Tuberkulose in der Schweiz - Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesens - InfoVac

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Tuberkulose in der Schweiz - Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesens - InfoVac
Tuberkulose in der Schweiz
Leitfaden für Fachpersonen des Gesundheitswesens
Impressum                            Auskunft Tuberkulose
    Lungenliga Schweiz                   Kompetenzzentrum Tuberkulose
    Chutzenstrasse 10                    Chutzenstrasse 10
    3007 Bern                            3007 Bern
    info@lung.ch                         Tel. 031 378 20 50
    www.lungenliga.ch                    tbinfo@lung.ch
                                         www.tbinfo.ch

    Herausgeber
    Lungenliga Schweiz
    Bundesamt für Gesundheit

    Institutionelle Autoren
    Bundesamt für Migration
    Bundesamt für Gesundheit
    Lungenliga Schweiz
    Nationales Zentrum für Mykobakterien
    Pädiatrische Infektiologiegruppe Schweiz
    Schweizer Kollegium für Hausarztmedizin
    Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie
    Schweizerische Gesellschaft für pädiatrische Pneumologie
    Schweizerische Gesellschaft für Pneumologie
    Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz

    Einzelautoren, einschliesslich Vertreter der institutionellen Autoren
    Jürg Barben, Christoph Berger, Erik C. Böttger, Jean-Marie Egger,
    Peter Helbling, Jean-Paul Janssens, Chung-Yol Lee, Jesica Mazza-­
    Stalder, David Nadal, Stefan Neuner-Jehle, Laurent Nicod,
    Valeria Reho, Hans L. Rieder, Otto D. Schoch, Claire-Anne Siegrist,
    Alexander Turk, Jean-Pierre Zellweger, Stefan Zimmerli.

    Hintergrund
    Grundlage des vorliegenden Handbuchs sind die aktuellen inter­
    nationalen Leitlinien zur Diagnose und Behandlung der Tuberkulose.
    Die vorliegende gekürzte Fassung ergänzt und aktualisiert das
    «Handbuch Tuberkulose 2012».

    Nachdruck mit Quellenangabe gestattet.
    November 2014 / 1. revidierte Ausgabe der Kurzfassung
    ­«Tuberkulose in der Schweiz, das Wichtigste in Kürze»

2
Inhaltsverzeichnis

4	  1 Rolle des Arztes
5	  2 Epidemiologie
8	  3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild
       3.1 Übertragung
       3.2 Pathogenese
       3.3 Klinisches Bild
       3.4 Radiologischer Befund
11	 4 Latente Infektion mit M. tuberculosis
       4.1 Tuberkulintest
       4.2 Interferon-Gamma Release Assays (IGRAs)
       4.3 Indikationen für die Testung asymptomatischer Personen auf eine latente Infektion
       4.4 Auswahl der Test-Art
       4.5 Behandlungsoptionen bei latenter Infektion mit M. tuberculosis
20	 5 Umgebungsuntersuchung
       5.1 Ablauf einer Umgebungs­untersuchung
       5.2 Besonderes Vorgehen bei der Umgebungsuntersuchung je nach Alter und
            ­Immunstatus
25	 6 Diagnose der Erkrankung
28	 7 Behandlung der Tuberkulose
       7.1 Standard-Therapieschema
       7.2 Therapie der resistenten T­ uberkulose
       7.3 Spezielle Behandlungs­situationen
       7.4 Verlaufskontrolle während der Behandlung
       7.5 Isolierung von Tuberkulosepatienten
       7.6 Ergebnisse der Tuberkulosebehandlung
36	 8 Meldeverfahren und epidemiologische ­Überwachung
37	 9 BCG-Impfung
39 10 T uberkulose bei im Ausland geborenen Personen
40 11 F inanzielle Aspekte und Gesetzesgrundlagen
       11.1 Krankenversicherung
       11.2 Unfallversicherung
       11.3 Gesundheitsamt
       11.4 Arbeitgeber/Arbeitgeberin
       11.5 Privatpersonen
       11.6 Spezielle Behandlungs­situationen
44 12 Informationen und nützliche Adressen
       12.1 Broschüren und sonstige Materialien
       12.2 Internet
       12.3 Tuberkulose-Hotline für medizinisches Personal
46 13 Literatur

                                                                                               3
1 Rolle des Arztes

     Die Ärzte spielen bei der Behandlung der       eine entscheidende Rolle. Sie stellen das
     Tuberkulose sowohl bei der medizinischen       unverzichtbare Bindeglied zwischen der
                                                    ­
     Versorgung erkrankter Personen als auch        ­individuellen und der öffentlichen Gesund-
     aus der Sicht der öffentlichen Gesundheit       heit dar.

    Zu den Aufgaben des Arztes oder                    Zustimmung des Kantonsarztamtes und
    der Ärztin gehört:                                 in Zusammenarbeit mit der für die Tuber-
      – a n TB zu denken, wenn eine Person mit        kulosebekämpfung zuständigen kanto-
          Tuberkulose vereinbare Anzeichen und/        nalen Fachstelle, in der Regel der kanto-
          oder Symptome aufweist, insbesondere,        nalen Lungenliga;
         wenn sie einer entsprechenden Hoch­        – dafür zu sorgen, dass die Patientin oder
         risikogruppe angehört (z. B. Personen         der Patient sich während des gesamten
         aus einem Land mit hoher Tuberkulose-­        vorgesehenen Behandlungszeitraums an
         Inzidenz, Personen mit erst kürzlich er-      die verordnete Therapie hält, und dem
         folgtem Kontakt mit einem anstecken-          Kantonsarztamt allfällige Therapieunter-
         den Tuberkulosefall, immungeschwächte         brüche, mangelnde Therapietreue oder
         Personen);                                    Therapieabbrüche (Nichtmehrerscheinen
      –  rasch die erforderliche diagnostische        in der Praxis) der Patientin oder des
         ­Abklärung (Thoraxröntgen, mikrobiolo-        ­Patienten zu melden; zur Förderung der
          gische Untersuchungen) durchzuführen          Therapieadhärenz und der Behandlung
          oder die Person an einen erfahrenen           bis zum vorgesehenen Ende sind soziale
          Kollegen / eine erfahrene Kollegin bzw.       Aspekte zu berücksichtigen, und alle
          ein spezialisiertes Zentrum zu über­          an der Wiederherstellung der Gesund-
          weisen;                                       heit Beteiligten sollen die allenfalls not­
      – jeden Tuberkulosefall sofort bei Thera-        wendige Unterstützung jeglicher Art
          piebeginn beim zuständigen Kantons-           leisten;
          arztamt zu melden;                        – sicherzustellen, dass der Tuberkulosefall
      – dafür zu sorgen, dass alle Personen, die       geheilt wurde, indem er/sie in allen
          längeren Kontakt mit einem anstecken-         ­Fällen die entsprechenden Kontrollunter-
          den Tuberkulosefall hatten, getestet           suchungen durchführt oder anordnet
          werden (Umgebungsuntersuchung); die            und das Kantonsarztamt über das Be-
          Umgebungsuntersuchung erfolgt mit              handlungsergebnis informiert.

4
2 Epidemiologie

         Die Tuberkulose-Inzidenz ist in der Schweiz,                        wurden, wurden 577 Fälle gemeldet, ent-
         wie in vielen anderen westeuropäischen                              sprechend einer Melderate von 7,2 Fällen
         Ländern, seit mindestens dem 19. Jahr­                              auf 100 000 Einwohner. Von den betrof­
         hundert rückläufig. Im Jahr 2007 wurde                              fenen Patien­tinnen und Patienten waren
         mit 478 gemeldeten Fällen der bislang                               127 (22 %) Schweizer und 429 (74 %)
         ­niedrigste Stand erreicht, wonach in den                           ­Personen aus­ländischer Herkunft, darunter
          darauffolgenden Jahren wieder ein leichter                          131 (31 % der Fälle ausländischer Her-
          Anstieg erfolgte. Im Jahr 2011, dem letzten                         kunft) Asylsuchende oder Flüchtlinge (Ab-
          Jahr, für das endgültige Daten publiziert                           bildung 2-1).

                           Abbildung 2-1. Dem Bundesamt für Gesundheit gemeldete Tuberkulosefälle in der Schweiz,
                           nach Herkunft, 2005–2011.

                           500

                           400
Number of notified cases

                           300
                                                                                                             Foreign origin
                                                                                                             Swiss origin

                           200

                           100

                             0
                                   2005        2006         2007          2008            2009             2010            2011

                                                                   Year of notification
                                                                          Federal Office of Public Health. Bull FOPH 2013;(no 21):343-53

                                                                                                                                           5
2 Epidemiologie

     Abbildung 2-2. Prozentualer Anteil der multiresistenten Tuberkulose bei nicht vorbehandelten
     ­Patienten, 1994–2009. Quelle: World Health Organization. Multidrug and extensively
      drug-resistant TB (M/XDR-TB). 2010 global report on surveillance and response. World Health
      Organization Document 2010;WHO/HTM/TB/2010.3:1-58.

