Megatrend-Report #02: Die Corona-Transformation Wie die Pandemie die Globalisierung bremst und die Digitalisierung beschleunigt - Bertelsmann ...
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9/2020 # 02 Megatrend-Report #02: Die Corona-Transformation Wie die Pandemie die Globalisierung bremst und die Digitalisierung beschleunigt Autoren: Dr. Thieß Petersen und Dr. Christian Bluth
Inhaltsverzeichnis Vorwort 4 3 Die Corona-Pandemie und die Zukunft von „Made in the World“ 34 3.1 Neue Herausforderungen Zusammenfassung 6 für Produzenten 36 3.2 Produktionsnetzwerke und Einleitung 9 Megatrends 37 3.3 „Weaponized Interdependence“ 40 1 Pandenomics – 3.4 Automatisierung und Auswirkungen der Corona-Pandemie Individualisierung 42 auf die Weltwirtschaft 10 3.5 Epidemien als neuer Megatrend 43 1.1 Wirtschaftseinbruch nach geplatzter 3.6 Fazit: „Just in Case“ statt Spekulationsblase 12 „Just in Time” 45 1.2 Wirtschaftseinbruch nach dem Ausbruch einer Epidemie bzw. Pandemie 13 4 Fünf Thesen und Fragen zur 1.3 Wirtschaftspolitische Antworten Zukunft der Megatrends 46 auf die Corona-Pandemie 18 1.4 Mittel- und langfristige Auswirkungen der Corona-Pandemie 23 Executive Summary 54 2 Die Corona-Pandemie als Katalysator Das Programm Megatrends für die Digitalisierung der Wirtschaft 26 und seine Projekte 56 2.1 Beschleunigung der digitalen Transformation erhöht Krisenresilienz 28 Literatur 58 2.2 Beschleunigung der digitalen Transformation bringt neue soziale Konfliktlinien hervor 29 2.3 Beschleunigung der digitalen Trans formation intensiviert Strukturwandel 31 3
Vorwort „The Bigger Picture“ lautete der Titel unseres ersten Megatrend-Reports, den wir vor einem Jahr veröffent- licht haben. Er beleuchtete, wie uns die gesellschaftli- chen Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel einzeln und in ihrem Zusam- menspiel herausfordern – mit Blick auf das Gemein- wesen, auf die Wirtschaft und auf jeden Einzelnen von uns. Wir rechneten mit so weitreichenden Folgen wie der Umverteilung des globalen sowie individuellen Wohlstands und der internationalen Wettbewerbs- fähigkeit. Schon vor einem Jahr gingen wir davon aus, dass große politische und wirtschaftliche Investitio- nen nötig sein würden, um mit der Veränderungsdy- ANDREAS ESCHE RALPH MÜLLER-EISELT namik im Zuge wachsender sozialer und wirtschaftli- cher Polarisierung Schritt halten zu können. Niemand sender Ungleichheit, die immer dramatischeren Aus- konnte aber letzten Herbst damit rechnen, dass wir wirkungen der globalen Erwärmung, die Folgen von so bald in noch viel größerem Maße herausgefordert demografischer Alterung und Wanderung für unse- werden würden. ren Wohlfahrtsstaat oder die tektonischen Macht- verschiebungen durch den Aufstieg Chinas. Noch ist Nicht, dass es keine warnenden Stimmen gegeben keine dieser globalen Herausforderungen auch nur hätte. Schon seit vielen Jahren weisen Wissenschaft- annähernd gelöst – und doch ist unsere Gesellschaft ler:innen auf die reale Gefahr einer weltweiten Pan- nun mit einer Krise konfrontiert, die all diese ande- demie hin. Die Warnschüsse Ebola und Schweine- ren Themen in den Schatten stellt. Ihre Bewältigung grippe verliefen allerdings so glimpflich, dass die von lässt keinen Aufschub zu. Sie zwingt uns, auf Sicht zu Expert:innen befürchtete Bedrohung allenfalls als navigieren, ständig neue Strategien zur Eindämmung fernes Szenario erschien. Viel dringlicher erschienen ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswir- die akuten Herausforderungen, mit denen sich Poli- kungen zu entwickeln, zu erproben und anzupassen. tik und Wirtschaft auseinanderzusetzen hatten: der Um dabei nachhaltig erfolgreich zu sein, müssen die Vormarsch des Populismus auf den Schwingen wach- Dynamiken der Krise auch im Zusammenspiel mit den 4
globalen Megatrends analysiert und verstanden wer- am großen Bedarf an begründeten Einschätzungen, den. Hierzu wollen wir mit unserem zweiten Mega die helfen, die Zukunft zu gestalten – aller Volatilität trend-Report einen Beitrag leisten. zum Trotz. Wir hoffen, dass diese Publikation durch die Synthese von plausibler Argumentation und empiri- Im ersten Abschnitt gehen wir der Frage nach, wie sich scher Unterfütterung dazu einen Beitrag leisten kann. die Pandemie auf die Weltwirtschaft über die Zeit aus- wirkt und wie die Wirtschaftspolitik darauf reagieren Wir danken den Autoren Christian Bluth und Thieß kann und sollte. Daran anschließend skizzieren wir im Petersen für ihren Mut zu Analyse und Positionie- zweiten Teil, wie die Corona-Krise die digitale Trans- rung. Um die technische Umsetzung und Koordina- formation der Wirtschaft beschleunigt und dadurch tion hat sich Carina Wegener verdient gemacht. Und die Resilienz in der Unternehmenswelt verbessern, nicht zuletzt gilt unser Dank allen Kolleg:innen im Me- gleichzeitig aber auch neue soziale Spannungen be- gatrends-Team, die mit ihren kritisch-konstruktiven gründen kann. Im dritten Abschnitt beschreiben wir, Kommentaren und vielseitigen kreativen Anregun- wie sich Globalisierung und wirtschaftliche Arbeitstei- gen zum Gelingen dieses Reports beigetragen haben. lung in Folge der Krise abbremsen und wir uns in Zu- Wir wünschen eine anregende Lektüre und freuen kunft besser für den Umgang mit globalen Pandemien uns auf Resonanz! wappnen können: von „just in time“ zu „just in case“. Effi- zienzerwägungen dürften zukünftig an Bedeutung ver- lieren, das Risikomanagement hingegen eine größere Rolle spielen. Den Abschluss des Megatrend-Reports bilden fünf Thesen, in denen wir pointiert zusammen- führen, welche Entwicklungen wir vor diesem Hinter- Andreas Esche & Ralph Müller-Eiselt grund für die Megatrends Globalisierung, Digitalisie- Direktoren Programm Megatrends rung und demografischer Wandel erwarten. Uns ist bewusst, dass Voraussagen zur weiteren Ent- wicklung der Pandemie, geschweige denn ihrer Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft, mit unauflösbaren Unsicherheiten einhergehen. Dies ändert aber nichts 5
