kommt, dass pro Jahr 164 mehr Kinder ist. Das ist allerdings nicht so. Was unter ei- geboren werden als Personen versterben. ner „alten Person“ oder dem „Alter“ verstan- Die Wiesbadener Bevölkerung wächst also den wird, lässt sich nicht allgemeingültig und wird weiter wachsen. Laut der aktuellen über Altersgrenzen bestimmen (DIMR 2018: Bevölkerungsprognose für die Stadt Wiesba- 22 - 27). Es hängt von kulturellen, nationalen den wird die Wiesbadener Bevölkerung von und lokalen Bedingungen und Zuschreibun- 291.109 Personen im Jahr 2019 auf 303.709 gen ab. Auch in Wiesbaden wird je nach In- Personen im Jahr 2035 steigen. Das wäre stitution der „Alten“arbeit eine etwas andere ein Wachstum von 4,3 Prozent. (LHW-AfSuS Zielgruppe identifiziert. Gehört für einen 2017). „TreffpunktAktiv“ eine Person ab einem Alter Es leben 63.786 Personen ohne deutsche von 55 zur Zielgruppe, so werden die Sub- Staatsbürgerschaft in Wiesbaden.4 In Kas- ventionierungen hauswirtschaftlicher Hilfen sel, Darmstadt und Wiesbaden hat damit in der Regel für Personen ab einem von Alter etwa ein Fünftel der Bevölkerung keine deut- 60 Jahren gewährt. Aus der Perspektive der sche Staatsbürgerschaft. In Offenbach und Rentenversicherung ist die Lebensphase Al- Frankfurt am Main liegt diese Zahl bei ter über die Regelaltersgrenze definiert. Aus Sicht der Pflegekassen ist die Zielgruppe gar 2 Diese und die direkt folgenden Daten basieren auf dem Wiesbadener Sozialatlas 2019 (https://sozialatlas.wiesbaden.de/). 3 Statistisches Jahrbuch Wiesbaden 2020, Bevölkerung Gesamtstadt, Tabelle 13. 4 Statistisches Jahrbuch Wiesbaden 2020, Bevölkerung Gesamtstadt, Tabelle 1.
8 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 36,6 Prozent bzw. 29,5 Prozent (Tabelle 1).5 Auch wenn sie dadurch einen Teil der Alte- Wiesbaden hat demnach eine vergleichs- rung kompensiert, so beobachten wir insge- weise geringe Ausländerquote. Die häufigs- samt eine quantitative Zunahme der älteren ten Staatszugehörigkeiten neben deutsch Bevölkerungsgruppen. Lag das Durch- sind in Wiesbaden türkisch, polnisch, italie- schnittsalter 1996 noch bei 41,3 Jahren6, nisch, rumänisch, bulgarisch und syrisch. liegt es im Jahr 2019 bei 43 Jahren. Und es 39 Prozent der Wiesbadener Bevölkerung wird weiter steigen. Damit ist Wiesbaden ak- haben einen Migrationshintergrund. tuell im Durschnitt die älteste hessische Großstadt (Tabelle 1). Tabelle 1: Städtevergleich zum Bevölke- rungsstand 2019 Abbildung 1: Altersstruktur der Wiesbade- ner Bevölkerung Ausländer- Großstädte Größe Ø-Alter anteil Darmstadt 159 878 40,8 20,3 % Frankfurt/M 763 380 40,8 29,5 % Offenbach 130 280 40,7 36,6 % Wiesbaden 278 474 43,0 19,8 % Kassel 202 137 42,5 19,0 % H e sse n 6 288 080 4 3 ,9 1 6 ,6 % Quelle: HSL 2020, S. 14 und https://statistik.hes- sen.de/sites/statistik.hessen.de/files/Bevoelke- rung_Durchsch_Al- ter_Kreise_311219_29062020.xlsx (Stichtag 31.12.2019) Grundsatz und Planung Im Jahr 2019 hatten 57.121 Personen im Al- ter von mindestens 65 Jahren ihren Haupt- wohnsitz in Wiesbaden. Das sind 19,6 Pro- zent der Wiesbadener Bevölkerung. Abbil- dung 2 zeigt den Altersaufbau der Wiesba- dener Bevölkerung. Es ist gut erkennbar, dass den Jahrgängen, die in den kommen- den Jahren die Regelaltersgrenze über- schreiten, sukzessive mehr Personen ange- Quelle: Eigene Darstellung basierend auf hören. Die Wiesbadener Bevölkerung wird Statistischem Jahrbuch Wiesba- den 2020. langsam aber stetig älter. Die ausländische Grundsatz und Planung Bevölkerung in Wiesbaden ist im Durch- schnitt jünger als die deutsche Bevölkerung. 5 Für den interkommunalen Vergleich muss in diesem Bericht auf die Zahlen des Hessischen Statistischen Landesamtes zu- rückgegriffen werden. Die hessische Statistik weicht allerdings bzgl. der Zahlen für Wiesbaden von den Zahlen des Statistischen Jahrbuchs Wiesbaden ab. 6 Amt 12 2007: Monitoring zum demographischen Wandel in Wiesbaden.
