Die Post-Covid-19-Wirtschaft: Welche unerwarteten Spuren hinterlässt die Krise in Branchen, Regionen und Strukturen? - ifo Institut
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ZUR DISKUSSION GESTELLT Die Post-Covid-19-Wirtschaft: Welche unerwarteten Spuren hinterlässt die Krise in Branchen, Regionen und Strukturen? Die Coronakrise und der anhaltende Lockdown dürften die Struktur der deutschen Wirtschaft zumindest in einigen Bereichen nachhaltig verändern. Die Arbeits organisation hat sich in Richtung Homeoffice verschoben, und der Online-Handel weist hohe Wachstumsraten auf, während der stationäre Fachhandel unter starken Einbußen leidet. Auch bei kundennahen Dienstleistungen wie in der Gastronomie, im Tourismus und im Kultur- und Freizeitbereich sind die Einbrüche im Lockdown mas- siv. Sind, je länger der Lockdown und die Beeinträchtigungen andauern, nachhal- tige Strukturschäden für die Wirtschaft zu erwarten? Welche Folgen zeigen sich auf dem Arbeitsmarkt? Werden sich regionale Disparitäten in Deutschland verstärken? Klaus-Heiner Röhl Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Strukturwandel – zwischen Zombiefirmen, Investitionslücken und Digitalisierungsschub Die Corona-Pandemie verläuft in mehreren Wellen, und und der Gastronomie sind existenziell bedroht, zumal ein Ende ist trotz laufender Impfungen auch nach ei- versprochene staatliche »Sofort«-Hilfen nur zögerlich nem Jahr nicht absehbar. Der Lockdown konsumnaher fließen und das Unternehmereinkommen von Selb- Wirtschaftsbereiche und Verschiebungen der Nachfrage ständigen und Freiberuflern nicht abdecken. Wenig etwa in Richtung Onlinehandel könnten den Struktur- Klarheit herrscht derzeit darüber, ob die Coronakrise wandel beschleunigen, aber auch zu Strukturbrüchen zu langfristigen strukturellen Verwerfungen führen führen. Als Bremse im Aufschwung kann neben einer wird oder ob sich die Branchen- und Regionalstruk- »Zombifizierung« mancher Branchen die anhaltende turen mit Überwindung der Pandemie und Erholung Investitionsschwäche wirken, die die Verbreitung um- der Wirtschaft nur wenig verändern werden. weltfreundlicher und digitaler Technologien – die prin- zipiell durch die Kontaktbeschränkungen einen Boom ZÖGERLICHE ERHOLUNG erleben – ausbremst. In räumlicher Hinsicht könnte der starke Urbanisierungstrend in Deutschland auslaufen Wirtschaftliche Prognosen und Unternehmensbefra- und einer gleichgewichtigeren regionalen Entwicklung gungen lassen derzeit keine schnelle Platz machen. Erholung zum Vorkrisenniveau er war ten. Die Bundesregie- Die Auswirkungen der Pandemie auf Wirtschaft und rung rechnet für 2021 vor dem Gesellschaft lassen sich als ein Wechselbad der Ge- Hintergrund des verlängerten fühle beschreiben. Nachdem der Einbruch 2020 mit Lockdowns nur noch mit ei- einem BIP-Rückgang von ca. 5% moderater als be- nem Wachstum von 3% (BMWi Dr. Klaus-Heiner Röhl fürchtet ausfiel, scheint nun die vielfach für 2021 pro- 2021), das Vorkrisenniveau dürfte gnostizierte zügige Erholung später und langsamer zu frühestens Ende 2022 wieder er- ist Senior Economist im Kompe- erfolgen. Die Impfung der Bevölkerung kommt nur reicht sein. In der IW-Konjunktur tenzfeld »Digitalisierung, Struk- turwandel und Wettbewerb« schleppend voran, und ansteckendere Virusmuta- umfrage wurden die Unternehmen am Institut der deutschen Wirt- tionen erzwingen einen längeren Lockdown. Viele im November 2020 zu ihren aktu- schaft, Büro Berlin. Unternehmen in den persönlichen Dienstleistungen ellen und erwarteten Produktions-, ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 3
ZUR DISKUSSION GESTELLT Beschäftigungs- und Investitionslücken befragt. Eine finanzielle Situation der Unternehmen zu stabilisieren, zügige Erholung könnte strukturelle Verwerfungen wäre eine deutliche Ausweitung der Verlustrücktrags- und eine starke Zunahme der Insolvenzen verhindern. möglichkeiten, wie sie von vielen Ökonomen gefor- Die Unternehmen erwarteten jedoch im Durchschnitt dert wird (Bofinger und Hüther 2020; Fuest 2020; Hey nicht nur für das erste Quartal 2021 wieder anstei- 2020). Durch eine Anhebung der derzeit auf 5 Mio. Euro gende Lücken, sondern zur Hälfte auch 2022 noch (vor Corona: 1 Mio. Euro) gedeckelten Obergrenze, Produktionseinschränkungen im Vergleich zum Vor- eine Einbeziehung der Gewerbesteuer und eine zeit- krisenniveau (Bardt und Grömling 2021, S. 31). Ein liche Ausdehnung auf das Jahr 2018 könnten auch Drittel der Unternehmen befürchtet dabei 2022 noch größere Mittelständler profitieren. Hier sperrte sich immer ein Produktionsdefizit von mehr als 5%. An- die Bundesregierung bislang trotz der zu erwartenden gesichts des erneuten Lockdowns waren die Firmen Stabilisierung der Unternehmen und positiven Investi- zum Befragungszeitpunkt im November 2020 sogar tionswirkungen, die für eine nachhaltige gesamtwirt- pessimistischer als im ersten Halbjahr. Am wenigsten schaftliche Erholung wichtig wären. Anfang Februar zuversichtlich sind die Hersteller von Investitionsgü- wurde eine Verdoppelung auf immerhin 10 Mio. Euro tern; 58% von ihnen sehen auch im kommenden Jahr beschlossen, was für große Mittelständler aber wei- noch Beeinträchtigungen (Bardt und Grömling 2021, terhin nicht ausreicht. S. 32). Dies hängt mit der anhaltenden Investitionszu- rückhaltung in der Wirtschaft zusammen, die sich in DROHT EINE ZOMBIFIZIERUNG VON TEILEN DER den geschätzten Investitionslücken der Unternehmen WIRTSCHAFT? niederschlägt: Im November 2020 lag der Rückstand im Vergleich zu 2019 bei den befragten Unternehmen Je länger der Lockdown und die Beeinträchtigun- im Durchschnitt bei 13%, für 2022 wird immer noch gen andauern, desto eher sind nachhaltige Struktur- von einer Lücke in Höhe von 6% ausgegangen. schäden für die Wirtschaft zu erwarten. Bardt und Hüther (2021) heben die asymmetrische Wirkung auf INVESTITIONSAUSFÄLLE BESONDERS die Wirtschaftsbranchen hervor, die für viele Firmen PROBLEMATISCH in konsumnahen Branchen zur Existenzbedrohung werden kann. Befürchtet wird angesichts der anhal- Die Investitionszurückhaltung der Unternehmen ist tenden Pandemie und des Lockdowns vieler Branchen aus Unternehmenssicht nachvollziehbar, »hat aber mit Publikumsverkehr auch eine »Zombifizierung«- für die Gesamtwirtschaft mittelfristig schwere Fol- der deutschen Wirtschaft, zumal die Zahl der Unter- gen, weil so der Rückstau bei wichtigen strukturellen nehmensinsolvenzen 2020 trotz der Krise deutlich – Themen wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit immer voraussichtlich um 13% – gesunken ist. Angesichts größer wird« (Köhler-Geib 2021). 