Zusammenfassung Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste globale und dafür Risikomanagement eine größere Rolle bei Wirtschaftskrise ist bereits die zweite Wirtschafts- unternehmerischen und politischen Entscheidungen krise historischen Ausmaßes, wie sie seit den 1930er spielen wird. Eine Konsequenz, die sich daraus ergibt, Jahren keine Generation mehr erlebt hat. Während ist eine stärkere Diversifikation und Relokalisierung die Finanzkrise von 2008/2009 das Ergebnis einer ge- von ausgewählten ökonomischen und technologischen platzten Spekulationsblase war, die zu einem abrup- Aktivitäten. Der Vorteil: Die Abhängigkeit von Tech- ten Nachfragerückgang nach Gütern und Dienstleis- nologien, Vorleistungen und Endprodukten aus dem tungen führte, ist eine Pandemie ein exogener Schock, Ausland sinkt. Der Nachteil: Spezialisierungsgewinne, der nicht nur einen Nachfrageeinbruch, sondern auch die sich aus der internationalen Arbeitsteilung erge- noch einen Produktionsrückgang hervorruft. Entspre- ben, fallen weg. Resilienz hat einen Preis. chend gehen die aktuell vorliegenden Prognosen von einem wesentlich größeren Einbruch der Weltwirt- Aus diesen Entwicklungen ergeben sich unserer An- schaft aus als nach der Lehman-Pleite, was die export sicht nach fünf zentrale Tendenzen für die zukünftige orientierte deutsche Volkswirtschaft hart trifft. Entwicklung der Digitalisierung, der Globalisierung und des demografischen Wandels: Die Corona-Pandemie ist zwar längst noch nicht been- det und es wird voraussichtlich Jahre dauern, bis alle 1. Die Frage der digitalen Souveränität gewinnt an ökonomischen und sozialen Schäden einigermaßen be- Relevanz hoben sind. Angesichts der Schwere der wirtschaftli- Eine Einheit ist digital souverän, wenn seine digi- chen Krise und der gewaltigen Anstrengungen zu ihrer talen Abhängigkeiten das Ergebnis eines Auswahl- Bewältigung dürfte aber bereits jetzt klar sein: Dieses und Entscheidungsprozesses sind und somit jeder- einschneidende Ereignis bringt langfristige Verände- zeit abgeändert werden können. Dies bringt mit sich, rungen für unser Wirtschaftsleben mit sich. dass die Einheit frei ist, ihre Sozial-, Wirtschafts- und Regulierungspolitik für den digitalen Raum so Aus Sicht der Megatrends spielen zwei Entwicklungen zu gestalten, dass sie ihren Werten und Zielvorstel- eine besondere Rolle. Zum einen gehen wir davon aus, lungen entsprechen. Die Kernherausforderung für dass die Corona-Pandemie ein zusätzlicher Katalysa- die digitale Souveränität Europas ist entsprechend, tor für die Digitalisierung sein wird. Sowohl in der Pro- seine Abhängigkeit von Dritten im Bereich digitaler duktion als auch im Handel und im Dienstleistungsbe- Technologien und Geschäftsmodelle zu vermindern. reich wird sich der Einsatz digitaler Technologien nach Angesichts der coronabedingt zu erwartenden Be- unserer Einschätzung beschleunigen. Damit verringert schleunigung der Digitalisierung und des damit ein- sich für Unternehmen die Gefahr, im Fall einer erneu- hergehenden Strukturwandels ist die Frage der digi- ten Pandemie krankheitsbedingten Produktionsein- talen Souveränität relevanter denn je. Europa sollte bußen und Umsatzausfällen ausgesetzt zu sein. Zum die Pandemie als Weckruf begreifen und den digita- anderen erwarten wir eine Verlagerung der globa- len Wandel gleichermaßen aktiv wie wertebasiert len Wertschöpfungsketten, weil Effizienzerwägun- und zielgerichtet vorantreiben, um kritische Abhän- gen zukünftig ein Stück weit an Bedeutung verlieren gigkeiten von Dritten zu reduzieren. Aus einer sol- chen „smarten Resilienz“ kann mittel- bis langfristig eine Steigerung der europäischen Wettbewerbsfä- higkeit und in diesem Zuge auch der sozialen Teilha- bechancen aller Europäer:innen erwachsen. 6
2. D ie internationale Arbeitsteilung gerät zuneh- lieren und nicht von den Importen aus dem Aus- mend unter Druck land abhängig sein wollen, werden auch sie ihre Effizienz und Kostenminimierung waren bisher die Anstrengungen in der vertikalen Industriepolitik maßgeblichen Aspekte für die Gestaltung der inter- steigern müssen. Dabei geht es nicht um die Kopie nationalen Arbeitsteilung. Zukünftig dürfte auch die chinesischer oder amerikanischer Ansätze, sondern Frage der Liefersicherheit eine wichtige Rolle spie- vielmehr um die Entwicklung eines eigenen indus len. Daher erwarten wir eine Tendenz zur weiteren triepolitischen Ansatzes im Rahmen der Werte und Diversifikation von Wertschöpfungsketten und zur gesellschaftlichen Zielsetzungen der Sozialen Markt- verstärkten Lagerhaltung. Allerdings sind Effizienz wirtschaft. einbußen der Preis für eine Verringerung der Ab- hängigkeit von den Zulieferungen aus dem Rest der 4. Die eigene Innovationsfähigkeit wird zu einem Welt. Zudem könnte die partielle Renationalisierung zentralen Resilienzfaktor von Produktionsprozessen der Startschuss für einen Ganz besonders wird sich die Frage der Industriepo- weiteren Protektionismus-Wettlauf sein. Proble- litik im Innovationsbereich stellen. Der sich inten- matisch ist schließlich auch, dass deutsche Unter- sivierende Hegemonialkonflikt zwischen China und nehmen bestimmte Vorleistungen aus dem Ausland den USA sorgt für eine Verschärfung des Innovati- beziehen, weil die entsprechenden einheimischen onswettbewerbs zwischen diesen beiden Staaten. Produkte nicht wettbewerbsfähig oder bestimmte Zunehmend bilden sich eigene technologische Ein- Ressourcen hier nicht vorhanden sind. Das bedeu- flusssphären heraus, in denen entweder chinesische tet: Außerhalb von Krisenzeiten, in denen kein Im- oder amerikanische Standards gelten und die tech- port dieser Produkte erfolgt, werden sich die Käu- nologischen Entwicklungen aus einem dieser Länder fer:innen unter sonst gleichen Rahmenbedingungen dominieren. Mit der Corona-Krise verstärkt sich die- weiterhin bei den nach wie vor existierenden preis- ser Trend weiter: Sie verdeutlicht, wie schnell Staa- werteren Angeboten aus dem Ausland bedienen. ten von ausländischen Innovationen abgeschnit- Deshalb wird eine sich aus Gründen der Risikomini- ten werden können, und zeigt, wie wertvoll eigene mierung abzeichnende Relokalisierung der Herstel- Innovationsfähigkeit im Krisenfall ist. Im Zuge der lung von bestimmten Gütern ohne irgendeine Form zunehmenden Digitalisierung werden vor allem ei- der staatlichen Unterstützung kaum möglich sein. gene Kapazitäten in Technologien wie künstlicher Auch eine Diversifizierung von Wertschöpfungsket- Intelligenz, 5G oder Blockchain an Bedeutung ge- ten, bei der nicht mehr nur Vorleistungen von einem winnen. Gemessen an besonders bedeutsamen Pa- Herkunftsland, sondern von mehreren bezogen wer- tenten, sind die USA in vielen Zukunftstechnolo- den, ist mit Kosten verbunden. gien und vor allem in der Digitalisierung Weltspitze. China hat seine Innovationskraft mit einem rasanten 3. D ie Bedeutung der vertikalen Industriepolitik Wachstum in den vergangenen Jahren stark gestei- nimmt zu gert. Für Europa – und noch viel mehr für Entwick- China, die USA und andere Nationen unterstüt- lungsländer – sind die Aussichten hingegen trüb. Sie zen zukunftsträchtige Schlüsselindustrien wie Elek drohen, den Anschluss zu verlieren und sich in ein tromobilität, Robotertechnologie oder Biomedizin technologisches Vasallentum zu begeben. in erheblichem Ausmaß durch eine gezielte Förde- rung der ausgewählten Sektoren bzw. Technologien (vertikale Industriepolitik). Wenn Deutschland und Europa in diesen Bereichen nicht den Anschluss ver- 7
