MAHNMAL ODER TANZTEMPEL? - Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur - Lucia Verlag

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MAHNMAL ODER TANZTEMPEL? - Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur - Lucia Verlag
MAX KÖNIGSHOFEN

MAHNMAL
ODER
TANZTEMPEL?
Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur
                                             Mahnmal oder Tanztempel? – 1
MAHNMAL ODER TANZTEMPEL? - Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur - Lucia Verlag
Max Königshofen

Mahnmal oder
Tanztempel?
Das Funkhaus und seine Rolle
 in der Weimarer Clubkultur

       Projektarbeit im Rahmen des Plenums
  »Technische Objekte und Medien populärer Musik«
            im Wintersemester 2019/20
             bei Prof. Dr. Michael Cuntz

 Der LUCIA Verlag ist ein unabhängiger Non-Profit-Verlag, der es sich
zur Aufgabe gemacht hat, Arbeiten aus dem studentischen Umfeld der
           Bauhaus-Universität Weimar zu veröffentlichen.

                            LUCIA Verlag
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MAHNMAL ODER TANZTEMPEL? - Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur - Lucia Verlag
Inhalt
1 Einleitung                                                                4
2 Kultstätte, Rundfunkhaus, Partylocation: Geschichte des Gebäudes          6
2.1 Voraussetzungen und erste Pläne für ein Nietzsche-Memorial in Weimar    6
2.2 Umsetzung der Nietzsche-Gedächtnishalle im Nationalsozialismus          8
2.3 Umbau und Nutzung als Funkhaus von 1946 bis 2000                       11
2.4 Das Funkhaus als ein Zentrum der Weimarer Clubkultur                   14
2.4.1 Studentische Clubkultur und elektronische Musik in Weimar            14
2.4.2 Das Funkhaus als Veranstaltungsort: Vorzüge und Schwierigkeiten      15
2.4.2 Fehlende alternative Räumlichkeiten und das Weimarer »Party-Tief«    16
3 Transformation durch Techno?                                             18
4 Fazit                                                                    21

Endnoten22
Bibliographie25
Abbildungsverzeichnis26
Schriftart26
Anhang27
Interview mit Friederike Kempter 27
Interview mit Christiane Wolf    35
MAHNMAL ODER TANZTEMPEL? - Das Funkhaus und seine Rolle in der Weimarer Clubkultur - Lucia Verlag
1 Einleitung                                        ein Stempel auf den Unterarm gedrückt, der sie
                                                    dazu befugt, das Gebäude zu betreten.
Es ist Samstagabend. Den Stress der zurücklie-      Die zurückgenommene Außenerscheinung wird
genden Woche haben die Weimarer Studierenden        im Innenraum auf den Kopf gestellt: Folierte Ne-
hinter sich gebracht, der Stress der nächsten       onröhren und biegsame LED-Zeilen erhellen das
kann nun erst einmal ausgeblendet werden. We-       gesamte Haus in bunten Farben. In Teilen des
nigstens für heute Abend.                           Gebäudes tragen Glühbirnen an langen Kabeln zu
Zeit für Ablenkung und soziale Freizeitinterak-     einer rohen, industriellen Ästhetik bei. Speziell für
tion: Man trifft sich, kleine Gruppen bilden sich   die Veranstaltung angefertigte abstrakte Konst-
an WG-Küchentischen und in Kneipen. Doch heu-       ruktionen aus Holz, Metall und verschiedenen Ar-
te sind diese Zusammenkünfte nur Zwischen-          ten von transparenter Folie interagieren mit der
stopps, denn irgendwann gegen 23:30 Uhr macht       Lichtsetzung und erzeugen in den unterschied-
man sich auf den Weg zum südwestlichen Stadt-       lichen Räumen eine jeweils eigene Atmosphäre.
rand. Unterwegs werden andere »Reisegruppen«        Im Laufe des Abends trifft man auf Freund*in-
Bekannter eingesammelt, bis sich die teilweise      nen, gute Bekannte und diejenigen, die man eben
leicht angetrunkene, dem Alltag entrückte Ge-       »vom Sehen« aus dem Universitäts-Alltag kennt.
sellschaft, je weiter es die Humboldtstraße hin-    Schnell kann der Eindruck entstehen, so gut wie
aufgeht, zu einer den gesamten Gehweg einneh-       alle Studierenden Weimars hätten sich an diesem
menden Reihe verdichtet hat.                        Ort zu diesem Anlass versammelt. Zwar können
Der für Weimars topografische Verhältnisse un-      nicht alle etwas mit der Musik anfangen, die hier
gewohnte Anstieg des Weges trägt zur Beson-         gespielt wird, aber die Anwesenden scheinen sich
derheit dieses Abends bei: Während der studen-      – manche mehr, manche weniger enthusiastisch –
tische Alltag in Weimar sich sonst meist in der     darauf geeinigt zu haben, dass man dieses Ereig-
Innenstadt oder in Campusnähe recht ebenerdig       nis miterlebt haben sollte.
abspielt, fällt die südliche Humboldtstraße aus     Mehrere Tanzflächen stehen zur Auswahl: Im gro-
dem Rahmen. Wohngemeinschaften und Lehr-            ßen ehemaligen Sendesaal wird träumerisch-ge-
räume der Universität sind in dem Villenviertel     mütlicher House aufgelegt, im stickigen Gewölbe-
eine Seltenheit, es gibt keine Bars, keine Treff-   keller düsterer Techno à la Berliner Bunkerparty,
punkte. Normalerweise.                              und oben im Konferenzraum gibt es Hip-Hop und
Die Gruppe strömt durch ein unbeleuchtetes ge-      Funk zu hören. Zum Wachbleiben bestellt man an
öffnetes Hoftor und betritt ein Grundstück, auf     der Bar eine Flasche Club Mate, je nach Präfe-
dem ein großes Gebäude steht. In der Dunkelheit     renz gemischt mit Pfefferminzlikör. Im gesam-
ist dessen tatsächliche Ausdehnung nach Süden       ten Gebäude wird geraucht. Nach Hause geht es
und Westen nicht einschätzbar. Eine Treppe an       dann um 4 oder 5 Uhr, ein Teil der ausdauernd
der Nordseite, die auf eine Terrasse führt, wird    Feiernden hält mitunter bis 7 Uhr durch.
durch Scheinwerfer angestrahlt. Rechts daneben
stehen fünf Dixi-Toiletten. Die Treppe hinauf und   So kann eine Nacht verlaufen, in der eine Party
auf der Terrasse hat sich eine Schlange gebildet,   im Weimarer Funkhaus stattfindet. Hin und wie-
die von metallenen Bauzäunen auf eine seitliche     der wird die ehemalige Radiostation auch für
Eingangstür hingeleitet wird. Je näher man dem      Ausstellungen genutzt, doch die heutige Wahr-
Gebäude kommt, desto deutlicher ist das dumpfe      nehmung des Gebäudes ist seit seiner »Wie-
Wummern elektronischer Bassfrequenzen zu ver-       derentdeckung« durch die studentische Szene
nehmen. Am Einlass angekommen, wird den Be-         hauptsächlich durch die regelmäßige Nutzung als
sucher*innen nach Zahlung des Eintrittspreises      Party-Location geprägt. Das Funkhaus nimmt in