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 9 Abbildung 2: Anteil der 65-Jährigen und Älteren nach Ortsbezirk in Prozent (2019) (kartiert) Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Tabelle A-10 . Grundsatz und Planung Allerdings ist die Bevölkerung der unter- 2019 wurde mit der Einwohnerstatistik ge- schiedlichen Ortsbezirke nicht gleich alt (Ab- rechnet, ab 2020 liegt die Bevölkerungsprog- bildung 2a). Die Bevölkerung der nördlichen nose des Amts für Statistik und Stadtfor- Ortsbezirke, vor allem Sonnenberg und Heß- schung aus dem Jahr 2017 zu Grunde loch, ist älter als der Rest der Stadt. Mitte und (LHW.AfSuS 2017). Es ist deutlich erkenn- Westend, aber auch das Rheingauviertel, bar, dass ab dem Zeitpunkt, ab dem die rea- Amöneburg und Kastel sind Ortsbezirke mit len Bevölkerungszahlen in die Prognose einem wesentlich geringeren Anteil älterer übergehen, sich der Kurvenverlauf für die Bevölkerung. 65- bis 74-Jährigen und für die 75- bis 84- Jährigen stark ändert. Obgleich die aktu- Abbildung 3 stellt die Entwicklung der älteren ellste Bevölkerungsprognose aus dem Bevölkerung unterteilt in drei Altersgruppen Jahr 2017 ist und schon jetzt ein wenig von zwischen den Jahren 2006 bis 2035 dar. Bis der aktuellen Situation abweicht, ist nicht eine fehlerhafte Prognose die Ursache für
10 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 diese Trendumkehr. Es gibt demografische gruppe gehören die meisten Pflegebe- Prozesse, die ab diesem Jahr zu Buche dürftigen an. Sie bleibt laut Prognose in schlagen: ihrer Größe vergleichsweise stabil bzw. 1. Warum wird die Altersgruppe der 65- bis schrumpft zunächst sogar. 74-Jährigen rasant größer? Die Gruppe der 85-Jährigen und Älteren In Wiesbaden gab es, wie in ganz bleibt absolut gesehen die kleinste Gruppe Deutschland, in den fünfziger und sech- der hier betrachteten drei Altersgruppen. Al- ziger Jahren einen starken Anstieg der lerdings wächst sie wie bisher mehr oder we- Geburten. Es wird auch von der soge- niger gleichmäßig. Zwischen 2006 und 2035 nannten Babyboomer-Generation ge- wird sich diese Gruppe etwa verdoppelt ha- sprochen. In Wiesbaden dauerte diese ben. Sie ist damit die am schnellsten wach- Phase etwa 20 Jahre von 1954 bis 1973. sende Altersgruppe. Sie erreichte ihr Maximum 1966. Ab dem Die Wiesbadener Bevölkerung besteht zu Jahr 2020 erreicht nun der erste Jahr- 51,4 Prozent aus Frauen. Das heißt, es gibt gang dieser Generation die Regelalters- einen leichten Frauenüberschuss. Der Anteil grenze. In den kommenden Jahren wird der Frauen an der jeweiligen Altersgruppe deswegen die Altersgruppe der 65- bis steigt mit dem Alter. Er liegt in der ältesten 74-Jährigen für etwa zwölf Jahre sukzes- Altersgruppe der 80-Jährigen und Älteren sive größer. bei 61,5 Prozent7. Die Alterung der Gesell- 2. Warum wird die Altersgruppe der 75- bis schaft ist also auch eine Frage des Ge- 84-Jährigen vorübergehend kleiner? schlechterverhältnisses. Angebote in der of- Die Geburtenzahlen der vierziger Jahre fenen Altenarbeit und Pflege können und waren vergleichsweise stabil mit einer müssen dies reflektieren. entscheidenden Ausnahme. Am Kriegs- 1. Insgesamt lässt sich festhalten: Die ende und im Jahr darauf (1945 und 1946) ältere Bevölkerung wird größer. Wir waren die Geburtsjahrgänge in Wiesba- werden durch den Eintritt der Baby- den ausgesprochen klein. Diese beiden boomer-Generation ins Rentenalter Jahrgänge überschreiten ab dem Jahr vorübergehend eine relative Verjün- 2020 die Grenze von 75 Jahren. Die Al- gung der älteren Bevölkerung insge- tersgruppe der 75- bis 84-Jährigen wird samt beobachten. Dies wird in den dadurch für die kommenden Jahre etwas kommenden Jahren den Bedarf an kleiner sein als üblich. In etwa acht bis offenen Angeboten für die soge- neun Jahren wird sie ihr Ausgangsniveau nannten „jungen Alten“ erhöhen. wieder erreicht haben und dann sukzes- Auch der Pflegebedarf wird sukzes- sive ansteigen, weil die Babyboomer in sive steigen (dazu mehr in Abschnitt diese Gruppe aufrücken. Dieser Alters- Pflegebedürftigkeit). 7 Statistisches Jahrbuch Wiesbaden 2020, Bevölkerung Gesamtstadt, Tabelle 5.