5. Der fortschreitende demografische Wandel be- Diese und weitere Entwicklungen führen zu einem gra- inhaltet zusätzliche „Störfaktoren“ vierenden Strukturwandel von Wirtschaft und Gesell- Die demografische Alterung wird in diesem Jahr- schaft – und bringen für die Bürger:innen erhebliche zehnt in vielen europäischen Ländern in eine „heiße Anpassungen mit sich. Die ohnehin schon hohen An- Phase“ eintreten. Mit Blick auf die Bewältigung forderungen an eine Flankierung dieser Veränderun- der ökonomischen Folgen der Corona-Krise und gen durch sozial- und bildungspolitische Maßnahmen die Errichtung krisenresilienter Strukturen erge- werden dadurch noch größer. Dennoch ist sie erfor- ben sich dadurch zusätzliche „Störfaktoren“: Be- derlich, denn sonst droht eine Blockadehaltung brei- reits im Verlauf der 2020er-Jahre werden die Al- ter Bevölkerungsschichten. terung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung das Wirtschaftswachstum in Deutschland dämp- fen. Erschwerend kommt hinzu, dass mit dem demo grafischen Wandel die Staatsausgaben zusätzlich Der durch die Corona-Krise steigen. Bei der Diskussion um die Relokalisierung der Herstellung bestimmter Güter muss berücksich- beschleunigte Strukturwandel tigt werden, dass Deutschland auf eine Phase des akuten Fachkräftemangels zusteuert. Schließlich braucht eine sozial- und bil- sinkt bei den öffentlichen Finanzen der Spielraum, sodass es zukünftig umso mehr darauf ankommt, dungspolitische Flankierung. diese sozialverträglich auf Zukunftsinvestitionen und die Gewährleistung altersbezogener Siche- rungsleistungen zu verteilen. Dies wird politisch eine besonders große Herausforderung, da die hö- heren Altersgruppen einen stetig zunehmenden Teil der Wähler:innen ausmachen. 8
Einleitung Die Ausbreitung des neuen Corona-Virus (COVID -19) 2. Spätestens nach dem Ende der Corona-Pandemie hält die Weltwirtschaft fest im Griff. Sie hat bereits werden wir weltweit erhebliche strukturelle Verän- eine hohe Zahl von Erkrankungs- und Todesfällen ge- derungen unseres Wirtschafts- und Gesellschafts- fordert und ruft gravierende wirtschaftliche Auswir- systems erleben. So gehen wir davon aus, dass die kungen hervor, die wiederum soziale Verwerfungen Pandemie ein zusätzlicher Katalysator für die Digi- mit sich bringen. Die durch diese Pandemie ausge- talisierung sein wird. Sowohl in der Produktion als löste globale Wirtschaftskrise ist nach den Rezessio- auch im Handel und im Dienstleistungsbereich er- nen im Zuge der geplatzten Dotcom-Blase Anfang der warten wir eine weitere Beschleunigung des Einsat- 2000er-Jahre und der Lehman-Pleite 2008/09 bereits zes digitaler Technologien. Diese Entwicklung ver- die dritte große Wirtschaftskrise dieses Jahrhunderts. ringert die Gefahr, dass Unternehmen im Fall einer Während die ersten beiden Wirtschaftseinbrüche im erneuten Pandemie krankheitsbedingten Produkti- Kern eine Nachfrage- und Vertrauenskrise darstell- onseinbußen und Umsatzausfällen ausgesetzt sind. ten, die jeweils durch eine Finanzmarktkrise ausge- Zudem erwarten wir, dass Effizienzerwägungen zu- löst wurden, handelt es sich bei der aktuellen Krise künftig ein Stück weit an Bedeutung verlieren und um eine Kombination aus Nachfrage- und Angebots- dafür Risikoaspekte eine größere Rolle bei unter- krise, die eine Finanzmarkt- und Vertrauenskrise nach nehmerischen und gesellschaftspolitischen Ent- sich ziehen kann. scheidungen spielen. Eine sich daraus ergebende Konsequenz ist die stärkere Diversifikation bzw. Die Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise sind somit Relokalisierung von ausgewählten ökonomischen vielfältiger als bei den bisherigen Krisen dieses Jahr- und technologischen Aktivitäten. Die damit verbun- hunderts. Das hat zwei gravierende Konsequenzen: dene Stärkung der nationalen Souveränität redu- ziert die Abhängigkeit von Technologien, Vorleis- 1. Das Ausmaß der ökonomischen Schäden wird – so tungen und Endprodukten aus dem Ausland. Dabei die aktuell vorliegenden Prognosen – weltweit grö- gehen allerdings Spezialisierungsgewinne verloren, ßer ausfallen als bei allen anderen Wirtschaftskri- die sich aus der internationalen Arbeitsteilung er- sen seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Damit wird geben. Resilienz hat einen Preis. Dieser kann je- auch die Lösung dieser Wirtschaftskrise eine grö- doch durch den verstärkten Einsatz digitaler Tech- ßere Herausforderung als der Umgang mit den bis- nologien – der ohnehin stattfinden wird – reduziert herigen Krisen sein. Sie wird u. a. weltweit wesent- werden. Digitale Technologien verringern die Pro- lich höhere finanzielle staatliche Mittel verlangen, duktionskosten und können es zu einer betriebs- als nach der Lehman-Pleite erforderlich waren. wirtschaftlich lohnenden Alternative machen, die Herstellung von essenziellen Produkten in Indus- trieländer zu verlagern. 9
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft Ökonomische Krisen begleiten die Weltwirtschaft schon seit Langem. Doch breiten sich nationale Wirtschaftseinbrüche durch das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Volks- wirtschaften im Zuge der voranschreitenden Globalisierung und den technologischen Fortschritt immer schneller weltweit aus – und führen so zu größeren wirtschaftlichen Schäden als bei einer auf eine Region begrenzten Rezession. 10
1.1 Wirtschaftseinbruch nach geplatzter Spekulationsblase 1.2 Wirtschaftseinbruch nach dem Ausbruch einer Epidemie bzw. Pandemie 1.3 Wirtschaftspolitische Antworten auf die Corona-Pandemie 1.4 Mittel- und langfristige Auswirkungen der Corona-Pandemie
