Migration und Integration Städtepartnerschaften - 2018 als Thema von - Auslandsgesellschaft Deutschland
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Inhaltsverzeichnis 01. Vorwort Minister Dr. Joachim Stamp: 2.3 Die Bedeutung der grenzüberschrei- Leitlinien der Integrationspolitik des Landes tenden Zusammenarbeit bei der Ent- Nordrhein-Westfalen (S.4) wicklung von Konzepten für die Integrati- on Geflüchteter in Bocholt (S.37-39) 02. Vorwort Marc Frese / Wolfram Kuschke (S.5-6) 3. Handlungsfeld Gesellschaftliche Teilhabe von Migranten und deutsch- 1. Migration und Integration als Thema von Städtepartnerschaften: türkische Städtepartnerschaften: Beispiele guter Praxis Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen und Denkanstöße für die Vertiefung 3.1 Aachen und Sarıyer (Istanbul): Freundschaft vor Politik: Migration und 1.1 Die Flüchtlings- und Asylpolitik der Integration als Thema von Städtepartner- Europäischen Union schaften (S.40-42) Prof. em Dr. Wichard Woyke (S.7-13) 3.2 Strategien der Motivierung migran- 1.2 Migration und Integration im tischer Communities zur Teilhabe. föderalen System der Bundesrepublik Ein Beispiel des Partnerschaftsvereins Deutschland – Die Rolle der Kommune Castrop-Rauxel – Zonguldak – Trikala Prof. em. Dr. Uwe Andersen (S.14-20) (S.42-44) 1.3 Städtepartnerschaften: Mehr Heimat 3.3. Wie können Städtepartnerschaften und weniger Vorurteile mit der Türkei auch unter schwierigen Prof. Dr. Haci-Halil Usluçan (S.21-25) Bedingungen mit Leben gefüllt werden? Das Beispiel Bergkamen (S.45-46) 1.4 Zukunft der Arbeitsmigration - Projekte unter Städtepartnern 3.4. Integration und Teilhabe: Spanisch- apl. Prof. Dr. Dirk Halm (S.26-30) stämmige Menschen der zweiten Generation engagieren sich in Versmold 2. Handlungsfeld Integration Geflüchteter: Beispiele guter Praxis (S.47) 2.1 Städtepartner aus Polen und Ungarn 4. Zukunft der Arbeitsmigration – Beispiele guter Praxis informieren sich über die Integration Geflüchteter in Iserlohn (S.31-33) 4.1 Den Arbeitskräftemängel in der Altenpflege durch die Ausbildung junger 2.2 Vermittlung – Präsentation – Formali- Spanier/innen beheben? – Das Pader- sierung: Wie positioniert die Landes- born-Pamplona Projekt (S.48-53) hauptstadt Düsseldorf Flüchtlingsarbeit in ihren Städtepartnerschaften? (S.33-37) 4.2 Zukunft(s)pflege: Jugendliche aus Detmold und Oraiokastro für Pflege- berufe begeistern (S.53-54) 5. Ergebnisse und Ausblick (S.55-56)
Seite 4 V orwort Minister Dr. Joachim Stamp schutz differenzieren soll. Wir wollen ver- Leitlinien der Integrationspolitik des bindliche Regeln für den Zugang nach Landes NRW. Deutschland und Nordrhein-Westfalen schaffen. Nur so können wir zum einen die Nordrhein-Westfalen ist ein Bundesland, Fachkräfte gewinnen, die wir benötigen, um das von Vielfalt geprägt ist und das 4,6 NRW als attraktiven Wirtschaftsstandort zu Millionen Menschen aus vielen Ländern fördern und zum anderen die Potenziale der dieser Welt zu ihrer neuen Heimat gemacht Menschen ausschöpfen, die aufgrund von haben. Wir schätzen diese Weltoffenheit, Flucht und Krieg zu uns gekommen sind. die sich im sozialen Gefüge unserer Metro- Das Ministerium für Kinder, Familie, Flücht- polen und Kommunen widerspiegelt. Sie linge und Integration versteht sich bereichert unsere kulturellen Traditionen und als Chancen-Ministerium, das Menschen trägt zu der florierenden Wirtschaft und ho- unabhängig von ihrer Herkunft Chancen auf hen Innovationsfähigkeit unseres Landes Integration in Arbeit, auf wirtschaftlichen bei. Die Migrations- und Integrationspolitik Aufstieg sowie Teilhabe am gesellschaftli- der Landesregierung hat das Ziel, Städte chen Leben eröffnen möchte. Die Kehrseite und Gemeinden dabei zu unterstützen, die- der Medaille bedeutet aber auch: Jene sen weltoffenen Charakter zu erhalten und Menschen, die kein Bleiberecht haben, weiter auszubauen: müssen dieses Land wieder verlassen. Starker gesellschaftlicher Zusammenhalt Kulturelle Vielfalt in den Kommunen. in Kommunen. Wir möchten Einwanderern und Einwande- Wir möchten, dass unsere Städte und Ge- rinnen schneller die politische Partizipation meinden Orte mit hoher Lebensqualität sind, ermöglichen und machen uns stark für gekennzeichnet durch einen starken gesell- kürzere Fristen zum Erwerb der Niederlas- schaftlichen Zusammenhalt. Deshalb unter- sungserlaubnis und der Staatsbürgerschaft. stützen wir die in NRW eingerichteten 53 Ein grundlegendes Element dafür ist eine Kommunalen Integrationszentren als das Wertedebatte darüber, welche Grundsätze Herzstück der kommunalen Integrations- uns als Gesellschaft verbinden, und ein Be- Infrastruktur. Außerdem suchen wir gezielt kenntnis dazu, dass gelebte Vielfalt auf der den Dialog und die Zusammenarbeit mit Werteordnung des deutschen Grundgeset- Selbstorganisationen von Migranten und mit zes basieren muss. Es ist uns in diesem Zu- den etwa 190 Integrationsagenturen der sammenhang wichtig, den Dialog mit den Freien Wohlfahrtspflege in unseren Kommu- islamischen Verbänden neu auszurichten, nen, damit die Akteure gemeinsam die Her- um einerseits einer Fremdbestimmung von ausforderungen der Integrationsarbeit meis- außen entgegenzuwirken, und andererseits tern und innovative Ideen entwickeln die Vielfalt des Islams in Nordrhein-Westfa- können. len miteinzubeziehen. Wirtschaftlich florierende Kommunen. Ich begrüße den Erfahrungsaustausch inner- Um die globale Wettbewerbsfähigkeit unse- halb der Städtepartnerschaften, da er uns rer Städte und Gemeinden zu sichern, plä- die Möglichkeit eröffnet, voneinander und dieren wir als Landesregierung für die miteinander zu lernen. Nur so gelingt Einführung eines modernen Einwanderungs- es uns, durch Integrationspolitik die Lebens- gesetzes in Deutschland, das klar zwischen qualität in unseren Städten weiter zu verbes- qualifizierter Einwanderung und Flüchtlings- sern.