2020 gingen die Un- der Schwere des Einbruchs wäre jedoch eher eine ternehmensinvestitionen demnach um 6,6% zurück, Zunahme um mindestens 15% zu erwarten gewesen die Ausrüstungsinvestitionen sanken sogar um 12,5% (Röhl und Vogt 2020). (Destatis 2021). Zum Rückgang der Insolvenzzahlen dürften die Die Investitionsschwäche könnte sich daher zur Maßnahmen der Bundesregierung – die Aussetzung Achillesferse des Nach-Corona-Aufschwungs entwi- der Insolvenzantragspflicht von April bis Septem- ckeln und durch dann fehlende effizientere sowie digi- ber und darüber hinaus für den Insolvenzgrund der tal vernetze Maschinen und Anlagen auch die Struktur Überschuldung sowie die umfangreichen Kredit- und der deutschen Wirtschaft schädigen. Die investive Zu- Finanzhilfen für Unternehmen – beigetragen haben. rückhaltung scheint zudem im Widerspruch zur poli- Das Ausscheiden von Unternehmen ist aber für einen tisch gewünschten grundlegenden Umgestaltung der funktionierenden Strukturwandel wichtig, weshalb Wirtschaft hin zu umweltfreundlichen Technologien der Staat grundsätzlich nicht als Retter schlecht wirt- mit weniger Ressourcenverbrach und CO2-Ausstoß schaftender Unternehmen auftreten sollte (Röhl 2020). zu stehen. Unternehmen, denen in der Coronakrise Der Trend zum Onlinehandel war z. B. schon vor der die Nachfrage weggebrochen ist und die Verluste pandemiebedingten Beschleunigung in vollem Gange, schreiben, sind durch politische Zielvorgaben aller- so dass Kaufhäuser und Shopping Malls unter Druck dings kaum zu höheren Investitionen zu bewegen. gerieten. Auch die bis Ende 2021 befristete degressive Sonder- 2021 ist ein Nachholeffekt bei den Firmenin- abschreibung für neue Maschinen und Anlagen (BMF solvenzen zu erwarten, dessen Umfang jedoch nur 2020) scheint ins Leere zu laufen. Wenig hilfreich ist schwer absehbar ist. Aus der Lücke zwischen den auf- in diesem Zusammenhang, dass die Hilfen der Bun- grund des Wirtschaftseinbruchs zu erwartenden Insol- desregierung nur sehr schleppend ausgezahlt werden. venzen 2020 (s.o.) und des tatsächlichen Rückgangs Weitere Kredithilfen sind angesichts der gestiegenen auf nur ca. 16 300 Fälle (Creditreform 2021) lässt sich Verschuldung vieler Unternehmen seit Beginn der eine Differenz von gut 5 000 nicht realisierten Insol- Coronakrise vor nunmehr einem Jahr nicht zielfüh- venzen berechnen. Eine mögliche Erklärung ist, dass rend, während höhere Direktzahlungen EU-beihilfe- es sich hierbei um sogenannte Zombieunternehmen rechtlich problematisch sind. Der wirksamste Weg, die handelt, die wirtschaftlich nicht dauerhaft überle- 4 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT bensfähig sind (Röhl 2020). Aus diversen Unterneh- Bereich Wohnen als dauerhaft zu bezeichnen. Etwa mensbefragungen lässt sich eine hohe Gefährdung seit dem Jahr 2000 ließ sich in Deutschland ein kräf- der Unternehmensstrukturen durch die Covid-19-Pan- tiger Urbanisierungstrend beobachten (Röhl 2018), der demie ableiten. So gab in einer Befragung des DIHK zur Verknappung von Wohnraum und zu Mietpreis jedes zehnte Unternehmen an, dass es existenziell anstiegen in den Ballungen und Großstädten beige- gefährdet sei, hochgerechnet wären dies 350 000. Das tragen hat. Bezogen auf die Binnenwanderung setzte ifo Institut (2020) sieht sogar gut jedes fünfte Unter- aber schon vor etwa sechs Jahren ein gegenläufiger nehmen (750 000) bedroht, während Creditreform mit Trend einer erneuten Suburbanisierung ein (Henger 550 000 und für 2021 mit bis zu 800 000 Unternehmen und Oberst 2019), der sich mit den Auswirkungen der rechnet (Dierig et al. 2020). Die überschaubare Anzahl Pandemie nun auch auf stadtfernere Gebiete zu rich- von nur 4 500 bis 5 000 »Zombies« in den IW-Berech- ten scheint. Hierzu beitragen könnte eine reduzierte nungen im Vergleich zur hohen Anzahl insolvenzge- Belastung durch weite Pendelstrecken infolge der fährdeter Unternehmen, die sich aus umfragebasierten dauerhaften Etablierung des Homeoffice als akzep- Hochrechnungen ergibt, kann auf mehrere Gründe tierte Arbeitsform und – endlich – Fortschritte bei zurückgeführt werden. So durchlaufen nur wenige der Anbindung ländlicher Räume ans schnelle Inter- sehr kleine Unternehmen in Gastronomie und Handel net sowie eine bessere Mobilfunkversorgung (BMVI als aktuell hauptgefährdeten Bereichen ein Insolvenz 2020). Sollte sich der neue, bislang eher zaghafte verfahren, die meisten von ihnen stellen einfach den Trend zur ländlichen Wohnortwahl als dauerhaft er- Betrieb ein. Zudem ist bei Umfragen in einer Pande- weisen, könnte nicht nur der demografische Wandel miesituation auch eine gewisse Übertreibung im Ant- mit einer Entleerung und Überalterung vieler ländli- wortverhalten einzukalkulieren, nicht alle Unterneh- cher Räume (Hüther et al. 2019) gebremst, sondern men, die sich als gefährdet bezeichnen, dürften akut auch der Wohnraummangel in den Kernstädten ge- insolvenzbedroht sein. mildert werden. Trotzdem könnte allein bei einer Realisierung der Insolvenz im Falle dieser rechnerisch 5 000 Zombie LITERATUR unternehmen die Insolvenzzahl 2021 um über 40% Bardt, H. und M. Grömling (2021), »Kein schnelles Ende der Corona- auf etwa 23 250 ansteigen, worunter sich auch eine Krise«, IW-Trends 48(1), 23–39. Reihe größerer Insolvenzfälle befinden dürften. Auch BMF – Bundesministerium der Finanzen (2020), »Umsetzung des Konjunkturpakets – Mit Zuversicht und voller Kraft aus der Krise«, wenn darüber hinaus voraussichtlich nicht mehrere Pressemitteilung, 12. Juni, verfügbar unter: https://www. 100 000 Kleinbetriebe ihr Geschäft dauerhaft einstel- bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/ Finanzpolitik/2020/06/2020-06-12-Umsetzung-Konjunkturpaket.html, len werden, sind gerade die Innenstädte mit ihren aufgerufen am 2. Februar .2021. vielfältigen Kultur-, Geschäfts- und Gastronomiean- BMVI – Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2020), geboten von starken Strukturveränderungen bedroht. »Die Altmark startet ins Gigabit-Zeitalter. Bund fördert Breitbandausbau mit 135 Millionen Euro«, Pressemitteilung, 6. Juli, verfügbar unter: https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2020/027- RÄUMLICHE STRUKTURVERÄNDERUNGEN altmark-startet-ins-gigabit-zeitalter.html, aufgerufen am 29. Januar 2021. BMWi – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2021), »Jahres- projektion 2021«, verfügbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/ In Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen dürfte DE/Artikel/Wirtschaft/Projektionen-der-Bundesregierung/ der Anblick zugeklebter Fensterfronten dauerhaft projektionen-der-bundesregierung-jahresprojektion-2021.html, aufgerufen am 27. Januar 2021. geschlossener Ladengeschäfte, der bislang eher Bofinger, P. und M. Hüther (2020), »Her mit der Negativ-Steuer für den schrumpfenden Kleinstädten und wirtschaftsschwa- Mittelstand«, Welt, 27. März, verfügbar unter: https://www.welt.de/ chen Stadtvierteln vorbehalten war, bald zur Regel wirtschaft/article206818235/Peter-Bofinger-und-Michael-Huether-So- laesst-sich-der-Mittelstand-retten.html, aufgerufen am 29. Januar 2021. werden. Auch der Büroflächenbedarf könnte