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft 1.1 Wirtschaftseinbruch nach geplatzter Spekulationsblase Die meisten dieser Krisen waren das Resultat einer reduziert sich die Konsumnachfrage noch mal zusätz- geplatzten Spekulationsblase (vgl. zu den nachfol- lich. Folglich gehen die Absatz- und die Renditeerwar- genden Ausführungen Petersen 2013, S. 177–190). tungen bezüglich anstehender Investitionsprojekte in Eine solche Blase entsteht, wenn viele Menschen auf den Unternehmen zurück – und die Investitionsgüter- Preissteigerungen bei einem bestimmten Vermögens- nachfrage sackt weiter ab. Die gesamtwirtschaftliche gegenstand spekulieren. Fließen große Geldmengen Nachfragekrise verschärft sich somit immer mehr. in den Kauf dieses Vermögensgegenstandes, schießt der Preis in die Höhe. Irgendwann glauben die Anle- Die internationale Verflechtung der Volkswirtschaften ger:innen nicht mehr an weitere Preissteigerungen untereinander führt rasch zu einer weltweiten Aus- und verkaufen das Spekulationsobjekt. Folgen viele breitung der realwirtschaftlichen Effekte. Ein Wirt- Marktteilnehmer:innen dieser Entscheidung, kommt schaftseinbruch in den USA bedeutet beispielsweise, es zu erheblichen Preiseinbrüchen. Da diese Vermö- dass die USA weniger Produkte aus dem Ausland be- gensgegenstände häufig als Sicherheit für Kredite ge- nötigen. Dadurch gehen die Exporte im Rest der Welt nutzt werden, platzt mit der Spekulationsblase dann zurück. Geringere Exporte bringen in den betroffe- auch eine Kreditblase. Es bleibt daher nicht bei Ver- nen Ländern einen Produktions- und Beschäftigungs- mögensverlusten von Spekulant:innen, sondern auch rückgang mit sich, der zu geringeren verfügbaren Ein- Kreditgeber:innen und vor allem Banken müssen herbe kommen führt und so die heimische Konsumnachfrage Einbußen hinnehmen. schwächt. Diese Vermögensverluste übertragen sich rasch auf Die skizzierten Zusammenhänge gelten für die meis- die Realwirtschaft und lassen die Konsumausgaben ten bisherigen Krisen – auch für die im Oktober 1929 der Verbraucher:innen und die Investitionsaktivitä- ausgelöste Weltwirtschaftskrise. Bei der weltweiten ten der Unternehmen sinken. Banken schränken ihre Ausbreitung einer Infektionskrankheit gilt dieses Mus- Kreditvergabe ein und erschweren damit kreditfinan- ter jedoch nicht. zierte Investitionen. Unternehmen reduzieren ihre Pro- duktion, wenn die Nachfrage nach Konsum- und In- vestitionsgütern nachlässt. Damit wächst die Gefahr von Entlassungen. Da die steigende Unsicherheit bei vielen Konsument:innen zu einem Angstsparen führt, 12
Wirtschaftseinbruch nach dem Aus- 1.2 bruch e iner Epidemie bzw. Pandemie Bei den ökonomischen Konsequenzen, die die Verbrei- sogenannten Lockdown – verbieten. Für die Anbie- tung einer Infektionskrankheit nach sich zieht, sind ter:innen der betroffenen Güter und Dienstleistungen zwei Phasen zu unterscheiden. kommt es folglich zu oft immensen Umsatzausfällen. Unternehmen reagieren darauf, indem sie ihre Produk- Die erste Phase betrifft den Ausbruch der Epidemie tion oder die Bereitstellung von Dienstleistungen her- in einem Land, im Fall des Corona-Virus also China (die unterfahren. Damit geht das Bruttoinlandsprodukt (im nachfolgenden Ausführungen sind Petersen 2020a Folgenden: BIP ) ebenso zurück wie die Beschäftigung. entnommen). Dort hat die Verbreitung einer Infekti- onskrankheit zunächst einmal nachfragedämpfende Der Ausbruch einer Infektionskrankheit bringt gleich- Effekte: Aus Angst vor einer Ansteckung meiden Men- zeitig auch angebotsdämpfende Effekte mit sich: Ein schen Geschäfte und schränken ihren Konsum ein. krankheitsbedingter Ausfall von Arbeitskräften ver- Sie verzichten auf den Besuch von Restaurants, Kinos ringert die Produktionskapazitäten der Unternehmen. sowie Großveranstaltungen und sagen Urlaubsreisen Hinzu kommt, dass auch gesunde Beschäftigte aus ab. Besonders hoch sind derartige Nachfrageausfälle, Angst vor einer Ansteckung nicht am Arbeitsplatz er- wenn staatliche Behörden einen entsprechenden Kon- scheinen wollen oder dort aufgrund staatlicher Anord- sum und die damit verbundenen Aktivitäten durch Aus- nungen zur Eindämmung der Epidemie gar nicht mehr gangssperren und Unternehmensschließungen – den erscheinen dürfen. Deshalb müssen Unternehmen ihre Produktion einschränken oder sogar komplett einstel- len. Und je umfangreicher die Unternehmensschlie- ßungen sind, um die Verbreitung des Virus zu begren- Eine Pandemie ist ein exo- zen, desto größer werden die Wirtschaftseinbußen. gener Schock, der nicht nur Für China bedeutete das gleichzeitige Auftreten eines Nachfrage- und Angebotseinbruchs einen beispiels- einen Nachfrageeinbruch, losen Rückgang des realen BIP zu Beginn des Jahres 2020. Die OECD weist die Veränderungen des realen sondern auch noch einen Pro- BIP als Quartalsdaten aus. Für China liegen die ent- sprechenden Werte seit Beginn des Jahres 2011 vor. duktionsrückgang hervorruft. Seitdem ist das reale BIP in China in jedem Quartal 13
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft AB B ILDUNG 1: Corona-Krise führt in China zu massivem Wirtschaftseinbruch Veränderung des realen BIP in China, Veränderung in Prozent gegenüber dem Vorquartal 2 0 Q1-2011 Q1-2012 Q1-2013 Q1-2014 Q1-2015 Q1-2016 Q1-2017 Q1-2018 Q1-2019 -2 -4 -6 -8 -10 Quelle: OECD.Stat (Datenabruf am 14.5.2020). AB B I LDUNG 2: Ökonomische Konsequenzen einer Infektionskrankheit in China Nachfrageeffekte in China • Menschen meiden Einkaufsläden in den Nachfrageeffekte im Rest der Welt Städten • Exporte nach China • Menschen meiden Großveranstaltungen • Produktion und Beschäftigung (Sport, Konzerte, Theater etc.) • Menschen schränken Reiseaktivitäten ein CHINA REST DER WELT Produktion Produktion BIP BIP Beschäftigung Beschäftigung Einkommen Einkommen Angebotseffekte in China • Beschäftigte fallen krankheits- Angebotseffekte im Rest der Welt bedingt aus • Produktion wegen fehlender Vor- • Beschäftigte gehen aus Angst leistungen aus China vor Ansteckung nicht zur Arbeit • Beschäftigung wegen Produktions- einschränkung Quelle: Eigene Darstellung. 14