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 11 Abbildung 3: Bevölkerungsprognose a. Entwicklung älterer Bevölkerungsgruppen von 2006 bis 2035 (ab 2020 Prognose) b. Bevölkerungsprognose 2020 und 2035 nach Altersgruppen Be vö l ke ru n g sp ro g n o se 2020 2035 re l a ti ve s Be vö l ke ru n g n a ch Al te r a b so l u t An te i l a b so l u t An te i l Wa ch stu m Bevölkerung WI insgesamt 297 009 100,0% 303 709 100,0% 2,3% Bevölkerung unter 65 239 505 80,6% 235 595 77,6% -1,6% Bevölkerung über 65 57 504 19,4% 68 115 22,4% 18,5% davon 65-74 27 301 9,2% 34 628 11,4% 26,8% 75-84 21 859 7,4% 22 345 7,4% 2,2% 85+ 8 344 2,8% 11 142 3,7% 33,5% Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung basierend auf Wiesbadener Bevölkerungsprognose (LHW.AfSuS 2017) Grundsatz und Planung Besondere Lagen auf die körperliche und kognitive Gesundheit der Betroffenen hat (Kricheldorff 2020). Ein- samkeit wird dabei verstanden als „das zu- Einsamkeit und Alleinleben im Alter tiefst unangenehme Gefühl, dass die sozia- In der Corona-Pandemie hat die Gefahr der len Beziehungen, die man pflegt, und der Vereinsamung vor allem älterer Menschen persönliche Austausch mit anderen Men- eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Dabei schen nicht den eigenen Bedürfnissen nach wurde vor allem thematisiert, dass Social- Zugehörigkeit und Geborgenheit entspre- Distancing-Maßnahmen und Lockdowns äl- chen“ (Huxhold/Engstler 2019). Huxhold tere Menschen zunehmend isolieren. Das et al. (2019) zeigen, dass die häufig vorge- Thema Alleinleben und Einsamkeit im Alter nommene Verknüpfung von Alter und Ein- wird allerdings im Fachdiskurs seit geraumer samkeit so nicht existiert. Einsamkeit könne Zeit diskutiert. Klar ist mittlerweile, dass ne- im gesamten Lebensverlauf auftreten und ben den sozialen und politischen Folgen der sei kein typisches Merkmal des Alters. zunehmenden Isolation einer ganzen Bevöl- kerungsgruppe die Einsamkeit auch Einfluss
12 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 Abbildung 4: Anteil der 75-Jährigen in Einpersonenhaushalten an allen Haushalten mit Menschen ab 75 Jahren nach Ortsbezirk in Prozent (kartiert) Quelle: Wiesbadener Siedlungsmonitoring (Stand 12.2019). Grundsatz und Planung Dass das Alter häufig mit Vereinsamung in messen. Allerdings gibt es Daten darüber, in- Verbindung gebracht werde, sei demnach wiefern ältere Personen Kontakte haben und ein Vorurteil. Allerdings zeigen die Autor*in- pflegen und wie häufig sie allein leben: nen auch, dass die Wahrscheinlichkeit mit Kontakte: Im Jahr 2015 hat das Amt für Sta- dem Alter steigt, dass einmal eingetretene tistik und Stadtforschung eine repräsentative Vereinsamung chronisch wird. Die Chancen, Erhebung zur Bevölkerungsgruppe der über sich aus der Einsamkeit zu befreien, sinken 70-Jährigen durchgeführt (LHW.AfSuS also mit dem Alter. 2015). Bei dieser Befragung geben 22 Pro- Für die Stadt Wiesbaden können wir die Ein- zent der Befragten an, sich selten oder nie samkeit der älteren Personen nicht direkt mit „Freunden, Verwandten, Bekannten oder früheren Kollegen“ zu treffen. Das heißt, jede fünfte ältere Person lebt ein kontaktarmes
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 13 Leben. Dies betrifft aber nicht alle gleicher- Die Altenarbeit muss diese Gruppe im Blick maßen. Die Häufigkeit sozialer Kontakte haben (mehr dazu im Abschnitt Offene Alten- sinkt grundsätzlich mit dem Alter, sie ist aber arbeit). vergleichsweise höher bei höherer Bildung und höherem Einkommen. Auch ältere Se- Altersarmut nior*innen mit eigener Migrationserfahrung Armut und Armutsgefährdungsquoten wer- haben häufiger Kontakte als in Deutschland den üblicherweise anhand des Haushalts- geborene. einkommens berechnet. Dies ist auf kommu- Alleinleben: In Wiesbaden leben 19.950 Per- naler Ebene aufgrund der fehlenden Daten- sonen in einem Alter von 65 Jahren und älter lage nicht möglich. Deswegen werden im allein in ihrer Wohnung.8 Das sind etwa Folgenden Transferleistungen nach dem 34,5 Prozent aller Personen 65+, wohinge- SGB XII als ein Armutsindikator verwendet. gen im Rest der Bevölkerung nur etwa Die wichtigsten materiellen Leistungen für 21 Prozent allein leben. Der Anteil der Allein- Ältere nach dem SGB XII sind die Hilfen zum lebenden im Alter ist demnach deutlich höher Lebensunterhalt (Kap. 3), Grundsicherung als in der Allgemeinbevölkerung und er steigt im Alter (Kap. 4) und Hilfe zur Pflege weiter mit zunehmendem Alter. Bei den (Kap. 7). Insgesamt gibt es in Wiesbaden Haushalten der 75-Jährigen und Älteren liegt 8.588 Personen, die mindestens Leistungen der Anteil der Einpersonenhaushalte an al- im Sinne eines dieser Kapitel beziehen (Ab- len Haushalten dieser Gruppe bei 49,2 Pro- bildung 5a).10 Das entspricht 2,95 Prozent zent. Das heißt, 11.390 und damit jeder der Wiesbadener Bevölkerung. Es ist insge- zweite Haushalt in dieser Altersgruppe, wird samt eine Zunahme vor allem bei Leistungen nur von einer Person bewohnt.9 Allerdings nach Kapitel 4 zu beobachten. Die Quote der gibt es in der Stadt große Unterschiede (Ab- Leistungsempfänger*innen ist bei der älteren bildung 4). In der Mitte, dem Nordosten und Bevölkerung deutlich höher. 8,5 Prozent der in Biebrich ist der Anteil alleinlebender Per- Bevölkerung ab einem Alter von 65 Jahren sonen ab 75 Jahren deutlich erhöht. In den empfängt entsprechende Leistungen. In der nord-östlichen Vororten und Frauenstein ist Gruppe der 65- bis 74-Jährigen ist der Anteil er vergleichsweise gering. der Leistungsempfänger*innen am Höchs- Es ist davon auszugehen, dass die Kontakt- ten. Die Entwicklung der Anzahl der Leis- armut und die Anzahl der Alleinlebenden im tungsempfänger*innen im zeitlichen Verlauf Alter weiter zunehmen wird. Die Wahr- ab 2015 und die Differenzierung der Empfän- scheinlichkeit bei älteren Personen das sub- ger*innen nach Altersgruppen ist in Abbil- jektive Gefühl Einsamkeit zu empfinden wird dung 5a und b dargestellt. In den folgenden dadurch steigen. Gleichwohl gilt zu beach- Abschnitten wird genauer auf diese Leistun- ten, dass es durchaus Personen gibt, die al- gen eingegangen. Es ist jedoch zu beden- lein leben und keine Kontakte haben, sich ken, dass diese Herangehensweise den aber nicht einsam fühlen. Nachteil hat, dass sogenannte „verdeckte Armut“ nicht erfasst wird. Personen, die aus 8 Statistisches Jahrbuch Wiesbaden 2020, Bevölkerung Gesamtstadt, Tabelle 5. 9 Wiesbadener Siedlungsmonitoring (Stand 12.2019). 10 Diese und folgende Zahlen basieren auf dem Wiesbadener Geschäftsbericht SGB XII 2019 und dem entsprechenden Vor- abentwurf für 2020. Einige Daten wurden vom Team Daten ergänzt. Einige Leistungsempfänger*innen empfangen Leistungen nach mehreren Kapiteln.