sinken, Creditreform (2021), »Gefährdung nimmt zu – Insolvenzen nehmen ab«, wenn die wirtschaftliche Erholung nur schwach aus- Risikomanagement Newsletter, 13. Januar, verfügbar unter: https:// fällt und sich das Homeoffice zumindest in manchen www.creditreform.de/aktuelles-wissen/pressemeldungen-fachbeitraege/ news-details/show/default-6efdcf0031, aufgerufen am 2. Februar 2021. Unternehmen oder für einen Teil der Mitarbeiter dau- Destatis (2021), »Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um 5,0 % gesun- erhaft durchsetzt. Zu bedenken ist in diesem Kontext, ken«, Pressemitteilung Nr. 20, 14. Januar. dass der kräftige Beschäftigungsaufbau der letzten Dierig, C., C. Haas und D. Zwick (2020), »Zahl der »Zombieunternehmen« Jahre, der durch die Corona-Pandemie abrupt zum droht auf 800.000 zu steigen«, Welt, 16. August. Stillstand kam, zukünftig schon aufgrund des durch Fuest, C. (2020), »Der Staat sollte beim steuerlichen Verlustrücktrag die Obergrenze erhöhen«, Handelsblatt, 25. Oktober, verfügbar unter: den demografischen Wandel verursachten Rückgangs https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar- des Erwerbspersonenpotenzials nicht mehr möglich clemens-fuest-der-staat-sollte-beim-steuerlichen-verlustruecktrag- die-obergrenze-erhoehen/26306200.html?ticket=ST-2200017- ist. Dies dürfte auch die innerstädtischen Immobili- GUi4C7WKTYT4nd56VTyD-ap2, aufgerufen am 1. Februar 2021. enmärkte nicht unberührt lassen, während insgesamt Henger, R. und C. Oberst (2019), »Immer mehr Menschen verlassen die kein Corona-bedingter Einbruch der Immobilienpreise Großstädte wegen Wohnungsknappheit«, IW-Kurzbericht 20/2019, ver- fügbar unter: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/ in Deutschland absehbar ist (Voigtländer 2020). Kurzberichte/PDF/2019/IW-Kurzbericht_2019-Wohnungsknappheit.pdf, Weitergehende raumstrukturelle Veränderun- aufgerufen am 28. Januar 2021. gen infolge der Coronakrise sind möglich, obwohl es Hey, J. (2020), Stellungnahme zum Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Corona-Steuerhilfegesetz (BT-Drucks. 19/19150), dem Antrag noch zu früh ist, um den in der Pandemie erkennbaren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Verbesserte Verlustverrechnung (BT- Trend zu stadtferneren Standorten zumindest für den ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 5
ZUR DISKUSSION GESTELLT Drucks. 19/19134) sowie den Anträgen BT-Drucks. 19/1872 u. 19/19164 Röhl, K.-H. (2020), »Droht eine Zombiefizierung der deutschen Wirt- der AFD-Fraktion, verfügbar unter: https://www.bundestag.de/resource/ schaft?«, IW-Kurzbericht Nr. 130, verfügbar unter: https://www.iwkoeln. blob/697504/4eebd50ec9aac0205895f431ba482bc9/12-Hey-data.pdf, auf- de/fileadmin/user_upload/Studien/Kurzberichte/PDF/2020/IW- gerufen am 2. Februar 2021. Kurzbericht_2020_Zombiefizierung.pdf, aufgerufen am 28. Januar 2021. Hüther, M., J. Südekum und M. Voigtländer (2019), Die Zukunft der Re- Röhl, K.-H. und G. Vogt (2020), »Unternehmensinsolvenzen: Corona-Krise gionen in Deutschland: Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit, IW-Studie, verstört«, Wirtschaftsdienst 100(5), 384–387. Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Voigtländer, M. (2020), »Mit Zuversicht ins neue Jahr«, IW-Kurzbericht Nr. ifo Institut (2020), »Ein Fünftel der deutschen Firmen hält sich für ge- 127, verfügbar unter: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/ fährdet«, Pressemitteilung, 6. Juli. beitrag/michael-voigtlaender-mit-zuversicht-ins-neue-jahr-495154.html, aufgerufen am 1. Februar 2021. Köhler-Geib, F. (2021), »Kommentar zu KfW-Ifo Kredithürde Januar 2021«, 28. Januar. Röhl, K.-H. (2018), »Regionale Konvergenz: Der ländliche Raum schlägt sich gut«, Wirtschaftsdienst 98(6), 433–438. Joachim Ragnitz Langfristige regionalwirtschaftliche Auswirkungen der Coronakrise Die Corona-Pandemie hat Deutschland im Früh- REGIONALE PANDEMIEWIRKUNGEN HÄNGEN jahr 2020 in eine zwar kurze, aber äußerst heftige PRIMÄR VON DER WIRTSCHAFTSSTRUKTUR AB Rezession gestürzt. Auch wenn seit den Sommermonaten eine Er Regional differenzierte Effekte könnten sich zunächst holung einsetzte und aktuelle durch das regional unterschiedliche Infektionsgesche- Prognosen davon ausgehen, hen ergeben. Allerdings ist dies wenig wahrscheinlich: dass trotz des erneuten Lock- Zwar gibt es deutliche Unterschiede zwischen den downs für weite Teile der Wirt- einzelnen Regionen Deutschlands mit Blick auf die schaft das Vorkrisenniveau beim Zahl der Infektionen durch das Coronavirus, aber die Prof. Dr. Joachim Ragnitz Bruttoinlandsprodukt spätestens daraus resultierenden krankheitsbedingten Produkti- ist stellvertretender Leiter der im Jahr 2022 wieder erreicht sein onsausfälle sind zeitlich eng begrenzt und dürften des- ifo Niederlassung Dresden und wird, sind bleibende Schäden halb die längerfristige Entwicklung der Unternehmen Honorarprofessor an der Techni- schen Universität Dresden. nicht auszuschließen – so ins- kaum beeinflussen. Dies gilt auch für die durch die besondere dann, wenn es in der Pandemie ausgelösten Todesfälle, da sich diese auf die Breite zu Unternehmensschließun- höheren Altersgruppen konzentrieren, die nicht mehr gen käme oder eine »dritte Welle« erneut restriktive im Erwerbsleben stehen (Ragnitz 2021). Zudem waren Maßnahmen notwendig machen würde. Auch wenn auch die von der Politik beschlossenen Restriktionen dies alles heute noch nicht im Detail absehbar ist, (wie Geschäftsschließungen oder Kontaktbeschrän- steht die Gefahr im Raum, dass es damit auch zu ei- kungen) bislang regional kaum unterschiedlich und ner neuerlichen Verschärfung regionaler Disparitäten trafen die einzelnen Regionen daher in gleicher Weise. kommen könnte, die dem politischen Ziel der »Gleich- Auch dies spricht gegen direkte Auswirkungen des wertigkeit der Lebensverhältnisse« zuwiderlaufen regionalen Infektionsgeschehens auf die wirtschaft- würde. liche Entwicklung. Bereits in einem früheren Beitrag des Autors Entscheidende Transmissionskanäle für mög- wurde auf das Risiko negativer angebotsseitige Ef- licherweise regional divergierende wirtschaftliche fekte der Corona-Pandemie hingewiesen, so insbe- Entwicklungen sind daher regional unterschiedliche sondere auf eine Abschwächung des Wachstums des Wirtschaftsstrukturen und/oder eine unterschiedliche Produktionspotenzials und eine Beschleunigung des Widerstandskraft (»Resilienz«) einzelner Regionen. Es strukturellen Wandels (Ragnitz 2020). Hier soll es stellt sich die Frage, wie die Corona-Pandemie bzw. hingegen vor allem um mögliche Auswirkungen der die zu ihrer Eindämmung beschlossenen Maßnahmen Pandemie auf die regionalwirtschaftliche Entwick- die einzelnen Branchen beeinflusst haben. lung gehen. Ungeachtet der aktuellen Herausforde- rungen zur Bekämpfung der unmittelbaren Krisenfol- Industrie: Starker Einbruch im