4
der Weimarer Clubkultur eine zentrale Rolle ein,       zog 1947 der neue Landessender Weimar in die
wie sich im Laufe dieser Arbeit zeigen wird. Ver-      pragmatisch für Radiozwecke umgebaute Hal-
schiedene Faktoren tragen dazu bei, dass es im-        le und machte aus der Kultstätte ein Rundfunk-
mer häufiger von verschiedenen Veranstaltungs-         haus. Nach der Wende nutzte der Mitteldeutsche
reihen und DJ-Kollektiven bespielt wird.               Rundfunk das Gebäude weiter, bis er 2000 das
Nun mag es zunächst nicht als ungewöhnliches           Funkhaus verließ.4
Phänomen erscheinen, dass leerstehende Gebäu-
de wie Industrieanlagen für Kulturveranstaltun-        Dieser historisch aufgeladene Ort wird also seit
gen, insbesondere Partys und Raves Verwendung          1947, zunächst über 50 Jahre als Radiostation und
finden. Schließlich wurde die Clubkultur im Berlin     heutzutage als Veranstaltungsort für studentisch
der frühen 90er Jahre ebenfalls durch das Beset-       organisierte Partys, in explizit audio-bezoge-
zen von leerstehenden Räumen revolutioniert.       1
                                                       nen Kontexten genutzt. Das heißt, das Gebäude
Allerdings hat das Gebäude, das heute unter Stu-       selbst fungiert seit Jahrzehnten als ein auditives
dierenden als Funkhaus bekannt ist, eine beson-        Medium. Ziel dieser Arbeit ist es, zunächst den
dere Geschichte: Es entstand zwischen 1937 und         ideologischen Ursprung der Nietzsche-Gedächt-
1944 als ein Prestigeprojekt des nationalsozialis-     nishalle herauszuarbeiten und anschließend den
tischen Weimarer Kulturbürgertums um Elisabeth         Umfunktionierungen des Gebäudes nachzuge-
Förster-Nietzsche, die Schwester des 1900 ver-         hen. Darüber hinaus soll beleuchtet werden, in-
storbenen Philosophen Friedrich Nietzsche und          wiefern diese Rekontextualisierungen der Proble-
damalige Leiterin des Nietzsche-Archivs. Archi-
                                            2
                                                       matik des Ortes gerecht wurden und werden.
tekt war NSDAP-Mitglied und Rassenideologe             Im Verlauf dieser Arbeit werden Aussagen aus
Paul Schultze-Naumburg, Leiter der Weimarer            zwei verschiedenen Interviews eingebracht. Sie
Bauhochschule, die eine Nachfolgeinstitution des       sollen sowohl die Perspektive einer Person auf-
Bauhauses und damit eine der Vorgängerinnen            zeigen, die in Weimar und insbesondere im Funk-
der heutigen Bauhaus-Universität war.   3
                                                       haus Veranstaltungen organisiert, als auch die
Das Gebäude in der Humboldtstraße 36a wur-             theoretische Sicht einer Wissenschaftlerin darle-
de im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Archiv als        gen, die unter anderem zu NS-Bauten in Weimar
»Nietzsche-Gedächtnishalle« errichtet. Sie sollte      forscht. Die Transkripte beider Gespräche wurden
Friedrich Nietzsche, dessen Schriften die Natio-       dieser Arbeit beigefügt. Die folgenden Personen
nalsozialisten für ihre Ideologie instrumentalisier-   wurden konsultiert:
ten, in Weimar ein Denkmal setzen. Der Gebäude-
komplex besteht aus einem langen Wandelgang,           Dr. Christiane Wolf promovierte in Bochum als
der in eine Vorhalle und daran anschließend in         Kunsthistorikerin über die Bauaufgabe Gauforen
einen großen Saal führt. Ursprünglich sollte hier      der Nationalsozialisten. 1989 kam sie an die Pro-
mit einer überlebensgroßen Zarathustra-Statue          fessur Theorie und Geschichte der Architektur an
dem Werk Nietzsches gehuldigt werden. An der           der Bauhaus-Universität Weimar. Im Rahmen des
Südseite befindet sich ein mehrstöckiger u-för-        Kulturstadtjahrs 1999 leitete sie ein Projekt zur
miger Anbau, der als erweiternder Büro- und Bib-       Geschichte des Gauforums in Vorbereitung auf
liothekstrakt für das Nietzsche-Archiv geplant         eine Ausstellung und war gleichzeitig in der Leh-
war.                                                   re tätig. Heute leitet sie das Archiv der Moderne,
Die späte Fertigstellung kurz vor Kriegsende           das die Sammlung für Architektur, Ingenieurbau,
machte es den Nationalsozialisten unmöglich,           Kunst und Design und das Universitätsarchiv der
das Gebäude wie geplant 1944, zum 100. Ge-             Bauhaus-Universität Weimar und ihrer Vorgän-
burtstag Nietzsches, einzuweihen. Stattdessen          gerinstitutionen vereint.5

                                                                               Mahnmal oder Tanztempel? – 5
Friederike Kempter studiert im Bachelor Musik-     2 Kultstätte, Rundfunkhaus, Partylocation:
wissenschaft/Interkulturelles Musik- und Ver-      Geschichte des Gebäudes
anstaltungsmanagement an der Hochschule für        2.1 Voraussetzungen und erste Pläne für ein
Musik Franz Liszt in Weimar. Sie übernimmt re-     Nietzsche-Memorial in Weimar
gelmäßig hauptorganisatorische Aufgaben bei ei-
nigen der bekanntesten Events der studentischen    Im August 1896 bringt Elisabeth Förster-Nietz-
Szene. Unter anderem ist sie für das alternative   sche, die Schwester Friedrich Nietzsches, das
Konzertformat Klangrausch mitverantwortlich, in    von ihr geleitete Archiv, das die Schriften des
dem klassische Konzerte mit anschließenden Par-    erkrankten Philosophen für die Nachwelt aufbe-
tys mit elektronischer Musik verbunden werden.     wahren soll, nach Weimar.7 Nach dem Tod ihres
Außerdem ist sie Mitbegründerin des queer-fe-      Bruders im Jahr 1900 knüpft sie bald viele Kon-
ministischen Weimarer Künstler*innen-Kollektivs    takte zur Weimarer Oberschicht, und das Nietz-
Metaware, das sich für Gleichberechtigung in DJ-   sche-Archiv in der Villa Silberblick wird zu einem
und Clubkultur einsetzt.6                          Zentrum des städtischen Bildungsbürgertums.8
                                                   Dabei scheint es Förster-Nietzsche zu gelingen,
                                                   sowohl rassistische und »völkische« Strömungen,
                                                   denen sie selbst anhängt, als auch die künst-
                                                   lerisch-progressive Avantgarde im Freundeskreis
                                                   des Archivs zu vereinen.9 Zum einen pflegt sie
                                                   beispielsweise Freundschaften mit dem links-
                                                   liberalen, pazifistischen Weimarer Kunstmäzen
                                                   Harry Graf Kessler und dem avantgardistischen
                                                   belgischen Architekten und Designer Henry van
                                                   de Velde.10 Andererseits bekundet sie aber auch
                                                   immer wieder ihre Bewunderung für den Faschis-
                                                   tenführer Benito Mussolini, von dem das Archiv
                                                   im Gegenzug Spenden erhält.11 In den 1920er Jah-
                                                   ren ist auch der antidemokratische Autor Oswald
                                                   Spengler Stammgast in der Villa Silberblick und
                                                   ab 1926 Mitglied im Komitee der Gesellschaft der
                                                   Freunde des Nietzsche-Archivs.12
                                                   Harry Graf Kessler schreibt 1932 mit Blick auf die
                                                   zunehmend extreme rechtsnationalistische Ge-
                                                   meinde des Archivs in seinem Tagebuch:

                                                        »Diese ganze Schicht des intellektuellen
                                                        Deutschlands, das in der mehr goethi-
                                                        schen, romantischen Periode seine Wur-
                                                        zeln hat, ist ganz Nazi-verseucht, ohne zu
                                                        wissen warum. […] Man möchte weinen,
                                                        wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv
                                                        gekommen sind!«13

6
Kessler und van de Velde hatten zwanzig Jah-                                religiösen und politischen Vorstellungen die
re zuvor noch selbst einen Plan für ein Nietz-                              griechischen Feste hervorgegangen sind.
sche-Memorial in Weimar ausgearbeitet. Sie                                  Ich flüchte vor diesem hohlen Lärm sensa-
imaginierten einen Wallfahrtsort, der den Nietz-                            tionsgieriger Darsteller und Zuschauer in
sche-Kult »von einer halbprivaten Gemeinde-                                 die Einsamkeit und Stille.«16
angelegenheit zur Sache der Öffentlichkeit«14
reformieren sollte, wie Jürgen Krause in seinen                        Der Plan eines internationalen, weltoffenen Fest-
Studien zum Nietzsche-Kult schreibt. Ein dem                           spielforums mit van de Velde als Architekten wird
Philosophen gewidmetes Festspielgelände hät-                           auf diese Intervention hin von der Archivherrin
te zu Kulturveranstaltungen mit Musik, Tanz und                        abgelehnt.17
Theater eingeladen und in einem Stadion wären
athletische Wettkämpfe abgehalten worden. An-                          Elisabeth Förster-Nietzsche selbst hat eine bri-
grenzend sollte ein verhältnismäßig kleiner Tem-                       sante Vorgeschichte, die von ihrer rechtsnatio-
pel als Gedenkstätte ausreichen. (Abb. 1)       15
                                                                       nalen, rassistischen und imperialistischen Welt-
                                                                       anschauung zeugt: Bereits 1885 heiratet sie den
                                                                       Antisemiten Bernhard Förster und folgt ihm in
                                                                       die 1886 von ihm in Paraguay mitbegründete
                                                                       Kolonie Nueva Germania. Das Ehepaar will dort
                                                                       mit Gleichgesinnten eine Mustergesellschaft der
                                                                       »arischen Rasse« aufbauen, um von dort aus den
                                                                       gesamten südamerikanischen Kontinent zu ver-
                                                                       einnahmen.18