um 1,5 bis zwei, in der Spitze sogar um 2,5 Prozent ge- Produktion und Einkommen einbrechen, sinkt auch wachsen. Im ersten Quartal 2020 sank die durch das die chinesische Nachfrage nach Produkten aus dem BIP ausgedrückte Wirtschaftsleistung jedoch um fast gesamten Ausland. Im Rest der Welt gehen daher die zehn Prozent (siehe Abb. 1). Exporte nach China zurück. Daher müssen die Unter- nehmen im Ausland ihr Produktions- und Beschäfti- Ein weiterer Angebotsschock ergibt sich, wenn in- gungsniveau senken, was dort zu einem Rückgang des und ausländische Unternehmen plötzlich keine Vor- BIP führt (siehe Abb. 2). leistungen mehr aus dem von der Infektionskrankheit betroffenen Land erhalten, weil es dort zu einem Pro- Die globalen ökonomischen Ausstrahlwirkungen sind duktionsstopp kommt oder die Transportwege unter- bei einer Infektionsepidemie in China gravierend, weil brochen werden. Das trifft im aktuellen Fall nicht nur China mittlerweile die zweitgrößte Volkswirtschaft die chinesische Wirtschaft, sondern die gesamte Welt- der Welt ist (gemessen durch die Wirtschaftskraft wirtschaft. Die temporäre Durchtrennung der globa- in US -Dollar). Damit ist auch die Bedeutung dieses len Lieferketten kann die Produktion einschränken Staates als Käufer von Gütern aus dem Rest der Welt oder sogar vollkommen zum Erliegen bringen, wenn in den letzten Jahren rasant gestiegen. 1990 betrug Unternehmen keinen Ersatz für die notwendigen Vor- die chinesische Importnachfrage nach Waren ledig- leistungen finden. lich 1,5 Prozent der globalen Importnachfrage. 2019 waren es bereits 10,8 Prozent. Damit ist China nach Der Wirtschaftseinbruch in China hat noch eine wei- den USA der weltweit zweitgrößte Importeur von tere Auswirkung auf den Rest der Welt: Wenn in China Waren (siehe Abb. 3). ABBIL DUNG 3: China ist gegenwärtig die zweitgrößte Importnation der Welt Chinas Anteil am weltweiten Importvolumen Die 10 größten Importeure von Waren (Angaben in von Waren (Angaben in Prozent) Prozent am globalen Importvolumen) 10,8 USA 13,4 10 China 10,8 8 Deutschland 6,4 Japan 3,7 6 Vereinig. Königreich 3,6 4 Frankreich 3,4 Niederlande 3,3 2 China, Sonderverwal- 3,0 tungszone Hongkong 1,5 Südkorea 2,6 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 2018 Indien 2,5 Quelle: UNCTAD Statistics (Datenabruf am 20.5.2020). 15
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft Die zweite Phase der ökonomischen Konsequenzen sank das weltweite BIP um lediglich 0,1 Prozent. Für einer Infektionskrankheit betrifft deren weltweite Aus- 2020 geht der Internationale Währungsfonds (IMF ) in breitung, die aus einer Epidemie eine Pandemie macht. seiner im Juni 2020 veröffentlichten Prognose dage- In dieser Phase kommt es in zahlreichen Ländern zu gen von einem weltweiten BIP -Rückgang in Höhe von einer Verbreitung der Infektionskrankheit. Die Folge: fast fünf Prozent aus. Auch für Deutschland wird für Alle beschriebenen ökonomischen Auswirkungen, die 2020 ein stärkerer Wachstumseinbruch als 2009 er- aus der Infektionskrankheit in China für die chinesi- wartet (7,8 Prozent statt 5,7 Prozent). sche und die globale Wirtschaft resultieren, ergeben sich nun auch aus einer Epidemie in Italien, Deutsch- Dass diese Befürchtung nicht nur eine Vermutung ist, land, Frankreich, den USA etc. Der damit verbundene zeigen alle relevanten Konjunkturindikatoren – so- Wirtschaftsabschwung trifft dann alle Volkswirtschaf- wohl in Deutschland als auch im Rest der Welt. Neben ten – selbst jene, in denen es ggf. gar keine Erkrankun- dem bereits erwähnten beispiellosen BIP -Rückgang in gen und Todesfälle gibt. So leiden beispielsweise viele China im ersten Quartal 2020 gab es nach dem Aus- Schwellen- und Entwicklungsländer in besonderem bruch des Corona-Virus Ende Februar 2020 zahlreiche Maße darunter, dass rezessionsbedingt die Preise für Indikatoren, die historische Einbrüche oder sogar Tief- Rohstoffe (allen voran Erdöl) einbrechen und Industrie stände erreichten. Dazu nur fünf Beispiele: länder ihr Kapital aus diesen Ländern abziehen, um es in „sichere Häfen“ zu bringen und Liquiditätsengpässe 1. Die reale, also inflationsbereinigte Produktion des im eigenen Land auszugleichen (vgl. ausführlicher Ar- Produzierenden Gewerbes ging in Deutschland im regui Coka, Hartmann und Petersen 2020). März 2020 um über neun Prozent gegenüber Fe- bruar 2020 zurück. Im April betrug der Rückgang Der Umstand, dass es in nahezu allen Volkswirtschaf- gegenüber dem Vormonat sogar fast 18 Prozent. ten der Welt pandemiebedingt sowohl zu einer Nach- Das sind die stärksten Rückgänge seit Beginn die- fragekrise als auch zu einer Angebotskrise kommt, hat ser Zeitreihe im Januar 1991 (vgl. Statistisches Bun- eine bedenkliche Auswirkung: Die zu erwartenden desamt 2020a). BIP-Einbrüche werden weltweit höher ausfallen als bei einer Wirtschaftskrise, die nur einen Nachfrage- 2. Die realen Auftragseingänge im Verarbeitenden rückgang nach sich zieht – also auch höher als im Zuge Gewerbe in Deutschland, die ein Indikator für die der weltweiten Rezession nach der Lehman-Pleite im Produktion der nächsten Monate sind, sanken im Herbst 2008. Erschwerend kommt hinzu, dass bereits März 2020 um mehr als 15 Prozent gegenüber dem vor dem Pandemieausbruch ein schwächeres Wirt- Februar und im April 2020 nochmals um fast 26 Pro- schaftswachstum zu erwarten war, weil das weltwirt- zent gegenüber dem Vormonat. Das sind ebenfalls schaftliche Umfeld zunehmend durch wirtschaftliche die stärksten Rückgänge seit Beginn der Zeitreihe Abschottungstendenzen geprägt ist (Brexit, Handels- (vgl. Statistisches Bundesamt 2020b). streitigkeiten zwischen den USA und China, drohende amerikanische Strafzölle auf Produkte der EU etc.). Das Ausmaß der zu befürchtenden wirtschaftlichen Ein- bußen zeigt der Vergleich der BIP -Entwicklungen des Jahres 2009 mit den erwarteten Veränderungsraten für 2020 (siehe Abb. 4). Während der Lehman-Pleite 16
3. Der ifo Geschäftsklimaindex, der die Aussichten 5. In den USA stieg die Arbeitslosenquote von 3,5 Pro- der deutschen Unternehmen für das kommende zent im Februar 2020 und 4,4 Prozent im März auf halbe Jahr ausdrückt, hatte im April 2020 mit einem 14,7 Prozent im April. Das ist der höchste Wert seit Wert von 69,4 den niedrigsten jemals gemessenen Beginn der Aufzeichnungen nach dem 2. Weltkrieg Wert. Das bedeutet, dass die Unternehmen „noch (vgl. BLS 2020, S. 1 f.). nie so pessimistisch auf die kommenden Monate“ (ifo Institut 2020, S. 1) geblickt haben. Auch wenn sich im Mai und Juni bei einigen dieser Indi- katoren eine leichte Verbesserung eingestellt hat, ma- 4. Das Konsumklima der deutschen Verbraucher:in- chen diese wenigen Beispiele deutlich: Der durch die nen sackte in der April-Umfrage auf einen historisch Corona-Pandemie ausgelöste weltweite Wirtschafts- niedrigen Wert ab. Dies ist ein bislang „beispiello- abschwung ist größer als nach der Lehman-Pleite. Das se[r] Absturz des Konsumklimas“ (GfK 2020, S. 1). verlangt umfangreichere wirtschaftspolitische Maß- Parallel dazu nahm die Sparneigung der Bürger:in- nahmen als 2008/09, um Produktion, Beschäftigung nen zu: Die gesamtwirtschaftliche Sparquote, die und Einkommen wieder auf das Niveau vor Ausbruch im vierten Quartal 2019 noch bei 9,7 Prozent lag, der Pandemie zu bringen. erreichte im ersten Quartal 2020 fast 17 Prozent (vgl. Siedenbiedel 2020). ABBIL DUNG 4: Corona-Pandemie führt zu stärkeren Wirtschaftseinbrüchen als nach der Lehman-Pleite Veränderungen des realen BIP in ausgewählten Regionen gegenüber dem Vorjahr, Angaben in Prozent, Daten ab 2020: Schätzwerte Land/Region 2007 2008 2009 2010 2019 2020 2021 Welt 5,6 3,0 -0,1 5,4 2,9 -4,9 5,4 Eurozone 3,0 0,4 -4,5 2,1 1,3 -10,2 6 Deutschland 3,0 1,0 -5,7 4,2 0,6 -7,8 5,4 Frankreich 2,4 0,3 -2,9 1,9 1,5 -12,5 7,3 Italien 1,5 -1,0 -5,3 1,7 0,3 -12,8 6,3 Vereinigtes Königreich 2,4 -0,3 -4,2 2,0 1,4 -10,2 6,3 Japan 1,7 -1,1 -5,4 4,2 0,7 -5,8 2,4 USA 1,9 -0,1 -2,5 2,6 2,3 -8,0 4,5 Quelle: IMF, World Economic Outlook Database – April 2020 (Datenabruf am 20.5.2020) und IMF 2020. 17