Frühjahr, Erholung gen ist dies insbesondere mit Blick auf die regionale im Frühsommer Wirtschaftspolitik von Relevanz, die einerseits von Bund und Ländern gemeinsam sowie andererseits In der ersten Coronawelle im Frühjahr 2020 war vor von Ländern und Kommunen jeweils getrennt ge- allem die Industrie stark negativ betroffen. Dies lag tragen wird. weniger an den Corona-bedingten Einschränkungen in 6 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT Deutschland selbst als vielmehr an der Beeinträchti- zwar keine präjudizierende Wirkung für die künftige gung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs und Entwicklung in den einzelnen Sektoren, zeigt aber, der einsetzenden Rezession in wichtigen Außenhan- dass auch eine globale Industriekrise nicht notwen- delspartnerländern. So brachen die deutschen Waren- digerweise in allen Bereichen gleichermaßen durch- ausfuhren im März und April 2020 zusammengenom- schlägt und dass darüber hinaus auch andere, eher men um beinahe 33% gegenüber dem Vorkrisenniveau längerfristig wirkende Trends des Strukturwandels ein (Statistisches Bundesamt 2021a); die Industrie- eine Veränderung der industriellen Strukturen in produktion schrumpfte infolgedessen um knapp 25% Deutschland und seinen Regionen bewirken können. (Statistisches Bundesamt 2021b). Die Corona-Pandemie mag diesen Strukturwandel Die industrielle Rezession war aber nicht von beschleunigt haben; Auslöser dessen war sie jedoch Dauer. Bereits ab Mai 2020 erholten sich Exporte nicht.2 und Produktion wieder, so dass zum Jahresende das Eng mit der Industrie verknüpft sind Branchen Vorkrisenniveau schon fast wieder erreicht wurde: wie der Großhandel, das Logistikgewerbe oder auch Im Dezember waren 85% des anfänglichen Verlusts zahlreiche unternehmensnahen Dienstleistungsbe- aufgeholt,1 und aktuelle Konjunkturprognosen gehen reiche. Dementsprechend ähnelt das Verlaufsbild davon aus, dass auch im Jahr 2021 die Industrie weiter der Konjunktur im Jahr 2020 hier dem in den in- überproportional wachsen wird – dies auch deshalb, dustriellen Bereichen: Starke Umsatzeinbußen im weil die neuerlichen Corona-bedingten Beschränkun- Frühjahr, aber eine nahezu ebenso starke Erholung gen in Deutschland und im Ausland bislang nicht dazu seit dem Frühsommer. Vereinzelt dürften diese Be- geführt haben, dass grenzüberschreitende Lieferket- reiche von der Pandemiesituation sogar noch pro- ten erneut zusammengebrochen sind. fitiert haben, so z.B. durch vermehrte Online-Käufe Zudem dürfte es im Laufe des Jahres zu Nach- der privaten Haushalte, durch die Digitalisierung von holeffekten beim bislang zurückgestauten Konsum Prozessen oder durch einen verstärkten Beratungs- kommen, wenn Einzelhandelsgeschäfte wieder öff- bedarf von Unternehmen. Derartige positive Sonder- nen dürfen. Auch wenn ein großer Teil der in Deutsch- konjunkturen dürften allerdings ebenfalls nicht von land nachgefragten Konsumgüter aus ausländischer Dauer sein. Produktion stammt, dürften hiervon auch heimische Stark negativ betroffen durch die Coronakrise Industrieunternehmen profitieren. Gleiches gilt zumin- waren und sind demgegenüber Branchen, die in be- dest mittelfristig auch für die Investitionsgüternach- sonderer Weise unter den von der Politik erlassenen frage, denn auch wenn die Krise und ihre Nachwirkun- Kontaktbeschränkungen leiden, also der stationäre gen die Neigung zur Ausweitung der Produktionskapa- Einzelhandel, Hotel- und Gastgewerbe, Kunst und zitäten verringert haben und wohl auch auf mittlere Unterhaltung sowie eine Reihe sozialer und persön- Sicht weiter dämpfen werden, dürfte der Bedarf an licher Dienstleistungen wie Friseure oder Kosmetik- Ersatzinvestitionen für ausgesonderte Anlagegüter studios. Anders als es die öffentliche Wahrnehmung künftig eher steigen und damit die Produktion von nahelegt, handelt es sich hierbei auch durchaus um Investitionsgütern anregen. Insoweit ist wohl nicht zu bedeutsame Wirtschaftszweige: So liegt die Zahl befürchten, dass die Industrie als Ganzes in Deutsch- der im »klassischen« stationären Einzelhandel (ohne land dauerhaften Schaden nimmt. Kfz-Handel) tätigen Personen bei immerhin 3,3 Milli- onen, im Hotel- und Gastronomiegewerbe bei 2,4 Mil- Unterschiedliche Erholungsgeschwindigkeit und lionen, in den Bereichen Kunst und Kultur bei rund -intensität 1,3 Millionen und in den besonders betroffenen Teilen des sozialen Dienstleistungsgewerbes (z.B. Friseur- Innerhalb der Industrie gibt es aber derzeit durch- und Kosmetikstudios; Betriebe des Fitnessbereichs; aus noch erhebliche Unterschiede in der Erholungs- Saunas und Solarien) bei wenigstens 0,3 Millionen.3 geschwindigkeit und -intensität. So liegt derzeit bei- Hieran wird deutlich, dass diese Bereiche in Summe spielsweise die Produktion im Maschinenbau noch ähnlich groß sind wie die Industrie im engeren Sinne weit unter dem Vorkrisenniveau. Auch die Automobil- (7,6 Millionen Erwerbstätige). Dass einzelne Indus- produktion ist noch nicht so recht in Gang gekommen, triebranchen (wie der Fahrzeug- oder der Maschi- was hier aber eher mit den schon vor der Coronakrise nenbau mit jeweils rund 1 Million Erwerbstätigen) bestehenden Anpassungsnotwendigkeiten infolge des in Öffentlichkeit und Politik eine weitaus höhere Be- politisch forcierten Übergangs zur Elektromobilität zu achtung finden, scheint somit weniger auf deren Be- tun haben dürfte. Umgekehrt sind zahlreiche konsum- deutung für die Beschäftigung als vielmehr auf ihre nahe Branchen und insbesondere die Vorleistungsgü- Rolle für die internationale Sichtbarkeit und die Leis- terindustrie (darunter vor allem die chemische und tungsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland pharmazeutische Industrie) bislang vergleichsweise zurückzuführen zu sein. gut durch die Krise gekommen. Dies alles entwickelt 2 Für regionale Wirtschaftspolitik ist es freilich letzten Endes unbe- 1 Dies heißt aber nicht, dass die ausgefallene Produktion nachge- deutend, wodurch regionale Anpassungsprozesse ausgelöst werden. 3 holt worden wäre; der kumulierte Produktionsausfall der Industrie Statistische Angaben hierzu liegen zum Teil nur für frühere Jahre belief sich im Gesamtjahr 2020 auf 10%. vor, so dass genaue Aussagen nicht möglich sind. ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 7