Seite 5 V orwort Marc Frese Der Zustrom Geflüchteter und Asylsuchen- Präsident Auslandsgesellschaft Deutschland e.V. der nach Europa und Deutschland 2015 / Wolfram Kuschke 2016 lenkte den Blick auf einen weiteren, neuen Aspekt: Ist das Thema „Flucht und Vizepräsident, Staatsminister a.D. Migration nach Europa“ ein Thema unter Die Auslandsgesellschaft Deutschland e.V. Städtepartnern? Welche Ansatzpunkte, hat 2010 mit Förderung durch die aber auch Hindernisse gibt es? Im Auftrag Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen eine der Staatskanzlei NRW hat die Auslandsge- erste, umfassende Bestandserhebung über sellschaft Deutschland eine Blitzumfrage Städtepartnerschaften in unserem Bundes- durchgeführt, deren Ergebnis deutlich land veröffentlicht. Der Titel war program- machte: Es lohnt sich, dem Thema weiter matisch: „Von Städtepartnerschaften zu nachzugehen. kommunalen Netzwerken – Kommunale Vernetzung als Motor bürgerschaftlichen Wir freuen uns, dass das für Integrationsfra- Engagements in einer europäischen Öffent- gen zuständige Ministerium unseres Landes lichkeit“. Weitere Studien und Praxisent- Nordrhein-Westfalen bereit war, mit einer wicklungsprojekte schlossen sich an. Dabei Projektförderung die intensivere Beschäfti- sind wir auf die Frage gestoßen, welche gung mit dem Thema zu ermöglichen. Mit Bedeutung Städtepartnerschaften mit Kom- dem aus unseren früheren Projekten be- munen aus ihren Herkunftsländern für Mig- währten Instrument der Intensivinterviews rantinnen und Migranten haben könnten: haben wir im Sommer 2017 die Ansätze Sind sie integrationsförderlich, und Erfahrungen unterschiedlicher Kommu- indem sie zu weiterer Teilhabe und Partizi- nen in NRW erhoben. Wir danken den pation einladen? Erste Antworten vermittelte Partnerschaftsvereinen oder -komitées und uns die Stadt Versmold unter ihrem ihren Ansprechpartnern in ihren Stadtver- damaligen Bürgermeister Thorsten Klute: waltungen in Aachen (Sarıyer, Türkei), Cas- Sie wollte den zugewanderten Bürgerinnen trop-Rauxel (Zonguldak, Türkei, und Trikala, und Bürgern ein Zeichen des Danks aus- Griechenland), Paderborn (Deutsch-Spani- sprechen, dass ohne deren Arbeitskraft der sche Gesellschaft in Kooperation mit der wirtschaftliche Aufschwung der Stadt so Akademie IN VIA), Versmold (Dobczyce, nicht vorstellbar sei. Daraus hervorgegan- Polen; Tui, Spanien; Vrdnik, Serbien) und gen ist eine Städtepartnerschaft mit dem Wassenberg, den Stadtverwaltungen spanischen Tui in Galizien, woher ein und Europabüros / internationalen Büros in Großteil der mittlerweile in Versmold den Städten Bergkamen, Bocholt, Detmold beheimateten Spanier/innen stammt. (in Kooperation mit dem Deutsch- In ähnlicher Weise hatte die ehemalige Griechischen Freundeskreis), Düsseldorf, Bergarbeiterstadt Bergkamen bereits 1994 Iserlohn, Lünen, Stolberg und im Kreis Her- als Zeichen der Anerkennung für die Leistun- ford sowie der Integrationsbeauftragten der gen der türkischstämmigen Bergleute eine Stadt Unna dafür, dass sie bereit waren, uns Städtepartnerschaft mit Taşucu (jetzt: Silifke) von ihren Erfahrungen zu beiden Schwer- begründet. punkten, dem Aspekt der Integration durch
Seite 6 Teilhabe an Städtepartnerschaften und Unser Kompetenzteam unter der ehrenamt- des Austausches unter Städtepartnern zur lichen Leitung Wolfram Kuschkes (Prof. Dr. Aufnahme und Integration Geflüchteter, zu Uwe Andersen, Sigmar Fischer, apl Prof. berichten. Dr. Dirk Halm, Prof. Dr. Haci-Halil Usluçan und Prof. Dr. Wichard Woyke) hat die von Wir danken auch den zahlreichen Teilneh- Sigmar Fischer geführten Intensivinterviews menden an unserer Fachtagung vom 20. ausgewertet und in den einleitenden wis- November 2017 im Ministerium für Kinder, senschaftlichen Beiträgen erste Erkenntnis- Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI).se und Schlussfolgerungen dokumentiert. Ein besonderer Dank gilt Herrn Minister Dr. Die Praxisbeispiele vermitteln einen Ein- Joachim Stamp und Frau Staatssekretärin blick in das Engagement von Menschen mit Serap Güler für die Projektförderung und und ohne Migrationshintergrund in unse- die Gastfreundschaft in ihrem Haus. rem Land Nordrhein-Westfalen und seinen Städten und Gemeinden, die am besseren Verständnis füreinander, an der Integrati- on, einem friedlichen Miteinander und nicht zuletzt an der Völkerverständigung arbeiten. Wolfram Kuschke Marc Frese Vizepräsident, Staatsminister a.D. Präsident Auslandsgesellschaft Deutschland e.V.