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft 1.3 Wirtschaftspolitische Antworten auf die Corona-Pandemie Die Wirtschaftspolitik hat zwei grundsätzliche In Ziel der expansiven Fiskalpolitik ist es, die ge- 2. strumente, um auf einen Wirtschaftseinbruch zu re- samtwirtschaftliche Nachfrage nach Gütern und agieren – eine expansive Geldpolitik und eine expan- Dienstleistungen zu steigern und dadurch Pro- sive Fiskalpolitik: duktion und Beschäftigung zu erhöhen. Der Staat kann dafür den staatlichen Konsum erhöhen, die Eine expansive Geldpolitik hat das Ziel, die In- 1. öffentlichen Investitionen steigern und zusätzli- vestitionen der Unternehmen über sinkende Zin- che Beschäftigte einstellen. Die höheren Ausgaben sen zu erhöhen. Bei geringeren Zinsen sind Unter- werden in der Regel durch eine Kreditaufnahme fi- nehmen eher bereit, einen Kredit für Investitionen nanziert, weil Steuererhöhungen die verfügbaren aufzunehmen. Gleichzeitig erhöhen sich die kre- Einkommen der Bürger:innen reduzieren und da- ditfinanzierten Käufe von Konsumgütern. Wenn durch die private Konsumnachfrage schwächen. sowohl die Nachfrage nach Investitionsgütern als Zudem kann der Staat Steuern und Sozialversi- auch nach Konsumgütern steigt, passen sich die cherungsbeiträge senken und so die verfügbaren Unternehmen an die höhere Nachfrage an – die Einkommen der privaten Haushalte erhöhen und Wirtschaft wächst. den privaten Konsum forcieren. AB B I LDUNG 5: Schnelle Erholung in den G7-Staaten nach der Lehman-Pleite Veränderung des realen BIP, Quartalsdaten, Angaben in Prozent Japan Kanada USA OECD Deutschland Frankreich Italien Vereinigtes Königreich 2 1 0 -1 -2 -3 -4 -5 Q1-2008 Q2-2008 Q3-2008 Q4-2008 Q1-2009 Q2-2009 Q3-2009 Q4-2009 Quelle: OECD.Stat (Datenabruf am 14.5.2020). 18
Beide Maßnahmen wurden 2008 und 2009 weltweit achten, dass menschliche Kontakte zur Eindämmung eingesetzt – und zwar mit Erfolg. Die meisten Volks- der Infektionskrankheit weitgehend eingeschränkt wirtschaften verzeichneten im Frühjahr 2009 bereits werden (Social Distancing). Eine staatliche Förderung den Tiefpunkt ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Da- von personennahen Dienstleistungen wäre in diesem nach begann eine rasche Erholung. Der Blick auf die Zusammenhang nahezu absurd. Quartalsdaten des realen BIP verdeutlicht, dass z. B. die G7-Staaten im ersten Quartal 2009 bereits die Dennoch ist eine expansive Geldpolitik auch während Talsohle des Wirtschaftsabschwungs erreicht hatten. einer Pandemie erforderlich. Ihre primäre Zielsetzung In der zweiten Jahreshälfte 2009 wuchs das reale BIP ist aber nicht die unmittelbare Steigerung der gesamt- in allen G7-Ländern wieder an (siehe Abb. 5). wirtschaftlichen Nachfrage, sondern die Liquiditätssi- cherung für Unternehmen und Freiberufler:innen. Sie Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Weltwirt- können bei einem Produktionsstopp schließlich keine schaftskrise wird voraussichtlich nicht so schnell über- Erlöse erzielen, müssen ihre Fixkosten (Mieten, Pach- wunden sein. Verantwortlich dafür ist u. a., dass die ten, Zins- und Tilgungszahlungen, Löhne für Minimal- beschriebenen geld- und fiskalpolitischen Maßnah- besetzung) aber dennoch nach wie vor bezahlen. Kön- men nun weniger wirksam sind als bei einer reinen nen viele Unternehmen ihren Zahlungsverpflichtungen Nachfragekrise. nicht nachkommen, droht eine Insolvenzkrise. Das bedeutet, dass zahlreiche Unternehmen den Betrieb Die Geldpolitik hat das Problem, dass sich die Zinsen einstellen und Konkurs anmelden müssen. Um dies zu seit der Lehman-Pleite weltweit auf einem sehr ge- vermeiden, sollte die Wirtschaft ausreichend mit zins- ringen Niveau befinden. In den meisten Fälle liegen günstigen Krediten unterstützt werden. sie bereits nahe null. Weitere Zinssenkungen zur An- kurbelung der Güternachfrage sind daher kaum mög- Aufgrund der begrenzten Produktionskapazitäten und lich. Hinzu kommt, dass durch die Corona-Pandemie der erforderlichen sozialen Distanzierung gelten die die Produktionskapazitäten eines Landes temporär gleichen Einschränkungen auch für die Wirksamkeit begrenzt sind. Wenn Unternehmen geschlossen sind, der Fiskalpolitik. Trotzdem ist es sinnvoll, bereits in weil ihnen die Vorleistungen aus anderen Unterneh- der Lockdown-Phase umfangreiche Konjunkturpro- men fehlen, Beschäftigte krankheitsbedingt nicht zur gramme anzukündigen, die nach der Eindämmung des Verfügung stehen oder die Regierung das Unterneh- Corona-Virus starten sollen. Die Aussicht auf höhere men zur Eindämmung der Pandemie schließt, kann die staatliche Ausgaben und einen damit angestoßenen Volkswirtschaft nur ein geringeres BIP produzieren. Beim Erreichen dieser Kapazitätsgrenze hätte eine weitere zinsinduzierte Nachfragesteigerung nur noch inflationserhöhende Effekte. Darüber hinaus ist zu be- 19
