REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute
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REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute herausgegeben vom Beauftragten der Evangelischen Landeskirche in Baden für das Reformationsjubiläum Wolfgang Brjanzew Die Broschüre kann bezogen werden über: Evang. Oberkirchenrat, Blumenstraße 1–7, 76133 Karlsruhe E-Mail: gisela.kirchberg-krueger@ekiba.de
Karl Vollmer: „Luther im Profil, Muddy Waters nicht unähnlich“, 2015, Mischtechnik auf Packpapier, 199 x 178 cm
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 A. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 I. Die stets reformbedürftige Kirche Thesen zur bleibenden Aktualität von Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 II. Die Botschaft der Kirche für Menschen von heute Thesen zur konkreten Identifikation aktuell besonders relevanter Kerninhalte kirchlicher Verkündigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 B. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Uwe Hauser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 C. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Gerrit Hohage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 D. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Anne Helene Kratzert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 E. DIE BDEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Matthias Kreplin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 ZUR DISKUSSION GESTELLT Impulse für den Gebrauch des Thesenheftes im Blick auf Gesprächsveranstaltungen von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 REFORMATION AKTUELL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 A. Anregungen für eine einmalige Gesprächsveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 B. Anregungen für eine einmalige Gesprächsveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 C. Anregungen für eine mehrteilige Gesprächsreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 D. Anhang 500 Jahre Reformation – Wie es dazu kam und was daraus wurde von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 BILDRECHTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IMPRESSUM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5
VORWORT Die Kirche ist „ecclesia semper reformanda“ also stets sen dürfte besonders für Pfarrkonvente, Bezirkssynoden, reformationsbedürftige Kirche. So hatte es der nieder- Ältestenkreise, Bezirkskirchenräte oder andere theo- ländische Theologe Jodocus van Lodenstein in einer logisch interessierte Gruppen und Kreise eine lohnende von ihm 1674 veröffentlichten Schrift erstmals formu- Aktion (nicht nur) im Rahmen des Reformationsjubi liert. In diesem Sinne kann auch 500 Jahre nach Luthers läums sein. Wir brauchen in unserer Kirche neben vie- Thesenanschlag das Thema „Reformation“ nicht einfach len anderen Formen und Ebenen der Kommunikation nur Anlass zu historischem Gedenken sein. Das aktu- auch den anspruchsvollen Austausch über theologische elle Reformationsjubiläum fordert vielmehr besonders Grundsatzfragen. Dass dieser angesichts einer Fülle dazu heraus, zu prüfen, was gerade heute geschehen anderer Aktivitäten und Aufgaben oft zu kurz kommt, muss, damit die Kirche der Reformation ihrem Auftrag wird gerade von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mit- gemäß wahrhaft „evangelische“ Kirche ist und bleibt. Da arbeitern häufig beklagt. Hier kann das vorliegende Heft es auf die Frage nach der Bedeutung von Reformation eine Hilfe sein. Es bietet Material an, das didaktisch für die Gegenwart mehr als nur eine Antwort gibt, muss sinnvoll eingesetzt, die motivierende Ausgangsbasis um ihre Klärung und die damit verbundenen Konsequen- für einen längst überfälligen inhaltlichen Diskurs dar- zen diskursiv gerungen werden. Nach evangelischem stellen kann. In diesem Sinne laden wir die Leserinnen Selbstverständnis ist es ja ein bewährtes Verfahren, und Leser dieser Broschüre ein: Gönnen Sie sich die theologische Klärungen „sine vi sed verbo“, also ohne Auseinandersetzung mit den hier veröffentlichten The- Gewalt sondern allein durch die Überzeugungskraft sen. Seien Sie so frei und schnappen Sie nach den auf des Wortes zu erzielen. diese Weise ins Spiel gebrachten „Knochen“. Ob Sie zustimmen, widersprechen oder ihre eigenen Thesen Auf diesem Hintergrund und ganz im Sinne des badischen entwickeln – lassen Sie sich durch die fünf Beiträge in Jubiläumsmottos „Ich bin so frei“ haben eine Theolo- diesem Heft inspirieren zum Weiterdenken und zur gin und vier Theologen unserer Landeskirche jeweils Diskussion. Wir wünschen Ihnen dazu gute Einfälle, auf ihre Weise und aus ihrer ganz individuellen Sicht Freiräume, engagierte Gesprächspartner und vor allem heraus Thesen zur Bedeutung von Reformation heute Gottes Segen. formuliert. Mit ihrer Veröffentlichung verbinden wir die Hoffnung, dass diese sehr unterschiedlichen per- sönlichen Statements zu einer offenen und möglichst breiten Diskussion über die Aktualität von Reformation Karlsruhe, im Oktober 2016 heute anregen mögen. Wolfgang Brjanzew Die Beschäftigung mit den in diesem Heft publizierten Landeskirchlicher Beauftragter Denkansätzen oder einzelnen daraus ausgewählten The- für das Reformationsjubiläum 6
Titelblatt des Urdrucks der von Martin Luthers 1520 veröffentlichten Schrift „Von der Freiheit eines Christen- menschen“ (lateinischer Titel: „De libertate christiana“). In der Einfassung oben sind die sächischen Schwerter, unten das Wappen Wittenbergs zu sehen. 7
Wolfgang Brjanzew Beauftragter der Evangelischen Landeskirche in Baden für die Reformationsdekade, Karlsruhe A. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Wolfgang Brjanzew I. Die stets reformbedürftige Kirche Thesen zur bleibenden Aktualität von Reformation Die Kirche stand und steht fortwährend in der Gefahr, nahmen zur Erneuerung der Kirche notwendig. Das gilt sich von ihrem im neuen Testament gründenden Auftrag im Blick auf ihre Lehre und Verkündigung ebenso wie zu entfernen. Häresien, Traditionalismus, Modernismus, für ihre institutionelle Gestalt. Die folgenden Thesen Ignoranz, Machtstreben, Weltflucht oder Verweltlichung – beziehen sich auf einige grundlegende Aspekte, die mit dies alles und noch andere Faktoren machten und der permanenten Reformbedürftigkeit der Kirche im machen bis heute immer wieder reformatorische Maß- Zusammenhang stehen. (1) ecclesia semper reformanda – die fehlbare und darum immer wieder zu reformierende Kirche Die Kirche ist und bleibt eine fehlbare Institution. Wo sie im Blick auf die Erfüllung ihres Auftrages versagt, bedarf sie der Reformation im Sinne eines Weges der Umkehr und Erneuerung. Da sie immer wieder ver- sagt, bedarf sie auch immer wieder eines ihren Kurs korrigierenden reformatorischen Handelns. Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen besteht aus wie jeder einzelne Mensch so steht auch die Kirche als fehlbaren Menschen. Darum ist auch sie selbst als Ins- organisierte menschliche Gemeinschaft unter dem Ruf titution fehlbar. Sie versagt immer wieder, weil sowohl Jesu zur Buße. Wo sie ihm folgt und umkehrt zu einer die zu ihr gehörenden Menschen als auch die von ihnen Form bzw. einer Praxis, die ihrem Auftrag entspricht, entwickelten kirchlichen Strukturen immer wieder da geschieht Reformation. Die de-formierte Kirche versagen. Dabei besteht ihr Versagen vor allem darin, wird im Sinne ihres Auftraggebers re-formiert. Das ist dass sie fortwährend entweder das Evangelium oder nicht ein für allemal zu leisten. Reformation ist viel- die ihr anbefohlenen Menschen oder beides aus dem mehr ein aus wechselnden Anlässen heraus immer Blick verliert. Wo dies der Fall ist, erfüllt sie ihren Auf- wieder aktuell notwendiger Prozess. trag nicht mehr im Sinne ihres Auftraggebers. Doch (2) Prüft aber alles – das evangelische Prinzip permanenter Kritik Reformation ist nicht nur ein epochaler historischer Ereigniszusammenhang oder eine einmalige von be- stimmten theologischen Inhalten geprägte Bewegung. Der Begriff steht vielmehr zugleich auch für ein bleiben- des paradigmatisches Modell geistlich-theologischer Erneuerung. Es beinhaltet sowohl die institutionalisierte Pflege einer Kultur kritischer Selbstanalyse innerhalb der Kirche als auch eine grundsätzliche Offenheit für konstruktive Kritik von außen. Reformation als evangelisches Prinzip permanenter Kritik ist eine Art „qua- litätssicherndes“ Handeln der Kirche. Es zielt auf die stetige Orientierung der Kirche an ihrem im Evangelium gründenden Auftrag und an den ihr anbefohlenen Menschen in ihrer jeweils konkret vorfindlichen Lebens- wirklichkeit. 8
Die Institution Kirche ist eingebunden in eine sich stän- aber von seiner Grundgestalt her nicht zur Disposition. dig verändernde Welt. Damit ist sie auch permanent Anders verhält es sich bei den politischen, ökonomi- herausgefordert, auf diese Veränderungen angemessen schen, soziokulturellen und individuellen Verhältnissen zu reagieren. Ihr apostolischer Auftrag stellt sie grund- der Menschen. Sie verändern sich ständig. Darum muss sätzlich unter Gottes Zuspruch und Anspruch. Er ver- die Kirche ihre organisatorischen Strukturen sowie die pflichtet sie zur Verkündigung des Evangeliums, zur Schwerpunkte und Methoden ihres Handelns kontinuier- stiftungsgemäßen Verwaltung der Sakramente, zur lich auf sich verändernde Lebenswelten abstimmen. Pflege geschwisterlicher Gemeinschaft und zum Dienst Nur so kann sie ihren apostolischen Auftrag in der Weise der Liebe. Dieser umfassende Auftrag an sich ist zwar realisieren, dass sie dabei den betroffenen Menschen ein dauerhaft bleibender, aber er muss unter sich angemessen gerecht wird. Damit die Kirche sowohl ständig verändernden Rahmenbedingungen erfüllt und ihre institutionelle Gestalt als auch ihr praktisches praktisch umgesetzt werden. Das ihm zugrundeliegende Handeln auftragsgemäß an den jeweils aktuellen Er- und zur Weitergabe anvertraute Evangelium ist eine fordernissen orientieren kann, muss sie beides immer nicht austauschbare verbindliche Vorgabe. Es ist zwar wieder unter dem Aspekt sachlicher Angemessenheit innerhalb bestimmter Parameter interpretierbar, steht auf den Prüfstand stellen. (3) Nicht um jeden Preis modern, aber zeitgemäß – die situative Umsetzung des kirchlichen Auftrags Die dem Evangelium und den ihr aktuell anbefohlenen Menschen gleichermaßen verpflichtete Kirche erfüllt ihren Auftrag zeitgemäß. Darum ist sie prinzipiell offen für entsprechende reformatorische Impulse. Sie handelt weder restaurativ noch am Mainstream orientiert. Sie nimmt ihren Auftrag vielmehr in der Weise ernst, dass sie ihn jeweils aktuell und situationsbezogen umsetzt. Das gilt sowohl im Blick auf ihre organi- satorische Gestalt als auch hinsichtlich ihrer Lehre und ihres gesamten praktischen Handelns. Immer wieder kann man der Forderung begegnen, die bindlichkeit her nicht zur Disposition stehenden Evan- Kirche müsse „modern“ sein bzw. werden. Wenn dieser geliums entschieden werden. Dabei kann kirchliches Wunsch so zu verstehen ist, dass Kirche um jeden Preis Handeln unter Umständen gerade darin zeitgemäß à la Mode auftreten und handeln müsse, also gemäß sein, dass es vom Evangelium her Gegenstände thema- dem gerade jeweils allgemein vorherrschenden Mehr- tisiert oder Fragen stellt, die aktuell auf der Agenda der heitsgeschmack, dann ist dem eine klare Absage zu er- übrigen Welt keine Rolle spielen. Die Kirche muss im teilen. Wenn aber mit „modern“ kirchliche Strukturen Zweifels- oder Konfliktfall ihren im Evangelium grün- und Handlungsweise gemeint sind, die in dem Sinne „zeit- denden Auftrag über ihre eigene Tradition, aber auch gemäß“ sind, dass sie in dem vom Evangelium her be- über den jeweils vorherrschenden Mainstream stellen. schriebenen Rahmen den jeweiligen Zeitumständen an- Reformation ist weder Restauration noch opportunisti- gemessen Rechnung tragen, dann darf und muss Kirche sche Anpassung an das, was gerade mehrheitlich als modern sein. Sie kann ja ihrem apostolischen Auftrag nur dann gerecht werden, wenn sie die Menschen, die „angesagt“ gilt. Um ihren jeweils für sie zeitgemäßen ihr anbefohlen sind, innerhalb ihrer zeitgebundenen Weg zu finden, bedarf die Kirche einer institutionellen Lebenssituation ernst nimmt. Was „zeitgemäß“ im Blick Offenheit für entsprechende reformatorische Impulse. auf die Kirche als Institution bzw. ihre Schwerpunkt Voraussetzung dafür ist, dass sie verfassungsmäßig, or- bildung oder die praktische Gestaltung ihres Handelns ganisatorisch und strukturell eine Kultur des offenen konkret bedeutet, kann aber nur unter gleichzeitiger innerkirchlichen Diskurses über die angemessene Um- Berücksichtigung des inhaltlich und von seiner Ver- setzung ihres Auftrages ermöglicht und pflegt. II. Die Botschaft der Kirche für Menschen von heute Thesen zur konkreten Identifikation aktuell besonders relevanter Kerninhalte kirchlicher Verkündigung Der Verkündigungsauftrag der Kirche bezieht sich grund- kann ihrem Auftrag nur dann angemessen gerecht wer- sätzlich auf das ganze Evangelium. Das schließt jedoch den, wenn sie für sich in verantwortlicher Weise immer bei seiner Weitergabe eine an aktuellen Erfordernissen wieder neu die Frage beantwortet: Welche Kerninhalte orientierte inhaltliche Prioritätensetzungen nicht aus. der christlichen Botschaft müssen gerade jetzt unter Diese sind vielmehr unerlässlich, um Menschen ange- diesen oder jenen vorfindlichen Bedingungen ganz be- sichts ihrer aktuellen Situation genau dort zu erreichen sonders in den Fokus der Verkündigung gerückt werden? und abzuholen, wo sie sich gerade befinden. Kirche Um die Beantwortung dieser grundlegenden Frage geht 9