Abb. 1: Entwurf von Henry van de Velde zu einem Nietzsche-Tempel mit
                                                                       Als das Projekt scheitert, kehrt sie 1893 nach
Nietzschestadion in Weimar (1912).
© De Gruyter
                                                                       Deutschland zurück und will sich von da an der
                                                                       Pflege ihres Bruders und der Aufbewahrung sei-
Doch es blieb bei Entwürfen und Ideen: Von Sei-                        ner Schriften für die Nachwelt widmen.19 Doch
ten der zunehmend ausländerfeindlichen Gesell-                         ihr Umgang mit dem Werk des bald darauf ver-
schaft des Nietzsche-Archivs sah sich der Bel-                         storbenen Friedrich Nietzsche geht weit über
gier Henry van de Velde aufgrund seiner Herkunft                       eine objektive, konventionell archivarische Auf-
mit Anfeindungen konfrontiert. In seiner Autobio-                      bewahrung hinaus. Bei der Bearbeitung und He-
graphie bringt er seine Resignation darüber zum                        rausgabe der Briefwechsel ihres Bruders fälscht
Ausdruck, dass eine Delegation deutscher Künst-                        sie mehrere Passagen, insbesondere solche, die
ler, die Kesslers Projekt und ihm feindlich gegen-                     politische Äußerungen oder Anmerkungen zu
überstanden, sich ausgerechnet einen Brief des                         ihrer Person enthalten. Mit der Zusammenstel-
- auch von van de Velde sehr verehrten - Philo-                        lung von Texten, die Elisabeth Förster-Nietzsche
sophen für ihr Argument zunutze machte und bei                         1900 unter dem Titel Der Wille zur Macht als ver-
einer Versammlung in der Villa Silberblick verlas.                     meintliches Hauptwerk ihres Bruders veröffent-
Diesem zufolge habe Friedrich Nietzsche ge-                            lichen lässt, schafft sie die Grundlage für eine
schrieben:                                                             Nietzsche-Rezeption, die leicht zu politischen
                                                                       Zwecken ausgenutzt werden kann. Nicht zuletzt
        »Die Nachäfferei des Griechentums durch                        durch die posthume Vermarktung durch seine
        dieses reiche, müßiggängerische Gesin-                         Schwester gewinnt Friedrich Nietzsches Philoso-
        del aus ganz Europa ist mir ein Gräuel.                        phie schnell an Popularität und wird in Deutsch-
        Die Leute ahnen nicht, aus welchen tiefen                      land schon während des Ersten Weltkrieges zu

                                                                                              Mahnmal oder Tanztempel? – 7
Propagandazwecken ausgenutzt, um mithilfe von       Zweifelsohne spielte Elisabeth Förster-Nietzsche
Also sprach Zarathustra die deutschen Soldaten      durch ihren Aufbau eines rechtsnationalen Netz-
zum Kämpfen zu motivieren.20                        werks Weimarer Intellektueller eine zentrale Rolle
                                                    in dieser Entwicklung und bereitete damit in vol-
Der erste Weltkrieg blockiert das Projekt eines     lem Bewusstsein nicht nur die nationalsozialisti-
Nietzsche-Denkmals in Weimar zunächst voll-         sche Vereinnahmung der Philosophie ihres Bru-
ständig.21 Werfen wir also wieder einen Blick auf   ders und des Nietzsche-Archivs, sondern auch
die Zeit der späten Weimarer Republik. Es be-       die ganz Weimars vor.
ruht keinesfalls auf bloßer Einbildung, wenn Har-
ry Graf Kessler in seinem Tagebuch die Nazifi-      2.2 Umsetzung der Nietzsche-Gedächtnis-
zierung des Nietzsche-Archivs beklagt. Jürgen       halle im Nationalsozialismus
Krause beschreibt den Vorgang in seinem Buch
                                                    Gemeinsam mit ihren drei Vettern, Max, Richard
über den Nietzsche-Kult folgendermaßen:
                                                    und Adalbert Oehler, ist Förster-Nietzsche spä-
                                                    testens 1930 im Begriff, das Archiv endgültig in
     »Am Ende der Weimarer Republik verküm-
                                                    den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen.24
     merte die geistige Atmosphäre der Villa
                                                    Ab 1932 ist Hitler regelmäßig zu Gast in der Villa
     ›Silberblick‹ zum bloßen Sammelbecken
                                                    Silberblick und trifft sich mit der von ihm hoch-
     reaktionärer Strömungen, die sich insbe-
                                                    geschätzten Archivherrin. Nach Jahren gerät das
     sondere im Thüringer Raum seit Mitte der
                                                    Projekt für ein Nietzsche-Memorial wieder in den
     20er Jahre verdichtet hatten: 1925 war das
                                                    Fokus und erhält dieses Mal die Rückendeckung
     Bauhaus nach Dessau vertrieben worden,
                                                    der 1933 gewählten nationalsozialistischen Re-
     1926 fand der erste Reichsparteitag der
                                                    gierung Adolf Hitlers.
     NSDAP in Weimar statt und schon vier
                                                    Im November des Jahres 1935 stirbt Elisabeth
     Jahre später konnte in der gleichen Stadt
                                                    Förster-Nietzsche in Weimar. Eine groß ange-
     der erste NS-Minister Deutschlands sein
                                                    legte Trauerfeier wird im Nietzsche-Archiv ab-
     Amt antreten.«22
                                                    gehalten, an der unter anderem der Reichsju-
                                                    gendführer Baldur von Schirach und Hitler selbst
Auch Christiane Wolf vom Archiv der Moder-
                                                    teilnehmen.25 Wie Carol Diethe in ihrer Biografie
ne spricht im Interview den Rechtsruck des im
                                                    Förster-Nietzsches feststellt, wird die Schwester
Nietzsche-Archiv versammelten Weimarer Kul-
                                                    des ideologisch vereinnahmten Philosophen von
turbürgertums an:
                                                    Hitler »zu Propagandazwecken als eine Art Geis-
                                                    tes-Mutter stilisiert und verehrt.«26
     »Mit den gesamten nationalkonservati-
                                                    Am 16. April 1935, wenige Monate vor dem Tod
     ven, rechtskonservativen Kulturbürgern
                                                    Elisabeth Förster-Nietzsches, setzt Richard Leut-
     Weimars, die ja sukzessive auch schon das
                                                    heußer, der Vorstand der Stiftung Nietzsche-Ar-
     Bauhaus verdrängten, beziehungsweise
                                                    chiv, einen Brief an den amtierenden Oberbür-
     ihm Mitte der 20er Jahre den Geldhahn
                                                    germeister Weimars, Walther Felix Mueller, auf.
     zudrehten, die auch der Grund dafür waren,
                                                    Er bittet die Stadt um finanzielle Unterstützung
     dass Harry Graf Kessler als Attaché gehen
                                                    eines Bauprojekts, das auf dem Grundstück des
     musste, hat sich hier ein auch durch die
                                                    Nietzsche-Archivs realisiert werden soll.27 Seiner
     Universität in Jena gespeistes rechtskon-
                                                    Anfrage liegt eine Beschreibung der Projektde-
     servatives Milieu gebildet, das schon seit
                                                    tails bei, in der auch die Motivation für den Bau
     1900 in Weimar parallel [zur städtischen
                                                    erläutert wird:
     Gesellschaft] existierte.«23