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft wirtschaftlichen Aufschwung erhöht das Vertrauen Maßnahmepaket umfasst 57 Elemente, u. a. eine be- von Unternehmen, Beschäftigten und Verbraucher:in- fristete Absenkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 nen und wirkt so gesehen stabilisierend. auf 16 Prozent bzw. von 7 auf 5 Prozent, zahlreiche weitere vorübergehende steuerliche Entlastungen, Eine zentrale wirtschaftspolitische Herausforderung Überbrückungshilfen für kleine und mittlere Unter- besteht bei einer durch eine Pandemie ausgelösten nehmen sowie verschiedene öffentliche Investitionen Wirtschaftskrise also darin, die eingeschränkten Pro- (vgl. Koalitionsausschuss 2020). 2008 und 2009 gab es duktionskapazitäten wieder auszuweiten, ohne dabei in Deutschland als Antwort auf die Rezession im Zuge eine Ausbreitung der Infektionskrankheit zu riskie- der Lehman-Pleite zwei Konjunkturpakete im Umfang ren. Erforderlich sind neben Vorsichtsmaßnahmen von „nur“ etwa 62 Milliarden Euro: das im November in Betrieben und Geschäften auch Zusatzkapazitä- 2008 verabschiedete Konjunkturpaket I belief sich ten im Gesundheitssystem. Erst wenn die „Funkti- auf 12 Milliarden Euro und das im Januar 2009 verab- onalität des Gesundheitssystems und der medizini- schiedete Konjunkturpaket II erreichte ein Volumen schen Versorgung“ sichergestellt ist (vgl. Bofinger et von rund 50 Milliarden Euro (vgl. Barabas, Döhrn und al. 2020, S. 261), können bestehende Beschränkun- Gebhardt 2011). gen im gesellschaftlichen Leben gelockert werden – und das langsame Hochfahren der Produktion kann Ob diese Maßnahmen zu einer mehr oder weniger ra- beginnen. Da die Angebotskrise nun nachlässt, ma- schen wirtschaftlichen Erholung in Deutschland führen chen nachfragesteigernde Konjunkturprogramme zu können, hängt auch davon ab, wie schnell die Weltwirt- diesem Zeitpunkt Sinn. schaft und in ihrem Kontext vor allem die europäi- sche Wirtschaft wieder auf die Beine kommen. Für die Wegen des bereits erreichten niedrigen Zinsniveaus größte Volkswirtschaft der EU hängt die ökonomische und der Schwere der wirtschaftlichen Schäden wer- Entwicklung auch von den Umsatzerlösen ab, die deut- den die erforderlichen staatlichen Konjunkturpa- sche Unternehmen im europäischen Ausland erzielen kete weltweit wesentlich größer ausfallen als nach können. Daher ist auch die Wirksamkeit der konjunk- der Lehman-Pleite. Das verdeutlicht bereits der Blick turpolitischen Maßnahmen der EU eine Voraussetzung auf die bis Ende April 2020 in Deutschland beschlos- für die wirtschaftliche Regeneration Deutschlands. senen staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Die damit verbundenen haushalts- wirksamen Maßnahmen belaufen sich auf gut 350 Mil- liarden Euro (vgl. BMF 2020). Anfang Juni 2020 wurde ein Konjunkturpaket im Umfang von rund 130 Milli- arden Euro für die Jahre 2020 und 2021 auf den Weg gebracht. Das vom Koalitionsausschuss beschlossene 20
Der Umstand, dass die Regierungen weltweit bereits höher aus als 2008 und 2009. Daher sind die für 2020 zum zweiten Mal seit 2008 riesige Geldsummen zur prognostizierten Finanzierungsdefizite für viele Län- Stabilisierung der Wirtschaft in die Hand nehmen der wesentlich größer als 2009. Eine Ausnahme bilden müssen, bringt die Staatsfinanzen doppelt unter drei südeuropäische Staaten – Griechenland, Portu- Druck. Zum einen haben sich die Staatsschulden in gal und Spanien –, die 2008/09 besonders stark unter den meisten Ländern noch nicht von den Rettungs- der globalen Rezession nach der Lehman-Pleite gelit- maßnahmen im Zuge der Lehman-Pleite erholt. So ist ten haben (vgl. Abb. 6 rechts). die Staatsschuldenquote – definiert als staatlicher Schuldenstand in Relation zum BIP – in vielen europä- Die Staatsschulden werden folglich wegen der er- ischen Staaten 2019 wesentlich höher als 2007 (siehe forderlichen Stützungsmaßnahmen ansteigen. Den- Abb. 6 links). Deutschland ist hier eine Ausnahme. noch sind sie unvermeidlich, da ohne sie ein dauerhaf- Zum anderen fallen die kreditfinanzierten staatlichen ter wirtschaftlicher Absturz mit erheblichen sozialen Konjunkturprogramme ebenso wie die Steuerausfälle Spannungen droht. ABBIL DUNG 6: Corona-Krise setzt Staatsfinanzen erheblich unter Druck Bruttoschuldenstand des Staates (konsolidiert) in ausgewählten Finanzierungsdefizit des Staates in ausgewählten europäischen europäischen Ländern 2007 und 2019 (Angaben in Prozent des BIP) Ländern 2009 und 2020 (Prognosewert; Angaben in Prozent des BIP) 2007 2019 2009 2020 5 10 15 180 Österreich 160 Griechenland 140 Portugal 120 100 Deutschland 80 Finnland 60 EU-27 40 Eurozone 20 Belgien Polen Polen Finnland Deutschland Österreich EU-27 Eurozone Spanien Frankreich Belgien Vereinig. Königreich Portugal Italien Griechenland Frankreich Spanien Vereinig. Königreich Italien Quelle: Eurostat (Datenabruf am 21.5.2020). 21
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft Offen ist, ob sich aus der Kombination von massiven die sogenannte zweite Welle einer Pandemie – und Wirtschaftseinbrüchen und stark steigenden Schulden ein zweiter flächendeckender Lockdown erforderlich – nicht nur bei den Regierungen, sondern auch bei den werden, könnte dies der Auslöser für massive Aktien- Unternehmen – eine Finanzmarktkrise ergibt. Stabi- und Wertpapierverkäufe sein und damit einen erneu- lisierend wirkt die Ankündigung der meisten Zentral- ten Kurseinbruch an den Börsen hervorrufen. Auch banken, Staats- und Unternehmensanleihen auf den eine Verschärfung der globalen Handelskonflikte – Wertpapiermärkten zu kaufen und damit die Finanz- allen voran dem zwischen den USA und China – kann märkte zu stärken. Damit können Kursrückgänge bei so ein Auslöser sein. Deshalb wird die Unsicherheit diesen Anleihen verhindert werden. Zudem versorgt bezüglich möglicher Finanzmarktturbulenzen infolge dieser Anleihenkauf die Wirtschaft mit Liquidität. Die einer geplatzten Spekulationsblase die Weltwirtschaft Geldpolitik flankiert so gesehen die expansive Fiskal- weiterhin begleiten. politik. Dieses Zusammenspiel von Geld- und Fiskal- politik dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass es bei den meisten Börsen nach einem massiven Kurs absturz rasch wieder aufwärtsging. So ist eine Finanz- Geld- und Fiskalpolitik stabi- marktkrise zunächst einmal vermieden worden. lisieren vorerst die Realwirt- Allerdings ist diese Geldpolitik nicht ganz ungefährlich: Sie pumpt riesige Geldmengen in das Wirtschaftssys- schaft und Finanzmärkte. tem und stellt dadurch die monetäre Basis für weitere Spekulationsblasen bereit. Sollte es zu einem erneu- ten starken Anstieg der Infektionszahlen kommen – 22