stationär 14 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 Scham, Mangel an Informationen oder ande- gen, werden nicht als arm erfasst. Sozial- ren Gründen keine Sozialleistungen beantra- transfers bilden also einen Indikator für Ar- mut, ohne sie vollständig abzubilden. Abbildung 5: Leistungsberechtigte nach Kapitel 3, 4 und 7 innerhalb und außerhalb von Einrichtungen a. im Zeitverlauf (2015 bis 2020) b. Nach Alter im Jahr 2020 in Prozent der jeweiligen Alterskohorte in Wiesbaden c. nach Art der Wohnform im Jahr 2020 Außerhalb von Einrichtungen stationär Besondere Wohnformen Quelle: Eigene Darstellungen, basierend auf dem Wiesbadener Geschäftsbericht SGB XII 2019 und dem Entwurf der Geschäftsstatistik für 2020. Von Team Daten fehlende Daten ergänzt. (Stichtag ist der 31. Dezember des jeweiligen Jahres. Im Jahr 2020 wurde zum Teil mit dem Jahresdurchschnitt ge- rechnet.). Grundsatz und Planung
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 15 Hilfe zum Lebensunterhalt (Kap. 3 SGB XII) des definierten Anspruchs (persönlicher Be- Die Hilfe zum Lebensunterhalt nach Kapi- darf), kann Grundsicherung im Alter und bei tel 3 SGB XII richtet sich an Personen im Er- Erwerbsminderung beantragt werden. Lie- werbsalter. Sie sichert den Lebensunterhalt gen bspw. die Einkünfte einer alleinstehen- bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, den Rentenempfängerin unterhalb der wenn kein Anspruch auf eine andere Sozial- Grenze von 432 Euro für den Lebensunter- leistung besteht. Fast alle Leistungsempfän- halt zzgl. Mietkosten und es liegt kein Ver- ger*innen liegen demnach unterhalb der Re- mögen über 5.000 Euro vor, so hat diese in gelaltersgrenze. Der durchschnittliche Netto- der Regel Anspruch auf Grundsicherung im anspruch11 in Wiesbaden pro Bedarfsge- Alter. Dies regelt Kap. 4 SGB XII (§§ 41 – meinschaft außerhalb von Einrichtungen lag 46b).13 im Jahr 2020 bei 714 Euro im Monat.12 Die Höhe der Leistungen entspricht der Bei der Einführung des SGB XII im „Hilfe zum Lebensunterhalt“ (Kap. 3 Jahr 2005 empfingen in Wiesbaden 471 Per- SGB XII). Der durchschnittliche Nettoan- sonen außerhalb von Einrichtungen diese spruch in Wiesbaden pro Bedarfsgemein- Sozialleistung (Abbildung 5b). Bis 2013 stieg schaft außerhalb von Einrichtungen lag im die Zahl der Leistungsempfänger*innen etwa Jahr 2020 bei 676 Euro im Monat. auf das Doppelte und hat sich seither stabili- In Wiesbaden empfingen im Dezember 2020 siert. Im Dezember 2020 erhielten 1 047 6.761 Personen diese Art der Grundsiche- Leistungsberechtigte (entspricht 968 Fälle) rung (Abbildung 5a). Davon lebten in Wiesbaden diese Sozialleistung außer- 6.103 Personen außerhalb von Einrichtun- halb von Einrichtungen. Davon waren gen, 220 Personen in stationären Einrichtun- 330 Personen (31,5 Prozent) 55 Jahre oder gen und 438 Personen in besonderen Wohn- älter. formen (Abbildung 5). Das heißt, der über- Durch eine Gesetzesänderung fallen seit Ja- wiegende Anteil der Empfänger*innen lebt nuar 2020 Personen in besonderen Wohn- außerhalb von Einrichtungen (90 Prozent). formen in die Zuständigkeit der Stadt Wies- Insgesamt handelt es sich um 2,3 Prozent baden. Dies sind insgesamt knapp 40 vor al- der Gesamtbevölkerung. Die Zahl der Leis- lem jüngere Personen. tungsempfänger*innen hat sich damit zwi- schen 2005 und 2020 etwa verdoppelt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- sie wird weiter steigen. minderung (Kap. 4 SGB XII) Etwa zwei Drittel der Leistungsempfän- Für vollerwerbsgeminderte Personen und ger*innen sind 65 Jahre und älter (Abbildung Personen ab dem Renteneintrittsalter gibt es 5b). In der Altersgruppe zwischen 65 und 75 eine eigene bedarfsorientierte steuerfinan- liegt die Quote der Leistungsempfänger*in- zierte Sozialleistung. Liegen die Einkünfte nen bei fast 10 Prozent. In den noch höheren von Erwerbsgeminderten oder von Personen Jahrgängen liegt sie weit darunter. oberhalb der Regelaltersgrenze unterhalb 11 Durchschnittswerte: Nettoanspruch = Regelbedarf + Mehrbedarf + KV-/Pflegeversicherungsbeiträge +Grundmiete + Neben- kosten + Heizkosten – angerechnetes Einkommen . 12 Diese und folgende Zahlen basieren auf dem Wiesbadener Geschäftsbericht SGB XII 2019 und dem entsprechenden Vor- abentwurf für 2020. 13 Das „Gesetz über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ vom 26.06.2001 wurde mit Wir- kung zum 01.01.2005 in das SGB XII (4. Kapitel) integriert.