8
»Die immer klarer und kraftvoller im drit-      Vereinigten Staatlichen Hochschule für Baukunst,
      ten Reich aufblühende Nietzsche-Bewe-           bildende Künste und Handwerk in Weimar.32 In
      gung kann nur dann in Weimar im Nietz-          dieser Position versucht der NS-Ideologe mit al-
      sche-Archiv ihren Mittelpunkt haben, wenn       len Mitteln, den weltoffenen, progressiven Geist
      die räumliche Möglichkeit für alljährliche      des Bauhauses, das Schultze-Naumburg in sei-
      Tagungen in größerem Maßstabe gegeben           ner Antrittsrede als »Hexenkessel«33 bezeichnet,
      ist. Das jetzige Gebäude des Nietzsche-Ar-      endgültig aus Weimar zu vertreiben.34 Auf sei-
      chivs bietet diese Möglichkeit nicht. […]       ne Veranlassung hin werden unter anderem die
      Dagegen bietet das Grundstück des Nietz-        Fresken des Bauhäuslers Oskar Schlemmer im
      sche-Archivs die Möglichkeit, die räumliche     heutigen Van-de-Velde-Bau zerstört.35
      Grundlage für den Ausbau und zugleich           Schultze-Naumburgs Karriere als Architekt ver-
      die Zusammenfassung der Nietzsche-Be-           läuft allerdings trotz seines anfänglichen partei-
      wegung von Weimar aus und in Weimar zu          politischen Erfolges und der Beförderung zum
      schaffen.«    28
                                                      Hochschuldirektor eher stockend. Sein Baustil ist
                                                      zwar aufgeladen mit »völkischer« und »heimat-
Damit fasst Leutheußer sehr präzise die Absicht       verbundener« Ideologie, aber für den Geschmack
zusammen, die das Milieu des Nietzsche-Archivs        Hitlers zu traditionalistisch.36 Als Schultze-Naum-
mit dem Bau einer Nietzsche-Gedächtnishalle           burg beispielsweise einen Entwurf für das Gaufo-
verfolgte. Der Einfluss des Archivs im Gau Thü-       rum in Weimar einreicht, erhält er vom Reichs-
ringen und im gesamten Reich sollte steigen, und      kanzler eine Absage mit der Begründung, seine
die Gedächtnishalle sollte dabei zum Zentrum          Gebäude sähen »mehr nach der Residenz eines
des von der Ideologie des Nationalsozialismus         Großherzogs als nach einem Forum der Par-
befeuerten Nietzsche-Kults der 30er Jahre avan-       tei aus.«37 Zudem fällt Schultze-Naumburg bei
cieren.29                                             Hitler in Ungnade, als er sich 1935 infolge eines
Mit der Architektur der Kultstätte wird schließlich   Streits um den Umbau der Nürnberger Oper den
Paul Schultze-Naumburg betraut, der seit Jahr-        direkten Anweisungen seines »Führers« wider-
zehnten gut mit der Archivherrin befreundet ist.      setzt.38 Sowohl seine störrische Haltung als auch
Der wirkungsreiche Kunstgewerbe-Unternehmer           sein architektonischer Stil finden also nicht den
und Kunsttheoretiker äußert sich seit dem Ende        Gefallen des Diktators, weswegen die Zuteilung
des Ersten Weltkriegs zunehmend rechtsradikal.        des Projekts der Nietzsche-Gedächtnishalle an
Als einer der ersten Rassenideologen ist er Autor     Schultze-Naumburg durchaus als Zeichen dafür
der 1928 erschienenen menschenverachtenden            gewertet werden kann, dass dieses Vorhaben in
Publikation Kunst und Rasse, die später im Natio-     den Augen der NS-Führungsspitze neben den
nalsozialismus die Grundlage zur Gestaltung einer     größeren Monumentalbauten in München und
Ausstellungsbroschüre über sogenannte »entar-         Nürnberg, aber auch neben dem Weimarer Gau-
tete Kunst« bietet. 1930 tritt Schultze-Naumburg      forum zweitrangig war.39
in die aufstrebende NSDAP ein und ist dort sofort     Zudem ist das Vorhaben von einem ständigen
äußerst aktiv. Bald trägt er als Reichstags-Abge-
             30
                                                      Mangel an finanziellen Mitteln geprägt. Und das,
ordneter dazu bei, die NSDAP »in weiten Kreisen       obwohl Hitler selbst sich bereits im Oktober 1934
des Bildungsbürgertums erst gesellschaftsfähig        nach einem Besuch des Archivs bereit erklärt,
[zu machen]«, wie Jürgen Krause schreibt. Der
               31
                                                      aus privaten Mitteln 50.000 Reichsmark für das
thüringische Volksbildungsminister Wilhelm Frick      Projekt zu spenden. Zu diesem Zeitpunkt ist noch
– ebenfalls NSDAP – überträgt Paul Schultze-          gänzlich unabsehbar, wie teuer der Bau tatsäch-
Naumburg noch im selben Jahr die Leitung der          lich werden wird.40

                                                                              Mahnmal oder Tanztempel? – 9
In der Villa Silberblick allerdings ist die ideolo-    wenige Monate darauf. Die Archivleitung ist nun
gische Motivation für den Kultbau ungebrochen:         zuversichtlich, dass das Gebäude noch rechtzei-
Der Traum der Nietzscheaner*innen um die Ge-           tig vor Nietzsches hundertstem Geburtstag im
brüder Oehler, ein »Heiligtum des deutschen Vol-       Jahr 1944 fertiggestellt wird, und ihre Pläne zur
kes, zu dem es wallfahren soll«, zu schaffen, ist
                                       41
                                                       Nutzung der Halle werden ambitionierter.50 Im
in Verbindung mit nationalsozialistischen Vor-         August 1938 findet, ganz im Zeichen der national-
stellungen von einem »Festhaus des Volkes«42           sozialistischen Propaganda, ein Richtfest statt,
präsenter denn je.   43
                          Auch aus diesem Grund gibt   an dem auch Fritz Sauckel und Joseph Goebbels
es in den 30er Jahren wieder Hindernisse bei der       teilnehmen.51 (Abb. 2)
Planung einer Nietzsche-Gedenkstätte: Noch
vor Elisabeth Förster-Nietzsches Ableben ver-
sucht Schultze-Naumburg, in seinen Entwürfen
ihre Vorstellungen einer pragmatischen Erweite-
rung der Infrastruktur des Archivs ohne reprä-
sentativen Tempelcharakter mit den konträren
Ansprüchen Hitlers und der Oehler-Brüder zu
vereinbaren, die sich eine Kultstätte im Stil »nor-
disch germanischer Baukunst«44 wünschen, die
auf ein »gewaltiges Nietzsche-Zarathustra-Mo-
nument«45 in der Apsis am westlichen Ende der
                                                       Abb. 2: Nietzsche-Gedächtnishalle, Richtfest am 3. August 1938.
Halle hinstrebt.46                                     © Klassik Stiftung Weimar

Erste Fassadenentwürfe Schultze-Naumburgs
werden von Gauleiter Fritz Sauckel abgelehnt.          Doch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wird
Dieser findet sie »zu dürftig«, denn er will Wei-
                                  47
                                                       der Bau unterbrochen. Die Arbeiten an anderen
mar als »Mustergauhauptstadt« in die wichtigs-         Monumentalbauten wollte Hitler in den ersten
ten NS-Kulturstätten eingliedern – mit Bayreuth,       Kriegsjahren noch weiterführen, aber die Nietz-
München und Nürnberg als Inspiration.48 Die An-        sche-Halle gehörte nicht dazu.52 Im Nietzsche-Ar-
sprüche sucht Schultze-Naumburg mit einem              chiv hält man allerdings noch immer verzweifelt
Entwurf zu befriedigen, der mit einem langen           an dem Gebäude fest, lässt es zum Schutz vor
Wandelgang, einer Empfangshalle und einem da-          Bombentreffern sogar mit einem Tarnanstrich
ran angeschlossenen großen Saal mit Platz für          versehen. 1943 gibt Sauckel der Archivgemeinde
die ersehnte Zarathustra-Statue nun den ideo-          zu verstehen, dass es keine neuen Fördergelder
logisch-monumentalen Vorstellungen Sauckels            mehr für das Projekt geben wird. Die Kultstätte
und der nun über das Archiv bestimmenden Oeh-          kann deshalb nicht mehr eingeweiht werden und
ler-Brüder entsprechen soll. Die von der verstor-      bleibt, außer zeitweilig als Lager und Lazarett zu
benen Elisabeth Förster-Nietzsche geforderten          Kriegsende, ungenutzt.53
zusätzlichen Arbeitsräume für das Archiv hin-
gegen werden mit dem seitlich angeschlossenen          Welche Rolle spielte also das Projekt einer Nietz-
und funktional völlig getrennten Büro- und Biblio-     sche-Gedächtnishalle im Nationalsozialismus?
thekstrakt zugunsten des geradlinigen Kultbaus         Simone Bogner sieht die Bemühungen der Wei-
wortwörtlich beiseite geschafft.       49
                                                       marer Archivgemeinde um ein solches Bauwerk
Im April 1937 erhält Schultze-Naumburg von Hit-        als Teil des Versuchs, Friedrich Nietzsche als
ler schließlich die Erlaubnis zur Umsetzung die-       Vordenker des Dritten Reiches zu stilisieren, auch
ses finalen Entwurfs. Die Bauarbeiten beginnen         um den Preis, seine Schriften zu diesem Zweck