Mittel- und langfristige Auswirkungen 1.4 der Corona-Pandemie Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht beendet • Auch viele Unternehmen müssen hohe Kredite auf- und es wird voraussichtlich Jahre dauern, bis alle öko- nehmen, um trotz der coronabedingten Umsatzaus- nomischen und sozialen Schäden einigermaßen beho- fälle die nach wie vor anfallenden laufenden Kosten ben sind. Angesichts der Schwere der wirtschaftlichen finanzieren zu können. Folglich wird die Unterneh- Krise und der gewaltigen Anstrengungen zu deren Be- mensverschuldung ebenfalls stark ansteigen – vor wältigung dürfte klar sein, dass dieses einschneidende allem in personennahen Dienstleistungsbranchen. Ereignis langfristige Veränderungen für unser Wirt- Wenn ein Nachholen des während der Pandemie schaftsleben mit sich bringen wird. Diese Erwartung ausgefallenen Konsums nicht erfolgt, kann das zur besteht zwar bei jeder großen Wirtschaftskrise, aber Zahlungsunfähigkeit führen. Die Folge wäre eine In- die tatsächlichen Veränderungen halten sich meist solvenzkrise, die die Struktur der Anbieter:innen in Grenzen. Dieses Mal dürfte es jedoch wirklich an- erheblich verändern würde. So standen beispiels- ders sein: weise nach Einschätzung des Deutschen Reisever- bands (DRV ) Anfang Mai zwei Drittel aller Unter- • Die großen finanziellen Mittel, die die meisten Staa- nehmen in der deutschen Reisebranche vor einem ten zur Stabilisierung der Wirtschaft und zur sozia- Insolvenzantrag (vgl. DRV 2020). Neben den damit len Abfederung der Einkommensverluste aufwen- verbundenen Arbeitsmarktproblemen stellt sich den müssen, führen zu einem erheblichen Anstieg auch die Frage, wer dann die nach wie vor existie- der staatlichen Verschuldung. Perspektivisch neh- renden physischen Produktionskapazitäten über- men die finanziellen Handlungsspielräume der nimmt. Sollte es in bestimmten Branchen zu einer Politik damit ab. So ist etwa die langfristige Finan- marktbeherrschenden Stellung einzelner Anbie- zierbarkeit von gesellschaftlich zentralen Investiti- ter:innen kommen, sind die Kartellbehörden ge- onen, z. B. zur digitalen, sozialen und ökologischen fordert. Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, fortan deutlich eingeschränkt. Das kann die poli- • Auch für Unternehmen, die diese wirtschaftliche tische Handlungsfähigkeit enorm beeinträchti- Schwächephase kreditfinanziert überstehen, erge- gen. Für alternde Gesellschaften wie Deutschland ben sich Herausforderungen. Eine wachsende Ver- stellt sich die Frage, wie die sozialen Sicherungs- schuldung in Kombination mit pandemiebedingten systeme demografiefest gestaltet werden können, Umsatzeinbußen und entsprechenden Verlusten noch drängender als ohnehin schon. macht es zunehmend schwierig, Forschungs- und Entwicklungsausgaben sowie Investitionen zu fi- nanzieren, die für den Einsatz moderner Technolo- gien jedoch erforderlich sind. Ohne diese Investiti- onen droht dem Wirtschaftsstandort Deutschland der Verlust wichtiger Innovationskraft. Damit gerät 23
1 Pandenomics – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft die internationale Wettbewerbsfähigkeit zuneh- stiegen diese Emissionen 2010 um fast sechs Pro- mend unter Druck – vor allem im Vergleich zu Volks- zent – „die krisenbedingten Einsparungen wurden wirtschaften, die ihre Unternehmen mit Subventio- zunichtegemacht“ (Gschnaller, Lippelt und Pittel nen und anderen staatlichen Instrumenten fördern. 2020, S. 74). Nach der Corona-Pandemie könnte Damit nehmen auch die im Megatrend-Report #01 eine solche vollständige Kompensation aus mehre- beschriebenen sozialen Spannungen zu, die im Fall ren Gründen ausbleiben: Anders als 2008/09 trifft einer nachlassenden internationalen Wettbewerbs- die aktuelle Rezession zahlreiche Dienstleistungs- fähigkeit drohen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2019a, bereiche wesentlich stärker. Vor allem die Berei- S. 51). che Gastronomie, Tourismus und Teile der Kultur- und Kreativwirtschaft (Theater, Konzerte, Messen • Neben den bisher genannten eher negativen Ver- und andere Veranstaltungen) leiden in erheblichem änderungen sind aber auch positive Entwicklun- Maße unter Kontakt- bzw. Versammlungsverboten gen möglich. Der weltweite Einbruch von Produk- und Reisebeschränkungen (vgl. Ehrentraut, Koch tions- und Reiseaktivitäten hat den Energie- und und Wankmüller 2020, S. 3 f.). In diesen Bereichen Ressourcenverbrauch sowie die damit verbun- ist zu erwarten, dass während der Pandemie aus- denen Treibhausgasemissionen erheblich redu- gefallene Konsumaktivitäten nicht – oder nur teil- ziert. Dies geschah auch während der Weltwirt- weise – nachgeholt werden. Hinzu kommt der ver- schaftskrise 2008/09. Das weltweite Volumen der stärkte Einsatz des Homeoffice, den es nach der CO2-Emissionen ging 2009 um rund 1,4 Prozent Lehman-Pleite nicht gab. Das wochenlange Arbei- zurück. Mit der raschen wirtschaftlichen Erholung ten vieler Menschen von zu Hause aus hat das Ver- kehrsaufkommen erheblich reduziert. Der damit eingesparte Energieverbrauch wird jedoch nach der Eindämmung der Pandemie nicht nachgeholt. Denkbar ist schließlich auch, dass die Reiseaktivi- täten von Wirtschaft, Verwaltung und Politik auch nach dem Ende der Pandemie auf einem niedrigen Niveau bleiben, weil sich zahlreiche Unternehmen, Behörden und Organisationen an Online-Meetings 24
und Videokonferenzen gewöhnt haben und diese vestitionen fehlen oder weil Zukunftsinvestitionen Formen des Austauschs aus Kostengründen wei- wegen der hohen Unsicherheit im Hinblick auf die terhin bevorzugen. Auch das Homeoffice könnte zukünftige wirtschaftliche Entwicklung nicht ge- für viele Unternehmen und Beschäftigte mehr und tätigt werden (vgl. ausführlicher Bertelsmann Stif- mehr zum Normalfall werden, wodurch sich das Ver- tung 2020). kehrsaufkommen zusätzlich reduzieren würde. Ein weiterer Schub für die ökologische Nachhaltigkeit Aus Sicht der Megatrends spielen zwei weitere von uns kann sich ergeben, wenn die Regierungen bei der erwartete Entwicklungen eine besondere Rolle: eine Ausgestaltung der Konjunkturpakete, die zur An- durch die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigte kurbelung der Wirtschaft geschnürt werden, ver- Digitalisierung der Wirtschaft sowie eine Verkürzung stärkt Maßnahmen zur ökologischen Transforma- der globalen Wertschöpfungsketten. tion von Wirtschaft und Gesellschaft finanzieren. Konkrete Maßnahmen sind u. a. Investitionen in die Sanierung und Dämmung von Häusern, der Ausbau erneuerbarer Energien, die Umstellung auf Elektro- fahrzeuge und die Förderung des zirkulären Wirt- Corona-Pandemie be schaftens (vgl. Fischedick und Schneidewind 2020, S. 8 f.). Gleichzeitig ist allerdings zu berücksichtigen, schleunigt Digitalisierung dass der Wirtschaftseinbruch auch eine Bremse für die ökologische Transformation der Wirtschaft und Strukturwandel, bremst sein kann, u. a. weil den Unternehmen die finanziel- len Mittel zur Durchführung der erforderlichen In- aber auch die ökonomische Globalisierung. 25
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