es in den folgenden Thesen. Sie reagieren ohne Voll- diese Inhalte wenig oder gar nichts mehr sagen. Hier ist ständigkeitsanspruch auf die Wahrnehmung, dass vielen eine angemessen gegensteuernde Priorisierung ihrer Menschen unserer Tage für das Wesen des christlichen Vermittlung eine reformatorische Herausforderung, Glaubens unverzichtbare Inhalte nicht mehr präsent der sich die Kirche stellen muss. In dieser Hinsicht sind bzw. für sie nur noch geringe oder gar keine Be- wollen die nachfolgenden Thesen exemplarisch zu deutung mehr haben. Zweifellos sind etliche der in den einer weiterführenden Diskussion über die Identifika- nachfolgenden Thesen identifizierten Verkündigungs- tion aktuell besonders relevanter Verkündigungsinhalte inhalte durchaus noch für einen mehr oder minder signi- anregen. Dabei geht es an dieser Stelle nur um Inhalte fikanten Teil der Kirchenglieder relevant. Doch aktuelle und noch nicht um die ebenfalls wichtige Frage nach Umfragen zeigen, dass die Zahl derer wächst, denen wirksamen Methoden ihrer Vermittlung. (1) Totgesagte leben länger – Die Realität Gottes Der christliche Glaube geht von der realen Existenz Gottes aus, die in der Bibel bezeugt wird. Auf diesem Hintergrund bekennt sich die Kirche zu Gott als dem Schöpfer der Welt, der sich in Jesus Christus den Men- schen als Mensch offenbart hat. Er hat einen guten Plan mit ihnen und gibt ihrem Leben neben wegweisen- der Orientierung eine Würde und Sinnhaftigkeit, die sie sich nicht selbst geben können. Durch das Wirken seines Geistes machen Menschen persönliche Erfahrungen mit ihm. Diese wecken und stärken ihr Ver- trauen in sein heilvolles Handeln und verbinden die Gläubigen zur spirituellen Gemeinschaft seiner Kinder. Immer wieder wurde und wird die Existenz Gottes be- Voraussetzung des Glaubens relativiert oder gar ge- stritten. Er wurde und wird vielfach als ein Produkt leugnet wird, bedeutet Reformation heute das deut menschlicher Fantasien, Wünsche und Träume be- liche Eintreten für das Bekenntnis zur alles umfassen- trachtet. Unter anderem provozierte und polemisierte den Wirklichkeit Gottes, wie sie in der Heiligen Schrift der Philosoph Friedrich Nietzsche mit der Parole „Gott bezeugt wird. Wurde er in früheren Zeiten oft sehr ein- ist tot“. Es gab auch eine theologische Richtung, die seitig als richtender und strafender Gott gepredigt, so diese Behauptung aufstellte. Doch Gott hat alle seine wird er heute innerhalb der kirchlichen Verkündigung Leugner und Kritiker „überlebt“. Seine Existenz kann nicht selten in geradezu läppischer Weise verharmlost. allerdings nicht im naturwissenschaftlichen Sinne nach- Da erscheint er dann nur noch als „lieber“ Gott, guter gewiesen und dokumentiert werden. Sie sprengt die Kumpel oder stets freundlicher Dienstleister in allen Grenzen menschlicher Vorstellungskraft und ist nur der Lebenslagen. Was auch immer Menschen getan oder Erfahrung des Glaubens zugänglich. Angesichts gegen- versäumt haben, er mag sie alle. Reformatorische Kri- wärtig weit verbreiteter atheistischer und agnostischer tik ist da angebracht, wo Gott in verantwortungsloser Positionen und Haltungen ist der christliche Glaube an Weise verniedlicht oder nur noch mit Teilaspekten sei- einen real existierenden persönlichen Gott keineswegs nes Wesens gleichgesetzt wird. Obwohl von ihm häufig selbstverständlich. Auch innerhalb der Kirche wird er in Bildern gesprochen wird, darf er nicht einfach nur nach neueren Umfragen von rund einem Drittel ihrer auf das eine oder andere Bild von ihm reduziert werden. Mitglieder nicht geteilt. Wo immer im Bereich von Kirche Er ist und bleibt der in vielfacher Hinsicht Geheimnis- und Theologie die reale Existenz Gottes als Basis und volle und letztlich ganz Andere. (2) Hinterm Horizont geht‘s weiter – Leben mit Zukunft Der christliche Glaube basiert auf dem Vertrauen, dass die persönliche Verbundenheit mit Gott nicht durch den Tod beendet wird, sondern weit über das hinausgeht, was Menschen als ihre biologisch-vegetative Da- seinsweise wahrnehmen. Er gründet sich dabei auf biblische Verheißungen, die in anschaulichen Bildern von einer beglückenden und niemals endenden Gemeinschaft mit Gott sprechen. Diese wird nicht als eine Verlängerung irdischen Daseins ins Unendliche gedacht, sondern als ein Zustand der Erlösung jenseits aller menschlichen Erfahrungen, an der die gesamte Schöpfung teilhaben wird. Der christliche Glaube überschreitet in mancherlei Hin- Todes mit der Hoffnung, dass Gottes Plan mit den sicht die Grenzen menschlicher Vernunft und Erkennt- Menschen über deren endliche Existenz hinaus eine nisfähigkeit. So vertraut und hofft er unter anderem Zukunft hat. Weil aber das, worum es hier geht, den auf die Vollendung des Individuums zu einer bleiben- Horizont menschlichen Denkens übersteigt, sprechen den Teilhabe an der alles umfassenden Wirklichkeit die biblischen Überlieferungen davon nur andeutungs- Gottes, die größer ist als das, was Menschen natürlicher- weise. Dazu benutzen sie vor allem Bilder. Da ist dann weise von ihr wahrnehmen können. In diesem Sinne vom „Reich Gottes“, vom „Himmelreich“ und vom verbindet der Glaube das Wissen um die Realität des „ewigen Leben“ die Rede oder von einem Fest oder 10
von einer neuen Welt, in der Gott unter den Menschen schrieben oder in ungebührlicher Weise konkretisiert wohnen und ihre Tränen abwischen wird, in der es kei- wird. Die Aussicht auf eine beglückende Zukunft in nen Tod, kein Leid und keine Schmerzen mehr geben ungebrochener Gemeinschaft mit Gott kann helfen, wird. Solche Bilder weisen über sich selbst hinaus. Sie angesichts aktueller Erfahrungen von Not, Leid und können letztlich nur ahnen lassen, worum es in letzter Tod zu bestehen. Sie darf allerdings nicht als billige Konsequenz geht, nämlich um die bleibende Beheima- Vertröstung instrumentalisiert werden oder als Argu- tung der Glaubenden in einem Zustand innigster Ge- ment für die widerspruchslose Hinnahme von Verhält- meinschaft mit Gott. Diese Verheißung gehört zum nissen, die in erkennbarem Gegensatz zum Willen Kern des Evangeliums und kann von diesem nicht abge- Gottes stehen. Es ist gänzlich inakzeptabel, dass die trennt werden, ohne es in seiner Gesamtheit zu ver Hoffnung auf Gottes neue Welt als Narkotikum miss- fälschen und in Frage zu stellen. Darum bedarf es eines braucht wird. Aber sie kann sehr wohl dazu beflügeln, konsequenten reformatorischen Handelns, wo immer die Welt schon hier und heute im Lichte künftiger Voll- im Bereich der Kirche die ewige Gemeinschaft mit endung zu gestalten. Der hier angesprochene Themen- Gott als ungeklärte Frage offengelassen, ignoriert, ge- bereich eröffnet ein weites Feld für Reformation im leugnet, als Ergebnis menschlicher Bemühungen be- Sinne evangelischer