Seite 7 1.1 Die Flüchtlings- und Asylpolitik der Europäischen Union. Professor em. Dr. Wichard Woyke 1. Einführung Neben den allgemeinen Menschenrechten, der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der Europäischen Menschenrechtskonventi- on (EMRK) bildet die Europäische Union ei- nen weiteren wichtigen Rahmen für die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik. Der Begriff „Asyl“ stammt aus dem Griechi- schen „asylon“ und bedeutet etwa Heim oder Unterkunft. Anrecht auf Asyl genießt aber nur eine Person, die „aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu Professor em. Dr. Wichard Woyke einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung nengrenzen sowie die Zunahme der Flucht- sich außerhalb des Landes befindet, und Asylzuwanderung in die EG/EU führten dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt“ zu einer Harmonisierung in diesen Berei- (Genfer Flüchtlingskonvention 1951). chen. Die Zusammenarbeit der heutigen Neben den Asylbewerbern gibt es noch EU-Mitgliedstaaten im Bereich der Asylpoli- zwei weitere Flüchtlingsgruppen, die das tik begann bereits in den 80er Jahren des europäischen Recht unterscheidet: 20. Jahrhunderts. Ein großer Meilenstein war die im Grenzort Schengen (Luxemburg) a) jene aus Bürgerkriegsgebieten, die nach 1985 von fünf Staaten (Benelux, Frankreich, einem Beschluss der EU vorübergehenden Deutschland) geschlossene Vereinbarung Schutz erhalten können, sowie über den Abbau von Personenkontrollen an den Binnengrenzen. b) Flüchtlinge, die einen sogenannten subsi- diären Schutz erhalten, weil ihnen im Her- Um den Missbrauch offener Grenzen durch kunftsland Folter oder Gefahr für Leib und illegale Einwanderung oder das internatio- Leben drohen. nale Verbrechen zu verhindern, vereinbarte man eine verstärkte Kontrolle der Außen- 2. Entwicklung grenzen und eine engere Zusammenarbeit Ursprünglich lag die Zuständigkeit für die der nationalen Polizei- und Justizbehörden. Bereiche Migration und Asyl in Europa bei 1991 wurde das Schengener Abkommen in den Nationalstaaten. Die Schaffung eines den Maastrichter Vertrag integriert und da- Binnenmarkts mit der Abschaffung der Bin-
Seite 8 mit in den Besitzstand der EU übernommen. Säule und somit weitestgehend in eine Ziele des Schengen-Abkommens waren gemeinsame (supranationale) Zuständigkeit Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen überführt. Die bestehenden Regelungen des Mitgliedstaaten, einheitliche Vorschriften Schengener Abkommens bezog der für die Einreise und den kurzfristigen Amsterdamer Vertrag ein. Es sollte also ein Aufenthalt von Ausländern im Schengen- gemeinsames Asylsystem geschaffen und Raum (einheitliches Schengenvisum); Asyl die Migrationspolitik vergemeinschaftet (Bestimmung des für einen Asylantrag werden. „Die Union entwickelt eine gemein- zuständigen Mitgliedstaats); Maßnahmen same Politik im Bereich Asyl, subsidiärer gegen grenzüberschreitenden Drogenhan- Schutz und vorübergehender Schutz, mit del; polizeiliche Zusammenarbeit und Zu- der jedem Drittstaatsangehörigen, der inter- sammenarbeit der Schengenstaaten im Jus- nationalen Schutz benötigt, ein angemesse- tizwesen. ner Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung Mit dem 1993 in Kraft getretenen Maast- gewährleistet werden soll“ (Art.78 Abs.1 richter Vertrag verpflichteten sich alle EU- Satz 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Mitgliedstaaten erstmals, im Bereich der Europäischen Union). Die Aufnahme von Asyl- und Einwanderungspolitik zusammen- Migranten, die vor allem aus wirtschaftli- zuarbeiten. Fragen der Kontrollen an den chen Gründen nach Europa kommen, wurde Außengrenzen, Asylpolitik und die Einwan- weiterhin unter nationale Kompetenz ge- derungspolitik wurden zu „Angelegenheiten stellt. von Gemeinsamem Interesse“ erklärt. Voll- Als Verfahrensmaßnahme wurde das Dub- ständig vergemeinschaftet und in die „erste lin-Abkommen 1997 als völkerrechtlicher Säule“ des Maastrichter Vertrags überführt Vertrag verabschiedet. Es regelt, welcher wurde aber nur die Visa- Staat für die Prüfung eines in der EU gestell- politik. Die restlichen Politikfelder der ten Asylantrags zuständig ist. Dublin I trat Asyl- und Einwanderungspolitik verblieben am 1.9.1997 in Kraft und wurde am in der „dritten Säule“ und damit im Bereich 17.3.2003 durch eine neue Dublin- zwischenstaatlicher Kooperation. Zwar Verordnung (Dublin II) abgelöst. Laut bekannte sich die EU nun im Maastrichter Abkommen ist immer nur ein EU-Staat für Vertrag zu einer gemeinsamen Asyl- und ein Asylverfahren zuständig, damit nicht Einwanderungspolitik, doch der Flüchtlings- gleichzeitig oder nacheinander in EU- schutz verblieb im Ermessen der nationalen Staaten Asylanträge gestellt oder gezielt Regierungen. Staaten zur Antragstellung ausgesucht wer- den können. Grundsätzlich hat derjenige Im 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Mitgliedstaat den Asylantrag zu prüfen, in Vertrag standen Regelungen für den schritt- den der Asylbewerber zuerst eingereist ist. weisen Aufbau eines gemeinsamen „Raums Alle EU-Mitgliedstaaten sowie die der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Schengen-Staaten Island und Norwegen Die Politikfelder Asyl und Einwanderung wenden die Dublin-II-Verordnung an. Die sowie die Kontrolle der Außengrenzen Schweiz übernahm die Regelungen mit wurden von der dritten in die erste ihrem Beitritt zum Schengen-Raum am