                                                                           0–
2 Epidemiologie

                                                                                                0–
3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild

    3.1 Übertragung                                    ausserhalb der Schweiz erworben oder es
                                                       handelt sich um Reaktivierungen lange
     Die Tuberkulose wird durch einen patho­           zurückliegender Infektionen bei älteren
                                                       ­
     genen Vertreter des Mycobacterium-tuber-          Schweizer Personen.
     culosis-Komplexes verursacht. Zu diesem
     Komplex gehören M. tuberculosis, M. bo-
     vis, M. africanum und M. canettii sowie          3.2 Pathogenese
     die für den Menschen nicht pathogenen
     Spezies M. bovis BCG und M. microti. Die          M. tuberculosis kann Makrophagen er­
     Übertragung von M. tuberculosis erfolgt           folgreich an der unspezifischen Zerstörung
     aerogen, über kleinste Bronchialsekret-­          der phagozytierten Erreger hindern. Die
     Tröpfchen (Tröpfchenkerne, engl. «droplet         Bakterien können sich daher im Inneren der
     nuclei»), die lebende Erreger enthalten.          Makrophagenzelle vermehren. Bei deren
     ­Personen mit Atemwegstuberkulose setzen          Zelltod werden sie freigesetzt, rufen eine
      bei respiratorischen Aktivitäten, insbeson­      lokale entzündliche Reaktion hervor, werden
      dere Husten und Sprechen, Tröpfchen un-          von anderen Makrophagen phagozytiert
      terschiedlicher Grösse frei. Die kleinsten       und führen schliesslich zur Lymphozyten-
      dieser Tröpfchen sinken nicht sofort auf-        sensibilisierung. In der Folge kommt es ent-
      grund der Schwerkraft auf den Boden, son-        weder
      dern verbleiben ausreichend lange in der         – zur Eradikation der Mykobakterien oder
      Luft, dass sie in nicht mit Feuchtigkeit ge-     – zur Bildung von Granulomen.
      sättigter Luft zu Tröpfchenkernen mit einem
      oder mehreren Tuberkulosebakterien ver-          Personen mit einer latenten M.-tuberculo-
      dunsten. Tröpfchenkerne können aufgrund          sis-Infektion sind weder krank noch können
      ihrer geringen Grösse mehrere Stunden in         sie M. tuberculosis übertragen. Die Mehr-
      der Luft schweben und erreichen bei In­          zahl dieser latent infizierten Personen
      halation mit hoher Wahrscheinlichkeit die        (schätzungsweise rund 90 %) entwickelt
      Alveolen, wo sie sich allenfalls an der Zell-    zeitlebens keine Tuberkulose. Eine immuno-
      wand ablagern und von Gewebemakro­               logische Reaktion kann mithilfe geeigne-
      phagen phagozytiert werden.                      ter Tests (Tuberkulintest oder Interferon-­
      Die Übertragung des seltenen M. bovis er-        Gamma-Assay) ausgelöst werden. Sie ist
      folgt in der Regel durch orale Aufnahme von      das einzige Anzeichen einer früheren Infek-
      Erregern über unpasteurisierte Milch von         tion mit M. tuberculosis.
      Kühen mit tuberkulöser Mastitis. In den sel-     Bei einem geringeren Teil der Personen ent-
      tenen durch M. bovis verursachten Tuber-         wickelt sich die subklinische oder latente
      kulosefällen wurde der Erreger entweder          M.-tuberculosis-Infektion zu einer Tuber­

8
3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild

 kulose (d. h. zu einer durch M. tuberculosis   nale Tuberkulose). Die häufigsten extra­
 verursachten Erkrankung, die klinisch und/     pulmonalen Formen sind Lymphknoten-,
 oder radiologisch manifest wird). Dabei ist    Pleura-, Knochen- und Gelenkstuberkulose
 das Risiko in den ersten beiden Jahren nach    sowie Urogenitaltuberkulose. Disseminierte
 der Infizierung am höchsten. Die Gefahr des    Formen (akute Miliartuberkulose, kryptische
 Fortschreitens der Infektion zur Erkrankung    Disseminierung, protrahierte Erkrankung
 ist höher bei sehr jungen Personen (Säug­      mit Mehrorganbefall) treten hauptsächlich
 linge und Kleinkinder), bei Jugendlichen und   bei immungeschwächten sowie bei sehr
 jungen Erwachsenen sowie bei Personen,         ­jungen und sehr alten Personen auf.
 deren zelluläres Immunsystem geschwächt         Die Tuberkulose verläuft klinisch meist lang-
 ist, z. B. durch immunsuppressive Therapien     sam fortschreitend mit lokalen (bei pulmo-
 oder Störungen des Immunsystems (insbe-         nalen Formen: Husten, geringer Auswurf)
 sondere HIV-Infektion), Diabetes etc.           und allgemeinen (Fieber, Unwohlsein,
                                                 ­Erschöpfung, Nachtschweiss, Appetit- und
                                                  Gewichtsverlust) Anzeichen und/oder
  Nur Patienten mit unbehandelter Tuber-          ­Symptomen. In der Frühphase der Erkran-
  kulose der Lungen und Atemwege                   kung sind die Symptome häufig nur schwach
  ­können die Erreger aushusten und so             ausgeprägt. Kein klinisches Zeichen oder
   möglicherweise andere Personen infi­            Symptom ist für die Tuberkulose pathogno-
   zieren. Dies ist bei Kindern unter 10 Jah-      monisch. Ältere Personen weisen oftmals
   ren selten. Die Gefahr einer Übertragung        weniger Symptome auf. Der Tuberkulose-
   steigt, wenn Sputum produziert wird,            verdacht gründet deshalb zusätzlich auf
   dieses wiederum eine grosse Zahl an             dem Gesamtbild einer Reihe von Faktoren
   ­Erregern enthält und wenn ein physi­           und Hinweisen, wie Herkunft der betrof­
    kalischer Mechanismus zur Produktion           fenen Person, Dauer der Symptome, be-
    grosser Mengen kleinster Tröpfchen             kannte frühere Exposition und radiolo-
    wirksam ist (bei Tuberkulosepatienten in       gische Befunde. Schwindendes Interesse für
    erster Linie Husten).                          die Tuberkulose und seltener werdende
                                                   Kenntnisse darüber bergen die Gefahr einer
                                                   verzögerten Diagnosestellung mit entspre-
                                                   chender Häufung fortgeschrittener Krank-
3.3 Klinisches Bild                                heitsformen.

 Die Tuberkulose betrifft meist das Lungen-
 parenchym (Lungentuberkulose), kann aber
 auch andere Organe befallen (extrapulmo-

                                                                                                 9
3 Übertragung, Pathogenese und klinisches Bild

     3.4 Radiologischer Befund
      Veränderungen im Thoraxröntgenbild sind
      üblicherweise der auffälligste Hinweis auf
      das Vorliegen einer Lungentuberkulose. Bei
      asymmetrischen Infiltraten in den Ober­
      feldern (Abbildung 3-1), insbesondere mit
      kavernösem oder mikronodulärem Muster,
      besteht Tuberkuloseverdacht. Atypische
      Lokalisationen (Infiltrate in Unterfeldern)
      finden sich häufiger bei immungeschwäch-
      ten und älteren Personen. Kein radiolo­
      gischer Befund ist jedoch spezifisch für eine
      Tuberkulose. Der radiologische Befund
      erlaubt keine Unterscheidung zwischen
      ­
      ­bakteriologisch aktiver, inaktiver oder ab­
       geheilter Tuberkulose.
                                                      Abbildung 3-1. Thoraxröntgenaufnahme eines
                                                      Patienten mit sputummikroskopisch positiver
                                                      Lungentuberkulose. Ausgedehnter bilateraler
                                                      ­Befall mit asymmetrischen Infiltraten, miliaren
                                                       Verschattungen und Kavernenbildung.
      Fallbeispiel Nr. 1
        Ein 27-jähriger Patient aus Kamerun,
        Nichtraucher, mit seit drei Monaten pro-
        gredientem Husten und persistierendem
        Infiltrat im rechten Oberlappen leidet mit
        hoher Wahrscheinlichkeit nicht an einer
        viralen Bronchitis!

      Fallbeispiel Nr. 2
        Bei einer 14-jährigen Jugendlichen aus
        Angola, die in den letzten zwei Monaten
        zehn Kilogramm abgenommen hat und
        bei der kleinsten Anstrengung hustet,
        liegt wohl mehr als eine Depression im
        Jugendalter vor.