ZUR DISKUSSION GESTELLT Statistische Angaben über die wirtschaftlichen Geringer Beschäftigungsabbau Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die genann- ten Dienstleistungssektoren liegen allerdings nur ver- Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in einzelt vor: So sind die (preisbereinigten) Umsätze den von der Coronakrise betroffenen Wirtschaftszwei- im Einzelhandel im Gesamtjahr 2020 entgegen der gen ist hingegen bislang zumeist nur wenig zurückge- Intuition um immerhin 3,9% gestiegen. Dabei gibt es gangen. Die absolut größten Beschäftigungsverluste aber große Unterschiede nach Sparten: Der stationäre im Vorjahresvergleich waren bis zum November in Einzelhandel mit Textilien sowie Kaufhäuser hatten der Metall- und Elektroindustrie (– 159 000 Perso- zweistellige Umsatzeinbußen hinzunehmen, wäh- nen, – 3,5%), gefolgt vom Gastgewerbe (– 97 000 Per- rend insbesondere der Online-Handel seine Umsätze sonen, – 8,9%) und der Arbeitnehmerüberlassung um rund ein Viertel steigern konnte. Die Coronakrise (– 48 000 Personen, 6,4%). Im stark von den pande- dürfte hier jedoch eher bereits vorhandene Trends miebedingten Restriktionen betroffenen Handelssek- verstärkt haben, denn der Online-Handel hatte auch tor belief sich der Beschäftigungsrückgang demge- schon in den Jahren zuvor deutlich überdurchschnitt- genüber nur auf knapp 8 000 Personen (– 0,2%), wohl liche Zuwachsraten zu verzeichnen. Ob sich das hierin auch wegen der positiven Entwicklung im Online-Han- zum Ausdruck kommende veränderte Käuferverhal- del. Auch die »Sonstigen Dienstleistungen«, zu denen ten in den kommenden Jahren wieder zurückbildet, u.a. die betroffenen sozialen Dienstleistungen gehö- erscheint indes fraglich. Man wird also davon ausge- ren, haben in Summe nur einen verhältnismäßig ge- hen müssen, dass noch viel mehr Einzelhandelsge- ringen Beschäftigungsabbau zu verzeichnen (– 15 000, schäfte, aber auch Filialen von Handelsketten und entspricht – 1,2%). Dass der Arbeitsausfall insgesamt größere Warenhäuser in Zukunft ihren Betrieb gar aber höher ausfiel, zeigt sich an den bislang vorlie- nicht oder zumindest nicht in der bisherigen Form genden Angaben zu den geleisteten Arbeitsstunden fortführen können; aktuell sehen sich mehr als ein der Erwerbstätigen, die beispielsweise im Verarbei- Drittel aller Einzelhandelsunternehmen durch die tenden Gewerbe um 6,6%, im Bereich Handel, Verkehr Corona-bedingten Geschäftsschließungen in ihrer und Gastgewerbe um 7,4% und bei den Sonstigen Existenz gefährdet.4 Noch größere Umsatzeinbrü- Dienstleistern im Jahr 2020 um 8,5% zurückgingen. che waren im Gastgewerbe zu verzeichnen; hier la- Dies deutet darauf hin, dass insbesondere die ver- gen die (preisbereinigten) Umsätze zu den Zeiten der breitete Nutzung von Kurzarbeit den Abbau von Ar- größten Einschränkungen zum Teil um fast 90% un- beitsplätzen bislang vermieden hat.5 ter dem Vorjahresniveau. Vor allem Hotels und Gast- stätten (einschließlich Ausschank von Getränken) Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und waren hiervon betroffen, da diese sowohl während Liquiditätshilfen halten die Zahl der des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 wie auch im Unternehmensschließungen gering zweiten Lockdown seit November 2020 faktisch mit einem Tätigkeitsverbot belegt waren. Die zeitweisen Ungewiss ist, ob sich die besonders stark von der Lockerungen im Sommer haben hier nicht ausgereicht, Corona-Pandemie betroffenen Branchen so schnell die Umsatzverluste wieder aufzuholen, so dass die wieder erholen können, dass Unternehmensschlie- preisbereinigten Umsätze im Gesamtjahr 2020 um ßungen auf breiter Front vermieden werden kön- 39% niedriger ausfielen als im Vorjahr. Dies wiederum nen. Im Handel, im Gastgewerbe und bei einigen hat auch die Entwicklung in den vor- und nachgela- kulturellen und sozialen Dienstleistungen erscheint gerten Wirtschaftszweigen (wie z.B. Brauereien oder dies aus heutiger Sicht fraglich, auch wenn – nicht Wäschereien) in Mitleidenschaft gezogen. Geradezu zuletzt wegen der bislang ausgesetzten Insolvenz dramatisch ist die Situation bei den Reisebüros und antragspflicht bei Überschuldung oder Zahlungs- -veranstaltern mit einem (nominalen) Umsatzrückgang unfähigkeit und der Liquiditätshilfen für besonders von 68% gegenüber Vorjahr allein in den ersten drei stark betroffene Unternehmen – die Zahl der In- Quartalen des Jahres, bei den Messe-, Ausstellungs- solvenzen bislang nicht außergewöhnlich hoch ist. und Kongressveranstaltern (– 49%) oder der Filmbran- Dass der Staat die Schließung von Unternehmen che einschließlich Kinos (– 34%). Gleiches gilt für die mit einem grundsätzlich tragfähigen Geschäftsmo- Personenbeförderung im Luftverkehr (– 65%), in der dell verhindern will, ist dabei nicht grundsätzlich See- und Küstenschifffahrt (– 58%) oder im Eisenbahn- zu beanstanden; allerdings bergen die getroffenen verkehr (– 32%). Auch in zahlreichen haushaltsnahen Maßnahmen aufgrund ihrer Ausgestaltung das Ri- Handwerksbereichen waren kräftige Umsatzeinbußen siko, dass damit auch der notwendige Marktaustritt im Zeitraum Januar bis September 2020 hinzunehmen, nicht rentabler Unternehmen unterbunden wird. Dies um – 12% bei den Friseuren, – 18% bei den Textilrei- könnte auf längere Sicht zu Wohlstandseinbußen nigern oder – 19% bei den Fotografen. aufgrund einer suboptimalen Ressourcenallokation führen. 4 Sonderauswertung der ifo Geschäftsklimabefragungen, Februar 5 2021. Im November 2020 betrug der Anteil der Einzelhandelsunter- Dies könnte sich allerdings ändern, wenn ab 1. Juli 2021 die Ar- nehmen, die die Auswirkungen der Coronakrise als existenzgefähr- beitgeber wieder an den Sozialversicherungsbeiträgen für Arbeitneh- dend einstuften, bei lediglich 18%. mer in Kurzarbeit beteiligt sind. 8 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT Keine Anzeichen für regional unterschiedliche die betroffenen Betriebe dauerhaft schließen und Effekte auch nicht durch Neugründungen ersetzt werden. Gerade das ist aber zu bezweifeln, denn sobald sich Die Wahrscheinlichkeit von Unternehmensschließun- das Pandemiegeschehen beruhigt hat und die Men- gen wächst, je länger die gegenwärtigen Beschrän- schen wieder reisen dürfen, werden im Zweifel Ho- kungen für einzelne Branchen andauern – und für tels und gastronomische Einrichtungen an attrakti- einige Wirtschaftszweige wie die Kultur- und Veran- ven Urlaubsorten wieder neu eröffnet werden. Ob staltungsbranche oder das Tourismus- und Reisege- es die gleichen Eigentümer sein werden und ob in werbe ist zu befürchten, dass Lockerungen erst dann den Krisenjahren entlassene Beschäftigte dort wie- vorgenommen werden, wenn aufgrund erfolgreicher der einen neuen Arbeitsplatz finden werden, ist zwar Impfungen eine Herdenimmunität erreicht ist, also nicht ausgemacht; dennoch sollte dies dazu führen, frühestens ab Herbst 2021. Zu einer Verschärfung dass die Wirtschaftskraft in den betroffenen Regi- der regionalen Unterschiede in der Wirtschaftskraft onen nicht dauerhaft niedriger ausfallen wird, als würde dies jedoch nur dann führen, wenn sich Un- es vor der Pandemie der Fall war. In anderen Berei- ternehmensschließungen auf strukturschwächere Re- chen wie Messe- und Veranstaltungswirtschaft mag gionen konzentrieren würden. Wenig Anhaltspunkte dies anders sein; diese sind aber gemeinhin nicht in hierfür gibt es mit Blick auf den Handel, da dieser den strukturschwächeren Regionen angesiedelt. In- sich