16 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 Abbildung 6: Quote der Grundsicherungsempfänger*innen nach dem SGB XII über 65 Jahre außerhalb von Einrichtungen in den Ortsbezirken (kartiert) Quelle: Wiesbadener Siedlungsmonitoring (Stand 12.2019). Grundsatz und Planung Der Anteil der Leistungsbezieher*innen nach Hilfe zur Pflege (Kap. 7 SGB XII) diesem Kapitel an der gesamten Wiesbade- Können Pflegebedürftige die Pflegekosten ner Bevölkerung ab 65 Jahren liegt bei trotz der Leistungen der Pflegeversicherung 7,24 Prozent. Die Situation stellt sich aller- nicht aufbringen, weil ihr Vermögen aufge- dings je nach Ortsbezirk anders dar. Hatten braucht ist und die Rente nicht ausreicht, 2019 die meisten nordöstlichen Vororte eine kann das Sozialleistungs- und Jobcenter der Quote von nahezu 0 Prozent, so lag die Stadt Wiesbaden zum Kostenträger werden. Quote in den Ortsbezirken Westend Dafür besteht ab Pflegegrad 2 die Möglich- (17,1 Prozent), Mitte (16,1 Prozent), Klarent- keit auf einen Antrag auf „Hilfe zur Pflege“ hal (12,9 Prozent) und Rheingauviertel (10,9 Prozent) besonders hoch (Abbildung 6)
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 17 nach Kap. 7 SGB XII (§§ 61 – 66).14 Die Leis- Zum Januar 2020 gab es zwei entschei- tungen der Pflegeversicherung bleiben vor- dende Gesetzesänderungen, die die Fall- rangig. Die Leistungen werden einkommens- zahlen in Wiesbaden beeinflussen: und vermögensabhängig gewährt. Das Ver- mögen einer alleinstehenden Person darf die Erstens: Die Zuständigkeit für Hilfen zur Höhe von 5.000 Euro nicht übersteigen. Pflege regelt das Hessische Ausführungsge- Die Hilfe zur Pflege ist in ihrer Logik stark an setz zum SGB XII (HAG/SGB XII). Durch das SGB XI angelehnt. Es gibt nach § 63 eine Veränderung dieses Gesetzes gab es SGB XII die gleichen Leistungsbereiche wie zum Januar 2020 einige Verschiebungen im SGB XI (siehe Abschnitt Soziale Pflege- zwischen dem Landeswohlfahrtsverband als versicherung (SGB XI)). Es gilt wie im überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der SGB XI der Vorrang der häuslichen Pflege. Stadt Wiesbaden als örtlichem Träger. La- gen vorher beispielsweise nur die Hilfen zur Im Jahr 2015 bezogen 1.895 Personen Hilfe Pflege ab 65 Jahren in der Verantwortung zur Pflege durch das Sozialleistungs- und der Stadt Wiesbaden, liegen nun auch die Jobcenter Wiesbaden. Diese Zahl sank bis jüngeren Altersgruppen in der Regel im Zu- auf 1.528 im Jahr 2019 und ist im letzten Jahr ständigkeitsbereich des Sozialleistungs- und wieder leicht gestiegen (Abbildung 5a). Jobcenters Wiesbaden. Bezogen im Jahr 2015 noch etwa 60 Prozent der Leistungsberechtigten diese Leistungen Zweitens: Durch das im Januar 2020 in Kraft in ihrer eigenen Häuslichkeit ist dies im getretene Angehörigenentlastungsgesetz Jahr 2020 nur noch die Hälfte (Abbildung 7). wurden bisher unterhaltsverpflichtete Ange- Etwa ein Viertel der Empfänger*innen von hörige von pflegebedürftigen Personen im Hilfen zu Pflege stationär bezieht diese Leis- SGB XII-Bezug entlastet. Auf deren Einkom- tungen außerhalb Wiesbadens. Die Ursache men wird seither erst ab einem Jahresein- ist in der Regel der Wegzug in eine Pflege- kommen von mehr als 100.000 Euro zurück- einrichtung in einem benachbarten Land- gegriffen. kreis oder in die Nähe der gegebenenfalls weiter weg wohnenden Angehörigen. Das Sinken der Gesamtzahl der Leistungs- empfänger*innen bis 2019 lässt sich vor al- lem damit erklären, dass durch die Pflege- stärkungsgesetze der Bundesregierung mehr Personen Ansprüche auf Pflegeversi- cherungsleistungen bekommen haben. Au- ßerdem werden Leistungen, vor allem die der hauswirtschaftlichen Versorgung, anders als vorher über das 3., 4. oder 9. Kapitel SGB XII erbracht. Dies führte auch zu sin- kenden Personenzahlen im 7. Kapitel ambu- lant. 14 Auch unterhalb des PG 2 besteht die Möglichkeit, dass Pflegeleistungen durch den Sozialhilfeträger gezahlt werden, ggf. über § 73 SGB XII.