10
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

 Zwischen dem Erwerb einer Infektion mit          Beide Testsysteme messen die Freisetzung
 M. tuberculosis und der klinischen Mani-         von Zytokinen (hauptsächlich Interferon-­
 festation einer Tuberkulose können Monate,       Gamma) durch sensibilisierte T-Lympho­
 Jahre oder sogar Jahrzehnte liegen; die          zyten bzw. ihre Wirkungen zusammen mit
 ­Inkubationszeit der Tuberkulose lässt sich      mykobakteriellen Antigenen.
  nicht eindeutig definieren. Dennoch gilt        Ein positives Ergebnis in einem der beiden
  nicht automatisch das Prinzip «einmal in­       Tests ist ein Hinweis auf einen vorausgegan-
  fiziert, immer infiziert». Die in den acht      genen Kontakt mit mykobakteriellen Anti-
  ­Jahrzehnten seit Aufstellung dieser Behaup-    genen oder einem Mykobakterium, ist aber
   tung gewonnenen umfassenden bakterio­          kein Nachweis für weiterhin vorhandene
   logischen, histopathologischen, immunolo-      lebende Mykobakterien. Aus diesem Grund
   gischen und epidemiologischen Daten legen      können weder Tuberkulintest noch IGRAs
   nahe, dass ein lebenslanger Trägerstatus für   zwischen einer zurückliegenden Infektion
   lebende Mykobakterien eher die Ausnahme        mit M. tuberculosis, einer persistierenden
   als die Regel darstellt.                       latenten Infektion mit M. tuberculosis und
   Mit keinem der derzeit verfügbaren Tests       einer klinisch oder mikrobiologisch manifes-
   lässt sich bestimmen, ob eine klinisch ge­     ten Tuberkulose unterscheiden.
   sunde Person, bei der ein Verdacht auf eine
   latente Infektion mit M. tuberculosis be-
   steht, tatsächlich Trägerin lebender Erreger    Der Ausdruck «latente Infektion mit M.
   ist. Die uns zur Verfügung stehenden Tests      tuberculosis» (insbesondere im US-ame-
   beruhen auf der durch M. tuberculosis in-       rikanischen Sprachgebrauch auch als
   duzierten und durch Effektorzellen vermit-      «latente Tuberkulose-Infektion» oder
                                                   ­
   telten Immunreaktion, die mindestens zehn       kurz «LTBI» bezeichnet) bei Vorliegen
   Jahre lang ausgelöst werden kann. Diese         eines positiven Tuberkulintests oder IGRA
   persistierende Immunreaktivität zeigt sich      ist daher etwas irreführend: Was anhand
   wohl am deutlichsten in der anhaltend po-       dieser Tests nachgewiesen wird, ist die
   sitiven und allmählich schwächer werden-        immunologische Spur eines früheren
   den Reaktion im Tuberkulintest nach einer       Kontakts mit mykobakteriellen Anti­
   BCG-Impfung.                                    genen oder einer früheren Infektion mit
   M. tuberculosis und andere Mykobakterien        einem Mykobakterium. Dies ist daher
   induzieren eine verzögerte zelluläre Immun-     kein eindeutiger Beleg für eine persis­
   reaktion, die auf der Sensibilisierung von      tierende Infektion mit lebenden Erregern.
   T-Lymphozyten beruht. Diese Sensibilisie-       Die Gefahr einer Progression zur Tuber-
   rung lässt sich nachweisen durch:               kulose ist aber nur gegeben, wenn le­
   – einen Tuberkulintest oder                    bende Mykobakterien vorhanden sind.
   – einen Bluttest (Interferon-Gamma Release     Daher ist es nicht weiter überraschend,
      Assay, IGRA).

                                                                                                 11
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

                                                                                  Bei der Bewertung des Tuberkuloserisikos
                               dass sowohl der Tuberkulintest als auch            müssen folgende Faktoren berücksichtigt
                               IGRAs relativ schlechte Prädiktoren im             werden:
                               Hinblick auf eine zukünftige Tuberkulose­          – das Alter der Person,
                               erkrankung darstellen (die überwiegende            – die seit Erwerb der Infektion verstrichene
                               Mehrheit der positiv getesteten Personen              Zeit,
                               entwickelt zeitlebens keine Tuberkulose).          – die Intaktheit des zellulären Immun­
                               Dagegen verbessert sich mit abnehmen-                 systems.
                               der effektiver Prävalenz einer M.-tuber-
                               culosis-Infektion der negative Vorhersa-           Bei Vorliegen einer persistierenden Infektion
                               gewert, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass         hängt das Risiko der Progression zur Tuber-
                               eine Person mit negativem Ergebnis im              kulose von der Qualität der Immunabwehr
                               Tuberkulintest bzw. im IGRA (ausgenom-             der infizierten Person ab. Bei Kindern unter
                               men Fälle, in denen eine Anergie vorliegt)         5 Jahren, insbesondere bei Kindern im ersten
                               keine Tuberkulose entwickelt.                      Lebensjahr, anderen frisch infizierten Per­
                                                                                  sonen sowie Personen mit beeinträchtig-

                                Abbildung 4-1. Prävalenz und Inzidenz von Tuberkulose bei frisch infizierten Kontaktpersonen
                                im gleichen Haushalt, nach dem zeitlichen Abstand seit der Identifizierung des Indexfalls.
                                Studie des United States Public Health Service.
                                 40
                                                                                                        Initial prevalence
                                                                                                        Incidence during follow-up
     Cases per 1,000 persons

                                 30
                                                                                                  5-year cumulative: 64 per 1,000

                                 20

                                 10

                                  0
                                                   2              4              6                  8                10               12
                                                                        Year of observation
                                                                                 Ferebee S H, Mount F W. Am Rev Respir Dis 1962;85:490-521
                                                                                                Ferebee S H. Adv Tuberc Res 1970;17:28-106

12
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

 ter Immunfunktion (HIV, Behandlung mit                   Bei der Wahl eines Schwellenwerts für die
 TNF-alpha-Hemmern etc.) besteht ein er-               Bezeichnung einer Reaktion als «signifi-
 höhtes Risiko einer Progression zur Tuber-            kant» oder «positiv» werden Sensitivität
 kulose. In diesen Fällen ist daher eine medi-         und Spezifität des Tests gegeneinander ab-
 kamentöse Prävention vorrangig angezeigt.             gewogen.
 Das Tuberkuloserisiko ist in den ersten zwei          Die Spezifität des Tuberkulintests weist
 Jahren nach der Ansteckung am höchsten                ­stärkere Schwankungen auf als seine Sen­
 und nimmt dann ab, geht aber niemals ganz              sitivität, da sie von der unterschiedlichen
 zurück (Abbildung 4-1).                                Prävalenz von Kreuzreaktionen infolge einer
                                                        früheren Infektion mit anderen Myko­
                                                        bakterienarten (M. bovis BCG oder ver-
4.1 Tuberkulintest                                      schiedenen Umweltmykobakterien) und der
                                                        seit dieser letzteren Infektion verstrichenen
 Tuberkulin enthält eine grosse Zahl unter-             Zeit abhängt.
 schiedlicher mykobakterieller Peptide, von             Die Sensitivität des Tuberkulintests ist kons­
 denen die meisten auch in M. bovis BCG                 tanter als die Spezifität. Wenn anergische
 sowie in geringerem Umfang in einigen                  oder teilweise anergische Personen (d. h.
 ­Arten von Umweltmykobakterien zu finden               Personen, die trotz Infektion mit M. tuber-
  sind.                                                 culosis nicht angemessen auf Tuberkulin
  Zur Durchführung wird ausschliesslich die             reagieren können) ausgeschlossen werden,
  intradermale Technik empfohlen. Eine Dosis            hat ein Indurationsdurchmesser von 10 Mil-
  von 0,1 ml Tuberkulin PPD RT23 (2 Tuber-              limetern oder mehr eine Sensitivität von
  kulineinheiten) wird intradermal an der Beu-          ca. 90 % und ein Durchmesser von 5 Milli-
  geseite des Unterarms injiziert. Zur Injektion        metern oder mehr eine Sensitivität von ca.
  wird eine 1-ml-Spritze mit Kurzschliffnadel           99 % (bezogen auf alle, die mit > 0 mm
  (26 G) verwendet. Die Haut wird leicht ge-            ­reagieren) (Abbildung 4-2).
  spannt und die Spitze mit der angeschrägten            Die Sensitivität eines Tests kann nur auf
  Seite nach oben in die oberste Hautschicht             ­Kosten der Spezifität erhöht werden: Mit
  eingeführt.                                             zunehmender Sensitivität nimmt die Spezi-
  Die Reaktionsstärke wird frühestens 48                  fität ab. Dennoch besteht ein allgemeiner
  Stunden (vorzugsweise 72 Stunden) nach                  Konsens darüber, dass bei Kontaktpersonen
  der Injektion beurteilt. Dazu wird der                  die höhere Sensitivität Vorrang hat. Dabei
  ­Querdurchmesser, d. h. der senkrecht zur               wird in Kauf genommen, dass einzelne
   Unterarm-Längsachse gemessene Durch-                   Personen als infiziert betrachtet werden,
                                                          ­
   messer der Induration in Millimetern er­               obwohl sie es eigentlich nicht sind. Der Vor-
   hoben. Wichtig: Nur die Induration wird                hersagewert eines positiven Tuberkulintests
   gemessen, nicht aber allfällige Ödeme oder             verbessert sich bei einer gezielten Um­
   Erytheme.                                              gebungsuntersuchung, da hier die erwar­

                                                                                                          13
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

                              Abbildung 4-2. Sensitivität des Tuberkulintests nach Indurationsdurchmesser bei Erwachsenen
                              im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Mit Mischanalyse modellierte Daten der Tuberkulin-
                              erhebung von Tumkur, Indien.