eher gleichmäßig auf die einzelnen Regionen soweit ist mit einer Corona-bedingten Verschärfung Deutschlands verteilt. In den Kreisfreien Großstäd- regionaler Disparitäten auf lange Sicht wohl nicht zu ten beträgt der Anteil des Handelssektors an den rechnen. Beschäftigten dabei insgesamt durchschnittlich Problematischer wäre es, wenn es zum Verlust rund 12%, in den übrigen Regionen ist er nur wenig von Produktionsstätten in der Industrie käme, gerade höher. Auch wenn es einige wenige Landkreise mit auch weil dieser Sektor wegen seiner insgesamt hö- einem deutlich überdurchschnittlichen Anteil des heren Produktivität und dem zumeist überregionalen Handels an den Beschäftigten gibt, sind dies nicht Absatz seiner Produkte aus regionalpolitischer Sicht unbedingt besonders wirtschaftsschwache Regio- von besonderer Bedeutung ist. Zudem sind auch For- nen (gemessen an der Wirtschaftskraft, der Arbeits- schung und Entwicklung eine Domäne der Industrie, losigkeit oder der Einstufung als GRW-Fördergebiet). und zahlreiche Dienstleistungsunternehmen sind in Gleiches gilt für viele andere der oben genannten industrielle Wertschöpfungsketten eingebunden. Al- konsumnahen Dienstleistungsbereiche wie Friseure, lerdings ist die Industrie kein homogener Sektor, und Textilpflegebetriebe oder Kinos. Insolvenzen in diesen nur in einzelnen Industriezweigen besteht eine starke Bereichen sind zwar bitter für die Betroffenen (und räumliche Ballung (z.B. Automobilbau, chemische möglicherweise auch schädlich für die Lebensquali- Industrie). Die meisten Landkreise weisen ohnehin tät in den jeweiligen Städten und Gemeinden), die eine eher diversifizierte Industriestruktur auf, so dass regionalwirtschaftlichen Auswirkungen sind jedoch Probleme einzelner Branchen oder gar Unternehmen begrenzt. die regionale Entwicklung hier kaum beeinträchtigen Eine stärkere räumliche Ballung ist hingegen dürften. Insoweit kann auch hier Entwarnung gege- beim Gastgewerbe festzustellen. Landkreise mit ben werden. Wenn es in einzelnen regional stärker einem hohen Anteil dieses Sektors finden sich ins- vertretenen Sektoren (wie z.B. dem Fahrzeugbau) besondere in den typischen Tourismusgebieten an Probleme gibt, so scheinen diese aus heutiger Sicht Nord- und Ostsee sowie in den bayrischen Alpen. Hier weniger mit der Corona-Pandemie zu tun zu haben sind teilweise mehr als 10% aller Beschäftigten im als vielmehr mit dem strukturellen Wandel, dem diese Tourismussektor tätig. Zudem handelt es sich dabei Branchen unterworfen sind. Hieraus kann sich eine häufig um dünn besiedelte ländliche Regionen mit Verschärfung regionaler Disparitäten ergeben, doch einer geringen Wirtschaftskraft (auch deshalb, weil hat dies dann nichts mit der Pandemiesituation zu im Tourismus nur eine verhältnismäßig geringe Wert- tun und wäre insoweit auch unter anderen Umstän- schöpfung je Erwerbstätigen erzielt wird und weil den so eingetreten. Urlaubsregionen ihren Reiz gerade daraus beziehen, dass andere Sektoren, insbesondere die Industrie, RESILIENZ VON REGIONEN hier nur schwach vertreten sind); hinsichtlich der re- gionalen Beschäftigungssituation (gemessen an der In der regionalökonomischen Forschung erlebt seit Arbeitslosenquote) gibt es hingegen keinen systema- einiger Zeit das Thema der »Resilienz« erhöhte Auf- tischen Zusammenhang. Alles in allem gilt auch hier, merksamkeit. Dabei geht es zum einen um die Vul- dass es sich dabei nur zum Teil um Regionen handelt, nerabilität (die, wie beschrieben, in den meisten Re- die nach den Kriterien der Gemeinschaftsaufgabe gionen nicht so hoch sein dürfte), zum anderen aber »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« auch um die Regenerationsfähigkeit eines Systems, als strukturschwach gelten. also wie schnell nach einem (exogenen) Schock das Ein negativer Effekt auf die regionale Wirt- Ursprungsniveau von Bruttoinlandsprodukt oder Be- schaftsentwicklung setzt allerdings voraus, dass schäftigung wieder erreicht werden kann. Eine ak- ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 9
ZUR DISKUSSION GESTELLT tuelle Untersuchung des ifo Instituts (Förtsch et al. KONSEQUENZEN FÜR DIE REGIONALE 2021) zeigt anhand des Beispiels der Wirtschafts- und WIRTSCHAFTSPOLITIK Finanzkrise 2008/2009, dass die Resilienz der deut- schen Landkreise grundsätzlich als hoch eingeschätzt Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass werden kann – auch wenn die damaligen Erfahrun- zumindest aus aktueller Sicht wenig Anlass zu der gen nicht unbedingt auf die aktuelle Situation über- Befürchtung besteht, dass die Corona-Pandemie die tragen werden können, weil sich der Produktions- regionalen Disparitäten in Deutschland verschärfen einbruch 2009 vor allem auf die Industrie konzen- könnte. Insoweit besteht auch kein Grund, über die trierte, andere Sektoren hingegen nur schwach be zweifellos notwendigen Maßnahmen zur Unterstüt- troffen waren. zung besonders betroffener Unternehmen und Bran- Im Jahr 2009 lag in 355 von 401 Landkreisen das chen hinaus, das Instrumentarium der regionalen Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen unterhalb Wirtschaftsförderung entsprechend zu modifizieren. des Niveaus von 2008; bei den nur wenig von der Die trifft insbesondere auf das Kernstück der regio- Wirtschaftskrise betroffenen Landkreisen handelte es nalen Wirtschaftspolitik, die Gemeinschaftsaufgabe sich überwiegend um Regionen mit einem niedrigen »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamten zu, bei der derzeit eine Neuabgrenzung der Förderge- Wertschöpfung. Gut die Hälfte davon (55,2%) konn- biete für die Jahre 2021–2027 vor dem Hintergrund der ten das Vorkrisenniveau des BIP je Erwerbstätigen geplanten Einbettung in eine »gesamtdeutsche För- bereits bis zum Jahr 2010 wieder erreichen, und im derpolitik« ansteht. Denkbar wäre aber, entgegen bis- Jahr 2011 waren es schon 85,9%. Einige wenige (4% heriger Gepflogenheiten eine »Halbzeitüberprüfung« aller betroffenen Landkreise) Regionen hatten aller- der Fördergebietsabgrenzung nach Überwindung der dings auch fünf Jahre später noch ein niedrigeres Corona-Pandemie vorzunehmen. BIP je Erwerbstätigen aufzuweisen, wobei dies nicht Die Verbesserung regionaler Standortbedingun- notwendigerweise auf den konjunkturellen Einbruch gen bleibt hingegen auch unter Pandemiebedingungen 2008/2009 zurückzuführen ist. Insgesamt deuten eine wichtige Aufgabe, zu der insbesondere Länder diese Daten darauf hin, dass die Resilienz deutscher und Kommunen einen Beitrag leisten müssen. Durch Regionen im Hinblick auf den Schock der Wirtschafts- Förderpolitiken allein lässt sich ja die »Gleichwertig- krise vergleichsweise hoch war. keit der Lebensverhältnisse« kaum erreichen; vielmehr Anders sieht es hingegen aus, wenn man nicht bedarf es hierfür einer kontinuierlichen und zielori- das Vorkrisenniveau zum Maßstab nimmt, sondern entierten