10
völlig sinnverdrehend zu verfälschen. Von Seiten                           sche vorbereitet hatte, mündete spätestens
der NS-Führung sei das Interesse an Nietzsches                             mit der Übernahme des Archivs durch Richard,
Philosophie aber peripher geblieben, so Bog-                               Max und Adalbert Oehler in einem ideologischen
ner. 54
          Auch Jürgen Krause sieht insbesondere in                         Wahn, der längst nichts mehr mit der Bewahrung
der Vernachlässigung der Halle ab Kriegsbeginn                             der Schriften des Philosophen zu tun hatte, son-
»ein[en] weitere[n] Hinweis für ihren geringen                             dern die Schaffung einer nationalsozialistischen,
Stellenwert innerhalb der NS-Ideologie«.55                                 rassistischen, lose an Friedrich Nietzsche orien-
                                                                           tierten Mythologie vorbereitete. Fast wäre auf
Christiane Wolf hingegen misst der Nietz-                                  dem Hügel im Süden Weimars, mit Blick auf den
sche-Verehrung im Nationalsozialismus mehr                                 im Norden gegenüberliegenden Ettersberg mit
Bedeutung bei. Im Interview bewertet sie die                               dem Konzentrationslager Buchenwald, die erste
ideologischen Hintergründe des Gebäudes und                                »heilige Stätte« dieses Kults zum Einsatz gekom-
den Bezug zu Nietzsches Philosophie folgender-                             men.
maßen:
                                                                           2.3 Umbau und Nutzung als Funkhaus von
          »Es wäre ein von [den NS-]Tätern ge-                             1946 bis 2000
          nutzter Ort gewesen, um ihre Macht zu
          installieren. Als neue Kulturgröße nimmt                         Nach Kriegsende dauert es nicht lange, bis dem
          man dafür Nietzsche mit Zarathustra, wie                         Gebäude in der Humboldtstraße 36a durch die
          man auch andere deutsche Geistesgrößen                           sowjetische Militäradministration (SMA) eine
          inhaliert hat. […] Es gibt ja dieses berühm-                     neue Funktion zugeteilt wird. Es soll nach einem
          te Foto, auf dem Hitler sich der Büste von                       entsprechenden Umbau als Rundfunkgebäude
          Nietzsche im Nietzsche-Archiv gegenüber-                         genutzt werden. Der Landessender Weimar, der
          stellt. […] Das sagt ja schon sehr viel aus:                     1945 zuerst mit der Rundfunktechnik im Hotel
          Dass er sozusagen der neue Zarathustra                           Elephant auf Sendung ging, soweit sie noch in der
          und Nietzsche sein Gedankengeber ist.«56                         dortigen Suite und Kommandozentrale Adolf Hit-
                                                                           lers vorhanden war, soll größere Räumlichkeiten
                                                                           erhalten. Die Nietzsche-Gedächtnishalle kommt
                                                                           möglicherweise auch deshalb als Gebäude für
                                                                           den Hörfunk in Betracht, weil dort noch kurz vor
                                                                           Kriegsende die Bestände des Musikarchivs Bres-
                                                                           lau eingelagert worden waren.57
                                                                           Man mag sich fragen, warum so nahtlos und ge-
                                                                           radezu leichtfertig an die Nutzung der Infrastruk-
                                                                           tur des Nationalsozialismus angeknüpft wurde.
                                                                           Christiane Wolf erklärt diesen Umstand im Inter-
Abb. 3: Adolf Hitler im Nietzsche-Archiv neben einer Nietzsche-Büste von   view:
Fritz Röll, 1932.
© Klassik Stiftung Weimar

                                                                                   »Es gibt kaum große Gebäude in Weimar.
Ganz davon abgesehen, wie wichtig oder un-                                         Es gibt auch mehrere Bombentreffer […].
wichtig die Gedächtnishalle tatsächlich in Hitlers                                 Es gibt einen enormen Mangel an Rohma-
Augen war, so ist sie in jedem Fall Zeugnis des                                    terialien, an Baumaterialien, an Essen, an
beharrlichen, blinden Dogmatismus der Nietz-                                       Heizmaterialien. […] Und dann wird alles
sche-Gemeinde. Was Elisabeth Förster-Nietz-                                        genutzt, was da ist. […] Große Gebäude

                                                                                                    Mahnmal oder Tanztempel? – 11
des NS werden einfach nachgenutzt. Über-       Studios eingerichtet.61
     all. Ob in Bonn, in Berlin oder in Weimar.     Wie Simone Bogner in ihrer Untersuchung fest-
     Auch wenn sie [von den Nationalsozialisten     stellt, bleibt während dieser Umbauten eine
     bereits] genutzt worden waren.«     58
                                                    kritische Auseinandersetzung mit dem histori-
                                                    schen Erbe der nationalsozialistischen Archi-
Eine ausgebaute, funktionierende Rundfunksta-       tektur aus, geschweige denn ein Versuch, mit ihr
tion ist für die SMA außerdem von besonderem,       zu brechen. Im Gegenteil, man gibt sich sogar
strategischen Wert. Schließlich kann ein Radio-     größte Mühe, sie zu ergänzen und das fast fer-
sender sowohl zur Verbreitung von Propaganda        tige Gebäude getreu den Plänen Paul Schultze-
als auch für den Informationsaustausch über         Naumburgs fertigzustellen. Es wird sogar dassel-
größere Entfernungen hinweg eingesetzt wer-         be Bauunternehmen beauftragt.62
den.59 Die Sowjetunion will ihren Machtanspruch
stabilisieren und das neue Hoheitsgebiet unter           Ȇberhaupt vermitteln die Umbauten
Kontrolle bringen. Dabei hat das Radio, trotz des        aus dieser ersten Phase den Eindruck,
langsam aufstrebenden Fernsehens, nach wie               man habe sich der Nietzsche-Halle, trotz
vor einen besonders hohen Stellenwert für die            anti-nationalsozialistischer Haltung und
sowjetische Nachrichtenverwaltung. In seinem             ideologisch begründeter Ablehnung Nietz-
Essay Revolution im Radio über die Entwicklung           sches, trotz Materialmangels und wenig
des Hörfunks in der Sowjetischen Besatzungszo-           verfügbaren finanziellen Mitteln, in ihrer
ne und der DDR schreibt der Historiker Christoph         doch repräsentativen Ästhetik zumindest
Classen:                                                 annähern wollen.«63

     »Bei den höheren Funktionären im SED-          Nach schnellem Umbau wird also das neue Wei-
     Staat war der Glaube an die Macht des          marer Funkhaus in Betrieb genommen und man
     Mediums [Radio] anscheinend ungebro-           geht auf Sendung, dank der im Gebäude unterge-
     chen. Jedenfalls ist das Programm der          brachten Aufnahmestudios auch mit einer eige-
     späten 40er und 50er Jahre voller Beispiele    nen Musikproduktion: Seiner eigenen Erzählung
     dafür, wie die Parteispitze mit oft eher       zufolge kommt beispielsweise der Musiker Her-
     schlichten Mitteln versuchte, die Hörer von    bert Roth 1950 im Weimarer Rundfunkhaus bei
     der Richtigkeit ihrer Politik respektive der   einem Treffen mit der dortigen Musikredaktion
     Größe der Sowjetunion zu überzeugen und        auf die Idee für die Melodie des Rennsteigliedes,
     im Gegenzug den Westen als Reich des           eines lokalpatriotischen Volksliedes, das bis heu-
     Bösen erscheinen zu lassen.«   60
                                                    te als »heimliche Hymne Thüringens« gilt.64
                                                    Bogner macht bei genauerer Betrachtung der
Der Umbau der leer stehenden Nietzsche-Ge-          ersten tatsächlichen Nutzungsphase des Gebäu-
dächtnishalle zum Funkhaus wird daher unter         des noch eine weitere Entdeckung, die auf einen
»Dringlichkeitsstufe A« verfolgt. Das Gebäude       unkritischen Umgang mit dem historischen Ur-
soll so schnell wie möglich mit Sende- und Auf-     sprung des Gebäudes in den Kreisen des Landes-
nahmetechnik ausgestattet werden. Bereits im        senders hindeutet:
April 1946 wird mit den Bauarbeiten begonnen.
Im Zuge dessen wird der große Festsaal in einen          »Ein sehr interessantes Detail, das für die
größeren und einen kleineren Sendesaal aufge-            Wertschätzung des charakteristischen
teilt, der u-förmige Bürotrakt erhält ein zusätz-        Aussehens dieses doch recht schwierigen
liches Stockwerk und in einigen Räumen werden            Erbes aus der Zeit der nationalsozialisti-