                              100
     Sensitivity (per cent)

                               80

                               60

                               40

                               20

                                0
                                                 5             10               15                  20                  25                30
                                                                    Induration (mm)
                                                                        Original data: Narain R, et al. Bull World Health Organ 1963;29:641-64

              tete Prävalenz einer tatsächlichen Infektion                     4.2 Interferon-Gamma Release
              höher ist. Bei der gezielten Umgebungs­                              Assays (IGRAs)
              untersuchung wird empfohlen, nicht BCG-­
              geimpfte Kontaktpersonen ab einem In-                               IGRAs (zwei kommerzielle Tests sind derzeit
              durationsdurchmesser von 5 Millimetern als                          bei Swissmedic registriert) weisen nur zwei
              «positiv» und präventiv behandlungsbe-                              (oder drei) unterschiedliche Peptide von
              dürftig einzustufen. Solch niedrige Grenz­                          ­pathogenen Spezies des M.-tuberculosis-­
              werte wurden auch für andere Personen mit                            Komplexes nach (nicht vorhanden in
              besonders hohem Tuberkuloserisiko emp-                               M. bovis BCG und M. microti, jedoch vor-
              fohlen (z. B. Personen mit HIV-Infektion). Es                        handen auch in M. marinum, M. kansasii
              liegen allerdings Hinweise darauf vor, dass                          und M. szulgai). Die Ergebnisse der IGRA-­
              der angestrebte Gewinn an Sensitivität                               Bluttests werden daher nicht durch eine
              ­relativ gering ist, während der damit einher-                       frühere BCG-Impfung oder die häufigsten
               gehende Verlust an Spezifität grösser ist.                          Umweltmykobakterien beeinflusst. Gegen-

14
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

über dem Tuberkulintest weisen IGRAs eine      4.3 Indikationen für die Testung
vergleichbare Sensitivität, jedoch eine hö­         asymptomatischer Personen
here Spezifität auf. IGRAs messen die Kon-
zentration des von Lymphozyten nach In­
                                                    auf eine latente Infektion
kubation einer Blutprobe mit spezifischen
Peptiden freigesetzten Interferon-Gamma.         – Suche nach einer möglichen Infektion
Das Testergebnis wird entweder in Interna-          mit M. tuberculosis bei Personen, die
tionalen Einheiten/ml (QuantiFERON-TB®              kürzlich mit einer an ansteckender
Gold In-Tube) oder als Zahl der Interferon-­        ­Lungentuberkulose erkrankten Person
Gamma-produzierenden Lymphozyten pro                 Kontakt hatten (Umgebungsuntersu-
250 000 Zellen (T-SPOT®.TB) angegeben.               chung).
Die technischen Vorgaben des Herstellers         – Suche nach einer möglichen Infektion
sind unbedingt einzuhalten. Insbesondere             mit M. tuberculosis bei immunge-
dürfen die Blutproben nicht der Kälte aus-           schwächten Personen (Ausgangsunter-
gesetzt werden (Lymphozytenhemmung).                 suchung bei Personen mit HIV-Infek­
Bei Kindern unter 5 Jahren ist der Anteil            tion, vor immunsuppressiver Behandlung
nicht interpretierbarer Resultate höher. Der         [z. B. mit TNF-Alpha-Hemmern] oder
Stellenwert der IGRAs bei Säuglingen und             vor einer Organtransplantation).
Kleinkindern wird derzeit noch kontrovers        – Suche nach einer möglichen Infektion
diskutiert.                                          mit M. tuberculosis bei Personen, die
                                                     beruflich exponiert waren (Beschäftigte
                                                     im Gesundheits- oder Sozialwesen und
                                                     Laborpersonal), oder um einen Aus-
                                                     gangswert vor Antritt einer Beschäfti-
                                                     gung in einer Umgebung mit erhöhtem
                                                     Expositionsrisiko zu haben.
                                                 – Eine systematische Testung (Screening)
                                                     auf eine latente Infektion ist derzeit in
                                                     keiner Situation als den oben genann-
                                                     ten angezeigt (schlechter Vorhersage-
                                                     wert eines positiven Testergebnisses bei
                                                     ungezielter Reihenuntersuchung).

                                                                                                 15
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

       Durch den Nachweis einer Infektion mit              schiedlicher namhafter Gesellschaften (z. B.
       M. tuberculosis können Tuberkulintest und           Leitlinien des britischen National Institute for
       IGRAs in bestimmten klinischen Situationen          Health and Care Excellence [NICE], Cana­
       ausserdem ergänzende Hinweise liefern:              dian Thoracic Society). Mit zunehmendem
       Sie können allenfalls zur diagnostischen            Kenntnisstand wird vermutlich eine entspre-
       Abklärung Tuberkulose-kompatibler An­
       ­                                                   chende Anpassung dieser Empfehlungen
       zeichen oder Symptome beitragen, wenn               erforderlich.
       eine bak­teriologische Bestätigung der Tu-          Zur Testung auf eine latente Infektion wer-
       berkulose schwierig ist (z. B. bei Kleinkindern     den drei Strategien befürwortet:
       oder Patienten mit bestimmten extrapul­             – Tuberkulintest mit anschliessender IGRA-­
       monalen Tuberkuloseformen). Dabei ist                  Bestätigung eines positiven Ergebnisses
       ­jedoch stets zu beachten, dass IGRAs und           – Verwendung eines IGRA als einziger
        der Tuberkulintest nicht zwischen einer la-           Test
        tenten Infektion mit M. tuberculosis und           – Verwendung des Tuberkulintests als einzi-
        (klinisch manifester) Tuberkulose unter-              ger Test
        scheiden können.
        IGRAs verfügen zwar generell über eine hö-       Tuberkulintest mit anschliessender IGRA-­
        here Spezifität als der Tuberkulintest, sind     Bestätigung eines positiven Ergebnisses
        aber mit anderen Nachteilen behaftet, z. B.        Dieser zweistufige Ansatz basiert auf dem
        Schwankungen der Testreaktivität, wodurch          Prinzip der sequenziellen Testung, bei der
        häufiger als beim Tuberkulintest «Konver­          zunächst ein Test mit hoher Sensitivität und
        sionen» und «Reversionen» festgestellt             in einem zweiten Schritt ein Test mit hoher
        ­werden. Neuere Ergebnisse zu mangelnder           Spezifität zur Anwendung kommt. Das
         Spezifität von IGRAs in seriellen Untersu-        ­bedeutet, dass im ersten Test alle Personen
         chungen legen nahe, dass die Grenzwerte            identifiziert werden, die möglicherweise
         dieser Tests neu bewertet und «Grauzonen»          das gesuchte Merkmal (in diesem Fall eine
         genauer definiert werden sollten.                  latente Infektion mit M. tuberculosis) auf-
                                                            weisen. Im zweiten Test wird das Vorliegen
                                                            des Merkmals bestätigt. Damit sollen un­
     4.4 Auswahl der Test-Art                               nötige Massnahmen (in diesem Fall die prä-
                                                            ventive Behandlung) vermieden werden.
     Empfehlungsgrundlage                                   Nachteile der sequenziellen Testung sind die
       Die Empfehlungen des vorliegenden Ab-                höheren Kosten für den zweistufigen Test
       schnitts widerspiegeln die tatsächliche Praxis       und die noch nicht ausreichend charakteri-
       in der Schweiz, die Lücken des aktuellen             sierten Leistungsmerkmale der beiden Test-
       Wissensstands und nicht zuletzt auch die             systeme. Diese variieren möglicherweise
       Diskordanzen in den Empfehlungen unter-              stark in Abhängigkeit von umgebungs- und