Anpassung der wirtschaftsrelevanten Rah- den vorangehenden Wachstumspfad. Nur ein gutes menbedingungen in den einzelnen Regionen. Hierzu Viertel (26,2%) aller Landkreise war bereits im Jahr zählen Infrastrukturen, aber auch eine leistungsfähige 2010 auf den Vorkrisen-Wachstumspfad zurückge- Verwaltung. Die Pandemie hat hier eine Reihe von kehrt; bei 158 Landkreisen (44,5%) war dies selbst Schwachpunkten aufgedeckt. Um bestehende Defizite 2017 noch nicht der Fall. Dies ist ein Indiz dafür, dass auszugleichen, bedarf es selbstkritischer Überprüfung auch ein temporärer Schock durchaus langfristige bestehender Strukturen und Prozesse. Insoweit ist es negative Wirkungen auf die Entwicklungschancen möglicherweise ein Problem, dass die Kosten der Pan- einer Region haben kann. Nicht auszuschließen ist demiebekämpfung und die mit der Krise verbundenen allerdings, dass auch hier zusätzliche, nicht näher Einnahmeausfälle eine hohe Bürde für die künftige berücksichtigte Faktoren (z.B. eine später einsetzende Haushaltspolitik aller beteiligten Gebietskörperschaf- Strukturkrise wichtiger Branchen) es erschwert oder ten darstellen. Es besteht die Gefahr, dass Schuldentil- gar verhindert haben, dass der vorherige Wachstums gungen – auch wenn diese zeitlich gestreckt erfolgen – pfad wieder erreicht wurde; in diesem Fall wäre es zu Kürzungen insbesondere bei wachstumsrelevanten unzulässig, die Wirtschaftskrise 2009 hierfür verant- Ausgaben (wie Investitionen, Ausgaben für Forschung wortlich zu machen. und Entwicklung sowie für Bildung) führen, da diese Die erwähnte ifo-Studie zeigt u.a., dass die Erho- kurzfristig eher disponibel sind als gesetzlich oder lungsdauer nach dem Konjunktureinbruch 2009 umso vertraglich gebundene Ausgaben (wie Sozialleistungen länger war, je höher der Anteil des Verarbeitenden oder Personalausgaben). Die Wiederherstellung der Gewerbes und der Unternehmensdienstleistungen in Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte kann und einem Landkreis ist. Dies ist wegen des industriellen sollte eher über ein hohes Wirtschaftswachstum als Charakters der Wirtschaftskrise auch nicht weiter über beschleunigte Schuldentilgungen erfolgen, und verwunderlich. Als positive Faktoren für regionale Re- da wären Ausgabenkürzungen in den genannten Be- silienz wurden zudem eine diversifizierte Wirtschafts- reichen kontraproduktiv (Nitschke 2021). struktur, eine hohe Innovationskraft und eine hohe Gründungsintensität identifiziert – alles Faktoren, LITERATUR die eher in strukturstärkeren Regionen angesiedelt Förtsch, M., X. Frei, A. Kremer und J. Ragnitz (2021), Analyse regionaler sind. Ob dies in der gegenwärtigen Corona-Pande- Risiko- und Resilienzfaktoren in Deutschland, ifo Dresden Studie, ifo Institut, München, im Erscheinen. mie ebenfalls der Fall sein wird, muss zum heutigen Zeitpunkt allerdings offenbleiben. 10 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
ZUR DISKUSSION GESTELLT Nitschke, R. (2021), »Die Bürde der Corona-Schulden – Welche Belastun- Statistisches Bundesamt (2021a), »Exporte im Dezember 2020: + 0,1% gen erwarten die Länderhaushalte in den nächsten Jahren?«, ifo Dresden zum November 2020, Exporte im Gesamtjahr 2020: – 9,3% zum Jahr berichtet (1), 3–9. 2019«, Pressemitteilung, 9. Februar, verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/02/ Ragnitz, J. (2020), »Langfristige wirtschaftliche Auswirkungen der PD21_054_51.html. Corona-Pandemie«, ifo Schnelldienst 73(11), 25–30 Statistisches Bundesamt (2021b), »Konjunkturindikatoren, Produktions- Ragnitz, J. (2021), »Hat die Corona-Pandemie zu einer Übersterblichkeit index, produzierendes Gewerbe«, verfügbar unter in Deutschland geführt? – Aktualisierung«, 24. Februar, verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/ https://www.ifo.de/publikationen/2021/monographie-autorenschaft/ Produktion/kpi111.html. corona-pandemie-uebersterblichkeit-aktualisierung-feb2021. Ulrich Walwei Auswirkungen der Coronakrise auf den Arbeitsmarkt: Kann Kurzarbeit auf Dauer Arbeitsplätze retten? Die Covid-19-Pandemie hat zu einer schweren und Schocks wird ein längerfristiger Einsatz der Kurzarbeit langanhaltenden Krise von Wirtschaft und Arbeits- immer fragwürdiger, weil die Weiterbeschäftigungs- markt geführt. Seitens der Politik wurden vielfältige chancen im Zeitablauf sinken. Anstrengungen unternommen, um die wirtschaftli- Grundsätzlich setzen hierzulande die rechtlichen che Lage zu stabilisieren. Unternehmen wurden durch Regelungen für die Nutzung von Kurzarbeit einen er- Staatsbeteiligungen, Liquiditätshilfen und den Ersatz heblichen Arbeitsausfall auf Seiten der Beschäftigten von Umsatzausfällen zumindest vorübergehend gesi- voraus. Die regelmäßige Arbeitszeit kann in einem chert. Dennoch ist offen, wie Unternehmen mittel- und solchen Fall unter Gewährung von Kurzarbeitergeld langfristig durch die Krise kommen werden. Im Mittel- entsprechend verringert werden. Die Bezugsdauer punkt der Stützung des Arbeitsmarkts stand und steht der konjunkturellen Kurzarbeit beträgt in der Regel der massive Einsatz der Kurzarbeit. Dabei stellt sich bis zu zwölf Monate. Das Kurzarbeitergeld beläuft sich die Frage, ob und inwieweit hierdurch Arbeitsplätze normalerweise – analog zum Arbeitslosengeld – auf auch auf längere Sicht gerettet werden können. 60% (bei Personen mit Kindern: 67%) der Nettoent- geltdifferenz des Monats, in dem die Arbeit ausgefal- KURZARBEIT ALS ARBEITSMARKTPOLITISCHES len ist. Die maximale Bezugsdauer und die Höhe des INSTRUMENT Kurzarbeitergelds können in Krisenzeiten – befristet – heraufgesetzt werden. Kurzarbeit kann für alle Be- In Krisenzeiten dient die konjunkturelle Kurzarbeit der schäftigten eines Betriebs oder auch nur für einen Teil Stabilisierung von Beschäftigung und Einkommen. Aus der Beschäftigten in Anspruch genommen werden. ökonomischer Sicht setzt sie Anreize, Arbeitskräfte zu Möglich ist, dass Beschäftigte mit einer verringerten halten, die ohne ihren Einsatz womöglich freigesetzt Arbeitszeit (Teilzeit) weiterarbeiten und gleichzeitig worden wären. Mit dem Einsatz von Kurzarbeit ist eine Lohn und Kurzarbeitergeld beziehen. ganze Reihe von Vorteilen verbunden. Gut eingearbei- Die vorliegenden Wirkungsanalysen zum Einsatz tete Arbeitskräfte können durch die Kurzarbeit in den von Kurzarbeit beziehen sich zumeist auf die Finanz- Betrieben verbleiben, wodurch spezifisches Human- krise 2008/2009. Hijzen und Venn (2011) zeigen in einer kapital gesichert wird. Durch das Festhalten an Ar- Kausalanalyse für 16 OECD-Länder, dass Kurzarbeit zur beitskräften vermeiden die Betriebe Entlassungs- und Sicherung von Arbeitsplätzen in Krisenzeiten beitragen Wiedereinstellungskosten (Crimmann und Wießner konnte. Vor allem für Japan und Deutschland konnte 2009). Die durch die Nutzung von Kurzarbeit geringere dies nachgewiesen werden. Bestä- Lohnsumme stärkt die Liquidität von