Erneuerung. (3) Vertrauen ist der Anfang von allem – Das Geschenk des Glaubens Damit Menschen Gottes Gnade, seinen Segen und seine vielfältigen Selbstmitteilungen an sie auch wirklich als solche erkennen, zu Herzen und für sich in Anspruch nehmen können, bedürfen sie des Glaubens. Dar- unter ist eine Haltung tiefen Vertrauens auf Gott und sein heilvolles Handeln zu verstehen. Der Glaube ist keine natürlicherweise zur Verfügung stehende Möglichkeit oder gar eine menschliche Leistung, sondern ein von Gott angebotenes Geschenk. Er ist die Ebene, auf der Gott zu einem Menschen Kontakt aufnimmt und auf der dieser seinerseits mit Gott kommunizieren kann. Vielfältig sind die Wege, auf denen Gott Glauben weckt. Doch niemals wendet er dabei Zwang an. Er will, dass der Mensch ihm aus freien Stücken gehorsam ist und ihm ohne äußeren Druck sein Vertrauen und seine Liebe schenkt. Wo diese persönliche Beziehung mit Zustimmung des Menschen zustande kommt, gelangt Gottes guter Plan mit ihm ans Ziel. Martin Luther hat schon bei seiner kritischen Aus sich ganz persönlich gelten lässt, was Christus durch einandersetzung mit der Ablasspraxis der Kirche und seinen Tod am Kreuz für alle Menschen getan hat, er- darüber hinaus in vielen anderen Zusammenhängen langt er die Vergebung seiner Sünden und die Versöh- leidenschaftlich darauf hingewiesen, dass der Mensch nung mit Gott. Wo die Heilsnotwendigkeit des Glaubens allein durch den Glauben selig werden könne und nicht ignoriert oder geleugnet wird oder der Glaube zu einer durch seine Werke. Gottes Gnade könne weder gegen frommen Leistung des Menschen hochstilisiert wird, da Geld gekauft noch durch irgendwelche anderen An- bedarf es auch heute einer deutlichen Klarstellung im strengungen des Menschen verdient werden. Luther Sinne des zuvor umrissenen reformatorischen Verständ- verstand nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift den nisses von der Bedeutung des Glaubens im Sinne eines Glauben als die Ebene, auf welcher der Mensch die Ver- bedingungslosen Vertrauens auf die rettende Gnade gebung seiner Sünden gnadenhalber (gratis) empfängt. Gottes. Angesichts der heute weit verbreiteten Auffas- Es geht also nicht an, dass jemand Gott eine Rechnung sung, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion oder aufmacht, indem er sich auf eigene Leistungen beruft. Weltanschauung in erster Linie die inhaltliche Zustim- Wo dies dennoch geschieht, ist dem eine deutliche Ab- mung zu einer Lehre oder einem bestimmten Programm sage zu erteilen. Hier muss im Sinne evangelischer Lehre umfasse, geht es beim Glauben aus christlicher Sicht klargestellt werden: Es gibt keinen sich auf persönliche um ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis, um die Verdienste gründenden Anspruch des Menschen auf auf Vertrauen, Gehorsam und Liebe beruhende persön- die Vergebung seiner Sünden und seine Teilhabe an der liche Beziehung des Menschen zu Gott. Dies für Men- ewigen Gemeinschaft mit Gott. Allerdings existiert schen unserer Zeit in vielfältiger Weise zum Leuchten auch kein Heilsautomatismus. Nur wenn der einzelne zu bringen, ist ein wichtiger Aspekt im Prozess einer Mensch im Glauben seine Schuld bereut und das für am Evangelium orientierten kirchlichen Erneuerung. (4) Hin zur Quelle – Die Bibel als Ur-kunde göttlicher Offenbarung Die Bibel ist das heilige Buch der Christenheit. Sie ist für die Christenheit die Ur-kunde göttlicher Offenbarung und unverzichtbare Grundlage des Glaubens. Immer wieder haben Menschen sie als Quelle der Selbstmit- teilung Gottes erlebt. 11
Die Bibel bezeugt und deutet in vielfältiger Weise das der biblischen Überlieferungen höchste Priorität ein- Wirken Gottes und grundlegende Erfahrungen mit ihm. räumt. Da ist aktuelles reformatorisches Handeln drin- Zu allen Zeiten haben Menschen in der Begegnung mit gend erforderlich. Luther und andere Reformatoren der Heiligen Schrift diese auch als aktuelle Selbst hatten sich mit großem Engagement für eine qualitativ mitteilung Gottes sowie als ihnen persönlich geltende hochwertige Übersetzung der Bibel eingesetzt. Sie Einladung zum Glauben und zu einem ihm entspre- wollten, dass jeder Christ sie in seiner Muttersprache chenden Handeln in der Nachfolge Jesu erlebt. Diese lesen und verstehen kann. Heute gibt es in unserem Erfahrung spiegelt sich bis heute unter anderem darin Land keinen Mangel an geeigneten Bibelübersetzungen wider, dass die Bibel häufig als „Wort Gottes“ bezeich- und einen so hohen allgemeinen Bildungsstandard, net wird. Sie bietet maßgebliche Wegweisungen für dass fast alle bei uns lebenden Menschen in der Lage verantwortlich gelebten Glauben, ein am Willen Gottes sind, die Bibel zu lesen. Dass diese dennoch auch inner- orientiertes Handeln und die praktische Gestaltung halb der christlichen Kirchen nur wenigen wirklich ver- christlicher Gemeinschaft. Nach evangelischem Ver- traut ist, kann nicht einfach nur zur Kenntnis genommen ständnis müssen Lehre, Verkündigung und Organisation werden. Vielmehr stellt die methodisch und didaktisch der Kirche sowie die individuelle Lebensführung der ansprechende Vermittlung der biblischen Inhalte und Gläubigen in angemessener Weise schriftgemäß also ein vielfältiger anwendungsbezogener Umgang mit von den zentralen Überlieferungen der Bibel her be- ihnen eine große reformatorische Herausforderung im gründet bzw. mit ihnen vereinbar sein. Reformation Sinne evangelischer Erneuerung dar. Ihr gilt es sich zu heute bedeutet unter anderem eine klare Absage an stellen. Die Bibel ist die alle Christen auf der Welt mit- alle Formen kirchlicher Lehre und Verkündigung oder einander verbindende Erzählung. Darum ist darauf zu kirchlichen Handelns, die nicht mit der Bibel in Einklang achten, dass sie nicht in Vergessenheit gerät oder zur stehen. Nun ist aber inzwischen die Bibel innerhalb Lektüre für wenige Spezialisten wird. Kirche ist nur des Kulturbereichs des sogenannten christlichen Abend- dann wahrhaft evangelisch, wenn das befreiende Evan- landes und auch für gar nicht wenige Glieder der Kirche gelium von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu einem weithin unbekannten Buch geworden. Darauf den Gliedern der Kirche Jesu Christi auch wirklich be- muss die Kirche reagieren, indem sie der Vermittlung kannt ist und von ihnen wertgeschätzt wird. (5) Heimat für den Glauben – Wir sind Kirche Kirche ist nach evangelischem Verständnis die Gemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden. Ihr aposto- lischer Auftrag stellt sie grundsätzlich unter Gottes Wort und Willen. Er verpflichtet sie zur Verkündigung des Evangeliums, zur schriftgemäßen Verwaltung der Sakramente, zur Pflege geschwisterlicher Gemeinschaft und zum Dienst der Liebe. Ihre Glieder teilen miteinander die ihnen anvertrauten Gaben und Möglich keiten. Sie handeln