16
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

  patientenspezifischen Faktoren (insbeson-         Verwendung des Tuberkulintests
  dere dem Alter der getesteten Person). Das        als einziger Test
  letztgenannte Problem stellt sich insbeson-          Der Tuberkulintest stellt in zwei Situationen
  dere bei BCG-geimpften Personen, mögli-              den bevorzugten Ansatz dar.
  cherweise sogar noch bis zu 15 Jahre                Erstens bei wiederholten (seriellen) Untersu-
  nach der Impfung. Der Einfluss von BCG auf          chungen von Beschäftigten im Gesundheits-
  den Tuberkulintest hängt hauptsächlich ab           wesen, sofern diese vorgesehen sind (ver-
  vom BCG-Impfstamm, dem Alter zum Zeit-              breitet in Nordamerika). Mehrere Studien zu
  punkt der Impfung, der seit der Impfung             solchen Untersuchungen haben mittler­weile
  verstrichenen Zeit und einem möglichen              eine ausserordentlich hohe Rate an offen-
  Booster-Effekt durch Infektionen mit Um-            sichtlich falsch-positiven IGRA-Ergebnissen
  weltmykobakterien. Daher erscheint eine             belegt, also Konversionen bei Per­sonen, bei
  sequenzielle Teststrategie sinnvoll.                denen gar kein Kontakt mit einer Infektions-
                                                      quelle festgestellt werden konnte. Beim
Verwendung eines IGRA als einziger Test               ­Tuberkulintest zeigte sich bei gleichzeitiger
  Generell ist die Sensitivität eines IGRA             Anwendung in den entsprechenden Situa­
  wenig anfällig gegenüber Störeinflüssen              tionen kein vergleichbares Phänomen.
  (vergleichbar mit dem Tuberkulintest), bei           Zweitens bei der Abklärung von Kin-
  ­gegenüber dem Tuberkulintest insgesamt              dern, insbesondere der Altersgruppe unter
   höherer Spezifität. Daher verlässt man sich         5 Jahren, bei der die Zuverlässigkeit von
   bei Erwachsenen immer häufiger aus-                 IGRAs nicht ausreichend erwiesen ist. In ei-
   schliesslich auf einen IGRA.                        nigen Studien wurde im Vergleich zu älteren
   Bei BCG-geimpften Kindern unter 5 Jahren            Kindern eine sehr hohe Rate an nicht inter-
   mag der alleinige Einsatz eines IGRA beson-         pretierbaren Ergebnissen festgestellt.
   ders vorteilhaft erscheinen. Leider liefern
   IGRAs jedoch gerade bei dieser Alters­gruppe     In der Schweiz empfohlene Teststrategie,
   relativ häufig nicht interpretierbare Ergeb-     wenn die Untersuchung auf eine latente
   nisse und stellen damit keine zufriedenstel-     ­Infektion angezeigt ist
   lende Strategie dar (siehe unten).                  Hier werden bei Erwachsenen, die Kontakt
   IGRAs können also in bestimmten Situatio-           mit einer nachweislich an potenziell an­
   nen den Tuberkulintest nicht ersetzen. Nebst        steckender Tuberkulose erkrankten Person
   den Kindern, bei denen viele Experten noch          hatten, beide Ansätze empfohlen, d. h. 1)
   für den Tuberkulintest plädieren, ist eine          ein Tuberkulintest mit anschliessendem
   weitere solche Situation die wiederholte            IGRA oder 2) ausschliesslich ein IGRA-Test.
   ­Untersuchung von Beschäftigten im Ge-              Dies entspricht den Empfehlungen, die be-
    sundheitswesen zur Überwachung von                 reits in der ersten Fassung dieser Leitlinien
    ­nosokomialen Übertragungen.                       (2012) herausgegeben wurden.

                                                                                                       17
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

       Eine Ausnahme von der oben genannten
       Empfehlung bildet die Untersuchung von             – Isoniazid täglich über einen Zeitraum
       Kindern auf eine latente Infektion mit                von 9 Monaten oder
       M. tuberculosis, insbesondere von Kindern          – Rifampicin täglich über einen Zeitraum
       unter 5 Jahren. Aufgrund der relativen                von 4 Monaten oder
       ­Häufung von nicht interpretierbaren IGRA-­        – Isoniazid und Rifampicin täglich über
        Ergebnissen in dieser Altersgruppe sollte hier       einen Zeitraum von 3 Monaten.
        vorzugsweise der Tuberkulintest eingesetzt
        werden.
                                                         Für die präventive Therapie mit Isoniazid
     Empfehlung zur Aufgabe von wiederholten             liegt über alle Altersgruppen hinweg die um-
     Tests bei Beschäftigten im Gesundheits­             fassendste Erfahrung aus einschlägigen Stu-
     wesen                                               dien vor. Die Studien zu Rifampicin waren
       Routinemässige wiederholte Untersuchun-           bisher weitgehend auf Erwachsene be-
       gen von Beschäftigten im Gesundheitswe-           schränkt. Dennoch werden die hier genann-
       sen ohne bekannte Exposition gegenüber            ten Optionen unabhängig von der Alters-
       einem potenziell ansteckenden Fall werden         gruppe in allen Fällen empfohlen, in denen
       in der Schweiz nicht mehr empfohlen. Hinter       eine präventive Therapie für notwendig
       dieser Entscheidung steht das allgemeine          erachtet wird. Für alle Therapieoptionen
       Prinzip, dass ein Test nur durchgeführt wer-      gelten die entsprechenden Vorsichtsmass-
       den sollte, wenn ein erhöhtes Infektions­         nahmen bei Patienten und Patientinnen mit
       risiko besteht und eine präventive Therapie       akuten oder chronischen Leberfunktions­
       einen konkreten Nutzen bringen kann.              störungen. In diesen Fällen ist die Beizie-
                                                         hung eines Facharztes angezeigt.
                                                         Kontaktpersonen, bei denen eine Infektion
     4.5 Behandlungsoptionen                            durch einen Indexfall mit Isoniazid-resisten-
         bei latenter Infektion mit                      ter Tuberkulose festgestellt wurde, sollte
                                                         eine der Optionen auf Basis von Rifampicin
         M. tuberculosis                                 nahegelegt werden.
       Personen, die als mit M. tuberculosis infi-       Bei korrekter Befolgung kann die präventive
       ziert gelten und ein erhöhtes Risiko für die      Behandlung einer latenten Infektion mit
       Entwicklung einer Tuberkulose aufweisen,          M. tuberculosis das Risiko einer Progression
       sollten eine präventive Therapie (mittlerweile    zur Tuberkulose um bis zu 90 % senken. Die
       häufig auch als «Behandlung der latenten          Verträglichkeit der präventiven Therapie
       Infektion mit M. tuberculosis» bezeichnet)        und die Therapieadhärenz müssen regel-
       erhalten. Hier stehen drei Therapie­schemata      mässig kontrolliert werden. Die monatliche
       mit ähnlicher Wirksamkeit zur Auswahl:            Kontrolle der Leberenzymwerte ist bei Per-

18
4 Latente Infektion mit M. tuberculosis

sonen unter 35 Jahren nicht vorgeschrieben,
sofern keine Lebererkrankung und kein
­regelmässiger Alkoholkonsum bekannt sind
 und die Person keine anderen leberschädi-
 genden Arzneimittel erhält.
 Das Risiko arzneimittelinduzierter Leber-
 funktionsbeeinträchtigungen muss gegen
 den Nutzen der präventiven Therapie abge-
 wogen werden. Bei langjähriger Infektion
 ohne bekannte zusätzliche Risikofaktoren
 überwiegt ab einem gewissen (nicht genau
 definierten) Alter das Hepatitisrisiko gegen-
 über dem Tuberkuloserisiko. Bei Personen
 mit Risikofaktoren (z. B. frisch erworbene
 Infektion) ist das erwartete Hepatitisrisiko
 in Fällen ohne vorbestehende Leberfunk­
 tionsbeeinträchtigung in jedem Alter wahr-
 scheinlich geringer als das Risiko einer Pro-
 gression zur Tuberkuloseerkrankung.