Seite 9 29.3.2009. Die Übernahme der Asyl- und bisher stark voneinander abweichenden Migrationspolitik in die „erste Säule“ war nationalen Anerkennungsquoten für Flücht- ein außerordentlicher Schritt, unterstellte er linge angleichen. doch diese Politikfelder nun der Gemeinschaftsmethode. In der fünfjährigen Mit dem Vertrag von Lissabon 2009 wurden Übergangzeit galt bis zum 1. Mai 2004 die Maßnahmen im Bereich Asyl vollkom- in mehreren asyl- und einwanderungs- men in die gemeinsame Politik überführt. politischen Entscheidungen noch das Ein- Durch den Vertrag sollen nicht nur Mindest- stimmigkeitsprinzip, das danach durch normen festgelegt, sondern ein gemeinsa- Mehrheitsentscheidungen im Rat ersetzt mes System mit einem einheitlichen Status wurde. und einheitlichen Verfahren geschaffen werden. 3. Entwicklung im 21. Jahrhundert Bei der Flüchtlings- und Asylpolitik der EU ist Dieses gemeinsame System muss dabei die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen folgende Aspekte umfassen: und Migranten wesentlich. Die EU-Verträge sehen für Flüchtlinge und Migranten • einen einheitlichen Asylstatus, unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten vor. Seit Inkrafttreten des • einen einheitlichen subsidiären Schutz- Amsterdamer Vertrags 1999 ist die Flücht- status, lings- und Asylpolitik prinzipiell auf supra- nationaler Ebene verankert; seit 2005 kann • eine gemeinsame Regelung für den vor- im Rat mit Mehrheit in Asylfragen entschie- übergehenden Schutz, gemeinsame Ver- den werden. Die Aufnahme von Migranten fahren für die Gewährung und den – die in erster Linie aus wirtschaftlichen Entzug des Asylstatus bzw. des subsidiä- Gründen den Weg nach Europa suchen – ren Schutzstatus, Kriterien und Verfahren obliegt weiterhin nationaler Regulierung. zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der Mit dem 1990 geschaffenen und mittlerwei- für die Prüfung eines Asylantrags zustän- le in dritter Fassung bestehenden Dublin- dig ist, System verfügt die EU über eine Regelung zum Umgang mit Asylsuchenden. Gemäß • Normen für die Aufnahmebedingungen, Abkommen ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig, in • die Partnerschaft und Zusammenarbeit dem der Asylbewerber zuerst europäischen mit Drittländern. Boden betreten hat. Das im Juni 2013 voll- endete und von allen teilnehmenden EU- Der enorme Flüchtlingsdruck im Jahr 2015 Staaten ratifizierte Gemeinsame Europäi- führte dazu, dass sich die EU von einer ein- sche Asylsystem (GeAS) hat einheitliche heitlichen Asylpolitik entfernte. So variiert Schutzstandards für Flüchtlinge, verkürzte die Aufnahmebereitschaft zwischen den Asylverfahren und einen vereinfachten Zu- EU-Mitgliedstaaten sehr stark. Küstenländer gang zum nationalen Arbeitsmarkt zum wie Italien, Malta und Griechenland waren Ziel. Die Mitgliedstaaten wollen auch die
Seite 10 besonders betroffen. Darüber hinaus unter- Außengrenzen zurückgeschickt wurden. scheiden sich die Anerkennungs- und Rück- Zudem wandten Deutschland und Öster- führungsquoten innerhalb der EU trotz zum reich Anfang September in Übereinstim- Teil identischer Herkunftsstaaten und Flucht- mung mit dem Schengen-Abkommen ursachen erheblich. Nicht zuletzt sind die Grenzkontrollen an, um den Zustrom von Asylstandards innerhalb der EU noch immer Flüchtlingen zu verlangsamen und die natio- sehr unterschiedlich. Wenngleich Flücht- nalen Aufnahmeeinrichtungen nicht zu lingsstatus und Mindestleistungen durch überfordern. Weitere EU-Mitgliedstaaten EU-Recht vereinheitlicht sind, wird bei der wie Frankreich, Dänemark und Schweden Umsetzung weiter nationales Recht prakti- führten ebenfalls wieder vorübergehend ziert. Der große Zustrom und die ungleiche Grenzkontrollen ein. Das Schengener Ab- Verteilung von Flüchtlingen führten dazu, kommen erlaubt in Ausnahmesituationen dass drei europäische Regierungen die Re- nationale Grenzkontrollen für einen Zeit- gelungen kurzzeitig außer Kraft gesetzt raum von maximal sechs Monaten (mit der hatten: Griechenland und Italien registrier- Möglichkeit der Verlängerung bis zu 24 ten nur noch einen Bruchteil der Flüchtlinge, Monaten). Wesentlich restriktivere Maßnah- während sie die restlichen ungehindert men vollzogen Ungarn, Slowenien und Ös- nach West- und Nordeuropa weiterreisen terreich, welche im Juni, September und ließen. Auch Deutschland hat mit der Ent- Dezember 2015 mit der Errichtung von scheidung von Bundeskanzlerin Merkel An- Grenzzäunen begannen. fang September 2015 bei syrischen Kriegs- flüchtlingen aus humanitären Gründen Am 13. Mai 2015 hat die EU-Kommission ausnahmsweise vorübergehend nicht die mit der Europäischen Migrationsagenda ei- Dublin-Regelungen angewendet, indem je- ne weitreichende Strategie vorgelegt, um ne Syrer, die Deutschland bereits erreicht einmal die unmittelbare Krise zu bewältigen hatten, nicht wieder in Länder mit EU- und zum anderen der EU das Instrumentari-