in der Nachfolge Jesu als seine Botschafter in der Welt. Nach der alten römisch-katholischen Lehre ist die Kirche Reformation heute bedeutet unter anderem, das Be- eine von Gott gestiftete und vom Papst, den Bischö- wusstsein dafür zu stärken, dass Kirche mehr ist als ein fen, Priestern, Diakonen und Ordensleuten getragene vereinsmäßiger Zusammenschluss Gleichgesinnter oder Institution. Die Glaubenden kommen dabei nur insofern ein religiöses Dienstleistungsunternehmen. Es scheint in den Blick, als sie einen Anspruch auf Unterweisung, so, als würden nicht wenige Glieder der evangelischen Sakramentsempfang und Seelsorge haben. Von dieser Kirche entgegen deren offizieller Lehre Kirche als Sicht unterscheidet sich das evangelische Kirchenver- etwas betrachten, das mehr oder minder unabhängig ständnis deutlich. Hier können die Glaubenden sagen: von ihnen besteht. Hier gilt es, Voraussetzungen dafür „Wir sind Kirche und einige von uns nehmen in ihr auf zu schaffen, dass möglichst viele Menschen entdecken Grund entsprechender Eignung und Beauftragung be- können: „Wir sind gemeinsam mit den anderen Gläubi- stimmte Aufgaben wahr.“ Die reformatorische Lehre gen Kirche und darum mitverantwortlich für deren Ge- vom Priestertum aller Getauften lässt keine qualita- staltung.“ Die besonders unter evangelischen Christen tive Unterscheidung zwischen sogenannten Klerikern durchaus verbreitete Einstellung „Ich kann auch ohne und sogenannten Laien zu. Nach reformatorischem Kirche ein guter Christ sein“ steht im Widerspruch Verständnis ist die Kirche für die Glaubenden ein ihnen dazu, dass Christen durch die Taufe in eine verbind von Gott anvertrautes Zuhause, in dem sie Gaben liche Glaubens-, Bekenntnis- und Dienstgemeinschaft und Aufgaben miteinander teilen, Gottesdienste fei- berufen sind. Diese Tatsache hat Nikolaus Ludwig von ern, die Sakramente empfangen, auf Gottes Wort Zinzendorf auf die Formel gebracht: „Ich konstatiere hören, sich wechselseitig seelsorgerlich beistehen und kein Christentum ohne Gemeinschaft.“ so in vielfältiger Weise geistliche Stärkung empfangen. 12
(6) Die tun was – Glauben mit Hand und Fuß Der Glaube äußert sich nach evangelischem Verständnis sehr wesentlich darin, dass sich Christen im Ge horsam gegenüber Gott und aus Liebe zu ihm und zum Nächsten in Wort und Tat für ihre hilfsbedürftigen Mitmenschen einsetzen. Im Sinne evangelischer Theologie sind gute Werke kein als unverzichtbarer Lebensäußerung der Kirche und Mittel, sich das Heil zu verdienen. Sie sind aber sehr die praktische Gestaltung eines ihm entsprechenden wohl Früchte, die aus einem lebendigen Glauben er- institutionellen kirchlichen Handelns eingesetzt. Refor- wachsen. Sie sind nicht die Voraussetzung für die heil- mation heute bedeutet in diesem Sinne, dass Christen volle persönliche Verbundenheit mit Gott, sondern angesichts aktueller Notlagen den untrennbaren Zu- deren Folge. Das bringt Martin Luther in Artikel 26 sammenhang von Glaube und Nächstenliebe bewusst seiner Freiheitsschrift mit den Worten zum Ausdruck: wahrnehmen und entsprechend diakonisch handeln. „… weil ich doch durch meinen Glauben in allen Dingen Christen sind in der Nachfolge Jesu zur praktischen in Christus genug habe. Sieh, so fließt aus dem Glau- Übernahme sozialer Verantwortung und zum Dienst in ben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe der Welt berufen. Die Erfüllung des kirchlichen Auf ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten trages zur Verkündigung des Evangeliums wird dort umsonst zu dienen.“ Im uneigennützigen diakonischen glaubwürdig umgesetzt, wo es in Wort und Tat zu den Handeln am bedürftigen Mitmenschen bekommt der Menschen getragen wird. Wo diese Einheit von Wort Glaube Hand und Fuß. Unter diesem Aspekt hat sich und Tat unscharf oder gar preisgegeben wird, bedarf unter anderem Johann Hinrich Wichern im 19. Jahr- es einer am Evangelium orientierten Erneuerung. hundert erfolgreich für ein Verständnis von Diakonie 13
Karl Vollmer: „Philipp Melanchthon, Doppelportrait“, 2015, Mischtechnik auf Bütten, 202 x 152 cm 14
Dr. Uwe Hauser, Direktor des Religionspädagogischen Instituts der Evangelischen Landeskirche in Baden, Karlsruhe B. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Uwe Hauser 1. Rechtfertigung Der Mensch kann sich nicht selbst rechtfertigen. Das kann auch kein anderer Mensch für ihn tun. Die Recht- fertigung des Menschen geschieht allein durch Gott. Er tut es für uns durch Jesus Christus. Des Menschen Werk ist es, darauf zu vertrauen, dass Gott es auch wirklich tut. Themenfeld: Rechtfertigung und Leistung Menschliches Leben muss sich weder am Anfang noch geben kann. In den Augen mancher Menschen scheint auf seiner Höhe noch an seinem Ende rechtfertigen. Es das so zu sein (z. B. politische Gegner, Homosexuelle, ist gegeben und von Gott geschenkt. Im Mensch ge- Andersdenkende, Fremde, Kranke, Behinderte, Alte, wordenen Gottessohn Jesus Christus hat Gott sein Ja Ungeborene), vor Gott gilt das nicht. Unüberbietbar dazu ein für alle Mal bekräftigt. Die in den Menschen deutlich wird dies im Leben und in der Auferstehung hineingelegten Fähigkeiten darf der Mensch daher von Jesus Christus: Der von den Menschen aussortierte dankbar und fröhlich zum Wohl anderer und damit zur und weggeworfene Mensch wird von Gott anerkannt Freude Gottes nutzen. Keine noch so große mensch und ins Recht gesetzt. Der Christenmensch traut Gott liche Leistung wird dazu führen, dass ein Mensch mehr das zu – mitten in seinem eigenen Gelingen und oder weniger wert ist oder gar, dass es unwertes Leben Scheitern. 2. Freiheit und Gerechtigkeit Der gerechtfertigte, von Gott angenommene Mensch darf frei mit allen Menschen und Dingen umgehen. Er weiß um sein eigenes Versagen. Deswegen kann er auch fremdes Versagen ertragen. Er ist bereit, anderen jederzeit die Möglichkeit zur Umkehr zuzugestehen. Themenfeld: Fehlertoleranz und Moralismus Politik und Gesellschaft sind von moralischer Über mal in dem besten Leben. Menschen irren, Menschen flutung geprägt. Essen und Trinken, Konsum und Mobi- versagen. Aber sie haben nach biblischer Tradition lität, Politik und Handeln werden eingeteilt in gut und immer wieder die Möglichkeit, noch einmal anzu böse, richtig und falsch („political correctness“). Diese fangen, weil Gott sie immer wieder als „Anfänger“ be- Form von Moralismus steht in scheinbarer Nähe und in trachtet. Dieses Vertrauen geht durch Krisen. Erhalten schärfstem Gegensatz zum christlichen Glauben. Denn wird es durch das Hören auf das, was Gott mir durch der Glaubende ist sich gewiss, dass kein Mensch durch sein Wort zuspricht. sein noch so richtiges Handeln gerecht wird, nicht ein- 15