                                                                                           19
5 Umgebungsuntersuchung

      Das Ziel der Umgebungsuntersuchung ist,
      alle diejenigen Kontaktpersonen einer an       Übertragungsquellen für M. tuberculosis
      ansteckender Lungentuberkulose erkrank-         – An Tuberkulose erkrankte Personen,
      ten Person zu identifizieren, die möglicher-      deren Atemwegssekrete M. tubercu­
      weise infiziert wurden oder schon an Tuber-       losis enthalten, sind potenzielle Über-
      kulose erkrankt sind. Bei frisch infizierten      träger, allerdings nicht alle in gleichem
      Personen lässt sich das Risiko einer Tuber-       Masse. Eine potenzielle Übertragungs-
      kuloseerkrankung durch eine präventive            quelle ist definitionsgemäss eine Per-
      Therapie deutlich senken.                         son, in deren Proben aus den Atemwe-
                                                        gen unter dem Mikroskop säurefeste
                                                        Stäbchenbakterien nachgewiesen wer-
     Das Risiko einer Infektion mit                     den (positiver Ausstrich). Eine solche
     M. tuberculosis hängt weitgehend von               Probe kann von spontan produziertem
     folgenden exogenen Faktoren ab:                    oder induziertem Sputum stammen
       – der Konzentration von M. tuberculosis         oder bronchoskopisch gewonnen wer-
          in der Umgebungsluft und                      den (Bronchialabsaugung oder bron-
       – der Expositionsdauer, d. h. der gesam-        choalveoläre Lavage). Ein europäisches
          ten (Atem-)Zeit in dieser Luft.               Konsensusgremium kam ausserdem –
                                                        etwas willkürlicherweise – überein, dass
                                                        ein relevantes Risiko einer Infektion mit
                                                        M. tuberculosis nur bei Kontaktperso-
     Das Risiko einer Progression zur Tuber-            nen besteht, die sich länger als insge-
     kulose hängt von folgenden endogenen               samt 8 Stunden mit solch einer Person
     Faktoren ab:                                       mit positivem Ausstrich im gleichen
       –A lter der Kontaktperson,                      Raum aufhalten.
       –Z eit seit der Infizierung und               – Tuberkulosepatienten, deren Atem-
       –Intaktheit des zellulären Immunsys-            wegssekrete nur kulturell oder in
         tems.                                          Nukleinsäure-Amplifikationsassays
                                                        (z. B. Xpert MTB/RIF® Assay) positiv
                                                        getestet werden, stellen ein geringeres
                                                        Risiko dar. In solchen Fällen gelten
                                                        ­lediglich enge Kontaktpersonen (z. B.
                                                         Familienangehörige) als einem erhöh-
                                                         ten Risiko ausgesetzt sowie Personen,
                                                         deren kumulative Expositionsdauer in
                                                         geschlossenen Räumen 40 Stunden
                                                         überschreitet.

20
5 Umgebungsuntersuchung

In der Schweiz sind die Kantonsarztämter        5.1 A
                                                     blauf einer Umgebungs­
zuständig dafür, dass Umgebungsunter­               untersuchung
suchungen durchgeführt werden. Durch­
geführt wird die Umgebungsuntersuchung           Zunächst wird gemeinsam mit dem Indexfall
durch speziell geschultes, erfahrenes Per­       eine vollständige Liste aller Personen erstellt,
sonal (in der Regel die kantonale Lungenliga     die im Zeitraum von 3 Monaten vor der
oder Mitarbeitende des Kantonsarztamtes),        Diagnose oder dem Behandlungsbeginn
                                                 ­
in enger Zusammenarbeit mit der behan-           ­einen räumlich und zeitlich relevanten Kon-
delnden Ärztin oder dem behandelnden              takt mit ihm hatten. Nach Möglichkeit wer-
Arzt und dem zuständigen Kantonsarzt oder         den die Kontaktpersonen nach dem Grad
der zuständigen Kantonsärztin.                    der Exposition in Gruppen unterteilt.
                                                  Lebt die erkrankte Person in einem institu-
                                                  tionellen Rahmen (Krankenhaus, Pflege-
Indikationen für die Durchführung einer           heim, Sozialwohnheim, Aufnahmestelle für
Umgebungsuntersuchung                             Immigranten und Immigrantinnen, Haftan-
  – Indexfall mit Lungentuberkulose und          stalt), wird die Liste mit Unterstützung einer
     mikroskopisch positivem Ausstrich            zuständigen Person der Institution zusam-
     (spontanes oder induziertes Sputum           mengestellt.
     bzw. mittels bronchoalveolärer Lavage        Mit Blick auf eine möglichst zweckmässige
     oder Bronchialabsaugung gewonnene            Planung der Umgebungsuntersuchung ist
     Proben).                                     die Liste so zügig wie möglich zu erstellen
  – Indexfall mit Lungentuberkulose und          (in den ersten Tagen nach Behandlungs­
     kulturellem Erregernachweis (sponta-         beginn und Meldung).
     nes oder induziertes Sputum oder             Im nächsten Schritt werden Personen, die
     ­mittels bronchoalveolärer Lavage bzw.       engen Kontakt mit der erkrankten Person
      Bronchialabsaugung gewonnene Pro-           hatten, auf Symptome untersucht und
      ben) oder mit einem positiven Ergebnis      ­einem Tuberkulintest oder einem IGRA un-
      nur in einem Nukleinsäuren-Amplifika-        terzogen.
      tionsassay. Bei solchen Indexfällen be-      Unabhängig vom Expositionsgrad werden
      schränkt sich die Umgebungsunter­            bei der Umgebungsuntersuchung Kinder
      suchung auf enge Kontaktpersonen             unter 12 Jahren und immungeschwächte
      (oder Personen mit mehr als 40-stün-         Personen vorrangig und ohne Wartezeit
      diger kumulativer Expositionsdauer)          ­untersucht und getestet. Bei Kindern unter
      und Säuglinge bzw. Kleinkinder.               5 Jahren sind stets so rasch wie mög-
                                                    lich eine klinische Untersuchung und eine
                                                    Thorax­röntgenaufnahme durchzuführen.
                                                    Wenn eine Erkrankung ausgeschlossen
                                                    ­werden kann, wird unverzüglich eine pro-

                                                                                                    21
5 Umgebungsuntersuchung

         phylaktische Behandlung mit Isoniazid ein-      tigung des Immunsystems vorliegt – ver-
      geleitet. Bei einem negativen ersten Tu­           nachlässigbar gering.
      berkulintest wird 2 Monate nach dem                Da häufig weder der BCG-Impfstatus noch
      letzten effektiven Kontakt mit der erkrank-        gegebenenfalls das Impfalter bekannt sind,
      ten Person (aus praktischen Gründen defi-          berücksichtigt das empfohlene Vorgehen
      niert als letzter Kontakt vor Beginn der           den BCG-Impfstatus nicht.
      ­Behandlung des Indexfalls) ein Kontrolltest
       durchgeführt. Fällt der Tuberkulintest bzw.
       der IGRA wieder negativ aus, kann eine
       Infektion mit einiger Wahrscheinlichkeit
       ­
       ausgeschlossen und eine begonnene prä-
       ventive Behandlung abgebrochen werden.
       Bei allen Kontaktpersonen mit Tuberkulose-­
       kompatiblen An­zeichen oder Symptomen ist
       möglichst umgehend eine medizinische
       ­Abklärung (einschliesslich Thoraxröntgen-
        aufnahme) erforderlich. Alle sonstigen
        ­Kontaktpersonen können zu einem gemein-
         samen Termin mindestens acht Wochen
         nach dem letzten effektiven Kontakt unter-
         sucht werden. Ausschliesslich bei Kontakt-
         personen mit positivem Testergebnis ist eine
         Abklärung (Thoraxröntgenaufnahme) er­
         forderlich, um eine Tuberkulose und damit
         die Notwendigkeit einer vollen (kurativen)
         Therapie auszuschliessen.
         Das konkrete Risiko einer Progression zur
         Tuberkulose besteht nur bei gemäss Tuber-
         kulintest oder IGRA mutmasslich infizierten
         Personen. Diese Personen müssen über das
         Risiko einer möglichen Tuberkuloseerkran-
         kung aufgeklärt werden und, sofern keine
         Kontraindikation besteht, Zugang zu einer
         präventiven Therapie erhalten.
         Bei Kontaktpersonen, die mehr als 8 Wo-
         chen nach dem letzten effektiven Kontakt
         ein negatives Testergebnis aufweisen, ist das
         Erkrankungsrisiko – wenn keine Beeinträch-

22
5 Umgebungsuntersuchung

5.2 Besonderes Vorgehen bei der Umgebungsuntersuchung
     je nach Alter und Immunstatus

Vorgehen bei immunkompetenten Kontaktpersonen ab 12 Jahren

8 Wochen nach Kontakt   (8 Wochen entsprechen etwa          Tuberkulintest oder
                        der medianen Latenzphase            IGRA
                        der spezifischen zellvermittelten
                        Immunantwort)

Tuberkulintest          Negatives Ergebnis                 Keine weiteren Untersuchungen
                        Positives Ergebnis                 IGRA zur Bestätigung
IGRA                    Positives Ergebnis                 Medizinische Abklärung und
                                                            ­Thoraxröntgenaufnahme

Thoraxröntgen­          Normal                             Präventive Therapie, sofern keine
aufnahme                                                    Kontraindikation vorliegt
zum Ausschluss einer    Auffällig                          Weitere Abklärung (einschliesslich
aktiven TB                                                  ­Anlegen von Kulturen)
                                                             Tuberkulosebehandlung, sofern
                                                             ­angezeigt

                                                                                                 23
5 Umgebungsuntersuchung

     Vorgehen bei Kontaktpersonen bis zum Alter von 12 Jahren und bei immungeschwächten
     Kontaktpersonen