12
schen Herrschaft spricht, findet sich weit    optimieren. Außerdem wird eine Zwischendecke
     entfernt vom materiellen Umgang mit           eingezogen, um auch hier ein zweites Stockwerk
     Bausubstanz. Der Landessender nutzte das      anzulegen. Dort findet unter anderem ein neuer
     solitäre Erscheinungsbild der Eingangs-       Konferenzraum Platz.68
     fassade bis in die 1950er Jahre als Signet
     auf seinen Briefköpfen. Diese Inkorporation
     des markanten Aussehens des ehemaligen
     Erweiterungsbaus des Nietzsche-Archivs
     in eine sendereigene Corporate-Identity
     erscheint […] erstaunlich.«65

Dabei war man sich in der Intendanz des Sen-
ders durchaus darüber im Klaren, dass der Bau
als Kultstätte und Wallfahrtsort der national-
sozialistischen Nietzsche-Verehrung konzipiert
war.66 Umso fragwürdiger ist also die Wert-
schätzung und die ästhetische Annäherung an
ein Gebäude mit derartig ideologisch besetztem
                                                   Abb. 4: Blick durch das Regiefenster eines ehemaligen Aufnahmeraums im
Ursprung, die sich im Landessender Weimar in       Bibliothekstrakt.
                                                   © Candy Welz
baulicher wie identitätsstiftender Weise, wohl
nicht aus schlichter Unwissenheit, vollzog.
Von 1952 bis 1955 wird der Weimarer Sendebe-       Nach der Wiedervereinigung wird 1991 mit dem
trieb mit der Gründung des Staatlichen Komitees    Rundfunkstaatsvertrag der Mitteldeutsche Rund-
für Rundfunk kurzzeitig ausgesetzt und das Ge-     funk (MDR) gegründet, der bis in das Jahr 2000
bäude der ehemaligen Nietzsche-Gedächtnishal-      den Sendebetrieb im Weimarer Funkhaus auf-
le kommt als Fachschule für Rundfunkwesen zum      rechterhält. Dann, nach 54 Jahren Weimarer
Einsatz. In dieser Zeit wird in Weimar die junge   Rundfunkgeschichte, wird in der thüringischen
Generation der Radiojournalist*innen der DDR       Hauptstadt Erfurt ein neues Landesfunkhaus für
ausgebildet. Anschließend wird das Gebäude zu      den Sender eingeweiht, und der MDR zieht nach
einer Lokalradiostation des Senders Radio DDR,     der letzten Sendung am 29. August 2000 aus der
unter dem neuen Namen Sender Weimar. 1958          Humboldtstraße 36a aus.69 Die seit 1993 denk-
wird außerdem ein Studio zur Filmsynchronisa-      malgeschützte Immobilie soll anschließend wei-
tion des staatlichen Filmunternehmens DEFA im      terverkauft werden.70 Der Direktor des Erfurter
kleineren Saal des Funkhauses eingerichtet.67      Landesfunkhauses Kurt Morneweg wird in einem
Von 1972 bis 1989 finden erneut Umbauarbei-        Zeitungsartikel über den Abschied vom Weimarer
ten im Weimarer Rundfunkgebäude statt. Auch        Sendegebäude zitiert: »An alten Häusern hängt
hier wird nach wie vor versucht, sich nach der     man um so mehr, je mehr Fehler sie hatten.«71
originalen Ästhetik des Gebäudes zu richten, in
dieser zweiten Umbauphase hat allerdings der
Gebrauchswert für den Hörfunk oberste Prio-
rität. Besonders im großen Sendesaal werden
Änderungen vorgenommen. An den Wänden
bringt man abgerundete Akustikkörper an, um
die Klangqualität im größten Saal des Hauses zu

                                                                                   Mahnmal oder Tanztempel? – 13
2.4 Das Funkhaus als ein Zentrum der Wei-            Haus der Studierenden in der Marienstraße 18
marer Clubkultur                                     fungiert als Ort des kulturellen Austausches. Hier
                                                     haben verschiedene studentische Initiativen ih-
Seit dem Auszug des MDR im Jahre 2000 steht          ren Sitz, zum Beispiel der Tonraum, der sich mit
also das Funkhaus, das ursprünglich nicht als        DJ- und Clubkultur auseinandersetzt, oder die
Funkhaus entstand, leer. 2008 wird nach einigen      Initiative für Licht- und Visualkultur E27, die bei
erfolglosen Versuchen, das Gebäude zu verkau-        vielen Weimarer Events die Lichtgestaltung über-
fen, schließlich doch eine Transaktion mit einem     nimmt. Allgemein herrsche ein Klima der gegen-
privaten Investor ausgehandelt.72 Seitdem stellt     seitigen Unterstützung und der bereitwilligen
der Eigentümer das Gebäude immer wieder für          Weitergabe von Wissen und Erfahrung, berichtet
kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. Dazu       Friederike Kempter.
zählen beispielsweise Ausstellungen, die von den     Auch für Fördergelder zur finanziellen Ermögli-
günstigen, weitläufigen Räumlichkeiten des ehe-      chung von Partys und Events hat Weimar gleich
maligen Sendegebäudes profitieren.73 Und mit         mehrere Anlaufstellen: Das Studierendenwerk,
der Jubelfeier des traditionsreichen Weimarer        der Studierendenkonvent der Bauhaus-Univer-
Seifenkistenrennens SpaceKidHeadCup am 1. Mai        sität, der Studierendenrat der Hochschule für
des Jahres 2018 ist die Nutzung des Gebäudes         Musik, sogar die Hochschulen selbst fördern
hinzugekommen, die das heutige »Funkhaus« si-        regelmäßig größere Projekte wie den SpaceKid-
cherlich am meisten prägt: groß angelegte, von       HeadCup oder den Hochschulball.77
Studierenden beider Weimarer Hochschulen or-
ganisierte Partys.74                                 Die Weimarer Partyszene hat einen klaren mu-
                                                     sikalischen Schwerpunkt: Electro und Techno.
2.4.1 Studentische Clubkultur und elektroni-         Schließlich hat die Stadt bereits seit über zehn
sche Musik in Weimar                                 Jahren einen besonderen Bezug zur elektroni-
                                                     schen Musik. Mitte der 2000er Jahre fand sich
Die studentische Clubkultur in Weimar weist          hier das Kollektiv Giegling, das ein eigenes La-
einige Alleinstellungsmerkmale auf, wie Frie-        bel gründete und neben regelmäßigen Partys in
derike Kempter, die regelmäßig Events in der         Weimar bald auch internationale Erfolge feierte.78
Stadt organisiert, im Interview erläutert. Mit der   Weimar, das die meisten Menschen wohl mit Goe-
Hochschule für Musik Franz Liszt und der Bau-        the, Schiller oder dem Bauhaus assoziieren, ge-
haus-Universität verfügt Weimar über gleich zwei     wann damit schnell an Ansehen bei DJs und Pro-
Sammelbecken junger, kreativer Menschen, die in      duzent*innen aus ganz Deutschland und machte
gestalterischer wie in musikalischer Hinsicht für    sich einen Namen in der Techno-Subkultur.79 Die
ein großes Potenzial sorgen.75 Hierbei ist gera-     Gründungen weiterer Kollektive ließen nicht lan-
de die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die für     ge auf sich warten: Bald folgten Das Konglome-
die Organisation einer Party nötig ist, eine reiz-   rat, praeparadies sowie die Veranstaltungsreihe
volle Herausforderung: »Weimar ist superspe-         Somedate. Unter diesem Namen wird seit 2011
ziell, was das angeht. […] Dass sich Studis aus      jeden Sommer ein 24-stündiges Open-Air-Festi-
unterschiedlichen Fachrichtungen treffen und ir-     val am Hang des Ettersbergs nördlich von Wei-
gendwelche Veranstaltungen hochziehen, das ist       mar ausgerichtet, das nicht nur ein Weimarer
schon ganz besonders«76, so Kempter.                 Publikum anzieht.80 Heute prägen Kollektive wie
Außerdem gibt es in Weimar zahlreiche Voraus-        00k und Yung Born die städtische Clubkultur. Die
setzungen, die die Veranstaltungsplanung in          musikalische Ausrichtung ist dabei recht kons-
vielerlei Hinsicht erleichtern. Insbesondere das     tant geblieben. Ob Deep House, UK Garage oder