3. Bibel Im Mittelpunkt der Bibel stehen das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi. Von hierher ist die Bibel angemessen zu verstehen. Christenmenschen vertrauen auf Gott, der durch sein Wort wirksam eingreift. Aufgabe des Menschen ist es, dieses Wort als das von außen kommende Wort zu hören und zu glauben. Themenfeld: Geist und Buchstabe Gottes Weg mit den Menschen und dem Volk, das ihm biblische Überlieferung hält dafür viele Beispiele be- vertraut, geschah immer schon im Vertrauen und mit reit: Abraham, Mose, David, Esther, Rut, Jeremia, ganzer Hingabe an Gottes bewahrendes und befreien- Amos und Hosea, Petrus, Maria, Paulus und viele an- des Handeln. Leben, Sterben und Auferstehung Jesu dere. Der Zugang zu Gott erfolgt daher nicht über die bringt dies in unüberbietbarer Weise auf den Punkt. Es strenge Einhaltung von einzelnen Regeln (auch keinen ist daher nicht eine auslegende und verstehende Sicht- „biblischen Regeln“, die in Bibelverse gegossen wer- weise unter vielen, sondern die christliche Sichtweise den und als unmittelbare Handlungs anweisungen zu auf die Schrift. Denn sie verdichtet die ganze biblische dienen scheinen), sondern in der immer wieder neu zu Überlieferung so, dass hier deutlich wird: Gott hält es stellenden Frage: Wie wird sie der Verdichtung der mit denen, die sich rückhaltlos auf ihn verlassen. Nicht biblischen Botschaft, die wir im Leben, Sterben und einmal der Tod kann ihn stoppen und seine Beziehung der Auferstehung Jesus Christi zu Gehör bekommen, zu uns zerstören. Der Ausgang von Jesu Leiden wird gerecht? „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber unsere im Glauben zu ergreifende Zukunft sein. Die macht lebendig“ (2. Kor 3, 6). 4. Glaube Gott schafft den Glauben im Menschen, indem er ihn anspricht. Der Mensch empfängt es mit einem hören- den Herzen und antwortet darauf mit Vertrauen in das von Gott gehörte Wort. In dieser Beziehung ereig- net sich die Schöpfung in jedem Christenmenschen, der vertraut, immer wieder neu. Themenfeld: Beziehung statt Formalisierung Der Widerstand der Reformation entzündet sich theo- den Prüfstand gestellt, was die Gottesbeziehung regle- logisch stringent an der Frage nach dem Ablass. Denn mentieren, ritualisieren, verrechtlichen und einfangen das Ablasswesen setzt formale Abläufe und Materielles will. Der Glaubende weiß um die Notwendigkeit einer an die Stelle gelebter Liebe. Der lebendige Glaube und rechtlichen Regelung menschlichen Zusammenlebens, die dann daraus erwachsende tätige Liebe zu Gott und aber auch um ihre durch die menschliche Sündhaftig- dem realen Nächsten bilden die Grundlage des Glaubens. keit gegebene Vorläufigkeit. Aus dieser lebendigen Beziehung heraus wird alles auf 5. Ökumene Die Bibel hat einen Mittelpunkt und unterschiedliche Zugänge dazu. Die evangelische Kirche entspricht dem, indem sie den geschenkten Reichtum der Verschiedenheit in Verbundenheit mit allen anderen Kirchen lebt, ohne in ihnen aufzugehen. Themenfeld: Ökumene Ein Ertrag der wissenschaftlichen Erforschung der bib- gemeinsamen geduldigen und solidarischen Fragen lischen Texte ist es, die Vielfalt der dort zur Sprache nach der Schrift immer wieder auszuhandeln sein. Hier kommenden theologischen Ansätze herausgearbeitet bedarf es eines gemeinsamen Suchens. Gefunden wer- zu haben. Die evangelische Kirche betrachtet diese den können nur Plausibilitäten und nicht letzte Wahr- Vielfalt als Reichtum und nicht als Bedrohung ihrer heiten. Denn diese bleiben Gott vorbehalten. Dieser Identität. Diese Vielfalt hat sich von Anfang an auch in Vorbehalt entbindet nicht von, sondern verdeutlicht der Vielfalt der Denominationen und Konfessionen nur die Notwendigkeit der Suche und nimmt jeder Ver- abgebildet. Inwiefern die evangelische und andere Kir- suchung zur Rechthaberei von vorneherein ihre Be- chen der biblischen Botschaft entsprechen, wird im rechtigung. 16
6. Gottesdienst Die Kirche Jesu Christi lebt vom gehörten Wort Gottes, das sich hier und heute ereignet. Da sich Gottes Wort an alle Menschen richtet, soll es allen verständlich und zugänglich sein. Daher sind die Predigt, die Liturgie, die Bibel, das Gesangbuch und der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache abgefasst. Themenfeld: Bildung und Unmittelbarkeit Die jüdisch-christliche Tradition drängt von Anfang an zum unmittelbaren Zugang zu den biblischen Quellen auf Bildung. Denn darin und damit entspricht sie dem und ihrem angemessenen Verständnis. Hören, lesen ordnenden Handeln Gottes an der Welt und der Über- und verstehen sind wichtige Zugangsweisen zum Heil. windung des Chaos. Die Erforschung und Durchdringung Jeder Mensch ist damit unmittelbar zu Gott. Den Zu- der Welt als Gottes Werk ist eines der Ziele dieser im gang zu Bildung allen offenzuhalten und zu fördern gilt religiösen Kontext sich entfaltenden Bildung. Gleich- die Sorge der Kirche – auch und gerade im digitalen zeitig ist sie auch Voraussetzung zur Mündigkeit und Zeitalter. 7. Sakramente Die von Christus eingesetzten Sakramente Taufe und Abendmahl eröffnen jedem Christenmenschen im Glauben den gleichen und unmittelbaren Zugang zu Gott. Alle Christenmenschen verkehren daher inner- halb der Kirche miteinander auf Augenhöhe. Themenfeld: Freiheit von Hierarchie Ein wichtiges Anliegen der Reformation war immer die tigt diese Erfahrung immer und immer wieder und Verständlichkeit der Botschaft. Dabei sollte niemand macht uns deutlich: Wir leben nicht für uns allein. Wir durch fehlende Bildung, Geschlecht, Alter oder Her- stehen in einer Gemeinschaft, die füreinander ein- kunft ausgeschlossen werden. Die Gemeinschaft in der steht. In der Gemeinschaft der Getauften spielen die Gemeinde sollte nicht an diesen Voraussetzungen geschöpflich gesetzten Differenzen zwischen Menschen scheitern. keine Rolle mehr. Sie sind ein Teil der von Gott über- Die innere Gemeinschaft zwischen den Gliedern der wundenen Wirklichkeit. Die gelebte Wirklichkeit der Kirche stellt Gott her. Er tut dies, indem er den Men- evangelischen Kirche hat sich daran zu orientieren. schen hier und heute und in ihrer Situation das sagt, „Klerikalisierung“, „Bürokratisierung“ und „Akademi- was hilft, tröstet, stärkt, in Frage stellt und verändert. sierung“ sind dunkle Möglichkeiten der äußeren Ge- In der Taufe wird das jedem Getauften durch Gott ver- stalt von Kirche. Evangelische Kirche hat daher immer sprochen: „Du bist mein liebes Kind, in meinen Augen daran festgehalten, dass alle Getauften unmittelbaren bis du schön!“ (Mk 1, 9). Das Abendmahl vergegenwär- Zugang zu Gott haben. 8. Staat und Kirche Die Theologie beginnt mit der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch. Weder ist der Staat göttlich noch die Kirche säkular. Sie sind in ihrer bleibenden Verschiedenheit aufeinander zu beziehen. Dies widerspricht jedem Modell einer Zuordnung von Kirche und Staat, das die Welt göttlich („Gottesstaat“) oder die Welt rein weltlich („Laicité“) machen möchte. Themenfeld: Kirche und Staat Der Staat hat mit seinen Möglichkeiten und in seinen selbst nimmt dabei stellvertretend und unterstützend ihm gesteckten Grenzen die Aufgabe, dafür zu sorgen, Aufgaben wahr, die der Staat selbst nicht wahrnehmen dass die Würde des Menschen gewahrt und jedem Men- kann oder will. Sie ist weder Partei noch Kind einer schen sein Recht zukommt. Dabei lebt der Staat davon, Partei. Ihr Auftrag aber ist es, ohne Besserwisserei und dass es Menschen gibt, die stellvertretend für diesen Moralismus das Evangelium in die politische Gegenwart Staat eintreten und ihre Aufgaben und Pflichten in diesem hinein zur Geltung zu bringen. Ihr Auftrag, allen Men- Staat wahrnehmen, seine Gesetze achten und halten. schen die frohe Botschaft zu verkünden, geschieht ohne Gewalt, sondern nur durch das Wort Gottes. Die evangelische Kirche unterstützt diejenigen, die diese Aufgabe wahrnehmen, wo immer sie kann. Sie 17