      Kinder ab 5 Jahren bis vor Vollendung            Tuberkulose über einen Gesamtbehand-
      des 12. Lebensjahres:                            lungszeitraum von 9 Monaten fortzu­
        – S ofortige Testung                          führen.
        – Bei Kindern mit negativem erstem Test
          wird im Abstand von 8 Wochen ein zwei-     Neugeborene bis zur Vollendung
          ter Test durchgeführt.                     des ersten Lebensmonats:
                                                       Hier ist die Untersuchung durch einen
      Kinder unter 5 Jahren:                           ­Spezialisten erforderlich.
        Sofortige fachärztliche Untersuchung, ein-
        schliesslich Thoraxröntgenaufnahme. Kin-     Immungeschwächte Personen:
        der unter 5 Jahren mit negativem erstem        Immungeschwächte Personen (HIV-In­
        Test und ohne aktive Tuberkulose sollten       fektion, arzneimittelinduzierte Immunsup-
        eine Isoniazid-Behandlung erhalten und im      pression, Transplantation, Niereninsuffizi-
        Abstand von 8 Wochen noch einmal ge-           enz etc.) müssen sofort getestet werden
        testet werden. Fällt auch der zweite Test      (vorzugsweise mittels IGRA). Bei einem
        negativ aus, kann die Behandlung abge-         negativen Ergebnis wird der Test im Ab-
        brochen werden. Fällt der zweite Test da-      stand von 8 Wochen wiederholt. Fällt der
        gegen positiv aus (Konversion), ist das        zweite Test positiv aus, ist nach Ausschluss
        betroffene Kind erneut einer Untersu-          einer aktiven Tuberkulose (klinische und
        chung zu unterziehen und die präventive        radiologische Abklärung) eine präventive
        Therapie nach Ausschluss einer aktiven         Therapie indiziert.

24
6 Diagnose der Erkrankung

 Die Diagnose einer aktiven Tuberkulose wird          eine Bronchoskopie ersetzen und eignet sich
 durch den Nachweis einer pathogenen Spe-             auch bei Kindern im Schulalter.
 zies des M.-tuberculosis-Komplexes in einer         Die mikroskopische Untersuchung der ge-
 biologischen Probe (Sputum, Bronchial­              färbten Sputumausstriche (Hellfeld-Mikro­
 sekret, Pleura- oder andere Flüssigkeit,            skopie mit Ziehl-Neelsen-Färbung oder
 ­Gewebe, bei Kindern Magensaftaspirat) ge-          Fluoreszenzmikroskopie mit Auramin O
                                                     ­
  sichert. Im Rahmen der epidemiologischen           oder einem Derivat) ist nach wie vor das
  Überwachung (Meldesystem) spricht man in           schnellste Verfahren zur Vermutungsdia­
  diesem Fall von einem bestätigten Tuberku-         gnose einer multibazillären Tuberkulose. Sie
  losefall.                                          ermöglicht ausserdem die rasche Beurteilung
  Eine klinisch und radiologisch diagnostizierte     der relativen Infektiosität des Patienten oder
  Tuberkulose gilt dagegen als wahrschein­           der Patientin, die wiederum als Indikator für
  licher oder nicht bestätigter Fall. Solche Fälle   die erforderliche Ausdehnung der Umge-
  müssen, ebenso wie eine zum Zeitpunkt des          bungsuntersuchung dient. Die Mikroskopie
  Todes diagnostizierte Tuberkulose, ebenfalls       ist für die Feststellung einer Tuberkulose
  gemeldet werden.                                   ­allerdings wesentlich weniger empfindlich
  Immunologische Tests (Tuberkulintest und            als die Kultur. Dennoch stellt die mikrosko-
  IGRAs) sind indirekte Tests und weisen die          pische Untersuchung ein hochempfindliches
  Immunantwort auf eine vorbestehende my-             Instrument zur Erkennung effektiver Über-
  kobakterielle Infektion nach. Sie eignen sich       träger dar.
  weder zur Bestätigung einer aktiven Erkran-
  kung (Tuberkulose) noch erbringen sie den
  Nachweis, dass noch lebende Erreger vor-
  handen sind.
  Bei Patienten, bei denen aufgrund der klini-
  schen oder radiologischen Befunde Verdacht
  auf das Vorliegen einer Tuberkulose besteht,       Fallbeispiel Nr. 3
  müssen mehrere Proben genommen werden                Ein 27-jähriger Schweizer Bankangestell-
  (in der Schweiz werden mindestens drei               ter leidet an anhaltendem Husten und
  ­Proben empfohlen), von denen mindestens             einem sich allmählich ausdehnenden ka-
   eine frühmorgens (vorzugsweise beim Auf-            vernösen Infiltrat im linken Oberlappen.
   stehen) gewonnen werden muss. Die Induk-            Die erste bakteriologische Sputumunter-
   tion mit einem Aerosol aus 3- bis 6-prozen-         suchung wird nach 18 Monaten vom
   tiger hypertonischer Kochsalzlösung (mit            Hausarzt verordnet und liefert ein ein-
   Salbutamol) erleichtert die Sputumproduk­           deutig positives direktmikroskopisches
   tion bei Patienten, die keine spontane Probe        Resultat. «An Tuberkulose denken!»
   abgeben können. Dieses Verfahren kann oft

                                                                                                      25
6 Diagnose der Erkrankung

      Die mikroskopische Untersuchung muss stets      Arzneimittel sollten stets phänotypisch be-
      durch den kulturellen Nachweis auf Fest-        stätigt werden, da genotypische Systeme
      und Flüssignährmedien ergänzt werden. Dies      bezüglich ihrer Qualitätsmerkmale den klas-
      erhöht die diagnostische Empfindlichkeit,       sischen phänotypischen Tests noch immer
      ermöglicht eine spezifische Diagnosesiche-      unterlegen sind.
      rung der Tuberkulose und gestattet bei kul-     Die tatsächliche klinische Korrelation der
      tureller Bestätigung die weitere Abklärung,     Ergebnisse aus den Resistenzprüfungen ist
      z. B. durch Resistenztests oder molekulare      für einige, jedoch nicht für alle Antituberku-
      Charakterisierung des Erregerstamms.            lotika gesichert. Nach Informationen des
      Bei klinisch hohem Tuberkuloseverdacht und      internationalen Netzwerks der supranatio-
      negativem Mikroskopiebefund kann zur            nalen Referenzlabors sind sowohl die Test-
      zeitnahen, spezifischen Tuberkulosediagno-      merkmale (Empfindlichkeit und Spezifität)
      se ein Nukleinsäuren-Amplifikationsassay        als auch die Reproduzierbarkeit für Isoniazid
      (z. B. Xpert MTB/RIF® Assay) eingesetzt
      werden.
      Bei Patienten, bei denen ein erhöhtes Risiko
      von Arzneimittelresistenzen besteht (frü­here   Fallbeispiel Nr. 4
      Behandlungen, Therapieversagen, Rezidive,         Bei einem jungen Asylsuchenden aus
      Kontakt mit Fällen mit bekannter Medika-          Georgien werden bei der Einreise in
                                                        ­
      mentenresistenz, Herkunft aus einer Region        die Schweiz chronischer Husten und
      mit hoher Prävalenz von Resistenzen), ist         Gewichtsabnahme festgestellt. Nach
                                                        ­
      eine schnelle, empfindliche und spezifische       ­eigenen Angaben hat er in seinem Her-
      genotypische Rifampicin-Resistenzprüfung           kunftsland bereits eine Behandlung
      unerlässlich.                                      ­unbekannter Art und Dauer gegen Tu-
      Ob das Ergebnis eines genotypischen Rifam-          berkulose erhalten. Im Thoraxröntgen-
      picin-Resistenztests routinemässig der Be-          bild ist ein Infiltrat im linken Oberlappen
      stätigung durch einen phänotypischen Test           zu erkennen, das als «Vernarbung eines
      bedarf, ist noch nicht eindeutig geklärt und        ausgeheilten Tuberkuloseherdes» inter-
      hängt möglicherweise vom verwendeten                pretiert wird. Eine Sputumuntersuchung
      Testsystem ab. Es konnte gezeigt werden,            wird nicht durchgeführt. Drei Wochen
      dass phänotypische Tests mit bestimmten             später wird der Patient stationär aufge-
      handelsüblichen Systemen auf Basis von              nommen. Es wird eine multiresistente
      Flüssignährmedien gewisse klinisch relevan-         Tuberkulose mit positivem Sputumaus-
      te Mutationen nicht erkennen. Das Natio­-           strich festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt
      nale Zentrum für Mykobakterien empfiehlt            waren bereits die Zimmernachbarn und
      einen phänotypischen Test zur Bestätigung           das Personal exponiert worden. «An
      auch für Rifampicin. Die Ergebnisse der             Tuberkulose denken!»
      genotypischen Resistenztests für andere