14
Breakbeat-Techno: elektronische Musik hat die                einzigartig. Egal, welches Format auch
Feierkultur dieser Stadt nachhaltig geprägt. 81
                                                             nochmal die gleiche Location bespielt: Es
»Was gerade wieder so ein bisschen kommt, ist                ist immer wieder etwas Neues und das
Hip-Hop, das ist momentan ein bisschen prä-                  finde ich superspannend.«85
senter in mancherlei Hinsicht, aber auf jeden
Fall nicht so, dass Weimar dafür bekannt ist.«82,       Doch welche Rolle spielt das leerstehende Ge-
merkt Friederike Kempter an. Andere Musikgen-           bäude, das als Nietzsche-Gedächtnishalle ge-
res wie Jazz oder Rock seien dagegen lediglich in       plant war und über 50 Jahre als Rundfunkhaus
den Bars oder kleineren Veranstaltungsorten ver-        zum Einsatz kam, in dieser studentisch gepräg-
treten, beispielsweise in der Kneipe Zum Falken         ten Subkultur? Friederike Kempter ist sich sicher:
oder in der Gerber.83                                   »Würde es das Funkhaus gerade nicht geben,
                                                        gäbe es bei weitem auch nicht die kleine Club-
Abgesehen von der musikalischen Ebene erfor-            kultur-Szene, die wir hier gerade haben.«86 Dies
dert eine Party auch visuelle und dramaturgische        lässt sich in zweifacher Hinsicht begründen.
Planung. Mit der Etablierung der Techno-Subkul-
tur entwickelte sich deshalb zugleich eine neue         2.4.2 Das Funkhaus als Veranstaltungsort:
Perspektive auf Licht- und Bühnendesign in Wei-         Vorzüge und Schwierigkeiten
mar. Veranstalter*innen begannen, sich um kohä-
rente Gesamtkonzepte, das Zusammenspiel von             Zunächst einmal erfüllt das Funkhaus durch sei-
Musik und Licht und die Entdeckung von immer            ne räumliche Beschaffenheit die Bedingungen
neuen Materialien zu bemühen, die für bühnen-           für eine Partylocation, die immer wieder neuen
und raumgestalterische Konstruktionen genutzt           und einfallsreichen Umgestaltungen unterzogen
werden können.                                          werden kann. Kempter beschreibt es deshalb im
Für ständige Abwechslung in der städtischen             Interview scherzhaft auch als einen »Veranstal-
Veranstaltungsszene sorgt vor allem der Erfin-          tungsspielplatz«.87 Durch seine Größe lassen sich
dungsreichtum Weimarer Studierender, die für            in dem Gebäude sehr viele Personen gleichzei-
jedes Event ein neues gestalterisches Konzept           tig unterbringen: »Es ist einfach ein Ort, wo man
erarbeiten und umsetzen. Da bei vielen Locations        auch achthundert Leute reinkriegt, wenn man
keine entsprechende Infrastruktur vorhanden ist,        das gut aufteilt.«88 Der große Saal fasst von allen
müssen selbst grundlegende Komponenten wie              Räumen die größte Zahl an tanzenden Gäst*in-
Garderobenstand oder Einlasstisch erst herge-           nen und verfügt, vor allem durch die übrig ge-
richtet und oftmals selbst gebaut werden.   84
                                                 Dies   bliebene Wandverkleidung aus Rundfunkzeiten,
bedeutet einerseits einen enormen logistischen          über eine gute Akustik. »Auch wenn man wirk-
Aufwand für jedes einzelne Event, zugleich aber         lich volles Brett Electro oder Techno vorwärts
auch die Vermeidung jeglicher Gleichförmigkeit          schiebt«,89 fügt Friederike Kempter hinzu. Weite-
in einer sich ständig verändernden, dynamischen         re Sektionen des Gebäudekomplexes lassen sich
Veranstaltungslandschaft. Genau diese durch             als zusätzliche Floors bespielen: Der Konferenz-
Improvisation geschaffene Vielfalt ist es, die          raum im Obergeschoss des Saaltrakts bietet eine
Friederike Kempter an der Organisation Weimarer         sekundäre Tanzfläche (Abb. 5), der Innenhof eig-
Events fasziniert:                                      net sich als Pausen- und Entspannungsbereich,
                                                        der mit Ambient-Musik beschallt werden kann.
     »Von Wäldchen-Party bis hin zu irgendwel-          Selbst der Gewölbekeller kommt bei Veranstal-
     chen alten, verlassenen Lagerhallen oder           tungen regelmäßig zum Einsatz. Das Kollektiv
     dem Funkhaus - es ist irgendwie immer              00k veranstaltet sogar Partys, die ausschließlich

                                                                               Mahnmal oder Tanztempel? – 15
im Gewölbe des Funkhauses stattfinden.90 Dabei                           Viele Räume, die bespielt werden, haben nur ei-
werde mehr Wert auf die Atmosphäre als auf die                           nen Notausgang. Und nicht nur aufgrund man-
Akustik gelegt, meint Kempter:                                           gelnder Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen
                                                                         kann die Organisation einer Veranstaltung zu
                                                                         gravierenden rechtlichen Schwierigkeiten führen,
                                                                         erklärt Friederike Kempter:

                                                                              »Das erschwert einem einfach das Leben,
                                                                              wenn man Veranstaltungen mit so einem
                                                                              gefährlichen Halbwissen hochzieht. Da
                                                                              kannst du in Teufels Küche kommen. Allein,
                                                                              wenn du vergisst, die GEMA anzumelden:
                                                                              Da zahlst du Strafen, das ist echt wider-
                                                                              lich. Oder wenn man es nicht bei der Stadt
Abb. 5: Der umgestaltete Konferenzraum als zusätzlicher Floor im Ober-        anmeldet, steht gleich die Polizei da und
geschoss.
© Arthur Helmecke                                                             macht einem das Leben zur Hölle.«94

        »Da ist der Sound natürlich nicht so wie in                      Auch wenn das Funkhaus einerseits genügend
        einem schallschutzgedämmten Club. Aber                           Platz für große Menschenmengen und scheinbar
        das hat dann auch seinen Charme, wenn                            unbegrenzte Möglichkeiten zur kreativen Umge-
        das so ein bisschen suboptimal ist.«91                           staltung bietet, ist es durch seinen verwahrlos-
                                                                         ten Zustand, seine für andere Zwecke ausgelegte
Die fehlende Infrastruktur in dem verfallenden                           Architektur und versammlungsgesetzliche Grau-
Gebäude stellt die Veranstalter*innen allerdings                         zonen alles andere als eine ideale Partylocation.
auch vor weniger charmante Herausforderun-                               Warum wird es also immer wieder als solche ein-
gen, die oft aufwendige Lösungen erfordern. Im                           gesetzt?
gesamten Funkhaus gibt es weder Strom noch
fließendes Wasser, weshalb Starkstromkabel zu                            2.4.2 Fehlende alternative Räumlichkeiten
einem Nachbarhaus verlegt, Dixi-Toiletten ange-                          und das Weimarer »Party-Tief«
fragt und vor dem Gebäude aufgestellt werden
müssen. Das Funkhaus befindet sich in einem                              Hier kommt der zweite Grund ins Spiel, der die
Wohngebiet, weshalb zum Schutz der Anwohner                              wachsende Nachfrage des Gebäudes als Veran-
in vielen Fensterrahmen des Gebäudes Matratzen                           staltungsraum erklärt: Es ist verfügbar. Andere
befestigt werden, die den Schall abfangen sollen.                        Räumlichkeiten in Weimar sind es nicht, wie Frie-
Außerdem macht den Aufbauenden im Winter                                 derike Kempter feststellt:
die Kälte in dem ungeheizten Gebäudekomplex
zu schaffen.92 »Genau aus dieser Not heraus wird                              »[Im Funkhaus] passiert gerade ganz viel,
sowieso immer nur improvisiert und man muss                                   natürlich, das ist dem geschuldet, dass es
kreativ werden, um überhaupt mit der Gesamt-                                  gar keine anderen Lokalitäten gibt, wo man
situation umgehen zu können.«,93 so Kempter.                                  hingehen kann, um eine größere Veranstal-
Hinzu kommt, dass die ehemalige Nietzsche-Ge-                                 tung hochzuziehen.«95
dächtnishalle in ihrer Architektur zwar groß,
aber nicht auf öffentliche Großveranstaltungen                           Im Interview berichtet sie davon, wie eine Wei-
mit mehreren hundert Gäst*innen ausgelegt ist:                           marer Location nach der anderen in den letzten