9. Demokratie und Kirche Die der evangelischen Kirche angemessene Lebensform ist das wechselseitige Füreinanderdasein. So bildet sie die Grundlage für ein Gemeinwesen, das von Grundlagen lebt, die es selbst nicht herstellen kann. Themenfeld: Kirche als gelebte Demokratie Die der Kirche angemessene Lebensform ist die Ge- für die Menschen da zu sein. Das ereignet sich im meinde, in der alle Christenmenschen vor Gott gleich Gottesdienst, der im Alltag jedes Christenmenschen und insofern auch gleichberechtigt sind. Die Kirchen der geschieht, in gelassen gelebtem Pragmatismus. Daher Reformation haben dies mit dem Recht zur Pfarrwahl widerstrebt die evangelische Kirche beiden möglichen und der Wahl von Menschen, die die Gemeinde leiten Fehlwegen: einem Rückzug auf sich selbst, der Pflege (mehr oder minder deutlich) zum Ausdruck gebracht. eines wie auch immer gearteten Individualismus bzw. Ausgangspunkt blieb immer die gleiche Unmittelbarkeit einer rein innerlich verstandenen Frömmigkeit. Mit jedes Christenmenschen zu Gott. Die Gemeinde hat gleicher Klarheit hütet sie sich vor der Gefahr einer aber keinen Selbstzweck, sondern hat füreinander und Bürokratisierung und Hierarchisierung. 10. Diakonie Das Herz des christlichen Glaubens schlägt liebevoll. Das führt zu liebevollen Taten. Aus ihnen sind keiner- lei Rechte, Vorrechte, oder gar Rechtfertigungen für den, der sie tut, abzuleiten. Themenfeld: Diakonie Die konsequent zweckrationale Denkweise hat Büro- die Diakonie nie der Versuchung erliegen, ausschließ- kratie, Wissenschaftssystem und Wirtschaftsordnung lich zweckrationalen Kriterien und ihren Anliegen durchdrungen. Eine affektuelle Bestimmung des Um- nachzukommen. Diakonie darf dabei ihrem Ursprung gangs zwischen den Menschen, wie sie uns in der Bibel und ihrer Begründung als Konkretion der in Kreuz und eröffnet wird, stellt sich quer dazu. Bei aller notwen- Auferstehung Jesu Christi deutlich gewordenen Liebe digen Orientierung an fachlichen Notwendigkeiten darf Gottes nie verlustig gehen. 11. Anthropologie Ziel des Christenmenschen ist es, seinem Nächsten zum Christus zu werden. Umso entschlossener wider- steht die Kirche der Vorstellung, das Ziel des Menschseins läge in einer möglichen Optimierbarkeit des menschlichen Körpers und Geistes. Themenfeld: Menschheitsdämmerung Der Mensch besitzt eine hohe Weltoffenheit, Formbar- tion in die eigenen Hände zu nehmen, wird er sich keit, Lernfähigkeit und Erfindungsgabe, die ihn als „optimieren“. Doch wer legt dabei die Richtung, die Mensch kennzeichnen. Nach einer langen Phase in der Opfer und Gewinner fest? Nach welchen Kriterien wird Evolution, in der sich das Wesen des Menschen weit dabei gehandelt? Und verbirgt sich hinter der äußeren gehend als Antwort auf ihm vorgegebene Lebens Optimierbarkeit nicht die letzte Sehnsucht des Men- umstände entwickelt hat, bricht nun die Phase der schen, wie Gott und damit unsterblich zu werden? Die Menschheit an, in der sie in der Lage ist, mehr und Entwicklung von Robotern, Cyborgs, androiden Wesen mehr die eigene Evolution in die Hand zu nehmen. und „denkenden Computern“ stellt die Frage nach dem Folgt der Mensch der zweckrationalen Ausrichtung des Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Schöp- Handelns, die ihn in die Lage versetzt hat, die Evolu- fung neu. 12. Weltverantwortung Da das Kommen des „lieben jüngsten Tages“ gewiss ist, hat der Christenmensch bis dahin Verantwortung zu tragen für das, was ihm anvertraut wurde. Er wird Rechenschaft über den Umgang mit sich selbst, seinem Nächsten, den Tieren, Pflanzen und Ressourcen der Erde zu geben haben. Dabei behält sich Gott das letzte Wort über uns vor. Themenfeld: Verantwortung Die Reformatoren lebten in der festen Überzeugung, Verfügung stehende Zeit begrenzt ist. Dieser Horizont dass sowohl die persönliche wie auch die kollektiv zur ist in der Neuzeit angesichts einer unendlichen Aus- 18
dehnung des Raumes und einer (im Durchschnitt be- Shareholder oder anderen menschlichen Instanzen trachtet) deutlich verlängerten Lebenszeit des Men- allein verantwortlich für sein Tun sei. Ein rein zweck- schen nahezu verschwunden. Damit rückt die Frage nach rationaler Umgang mit der Welt, die Christenmenschen einer letzten Verantwortlichkeit für alles Tun (und Las- als Schöpfung verstehen, reduziert diese auf ein reines sen) aus dem menschlichem Blickfeld. Angesichts einer Mittel und wird ihrer Stellung als zum „Lobe Gottes ge- immer mehr zusammenrückenden Welt wird die Frage schaffen“ nicht gerecht. Die Folgen dieses Umgangs nach der Verantwortung und den Verantwortlichkeiten schlagen auf die Lebensmöglichkeiten des Menschen für Handeln und Unterlassen neu gestellt. Entschieden und aller anderen Geschöpfe zurück und bedrohen sie zurückzuweisen ist die Vorstellung, dass der Mensch elementar. Die Kirche Jesu Christi weiß um diese Ver- nur seinem Gewissen, seinem Arbeitgeber, seinem antwortung. 19
Titelblatt des Neuen Testaments aus der ersten Gesamtausgabe der Bibelübersetzung, Wittenberg 1534 20