18 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 Entwicklung werden im Folgenden kurz dar- Abbildung 7: Leistungsberechtigte nach gestellt: Kapitel 7 SGB XII innerhalb und außer- halb von Einrichtungen im Zeitverlauf 1. Demografie: Durch die im Abschnitt Bevöl- kerungsentwicklung beschriebenen demo- grafischen Tendenzen wird sich die Gruppe der über 65-jährigen Leistungsberechtigten sukzessive vergrößern. Die absolute Höhe der Altersarmut wird demnach allein auf- grund der demografischen Entwicklung zu- nehmen. 2. Rentenniveau: Im Jahr 2004 hat die Bun- desregierung beschlossen, das Rentenni- veau von damals 52,9 Prozent bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent absinken zu lassen (§ 154 Abs. 3 SGB VI).16 Das aktuelle Ren- tenniveau liegt bei 47,6 Prozent. Zwar wurde Quelle: Eigene Datenauswertung aus dem Fachverfah- dieser Paragraph 2018 verändert und die ren Open/Prosoz (Stichtag ist der 31. Dezem- Grenzen verschoben, die allgemeine und ber des jeweiligen Jahres. Im Jahr 2020 wurde zum Teil mit dem Jahresdurchschnitt gerech- langfristige Tendenz der Absenkung des net.). Rentenniveaus bleibt aber unverändert. Der Einfluss der kürzlich beschlossenen Grund- Grundsatz und Planung rente auf diese Entwicklung bleibt abzuwar- ten. Der Sachverständigenrat zur Begutach- Fazit Altersarmut tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Die bundesweite Armutsgefährdungsquote geht davon aus, dass die Altersarmut durch für Personen ab 65 lag im Jahr 2005 bei Mütter- und Grundrente teilweise verringert 11 Prozent. Sie stieg bis zum Jahr 2019 auf werden könnte (Geyer/Haan/Har- 15,7 Prozent.15 Die ältere Bevölkerung ist nisch 2020). damit in Deutschland die Gruppe mit der am schnellsten wachsenden Armutsgefähr- 3. Migration: Ein wichtiger, schon jetzt be- dungsquote. In Wiesbaden zeigt sich diese obachtbarer Grund für den Anstieg der Al- Entwicklung durch den sukzessiven Anstieg tersarmut ist, dass zunehmend mehr Perso- der Bezieher*innen von SGB XII-Leistungen nen mit Migrationshintergrund ins Rentenal- ab einem Alter von 65 Jahren. Auch in den ter eintreten. Ihr Risiko für Altersarmut liegt folgenden Jahren wird sich dieser Trend fort- bei 33,4 Prozent, da sie während ihrer Er- setzen. Die vier wichtigsten Treiber dieser werbsphase durchschnittlich geringere 15 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/09/PD20_N062_634.html. „Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Stan- dard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Äquivalenzein- kommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt.“ (Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Sozi- ales/Sozialberichterstattung/Glossar/armutsgefaehrdungsquote.html) 16 https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Allgemeine-Informationen/Wissenswertes-zur- Rente/FAQs/Rente/Rentenniveau/Rentenniveau_Liste.html und https://www.vdk.de/ov-schopfheim/ID126800
Soziale Lage und Struktur der älteren Bevölkerung in der Stadt Wiesbaden 19 Löhne und ein höheres Arbeitslosigkeitsri- Rentenansprüche sinken werden. Der Leis- siko hatten (Seils 2020). Diese Entwicklung tungsbezug im Alter wird demnach durch wird weiter zunehmen. den Renteneintritt der großen Gruppe der Babyboomer steigen, die im Laufe ihres Le- 4. Zunahme atypischer oder prekärer Be- bens häufiger von atypischen Arbeitsverhält- schäftigung: Seit den achtziger Jahren lässt nissen, Arbeitslosigkeit und teilweise niedri- sich eine Aufweichung des sogenannten geren Löhnen betroffen waren.18 „Normalarbeitsverhältnisses“ beobachten (Nachtwey 2016). War vorher ein Großteil der Arbeitnehmer*innen in Vollzeit und unbe- Zusammenfassung fristet direkt bei ihrem Arbeitgeber*innen an- In diesem Kapitel wurden die aktuellen und gestellt, ist heute die Quote vergleichsweise zukünftigen Entwicklungen in der Gruppe gut bezahlter und gut abgesicherter Anstel- der Älteren näher in den Blick genommen. lungen gesunken. Durch den Ausbau des Für diesen Bericht sind die wichtigsten Er- Niedriglohnsektors wurde diese Entwicklung gebnisse: verstärkt. Das Statistische Bundesamt gibt 1. Es wird zukünftig sukzessive mehr an, dass 2018 70,3 Prozent17 der Beschäftig- „junge Alte“ geben. ten in einem Normalarbeitsverhältnis ange- 2. Die Gruppe der Hochaltrigen wird größer stellt sind (allerdings ohne Berücksichtigung und älter. der Lohnhöhe). Der Anteil atypischer Ar- 3. Der Anteil älterer Personen mit anderen beitsverhältnisse abhängig Beschäftigter kulturellen und sprachlichen Hintergrün- stieg seit 1991 von etwa 13 Prozent auf den wird größer. 21,8 Prozent im Jahr 2018. Die zukünftig in 4. In der Gruppe der „jungen Alten“ wird der das Rentenalter eintretenden Gruppen ha- Abstand zwischen denen, die gute Ein- ben häufiger in atypischer Beschäftigung ge- künfte und Vermögen haben, und denen, arbeitet und haben demnach häufig gerin- die arm oder nahe an der Armut sind, gere Rentenansprüche. größer werden. Bisher beziehen – wie bereits erwähnt - 5. Die Quote alleinlebender Alter ist hoch 8,5 Prozent der Wiesbadener Bevölkerung und wird steigen. Das Risiko für Verein- über 64 Jahren SGB XII-Leistungen nach samung im Alter und deren Chronifizie- Kapitel 3, 4 oder 7. Im Gegensatz dazu liegt rung steigt. die Quote der Empfänger*innen der Grund- sicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in der Wiesbadener Bevölkerung bei 12,5 Prozent. Die Bevölkerung unter 65 Jahren ist bisher demnach wesentlich häufiger auf Hilfebezug angewiesen als die älteren Bevölkerungs- gruppen. Am stärksten betroffen sind Ju- gendliche unter 18 Jahren. Dies bedeutet langfristig jedoch, dass die individuellen 17 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/10/PD19_N004_132.html 18 Die Arbeitslosigkeit der über 55-Jährigen in Wiesbaden ist leicht unterdurchschnittlich und ihrer Tendenz nach nicht steigend. (Statistisches Jahrbuch Wiesbaden 2019. Arbeitsmarkt).