Unternehmen tigt wird das Ergebnis durch Boeri in Krisenzeiten. Schließlich reduziert Kurzarbeit so- und Brücker (2011). Sie ermittel- ziale Kosten im Vergleich zu Entlassungen, auch, und ten, dass durch den Einsatz von gerade, weil Beschäftigungsverhältnisse aufrechter- Kurzarbeit in Deutschland rund halten werden und der individuelle Arbeitszeit- und 400 000 Arbeitsplätze erhalten Verdienstausfall in vielen Fällen weniger als 100% werden konnten. Zu erwähnen ist Prof. Dr. Ulrich Walwei beträgt. jedoch, dass das 95%-Konfidenzin- ist Vizedirektor am Institut für Der Einsatz von Kurzarbeit kann aber auch mit tervall für das Schätzergebnis zwar Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Problemen einhergehen. Durch die Stabilisierung von im positiven Bereich bleibt, aber schung und Honorarprofessor Beschäftigung kann sich die Reallokation von Arbeit mit einer Bandbreite von 34 000 für Arbeitsmarktforschung am Institut für Volkswirtschaftslehre verringern, und das Ausscheiden unproduktiver Unter- bis 770 000 nicht so weit vom und Ökonometrie der Universität nehmen aus dem Markt kann sich verzögern (Cahuc Nullpunkt entfernt ist. Zudem ist Regensburg. 2019). Vor allem bei nachhaltigen und strukturellen bei der Interpretation der Effekte ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 11
ZUR DISKUSSION GESTELLT zu beachten, dass sich Betriebe mit einer höheren gleich zum Vorjahr angesichts des starken BIP-Rück- Überlebensfähigkeit in die Kurzarbeit hineinselektiert gangs nur um rund 430 000 oder 0,9 Prozentpunkte haben könnten. Zu einer insgesamt stabilisierenden gestiegen. Eine wesentliche Ursache hierfür ist der Wirkung der Kurzarbeit auf den hiesigen Arbeitsmarkt zuletzt beträchtliche Einsatz der Kurzarbeit. während der Finanzkrise kommen weitere Studien, die auf Betriebsdaten basieren (Dietz et al. 2011; Bell- EINSATZ DER KURZARBEIT IN DER CORONAKRISE mann et al. 2015). Schließlich gibt es Hinweise auf positive Wirkungen der Kurzarbeit zur Stabilisierung Um die Nutzung der Kurzarbeit in der aktuellen Krise der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und der indi- zu erleichtern, hat die Bundesregierung durch Geset- viduellen Einkommen (da Silva et al. 2020). zesänderungen und Rechtsverordnungen folgende erweiterte Regelungen im Zuge der Corona-Pandemie BESONDERHEITEN DER COVID-19-PANDEMIE ergriffen: Die Covid-19-Pandemie hat schon jetzt schweren wirt- ‒ Um Kurzarbeitergeld anzeigen zu können, reicht schaftlichen Schaden angerichtet. Im ersten Lockdown in der momentanen Krise ein Anteil von 10% der wurden Absatzwege und Lieferketten durchbrochen, Beschäftigten mit Arbeits- und Entgeltausfall. was den internationalen Handel vorübergehend be- ‒ Ein Aufbau negativer Arbeitssalden im Arbeits- einträchtigte. Durch die enorme Abschwächung der zeitkonto ist nicht erforderlich. Weltwirtschaft kam es zudem zu Nachfrageeinbrü- ‒ Sozialversicherungsbeiträge auf den Arbeitsaus- chen. Die Schließung ganzer Wirtschaftszweige wie fall werden bis 30. Juni 2021 in voller Höhe erstat- Gastwirtschaften, Hotels und Tourismus sowie die tet, bis zum Jahresende 2021 sollen die Beiträge weitgehende Einschränkung von Großveranstaltun- zur Hälfte erstattet werden und bei Weiterbildung gen in Bereichen wie Kultur, Sport, Freizeit und Wirt- der Beschäftigten in Kurzarbeit weiterhin in vol- schaftsmessen während der Lockdown-Maßnahmen ler Höhe. sind ein (negatives) Novum und halten noch immer ‒ Bis zum 31. Dezember 2021 kann das Kurzarbei- an. In der Summe trug die Coronakrise maßgeblich tergeld bis zu 24 Monate gezahlt werden. zum Rückgang des Bruttoinlandsprodukts 2020 von ‒ Bei einem Entgeltausfall von mindestens 50% gut 5% im Vergleich zum Vorjahr bei (Statistisches wird das Kurzarbeitergeld ab dem vierten Be- Bundesamt 2021). zugsmonat auf 70% (77% mit Kindern) und dem Im Vergleich zur Finanzkrise von 2008 und ihren siebten Bezugsmonat bis auf 80% (87% mit Kin- Folgen weist die Coronakrise vier wesentliche Unter- dern) erhöht. schiede auf. Die Finanzkrise war hierzulande durch ‒ In der Zeitarbeitsbranche kann Kurzarbeit ein- einen V-Verlauf mit relativ schneller Erholung, einer gesetzt werden. ihr vorausgehenden Boomphase der Volkswirtschaft, ‒ Ein Minijob im Nebenerwerb ist für Kurzarbei- einer starken Betroffenheit des exportorientierten tende anrechnungsfrei. Verarbeitenden Gewerbes und einer vergleichs- weise geringen Bedeutung struktureller Begleitfak- Mit der Coronakrise im Jahr 2020 sind die Kurzar- toren gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu ist bei der beitszahlen auf ein Rekordniveau geschnellt. Allein Coronakrise nicht zuletzt durch den nun schon zwei- im April 2020 lag die Zahl der Personen in Anzeigen ten Lockdown in weiten Teilen Europas mit einer wohl bei mehr als 8 Millionen und damit deutlich über erheblich längeren Erholungsphase zu rechnen. Er- dem höchsten Wert in einem Monat während der schwerend kommt hinzu, dass der Coronakrise be- Finanzkrise (rund 720 000). Dies gilt analog für die reits eine leicht rezessive Tendenz der Wirtschaft vor Inanspruchnahme und damit die Zahl der Leistungs- ausging, die Branchenbetroffenheit deutlich breiter empfänger. Im April/Mai 2020 erhielten knapp 6 Mil- ist und sich gerade eine forcierte Transformation der lionen Beschäftigte Kurzarbeitergeld, während es in Wirtschaft, insbesondere durch die pandemiebedingt der Finanzkrise maximal gut 1,4 Millionen waren (vgl. schneller voranschreitende Digitalisierung, vollzieht Abb. 1). Der durchschnittliche Arbeitszeitausfall lag (ifo Institut 2020). zu dem Zeitpunkt bei knapp 51%. Bis zum November Vorliegende Prognosen und Szenarien sprechen 2020 gingen dann Anzeigen und Inanspruchnahme aus heutiger Sicht dafür, dass die Wirtschaft erst 2022 deutlich zurück, jedoch stieg der durchschnittliche wieder das Vorkrisenniveau erreichen wird und im Arbeitsausfall wieder und erreichte zuletzt ein ähn- Jahr 2021 von einem BIP-Anstieg um die 3% auszuge- liches Niveau wie im Frühjahr. In dem nun zweiten hen ist (BMWi 2021). Für den Arbeitsmarkt bedeutet harten Lockdown geben insbesondere in Branchen dies, dass Beschäftigung und Arbeitslosigkeit 2021 wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe, den Ver- stagnieren und sich erst langsam wieder erholen. Ins- kehrsunternehmen sowie dem Veranstaltungswesen gesamt ist jedoch festzuhalten, dass sich der Arbeits- wieder eine größere Zahl von Betrieben an, Kurzar- markt auch dank der staatlichen Stützungsmaßnah- beit zu nutzen (IAB 2020). In diesen Wirtschaftsbe- men in der Krise als relativ robust erwiesen hat. So reichen ist aufgrund der massiven Einschränkungen ist die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 2020 im Ver- der Arbeitsausfall pro Kurzarbeitenden eher hoch. 12 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
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