Dr. Gerrit Hohage Gemeindepfarrer, Hemsbach C. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE Thesen von Dr. Gerrit Hohage (1) Die Frage der Reformatoren war nicht: Was können wir heute noch sagen? Sie fragten im Gegenteil nach dem Mehrwert und Nährwert des ursprünglichen Evangeliums angesichts der geistlichen Mangelsituation ihrer Zeit. Diese Fragerichtung ist integrale Eigenschaft einer „ecclesia semper reformanda“. Die Tradition wissenschaftlicher Gegenreden und ge- schaft, sondern mit ihrer Verdichtung, mit ihrer Kon- sellschaftlicher Widerstände gegenüber dem christl zentration auf den Wesenskern zu begegnen ist. Die ichen Glauben haben spätestens seit dem Ende der gesellschaftlichen Delegitimierungsprozesse, die die dialektischen Theologie zu einer Defensivtheologie ge- Exkulturation des jüdisch-christlichen Gottes und des führt. Je mehr Boden bereitwillig-selbstkritisch preis- Christentums aus der Gesellschaft vorantreiben, können gegeben wurde, desto mehr erinnert die evangelische entgegen aller Hoffnungen nicht durch Konzessionen Theologie an einen verlassenen Kokon, dessen Inhalt oder Zurückweichen gestoppt werden – sie werden nicht mehr zu finden oder mindestens nicht zu ver dadurch lediglich in den kirchlichen Wirkungsbereich stehen ist. Schluss mit der Defensivtheologie! Die Wider- hinein verlängert. Wir sollen stattdessen mit den stände, die Entstrukturierung religiösen Wissens in der Reformatoren den provozierenden Mut haben, uns auf heutigen Zeit sind als Mangelsituation zu begreifen, unsere ureigenste Sache, die atemberaubende Fülle der nicht mit einer Ausdünnung der kirchlichen Bot- des „alte Evangeliums“, ganz neu einzulassen. (2) Das Erbe der Reformation zu pflegen und zu bewahren ist für die Kirchen der Reformation ein unaufgeb- barer Imperativ – es zu kontextualisieren ein zweiter. Sie kann nicht etwas kontextualisieren, was sie nicht bewahrt und in ihrer Mitte lebendig hält. Die Reformation ist selbst das Beispiel, aufs Neue die gebildet, der dann sogar philosophisch und kulturell christliche Botschaft aus dem Munde Christi und der schulbildend wurde. Diesen Weg gilt es ungeachtet der Apostel genommen und in ihrer Gegenwart in alle stets reaktiven Bezugnahme auf Mitgliedsstatistiken, Lande ausgerufen zu haben (WA 12, S. 259). Obwohl Milieustudien und Marketinggesichtspunkten auch heute Martin Luther sich hierfür aus Strömungen zeitgenössi- mitzugehen. Dabei könnte es hilfreich sein, das Wört- scher Philosophie bedienen konnte, hat sich über der chen „heute“ auf seine verborgenen dogmatischen Beschäftigung mit dem Wort Gottes und seiner Vor- Implikationen zu prüfen – und gründlich zu entmytho- rangstellung vor die menschlichen Worte kirchlicher logisieren. Tradition ein völlig eigener Zugang zur Wirklichkeit (3) Ausgangspunkt der Reformation war die Begegnung mit dem heiligen Gott als „tremendum et fascinosum“, vor den sich Martin Luther im Gewitter bei Stotternheim unausweichlich gestellt wusste: Der Deus revela- tus (lat., der offenbare Gott) ist ohne den Deus absconditus (lat., der verborgene Gott) nicht zu haben. Ist es unsere Aufgabe, eine nette Kirche aus netten Leuten bringen? Am Anfang der Reformation stand das Pfarrern zu sein, die einen netten Gott zu netten Zittern in Gestalt von Luthers Frage: „Wie kriege ich 21
einen gnädigen Gott?“ Es ist schwer vorstellbar, dass lautet: „Wie kriege ich einen heiligen Gott?“ – und Luther ohne dieses „tremendum“ (R. Otto) zur Kraft- dass diese Frage von der Kirche gar nicht verstanden quelle des Evangeliums vorgedrungen wäre. Ein „netter wird. Bücher wie „Gott – ungezähmt“ von Johannes Gott“ ist ein belangloser Gott, der sich wunderbar als Hartl oder „Gott braucht dich nicht“ von Esther Maria fakultatives Puzzleteil der eigenen Wellness einbauen Magnus zeugen davon ebenso wie die Mahnungen von (und wieder ausbauen) lässt. Es ist durchaus möglich, Politikern aller Couleur, die Kirche solle sich um das dass die Frage heutiger Menschen genau andersherum Ewige kümmern. (4) Nicht ein Gottesbewusstsein, sondern ein Bewusstwerden von Gottes Sein bildet den Beginn der Ge- schichte, aus der die Reformation wurde. Im Sinnfeld der universitären theologischen Wissen- sprünglichen Sinne in sich einholen kann. Die Frage, ob schaft ist es seit der „anthropologischen Wende“ viel- und wie Gott (und nicht nur „Gott“ oder /Gott/) in der fach Usus geworden, von Gott nur noch in Form des wissenschaftlichen Theologie historisch-kritischer Prä- menschlichen Gottesbewusstseins (Schleiermacher) gung vorkommen kann, ist identisch mit der Frage, in- zu sprechen. Damit wird in diesem Sprachraum ein wieweit diese Form der Ausbildung eigentlich zu einem Wirklichkeitssegment definiert, das den Erfahrungs vollmächtigen kirchlichen Dienst im Sinne der Refor- hintergrund der Reformation nicht mehr in seinem ur- mation befähigt. (5) Die Erfahrung der Reformation ist eine existentielle, dass nämlich die Frage nach dem Heil des Menschen im Angesicht des Ewigen die Frage nach dem (augenblicklichen) Wohl an Bedeutung überragt: Theologie mit der Reformation hat immer eine eschatologische Zielrichtung. Es gab bereits verschiedentlich Phasen der evange 19. Jahrhunderts, die dialektische Theologie) überholt lischen Theologie, die sich durch eine Subtraktion des worden. Besorgniserregend an der gegenwärtigen Ewigen und die versuchsweise Entwicklung zu einer Situation ist, dass sich die zeitgenössischen Ansätze zu reinen Diesseitstheologie (K. Beyschlag) auszeichne- einer solchen Erneuerung fast nur noch außerhalb der ten. Sie sind bisher alle gescheitert und durch inner- evangelischen Fachtheologie bzw. außerhalb des Wir- kirchliche Erneuerungsbewegungen (vgl. etwa die kungsbereiches der evangelischen Landeskirchen an- Erlanger Theologie, die Erweckungsbewegung des siedeln. (6) Die existentielle Erfahrung der Reformation lässt sich beschreiben als das Gestellt-sein vor eine doppelte Wahrheit, eine Wahrheit über (!) den Menschen, wie sie sich zeigt als Gesetz und Evangelium. Diese Wahrheit macht nicht der Mensch – darin grün- sondern sie wird ihm zuteil: Das zentrale Erbe der Re- det sich der nachhaltige Widerstand der Reformatoren formation liegt in der konsequenten Betonung des gegen der „Menschen Satz(ungen)“ (vgl. EG 341, 10) –, Christentums als Offenbarungsreligion. (7) Diese Offenbarung ereignet sich weder durch das Schauen noch durch die dem Göttlichen entgegen flatternde Vernunft noch durch das Handeln („Werk“) des Menschen, sondern allein durch das Wort Gottes. Die Heilige Schrift ist gleichermaßen dessen Sublimat und Quelle. Nach Luther erwirkt die worthafte Offenbarung Gottes vom Hören der persönlichen Anrede Gottes ist in die Heilige Schrift, liegt in ihr gefasst und wird durch zwischen ökumenisches Allgemeingut. Zur Methode gilt Gebrauch der Schrift als erstem Urgrund (primum nach wie vor Luther: „Es sollen also die ersten Grund- principium), als Maßstab für alle Worte in der Gegen- sätze der Christen nur die göttlichen Worte sein, die wart, als Quelle und Ausgangspunkt von Verkündigung Worte der Menschen aber Schlußfolgerungen, die von gegenwärtig freigesetzt. In den Worten der Schrift, jenen abgeleitet und wieder auf sie zurückgeführt in einer der „apostolischen Sukzession des Wortes“ werden und an ihnen geprüft werden müssen. Jene gemäßen, schrifttreuen Verkündigung „hörist [du] müssen zuallererst jedem völlig bekannt sein, nicht deinen gott zu dir reden“ (Freiheitsschrift WA 7, S. 22). aber dürfen sie durch Menschen kritisch untersucht Diese Erfahrung von hörendem Schriftgebrauch und werden, sondern es müssen die Menschen durch sie 22
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