26
6 Diagnose der Erkrankung

und Rifampicin im Allgemeinen gut. Im Ge-
gensatz dazu fielen die Tests mit Ethambutol
und Streptomycin für alle evaluierten Cha-
rakteristika ungünstig aus. Noch weniger ist
über die Genauigkeit und Reproduzierbar-
keit der Resistenztests mit Zweitlinien-­
Medikamenten (verwendet bei multiresis-
tenter Tuberkulose) bekannt. Die Ergebnisse
können bei einigen dieser Wirkstoffe (z. B.
Cycloserin) so unzuverlässig sein, dass sie
von den meisten Experten gar nicht in Be-
tracht gezogen werden.
Bei Patienten mit Rifampicin-resistenter
­Tuberkulose sollten beim Labor Resistenz-
 tests auf folgende Medikamente ange­
 fordert werden: Pyrazinamid (sofern dies
 nicht bereits, wie in der Schweiz üblich,
 ­routinemässig erfolgt ist), mindestens eines
  der injizierbaren Zweitlinien-Medikamente
  (Kanamycin, Amikacin, Capreomycin) sowie
  ein Fluorchinolon (Letzteres vorzugsweise
  mit Bestimmung der minimalen Hemm­
  konzentration). Diese Tests können eine
  wichtige Orientierungshilfe bezüglich der
  empfohlenen Behandlungsschemata bei
  multiresistenter Tuberkulose geben.

                                                                             27
7 Behandlung der Tuberkulose

     7.1 Standard-Therapieschema                             Die Tuberkulose wird mit einer Kombination
                                                             unterschiedlicher Antituberkulotika über
      Vor Beginn einer Tuberkulosebehandlung ist             mehrere Monate behandelt. Die vier am
      es unerlässlich,                                       häufigsten eingesetzten Antituberkulotika
                                                             der ersten Behandlungslinie sind Isoniazid,
                                                             Rifampicin, Pyrazinamid und Ethambutol.
        – die empfohlene diagnostische Abklä-               Tabelle 7-1 fasst die derzeitigen Dosierungs-
           rung vollumfänglich durchzuführen,                empfehlungen der Weltgesundheitsorgani-
           insbesondere die Abnahme geeigneter               sation zusammen.
           Proben für die mikrobiologischen Un-
           tersuchungen,
        – eine Risikobewertung bezüglich einer
           Medikamentenresistenz vorzunehmen,
           insbesondere gegen Rifampicin (wich-
           tigster Wirkstoff der ersten Behand-
           lungslinie und meist ein Hinweis auf
           eine kombinierte Rifampicin-Isonia-
           zid-Resistenz, d. h. eine Multiresistenz
           [multi-drug resistance, MDR]),
        – den Immunstatus des Patienten / der
           Patientin abzuklären (HIV-Test).

     Tabelle 7-1. Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zur Dosierung von vier Erstlinien-­
     Antituberkulotika.
                         Tagesdosis (Bereich)                      Tageshöchstdosis    Fortsetzungsphase
                         in mg/kg                                  (mg)                mit intermit­
                                                                                       tierender (dreimal
                                                                                       wöchentlicher)
                                                                                       Gabe
                         Erwachsene             Kinder                                 Nur Erwachsene
     Isoniazid           5 (4–6)                10 (7–15)          300                 10 (8–12)
     Rifampicin          10 (8–12)              15 (10–20)         600                 10 (8–12)
     Pyrazinamid         25 (10–30)             35 (30–40)         Keine Angaben       Nicht zutreffend
     Ethambutol          15 (15–20)             20 (15–25)         Keine Angaben       Nicht zutreffend

28
7 Behandlung der Tuberkulose

                                                                               Das Therapieschema mit der erwiesener-
  Standardtherapie der Tuberkulose                                             massen besten Wirksamkeit ist eine sechs-
    Initial- oder Intensivphase:                                               monatige Therapie auf täglicher Basis. Alle
    4 Medikamente: Isoniazid (H), Rifampi-                                     Antituberkulotika werden einmal täglich
    cin (R), Pyrazinamid (Z) und Ethambutol                                    verabreicht, nach Möglichkeit morgens. In
    (E) während 2 Monaten                                                      der Intensivphase ist eine intermittierende
                                                                               Behandlung nicht empfohlen. Eine Fortset-
                          Fortsetzungsphase:                                   zungsphase mit intermittierender Behand-
                          2 Medikamente: Isoniazid (H) und Ri-                 lung (dreimal wöchentlich) wird nur emp-
                          fampicin (R) während 4 Monaten                       fohlen, wenn alle Arzneimittel unter direkter
                                                                               Überwachung verabreicht werden. Fettrei-
                          Kurzbezeichnung: 2 HRZE / 4 HR                       che Mahlzeiten vermindern die Resorption
                                                                               und damit auch die maximalen Blutspiegel.

                           Abbildung 7-1. Auswirkungen einer Mahlzeit auf Basis von Kohlenhydraten, Protein oder Fett
                           auf die Pharmakokinetik von Rifampicin.

                             8
                                                                                                                    Empty stomach
                                                                                                                    100 g glucose
                                                                                                                    2 egg whites
                                                                                                                    50 g butter
                             6
Mean serum level (mg/L)

                             4

                             2

                                                               Minimum inhibitory concentration
                             0
                                                     2                     4                                6                            8
                                                                 Hours after ingestion
                                                                                                  Purohit SD, et al. Tubercle 1987;68:151-2

                                                                                                                                              29
7 Behandlung der Tuberkulose

      Wenn die Medikamente zum Frühstück ein-         7.2 T herapie der resistenten
      genommen werden, sollte diese Mahlzeit              ­Tuberkulose
      daher hauptsächlich aus Kohlenhydraten
      (und Protein) bei möglichst geringem Fett­       Die inadäquate Behandlung einer Tuber­
      anteil bestehen (Abbildung 7-1). Es wird         kulose durch resistente M.-tuberculosis-­
      empfohlen, zur Vereinfachung der Behand-         Stämme kann weitere Resistenzentwick­
      lung Kombinationspräparate zu verwenden.         lungen begünstigen (Amplifikation). Die
                                                       Gefahr einer Medikamentenresistenz ist
                                                       insbesondere bei Patienten hoch, auf die
      Die Standardbehandlung wird bei                  mindestens eines der folgenden Kriterien
      allen Tuberkuloseformen eingesetzt,              zutrifft:
      mit folgenden Ausnahmen:
         – Einzelne Organisationen (American
           Thoracic Society) empfehlen die Aus-         – Vorausgehende mindestens einmona-
           dehnung der Fortsetzungsphase auf               tige Behandlung mit Antituberkulotika.
           7 Monate (Gesamtbehandlungsdauer                Das Risiko ist besonders hoch, wenn
           9 Monate), wenn kavernöse Verände-              die Behandlung mehrere Monate ohne
           rungen vorliegen und die Kultur auch            Ansprechen eingenommen wurde
           nach der Intensivphase noch positiv ist.        (Therapieversagen) oder wenn das Be-
         – Tuberkulöse Meningitis: Ausdehnung             handlungsschema nicht den aktuellen
           der Fortsetzungsphase auf 10 Monate             Empfehlungen entsprach.
           (Gesamtbehandlungsdauer 12 Mona-             – Kontakt mit einer an Tuberkulose er-
           te); eventuell in den ersten Wochen             krankten Person mit bekannter Medi-
           ergänzend Kortikosteroide.                      kamentenresistenz
         – Tuberkulöse Perikarditis und schwere        – Herkunft aus einer Region mit hoher
           (septische) Tuberkulose: In den ersten          Prävalenz von medikamentenresisten-
           Wochen wird eine ergänzende Behand-             ter Tuberkulose
           lung mit Kortikosteroiden empfohlen.
         – Bei M. bovis besteht eine natürliche
           Resistenz gegen Pyrazinamid. Bei einer      Während eine Monoresistenz gegen Isonia­
           durch diesen Erreger verursachten Tu-       zid normalerweise mit dem empfohlenen
           berkulose wird daher insgesamt 9 Mo-        Standard-Behandlungsschema überwunden
           nate lang behandelt (Ausdehnung der         werden kann, ist eine Rifampicin-Resistenz
           Intensivphase auf 7 Monate).                entscheidend (mit oder ohne gleichzeitige
         – Bei Rifampicin-resistenten Erregern        Isoniazid-Resistenz, letztere dann meist
            wird die Tuberkulosebehandlung im-         ebenfalls vorhanden): Das Behandlungs­
           mer mit einem Spezialisten festgelegt.      ergebnis bei Rifampicin-resistenter Tuber­
                                                       kulose fällt bei alleinigem Einsatz von Erst­

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