Seite 11 um für eine mittel- und langfristig bessere sche Gerichtshof (EuGH) die Klagen Un- Steuerung der Migrationsströme an die garns und der Slowakei gegen die Vertei- Hand zu geben. Ziele der Agenda sind u.a. lung von Flüchtlingen ab. Beide die Bekämpfung irregulärer Migration, osteuropäischen EU-Länder hatten den Schutz der Außengrenzen, Verbesserung Mehrheitsbeschluss der EU-Innenminister des europäischen Asylsystems, Reduzierung vom September 2015 infrage gestellt. Somit irregulärer Migration, Öffnung von mehr müssten beide demnach Personen aus legalen Zuwanderungswegen sowie engere Griechenland und Italien aufnehmen; die- Partnerschaften mit Drittländern im Bereich sen muss zuvor bereits ein Schutzstatus zu- der Schleuserkriminalität und der Rückkehr- erkannt worden sein. Von den 160.000 zur politik. Verteilung in der EU anstehenden Flüchtlin- gen waren in zwei Jahren weniger als 4. Das Verteilungsverfahren 30.000 Menschen in der EU umverteilt. Das Manche Politiker wie auch politische Beob- Urteil könnte nun dazu führen, dass mehrere achter sehen eine feste Quote zur Verteilung osteuropäische EU-Staaten wegen ihrer der Flüchtlinge in der Europäischen Union Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, in ei- als mögliche Lösung der Flüchtlingskrise. nem weiteren Verfahren zu Geldbußen ver- Ende September 2015 beschlossen die EU- urteilt werden. Innenminister, in den nächsten zwei Jahren 120.000 Flüchtlinge aus EU-Grenzländern 5. EU-Türkei-Abkommen wie Italien und Griechenland umzusiedeln. Am 18. März 2016 haben die EU und die Allerdings stimmten mehrere osteuropäische Türkei ein Abkommen geschlossen mit dem Staaten - Polen, Tschechien, die Slowakei, Ziel, dass weniger Flüchtlinge in die EU Ungarn, Rumänien sowie die baltischen kommen und sie auf ihrer Flucht über die Staaten - gegen das Vorhaben. Ursprüng- Ägäis von der Türkei nach Griechenland lich sollten 54.000 Flüchtlinge von Ungarn nicht mehr ihr Leben riskieren. Das Abkom- aus auf andere EU-Staaten verteilt werden. men sah u.a. Vereinbarungen zur Rückfüh- Die EU-Kommission berechnete auf Basis rung, zur Verteilung von Flüchtlingen, zur der Bevölkerungsgröße, der Wirtschafts- Visafreiheit für Türken und die EU-Beitritts- kraft und weiterer Faktoren, wie viele dieser verhandlungen vor. Die EU unterstützt die Asylsuchenden andere EU-Staaten jeweils Türkei finanziell, damit sie den mehr als 3 übernehmen müssen. Sie erhalten aus Brüs- Millionen syrischen Flüchtlingen, die aktuell sel für jeden Flüchtling eine Kostenerstattung in der Türkei registriert sind, bessere Lebens- in Höhe von 6000 €. Wegen des Wider- bedingungen bieten kann. Damit müssen sie stands der osteuropäischen Länder scheint ihre Flucht nicht fortsetzen und sich und ihre eine feste Quotenregelung, nach der Familien nicht gefährden. Dafür stellt die EU Flüchtlinge aufgrund von Bevölkerungszahl, bis 2018 sechs Milliarden Euro zur Verbes- Wirtschaftskraft und Arbeitslosenquote auf serung der Lebensumstände der Flüchtlinge die EU-Staaten verteilt werden, weiter un- in der Türkei bereit. Außerdem sollen Flücht- wahrscheinlich. linge, die keinen Anspruch auf Asyl haben, Am 6. September 2017 wies der Europäi- von den griechischen Inseln zurück in die
Seite 12 Türkei gebracht werden. Das Abkommen Entwicklung, insbesondere zugunsten von zwischen der EU und der Türkei sollte die jungen Menschen und Frauen in lokalen Massenflucht über die Ägäis stoppen. Im Gemeinschaften mit Schwerpunkt auf Rahmen des EU-Türkei-Abkommens arbeitet Berufsbildung und der Gründung von die EU bei der Seenotrettung in der Ägäis, Kleinst- und Kleinunternehmen, ausgerichtet. beim Grenzschutz und bei der Bekämpfung Darüber hinaus sollen EU-Migrationspart- der Schleuserkriminalität eng mit der Türkei nerschaften mit wichtigen Transit- und Her- zusammen. Ziel ist es dabei, dem Schleppe- kunftsstaaten Afrikas dazu beitragen, illega- runwesen den Boden zu entziehen. Seit le Migration zu verhindern, eine verbesserte Abschluss des Abkommens kommen deut- Rückübernahme zu erreichen und die Ursa- lich weniger Flüchtlinge in Griechenland chen von Flucht und illegaler Migration in an. Während im Januar 2016 noch 67.000 Herkunfts- und Transitstaaten zu mindern. Flüchtlinge nach Griechenland gelangten, Auch Rückführungen sollen dadurch erleich- sind es seit Anfang 2017 nur noch 1.200 tert werden. Derzeit bestehen Migrations- (UNHCR). Die Türkei scheint also wirksam partnerschaften mit fünf afrikanischen ihre Grenzen zu schützen und effektiver Schwerpunktländern südlich der Sahara: gegen Schleuser vorzugehen. Niger, Mali, Nigeria, Senegal und Äthiopi- en. Seit der Einführung dieser Partnerschaf- 6. Weitere Maßnahmen ten im Juni 2016 gab es in diesen Ländern aber auch bei der EU-Afrikapolitik insge- Die EU will auch die Fluchtursachen be- samt deutliche Fortschritte. kämpfen, indem gezielte Förderprojekte die Weiter will die EU noch mehr Registrie- Lebensbedingungen so verbessern sollen, rungszentren (sogenannte Hotspots) in be- daß die Menschen nicht mehr ihre Heimat sonders betroffenen Mitgliedstaaten am oder Flüchtlingslager in den Krisengebieten Mittelmeer bei der Erstaufnahme von verlassen. So hat die EU einen Treuhand- Flüchtlingen einführen und die Länder bei fonds für Afrika mit rund 2,8 Milliarden Euro der Praktizierung der Hotspots unterstützen. aufgelegt. Insgesamt 118 Projekte im Wert Damit können Flüchtlinge an den europäi- von über 1,8 Milliarden Euro wurden bereits schen Außengrenzen leichter und schneller auf den Weg gebracht. Der Großteil davon registriert werden. ist auf Beschäftigung und wirtschaftliche