20 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020
21 3 Angebote für ältere Menschen Schon bald ist jede vierte Person in Wiesba- einen Ausschnitt aus dieser breiten Palette den über 65 Jahre alt. Im vorhergehenden dar. Kapitel konnte gezeigt werden, dass sich die Das Kapitel ist untergliedert in die fünf Berei- Größe der älteren Bevölkerungsgruppen un- che offene Altenarbeit, professionelle Ver- terschiedlich stark verändert. Am schnellsten netzung, bürgerschaftliches Engagement, wächst gerade die Gruppe der sogenannten hauswirtschaftliche Hilfen und Beratungsan- „jungen Alten“. Kommunale Altenpolitik und – gebote. planung hat neben dem im nächsten Kapitel behandelten Thema der Pflege auch die Auf- gabe, die Teilhabechancen dieser Gruppe Offene Altenarbeit zu erhöhen (Pohlmann 2020, 7). Altenhilfe hat das Ziel, „alten Menschen die Das beinhaltet die Entwicklung von Angebo- Möglichkeit zu erhalten, selbstbestimmt am ten für diese Gruppe, den Ausbau von Netz- Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen werken, um die Verbindungen mit anderen und ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe zu stär- Gruppen zu stärken, und die Förderung von ken“ (§ 71 SGB XII). Obwohl es sich dabei Engagement. um eine kommunale Pflichtaufgabe handelt, „Immer mehr Menschen möchten im Alter zu- gibt es kaum bundeseinheitliche Vorgaben sammen mit anderen an der Gestaltung des zu ihrer Umsetzung. Die Stadt Wiesbaden gesellschaftlichen Lebens im unmittelbaren hat sich schon vor Jahrzehnten entschieden, Wohnumfeld in Selbst- und Mitverantwortung diesem Thema einen wichtigen Platz einzu- aktiv teilhaben.“ (Pohlmann 2020, 7) räumen. Die Abteilung Altenarbeit des Am- In dieser Hinsicht gibt es in Wiesbaden viele tes für Soziale Arbeit in Wiesbaden organi- Ansätze und Angebote, die in diesem Kapitel siert, koordiniert und fördert eine ganze dargestellt werden sollen. Die Gruppe älterer Reihe von Angeboten. Diese reichen von Bil- Menschen ist so divers wie die gesamte Ge- dungsangeboten, über Mittagstische und sellschaft. Die Entwicklung der Angebote Seniorentreffs bis hin zu Ausflügen. Die An- nimmt darauf Rücksicht. Es gibt Angebote, gebote werden stets weiterentwickelt und auf die sich teilweise gezielt an die „jungen Al- neue Entwicklungen und sich verändernde ten“ richten, andere hingegen an Hochalt- Rahmenbedingungen abgestimmt. rige, an Personen mit Hilfe- und Beratungs- bedarfen, an bewegungseingeschränkte Die Lebensphase Alter beginnt je nach Defi- Personen usw. Die Weiterentwicklung dieser nition um die 60 Jahre. Die Gruppe der Älte- Strukturen ist unter anderem Aufgabe der Al- ren umfasst demnach eine Lebensspanne tenhilfeplanung. von über 40 Jahren. Junge Alte und Hochalt- Darüber hinaus stehen alle Angebote für Er- rige haben in der Regel unterschiedliche Be- wachsene in Wiesbaden unabhängig von ih- dürfnisse und Erwartungen an ihr Leben und rem Alter auch der älteren Bevölkerung zur ihren Alltag. Es gilt demnach, die Zielgrup- Verfügung, bspw. die Angebote diverser pen genauer zu bestimmen und ihre Bedarfe Sportvereine, Museen und Volkshochschu- zu berücksichtigen. len. Allein schon deshalb kann dieses Kapi- tel nicht allumfassend sein, sondern stellt nur
22 Ältere Menschen in Wiesbaden 2020 Der Erforschung der Unterschiede in den Be- bote für ältere Menschen auf dem Wiesbade- dürfnissen der jungen Alten und Hochaltri- ner Stadtplan zu finden. Mit einem einfachen gen wird in letzter Zeit größere Aufmerksam- Klick auf das Angebot können die Kontaktin- keit geschenkt. Das junge sogenannte formationen abgerufen werden.19 „dritte“ Alter wird häufig noch durch den Aus- stieg aus dem Berufsleben bestimmt und In der Landeshauptstadt Wiesbaden gibt es wird mit einem Zugewinn an Entwicklungs- ein umfangreiches und vielseitiges Kulturan- möglichkeiten und Freiheit assoziiert (Graefe gebot privater und öffentlicher Träger. Zu- et al. 2011). Im hohen sogenannten „vierten“ sätzlich gibt es sozialkulturelle Angebote sei- Alter kehrt sich dies häufig um. Es geht viel- tens der Stadt und weiterer Akteur*innen, mit fach mit einem zunehmenden Verlust von denen versucht wird, ältere Menschen ge- Selbstständigkeit einher. So zeigt bspw. eine zielt zu erreichen. Diese Angebote sind nicht aktuelle soziologische Untersuchung, dass nur eine Möglichkeit für ältere Menschen, sich die Erzählungen von Menschen im ho- miteinander in Kontakt zu kommen, sondern hen Alter vor allem durch den „Verlust von sie stellen aus Sicht der offenen Altenarbeit Möglichkeiten, einen Lebensstil zu realisie- einen