16
Jahren weggefallen ist. Manche wurden gesperrt,           investieren, um irgendeine Veranstaltung
andere abgerissen. So verlor die Clubkultur nach          hochzuziehen.«98
und nach das Busdepot, den Güterbahnhof, die
alte SB-Halle am nördlichen Stadtrand oder den       Als gefährdet oder eingeengt will Kempter die
Schlachthof. Bei letzterem weigerte sich schließ-    Weimarer Subkultur trotzdem nicht bezeichnen:
lich der Träger, den Ort weiter für Partys zur
Verfügung zu stellen, mit der Begründung, nur             »Es gibt halt immer so eine Zeit in Weimar;
»kulturelle Veranstaltungen« sollten dort statt-          je nachdem, was sich gerade für Gruppie-
finden.
      96
                                                          rungen gefunden haben, wie viel Energie
                                                          da dahintersteckt, gibt es immer so ein
Neben der begrenzten Zahl an Locations ma-                ein-, zweijähriges Party-Tief. Und dann
chen viele verschiedene Faktoren wie gesetzliche          entdeckt wieder jemand ein Gebäude, das
Auflagen, GEMA-Gebühren und Veranstaltungs-               bespielbar ist.«99
haftpflichtversicherungen das Veranstalten einer
größeren Party zu einem äußerst aufwendigen          Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt das Funkhaus in
Unterfangen, mit dem ein hohes Maß an Verant-        der Humboldtstraße 36a, direkt hinter der Villa
wortung verbunden ist. Auch deshalb sei in Wei-      Silberblick, einer der wichtigsten Versammlungs-
mar der Enthusiasmus für die Organisation von        orte der gegenwärtigen Weimarer Clubkultur.100
Veranstaltungen zuletzt deutlich zurückgegan-
gen, meint Friederike Kempter.

     »Es finden sich auch nur noch wenige Ver-
     anstalter*innen, die sich das Risiko auf-
     bürden. […] Das ist ja immer Zeit und Kraft,
     die man investiert, wenn man so etwas
     während des Studiums macht.«97

Zeit und Kraft, die viele Studierende nicht zu-
sätzlich aufwenden können. Dafür hat Friederike
Kempter Verständnis und sieht das Problem unter
anderem beim Bologna-Prozess. Studierenden
bleibe durch starre, leistungsorientierte Struktu-
ren der Universität und die ständige Ermahnung
zu einem Abschluss in Regelstudienzeit zu wenig
Ruhe und Freiraum, um eigene kreative Projekte
zu verfolgen.

     »Man hat nicht mehr so viel Zeit, sich in
     andere Richtungen entfalten zu können.
     Wenn man dann mal nicht Uni-Stress hat,
     hat man auch mal eher Lust, sich nach
     seinem Privatleben zu richten und dann
     vielleicht mal in den Urlaub zu fahren und
     dann nicht unbedingt noch Arbeitszeit zu

                                                                               Mahnmal oder Tanztempel? – 17
3 Transformation durch Techno?                        wird, die ein junges, heterogenes Publikum an-
                                                      ziehen, als äußerst positive Rekontextualisierung:
Es bleibt nun also die Frage, ob die gegenwär-
tige Nutzung der ursprünglichen Nietzsche-Ge-               »Ich finde es gut an solchen Orten. Es gab
dächtnishalle als Veranstaltungsort der Weimarer            ja auch einmal für die ehemalige Halle der
Techno-Subkultur einen adäquaten Umgang mit                 Volksgemeinschaft, das heutige Atrium
dem architektonischen Erbe des Nationalsozia-               [auf dem Gauforum], ein Konzept […] von
lismus darstellt und wieviel ideologische Wirkung           Udo Lindenberg. Da haben ja auch große
in der Architektur des Gebäudes bis heute erhal-            Konzerte stattgefunden. Es war so ein
ten geblieben ist.                                          Zwischending zwischen Begegnungsstätte
Durch die kunstvolle Licht- und Raumgestaltung              und Konzerthalle, belebt durch junge Men-
der Studierenden sei zumindest bei Partys nichts            schen. Und nicht durch alternde Gesell-
davon zu spüren, meint Friederike Kempter. Sie              schaft. Insofern finde ich so eine Nutzung
erinnert sich zurück an den ersten Eindruck, den            sehr gut und adäquat für solche Gebäu-
sie beim Besuch der Jubelfeier des SpaceKidHe-              de.«103
adCup 2018 von dem Gebäude bekam:
                                                      Sie hält den Ort durch die studentische Nutzung
     »Klar, es ist NS-Architektur, aber es wurde      außerdem für besser vor der Wiederaneignung
     so umgestaltet, wir sind da reingelaufen         durch rechtsgesinnte Gruppierungen geschützt:
     und wir hatten keinen Anflug von einem           »Der Raum ist dann besetzt, durch eine be-
     bedrückenden Gefühl. Weil da so viel Liebe       stimmte Richtung.«104
     und Arbeit reingesteckt worden ist, mit          Bedenken hinsichtlich einer neuen Nietzsche-
     lauter kleinen Bauelementen und Licht, da        Verehrung durch gegenwärtige rechtsextreme
     war auf einmal ein ganz anderer Kontext          Vereinigungen sind keineswegs unbegründet. Die
     geschaffen.«    101                              Identitäre Bewegung etwa veröffentlicht auf ihrer
                                                      Internetseite Buchbesprechungen zu Schriften
Kempter versteht das Gebäude in erster Linie          des Philosophen. Die Hausmarke der Identitären,
als passiven Hintergrund, als Leinwand für die        Phalanx Europa, vertreibt neben T-Shirts mit der
gestalterischen Projekte der Studierenden, die        Aufschrift »Fortress Europe« auch Kleidungsstü-
bereits mit den einfachsten Mitteln einen Effekt      cke, die den Schriftzug »NietzCHE« tragen - in
erzielen, der sich der nationalsozialistischen Ein-   Anspielung auf Friedrich Nietzsche und Che Gue-
schüchterungsarchitektur implizit sogar wider-        vara.105
setzt:
                                                      In einem solchen Klima ist die pluralistische, welt-
     »Es geht einfach darum, dass da eine             offene Nutzung eines Gebäudes, das unter Hitler
     Atmosphäre generiert wird, wo sich alle          gebaut wurde, um mit Nietzsche als Säulenhei-
     wohlfühlen können. Und das passiert              ligem dem Nationalsozialismus zu huldigen, ein
     eigentlich schon, wenn man da reingeht           Zeichen gegen den insbesondere in Thüringen
     und fünf Lampen aufstellt. Es ist dann in        erstarkenden Rechtsextremismus. 2019 zählte
     einem anderen Licht.«  102                       der Verfassungsschutzbericht rund 900 Rechts-
                                                      extremisten, darunter 250 als gewaltbereit und
Auch Christiane Wolf vom Archiv der Moder-            gefährlich eingestufte, allein in diesem Bundes-
ne empfindet den Umstand, dass das Funkhaus           land. Der Verfassungsschutz bemerkte außerdem
heute als Veranstaltungsort für Partys genutzt        eine spürbar steigende Gewaltbereitschaft.106

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