Seite 13 7. Resumee Die massiven Fluchtbewegungen im Jahr Der Ring „sicherer Drittstaaten“ um die EU- 2015 haben gezeigt, dass die Asylpolitik Außengrenzen führt dazu, dass die Zahl der EU - vorsichtig gesagt - nur unzureichend von Asylsuchenden stetig abnimmt. Dass ist. Die Entscheidungen im Rat mit Mehrheit diese dabei zum Teil in faktisch unsichere sind zwar formal korrekt, führen aber zu Drittstaaten wie Libyen oder Marokko einer Spaltung der Staaten und damit des geschickt werden, ist gemessen an den Integrationsprozesses. Wenn ein Staat par- Minimalansprüchen an eine europäische tout keine Flüchtlinge aufnehmen will und Asylpolitik als menschenrechtlich proble- ein Mehrheitsbeschluss ihm eine gewisse matisch zu werten. Auch wenn viele NGOs Zahl von Flüchtlingen oktroyiert, dann führt die EU-Asylpolitik kritisieren, so stellen sie dieses Verhalten zu Verdruss und Ärger und keine realistischen Pläne vor, wie die Flücht- zu Entfremdung in der EU. Das bedeutet, lingsströme kanalisiert werden und die dass nach einer anderen Lösung gesucht Flüchtlinge in den EU-Ländern unter-kommen werden muss. Viele Nichtregierungsorgani- können. Es gibt eine gesellschaft-liche sationen kritisieren, dass die Politik der EU Obergrenze zur Aufnahme von Flüchtlingen hauptsächlich an der Abwehr und Kontrolle nicht nur in den EU-Ländern, sondern auch von Zuwanderern ausgerichtet sei. Der in Ländern wie die Schweiz oder Norwe- Schutz von Asylsuchenden habe somit in gen. Somit ist die Asylpolitik immer ein Ba- der europäischen Asylpolitik keine Priorität. lance-Akt, bei dem internationale Verpflich- Besonders die Regelungen zu sicheren tungen und nationale gesellschaftliche Drittstaaten und Herkunftsländern stoßen Entwicklungen in Einklang miteinander ge- dabei auf massive Kritik. bracht werden müssen. Kontakt: woyke@uni-muenster.de
Seite 14 1.2 Migration und Integration im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland – Die Rolle der Kommunen. Professor em. Dr. Uwe Andersen Das Themen- und Handlungsfeld Migration und Integration hat unter dem Druck stark gewachsener Flüchtlingsströme in den letz- ten Jahren insbesondere in der EU und ihren Mitgliedsländern unter vielfältigen Gesichts- punkten eine herausragende, meist aller- dings kontroverse Rolle gespielt und ist selbst auf die Themenagenda von Städte- partnerschaften gelangt. Im Folgenden sol- len nach einigen einleitenden Überlegungen Professor em. Dr. Uwe Andersen, © Ifhv.de in drei Schritten die innerdeutsche Kompe- tenzverteilung, die besondere Rolle der schwierigen Koalitionsverhandlungen zur Kommunen und der mögliche und faktische Bildung einer neuen Bundesregierung (wie- Stellenwert von Städtepartnerschaften hin- derum mit der Flüchtlingspolitik als einem sichtlich Migration und Integration skizziert zentralen Konfliktthema). Für die deutsche werden. Reaktion auf das Flüchtlingsdrama 2015 und die damit verbundene nationale wie 1. Einleitende Überlegungen internationale Diskussion fühlt man sich an In Europa ist das Migrationsthema zum Schillers Wallenstein-Diktum erinnert: „Von wichtigsten Verstärker neonationalistischer der Parteien Gunst und Hass verwirrt Tendenzen geworden einschließlich des schwankt sein (hier ihr) Charakterbild in der BREXIT. Die deutsche Migrationspolitik, ins- Geschichte.“ besondere die kurzzeitige Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge durch die Bundesre- Unbestreitbar ist, dass für die Migrationspo- gierung unter Bundeskanzlerin Merkel litik die Relation von Quantität und Zeit, 2015, die mit einem partiellen staatlichen aber auch die Qualität eine zentrale Rolle Kontrollverlust verbunden war, steht im Mit- spielt. Letzterer Aspekt bezieht sich insbe- telpunkt einer erbitterten politischen Kontro- sondere auf unterschiedliche Motive und verse mit Langzeitfolgen. Nicht zuletzt resul- Migrationsgruppen, wobei – praktisch häu- tieren daraus die Erweiterung des fig schwer abzugrenzen – zumindest genuin traditionellen deutschen Parteienspektrums politisch Verfolgte, (Bürger-)Kriegsflüchtlin- um eine rechtspopulistische Partei, die auf ge, Armuts-/Wirtschaftsflüchtlinge, Arbeits- das Flüchtlingsthema fokussierte Alternative migranten und genuine Einwanderer unter- für Deutschland (AfD), 2017 erstmals auch schieden werden können, für die im Bundestag und die anschließenden unterschiedliche internationale und nationa-
Seite 15 le rechtliche wie faktische Rahmenbedin- lich ist und nur schwer zu ändern sein dürfte, gungen gelten. Durchgängig zeigt sich ein aber korrekturbedürftig bleibt. schwer ausbalancierbarer Zielkonflikt zwi- schen humanitär verantwortbaren Regelun- gen und wirksamer Steuerung, wobei es bei letzterer auf absehbare Zeit realistischer- weise um Begrenzung gehen dürfte. Als ein Problem hat sich dabei erwiesen, dass auch bei gescheiterten Asylanträgen oder dem Wegfall von Verfolgungs- oder Kriegsgrün- den die Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer schwierig ist, zumal bei län- gerfristigem mehrjährigem Aufenthalt, und es de facto zu einer verdeckten Einwande- rung kommt. Solche Probleme und die dar- auf bezogenen Lösungsversuche wirken sich wiederum massiv aus auf die zentrale Größe Akzeptanz der Migranten in der Be- völkerung der aufnehmenden, aber auch der Herkunftsländer. Da die Rahmenbedingungen der EU für die Migration in einem eigenen Beitrag darge- 2. Die innerdeutsche Kompetenzverteilung stellt werden, sollen hier zwei Überlegungen Selbst wenn man im komplexen Mehr- aus deutscher Perspektive genügen. Zwar ebenensystem der Bundesrepublik Deutsch- ist eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik land die EU als gewichtige vierte Ebene zumindest im Hinblick auf einheitliche Eck- hier ausklammert, bleibt die Verteilung der werte höchst wünschenswert und bei freiem gesetzgebenden, verwaltungsbezogenen innereuropäischen Grenzverkehr (Schen- und finanziellen Zuständigkeiten und Befug- gen-Abkommen) zwingend, aber die nisse auf die drei Ebenen Bund, Länder und Annahme, deutsche Regelungen und Stan- Kommunen kompliziert genug. Formal gilt dards ließen sich als EU-Eckwerte durchset- dabei, dass entsprechend der föderalis- zen, ist vor dem Hintergrund bisheriger Er- tischen Struktur für die Gesetzgebung nur fahrungen und selbst im Hinblick auf enge Bund und Länder zuständig sind, wobei Partner wie Frankreich realitätsfremd. Hinzu letztere auch für die ihnen zugeordneten kommt, dass die höchst einseitige Orientie- Kommunen sprechen. Auch z.B. bei Bundes- rung der Flüchtlinge auf wenige EU-Länder gesetzen, die zentrale Interessen der als Ziel, darunter gerade auch Deutschland, Kommunen berühren, haben diese nicht aufgrund der ökonomischen und sozialen einmal ein institutionalisiertes Anhörungs- Bedingungen, aber auch der rechtlichen recht, z.B. über einen diskussionswürdigen und faktischen Bleibechancen sowie zuneh- „Kommunalrat“. In Ermangelung dessen mend der Andockmöglichkeiten bei bereits versuchen der Städtetag für die großen und dort lebenden Landsleuten zwar verständ-