aktiven Beitrag zur Prävention dar. Im ren, der Selbstverwirklichung ermöglicht und Alter nimmt die arbeitsfreie Zeit zwangsläufig soziale Anerkennung verspricht“ auszeich- mehr Raum ein als während der Phase der nen (Geithner 2020, 313). Gerade das Berufstätigkeit. Die Angebote schaffen Mög- Schwinden von sozialer Anerkennung, kultu- lichkeiten, Kontakte zu knüpfen und zu erhal- rellen und sozialen Kapitals wird als Ein- ten, sich zu engagieren und neue Erfahrun- schnitt empfunden. Die gleiche Studie zeigt gen zu sammeln, kurzum: am gesellschaftli- auch, dass vor allem Hochaltrige widerstän- chen Leben teilzuhaben. Je älter die Se- dische Deutungsmuster entwickeln, die ver- nior*innen werden, desto wichtiger ist es, suchen, dem Alter etwas entgegenzusetzen. ihnen eine aktive Teilhabe an der Gesell- Sie stemmen sich gegen das Altern, indem schaft zu ermöglichen, um die Gesundheit, sie versuchen, ihre Individualität zu wahren, Alltagskompetenzen, kognitiven Fähigkeiten Kontakt und Austausch suchen, sich enga- und Freude am Leben zu erhalten. Dadurch gieren und weiterhin diszipliniert leben (ebd. wird daran mitgewirkt, das Leben in der eige- 309). Genau an dieser Stelle muss auf Hoch- nen Häuslichkeit so lange wie möglich attrak- altrige fokussierte offene Altenarbeit anset- tiv und machbar zu halten. Entstehen mit zu- zen. Sie kann wegfallende soziale Beziehun- nehmendem Alter Hilfe- oder Pflegebedarfe gen, den Tod des*r Partners*in, körperliche so sind dadurch die Personen im Idealfall be- Einschränkungen nicht aufheben, aber ver- reits an Institutionen angebunden, die mit suchen, dem etwas entgegenzusetzen. Beratung und Vermittlungsmöglichkeiten weiterhelfen können. Insbesondere vor dem Im Folgenden werden die unterschiedlichen Hintergrund von immer mehr älteren und im- Angebote kurz dargestellt. Um die Suche mer mehr alleinlebenden Personen, die teil- nach lokalen Angeboten zu erleichtern, gibt weise keine Familienangehörigen in der es das neue Angebot der „Wiesbadener Se- Nähe haben, werden derartige Angebote im- niorenlandkarte“. Sie ermöglicht es, ohne mer wichtiger. großen Aufwand, alle uns bekannten Ange- 19 https://www.wiesbaden.de/seniorenlandkarte
Angebote für ältere Menschen 23 Die Preise der städtischen oder geförderten in Form eines Jahresprogramms veröffent- Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebote kön- licht. nen für die Besucher*innen vergleichsweise Im Jahr 2019 fanden 49 Veranstaltungen mit niedrig gehalten werden. Dadurch werden 3.177 Teilnehmenden statt (Abbildung 8). Im die Teilhabechancen älterer Menschen mit Jahr 2020 konnten viele der geplanten Ver- knappen Ressourcen erhöht. anstaltungen nicht stattfinden oder wurden entsprechend den pandemiebedingten ge- Stadtweite Angebote setzlichen Vorgaben angepasst. Trotzdem konnten auch unter diesen Bedingungen Es werden stadtweite und stadtteilbezogene noch 38 Veranstaltungen mit 1.466 Teilneh- Angebote unterschieden. In diesem Ab- menden realisiert werden. Die Karnevalssit- schnitt wird es um die stadtweiten Angebote zungen konnten kurz vor Pandemiebeginn gehen. Dabei werden städtische Angebote noch regulär stattfinden. Die Kultur- und Frei- und geförderte Angebote unterschieden. zeitfahrten – in vorhergehenden Jahren die Städtische sozialkulturelle Angebote20 Veranstaltungen mit den meisten Teilneh- Eine eigens bereits vor über 40 Jahren ein- menden – mussten vollständig entfallen. gerichtete Arbeitsgruppe der Abteilung Nach dem ersten Lockdown durften wieder Altenarbeit im Amt für Soziale Arbeit organi- Veranstaltungen mit max. 50 Personen siert und koordiniert ein stadtweites Kultur- durchgeführt werden. Die Veranstaltungen und Freizeitprogramm. Sie arbeitet dabei mit mussten überwiegend im Freien stattfinden. vielen Kooperationspartner*innen zusam- Musikveranstaltungen wurden so im men und trägt damit auch allgemein zu ihrer Jahr 2020 die am meisten besuchte Veran- Vernetzung und der Abstimmung der Ange- staltungsart. bote bei. Das jeweils aktuelle Angebot wird Abbildung 8: Teilnehmende an den stadtweiten sozialkulturellen Angeboten der offenen Altenarbeit in Wiesbaden nach Kategorie 2019 und 2020 Quelle: Regelhafte Datenerfassung der Abteilung Altenarbeit. Eigene Darstellung. Grundsatz und Planung 20 In den kommenden Monaten erscheint der erste Geschäftsbericht des Sachgebietes „Offene Altenarbeit“ der Abteilung Alten- arbeit im Amt für Soziale Arbeit. Die folgenden Informationen beruhen zum Teil auf dem bisher unveröffentlichten Entwurf.
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