Seite 16 der Städte- und Gemeindebund für die werden auf die Bundesländer nach einem mittleren und kleinen Städte und Gemein- Schlüssel (Königsteiner Schlüssel) verteilt, den sowie der Deutsche Landkreistag – als der neben der Bevölkerungszahl auch das Sprachrohr und Interessenvertretung der Steueraufkommen und damit die Wirt- Kommunen informell Einfluss zu nehmen. schaftskraft berücksichtigt. Schon für die Bei den Ländern ist zu berücksichtigen, dass Versorgung der Flüchtlinge sind aber die sie zwar im Zeitverlauf zunehmend Gesetz- Bundesländer zuständig, wie auch für wei- gebungskompetenzen an den Bund abge- tere wichtige Aspekte wie die Bildungs- geben haben, auf die Bundesgesetzgebung politik (z.B. Schulen) und Sicherheit (trotz aber als Kollektiv mit Hilfe des Bundesrates erweiterter Zuständigkeit des Bundeskrimi- gewichtigen Einfluss nehmen und zudem nalamtes ist die Polizei primär Sache der die verwaltungsmäßige Umsetzung der Länder). Bei der Finanzierung ergibt sich Gesetze weitestgehend bei ihnen und den wiederum ein bunter Flickenteppich, wobei Kommunen liegt. Politisch ist zudem zu der Bund seinen Finanzierungsanteil in den berücksichtigen, dass bei zustimmungs- letzten Jahren deutlich gesteigert hat (z.B. pflichtigen Gesetzen der Bundesrat ein laut Bundesfinanzministerium 2016 21,7 Vetorecht besitzt. Wegen der in den Lan- Mrd. Euro zusätzliche Mittel für Asyl- und deskoalitionsverträgen durchgängig veran- Flüchtlingspolitik einschließlich Bekämpfung kerten „Bundesratsklausel“ (für die Ja-Stim- der Fluchtursachen und Personalaufsto- me der Landesregierung im Bundesrat ist ckung – insbesondere des BAMF – sowie Konsens zwischen den Koalitionspartnern Kostenerstattung an die Länder mit 670 € Voraussetzung) ist die Zustimmung nicht nur pro Verfahrensmonat und Flüchtling). Bei der Koalitionsparteien auf der Bundesebe- einem Teil der Ausgleichszahlungen an die ne, sondern auch der Oppositionsparteien Bundesländer wird davon ausgegangen, erforderlich, die innerhalb von Länderregie- dass diese die Mittel in vollem Umfang an rungen für eine Blockade im Bundesrat sor- die direkten Lastenträger, die Kommunen, gen können (zur Zeit die Grünen, die in weiterleiten. neun der 16 Länderregierungen vertreten sind). Für die Grenzsicherung und damit auch für die Einreise im Wege der Migrati- on ist erst einmal der Bund zuständig. Das dem Bundesinnenministerium zugeordnete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheidet bei Asylbewerbern über den Flüchtlingsstatus (politisches Asyl nach Art. 16a GG, nach Genfer Flüchtlings- konvention, subsidiärer Schutz) und bei dessen Verweigerung und daraus folgender Ausreiseverpflichtung bei Vorliegen be- stimmter Hinderungsgründe über ein Ab- schiebeverbot (jeweils mit gerichtlicher Überprüfungsmöglichkeit). Die Flüchtlinge
Seite 17 3. Die Rolle der Kommunen Hinzu kommen einige Dilemmata: Klar ist, dass die praktische Umsetzung der • das Ziel der meisten Migranten sind die Migrations- und Integrationspolitik im We- Großstädte, in denen aber die Woh- sentlichen „vor Ort“ erfolgt, die Kommunen nungsnot ohnehin am stärksten ausge- also die Hauptrolle spielen. Betroffen sind prägt ist. Steuerungsversuche mit Hilfe nahezu alle kommunalen Handlungsfelder, von Residenzpflicht und Wohnortzuwei- von der kommunalen Entwicklungsplanung sung sind politische Reaktionen auf die- über Kindergärten, Jugendämter (unbe- ses Dilemma, bisher allerdings mit eng gleitete Minderjährige) und Volkshoch- begrenzter Wirkung; schulen (Integrations- und Sprachkurse) bis zum innerörtlichen Quartiersmanagement. • wo Wohnungsreserven vorhanden sind Akteursbezogen sind bei Planung und Um- (vor allem in ostdeutschen Kommunen), setzung nicht nur die Verwaltung und die fehlen in aller Regel Arbeitsmöglichkei- Politik (Bürgermeister und Rat) gefordert, ten; sondern auch die Zivilgesellschaft. Schon der extrem gestiegene Flüchtlingsstrom • bei allen bisherigen, auch historischen 2015 hätte ohne das breite, vielfältige Migrationsbewegungen zeigte sich eine Engagement von organisierten Gruppen Neigung der Migranten, an bereits vor- und von Individuen der Zivilgesellschaft handenen Brückenköpfen in den Ziellän- nicht akut bewältigt werden können. Umso dern anzudocken, also z.B. Hilfe bei be- mehr gilt, dass für eine erfolgreiche Integra- reits dort lebenden Landsleuten zu tion der dauerhaft bleibenden Migranten suchen. Diese Tendenz ist verständlich, das Engagement der Zivilgesellschaft in der in ihren Integrationswirkungen aber am- gesamten Breite (von Hilfsorganisationen bivalent. Zwar kann die Bindung an eine über religiöse Organisationen, Kultur- und Bezugsgruppe das Einleben im Aufnah- Sportvereine und bereits vorhandene meland erleichtern, aber gleichzeitig Migrantenorganisationen bis hin zu Ge- wächst die Gefahr von gruppenbezoge- werkschaften und Unternehmen) neben der nen Abschottungen und Parallelgesell- Integrationsbereitschaft der Migranten der schaften, was das Risiko von Konflikten Schlüsselfaktor ist. Bei den kommunalen mit altansässigen Gruppen erhöht, zumal Handlungsmöglichkeiten ist zu berücksichti- wenn es sich um sozial schwache Grup- gen, dass die Kommunen nur über begrenz- pen handelt. te Steuerungsinstrumente verfügen. Dies gilt z.B. für den Engpass Wohnungsmarkt, bei Jedenfalls sind die Akteure auf allen politi- dem etwa der angestrebte Ausbau des sozi- schen Ebenen, gerade auch der kommuna- alen Wohnungsbaus nicht nur finanziellen len, gut beraten, beim Einsatz ihrer Instru- und planerischen Restriktionen unterliegt, mente, z.B. beim sozialen Wohnungsbau, sondern vor allem auch Zeit benötigt. sorgfältig darauf zu achten, dass nicht auch nur der Eindruck entsteht, Migranten wür- den gegenüber anderen sozial schwachen Gruppen bevorzugt. Die vielzitierte optimis-
Seite 18 tische Aussage von Bundeskanzlerin Merkel 4. Städtepartnerschaften „wir schaffen das“ ist bisher sicherlich nicht Bei den Städtepartnerschaften lässt sich in widerlegt, inzwischen aber doch mit Frage- den letzten Jahren eine zunehmende Ten- zeichen versehen worden. Um die schon denz zu thematischer Orientierung in den begrifflich diskussionswürdige „Willkom- Aktivitäten und zur Bildung von Netzwerken menskultur“ ist es unter dem Druck gewach- von Städten beobachten. Das geht im Ein- sener Probleme (im Extrem Terrorismus und zelfall bis hin zu vertraglicher Fixierung, Straftaten – u.a. sexuelle Übergriffe – bei sich auf die Behandlung bestimmter Themen einer kleinen Minderheit der Migranten, zu konzentrieren. Ziel ist das wechselseitige Beschimpfungen und Hass bis hin zu Brand- vertiefte Verständnis und Lernen voneinan- anschlägen auf Asylbewerberheime bei der, und die Aktivitäten können bis zu ge- kleinen Gruppen der deutschen Gesell- meinsamen Projekten gehen. schaft) stiller geworden, gleichwohl ist das zivilgesellschaftliche Engagement zuguns- Bei Migration und Integration handelt es ten einer „Hilfekultur“ gerade auf der kom- sich um globale Probleme, von denen die munalen Ebene weiterhin beeindruckend. örtliche Ebene in besonderer Weise betrof- Zudem sind die Rahmenbedingungen mit fen ist. Es liegt daher nahe, dieses Themen- rückläufigen Flüchtlingszahlen und exzellen- feld auch in die Städtepartnerschaften ein- ter Wirtschafts- und Haushaltslage in zubeziehen. Dabei sind allerdings einige Deutschland günstig. spezielle Rahmenbedingungen zu beach- ten.
Seite 19 Bei der Bekämpfung der Fluchtursachen soll Ganz überwiegend existieren Städtepart- die Verbesserung der wirtschaftlichen und nerschaften innerhalb der EU und den an- sozialen Bedingungen vor Ort als push- grenzenden Ländern, wobei in den letzten Faktor der Migration aus Entwicklungslän- Jahrzehnten insbesondere Partnerschaften dern eine wachsende Rolle in der Entwick- deutscher Kommunen mit Städten in Osteu- lungspolitik Deutschlands spielen. Das gilt ropa und der Türkei deutlich zugenommen vorrangig für die Entwicklungspolitik des haben. Zuzugeben ist, dass es sich bei dem Bundes – also des Bundesministeriums für Themenfeld Migration und Integration um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- ein politisch besonders heikles handelt. Es wicklung (BMZ) und der Durchführungsor- in Städtepartnerschaften einzubeziehen, ganisationen, insbesondere der Deutschen erfordert ein entsprechend sensibles Vorge- Gesellschaft für Internationale Zusammen- hen.Dies gilt offensichtlich insbesondere bei arbeit (GIZ) –, ergänzend aber auch für die türkischen und osteuropäischen Partner- selektiven Partnerschaften einiger Bundes- schaften, aber z.B. auch bei französischen länder mit Entwicklungsländern oder Regio- Partnerstädten, die politisch von der Front nen in diesen (z.B. Nordrhein-Westfalens in National dominiert werden. Zu berücksichti- Afrika mit Ghana und der südafrikanischen gen sind immer auch die unterschiedlichen Provinz Mpumalanga). Bemerkenswert und Rollen und Kompetenzen sowie daraus re- bedauerlich ist, dass trotz des Trends in sultierende Handlungsspielräume der Städ- Entwicklungsländern, die lokale Ebene zu tepartner in dem jeweiligen nationalen stärken, die Potentiale der deutschen Kom- Rahmen. Initiativen, das Themenfeld im munen für die deutsche Entwicklungspolitik Rahmen von Städtepartnerschaften aufzu- bisher viel zu wenig genutzt werden. Städ- greifen, müssen daher das Ergebnis einer tepartnerschaften böten hier einen hervor- sorgfältigen individuellen Güterabwägung ragenden Anknüpfungspunkt. Leider existie- bleiben. Es kann daher auch nicht verwun- ren bisher nur wenige Städtepartnerschaften dern, dass bisher noch wenige Fälle und zwischen deutschen und außereuropäi- entsprechende Erfahrungen vorliegen. schen Partnern, z.B. in Afrika. Die Hemmnis- se wie räumliche Distanz, Sprache, Struktur- Zusammenfassend handelt es sich bei Mig- unterschiede liegen auf der Hand, sollten ration und Integration um ein besonders aber gerade bei Projektpartnerschaften schwieriges, aber auch fruchtbares Feld für überwindbar sein. Zu berücksichtigen ist Städtepartnerschaften, für dessen Aktivie- auch, dass bestimmte Länder, wie z.B. Süd- rung besondere Förderanreize sinnvoll wä- afrika, nicht primär als Herkunftsland von ren. Migranten in Erscheinung treten, sondern als Aufnahmeland von Migranten der Nachbarstaaten und damit mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie Deutsch- land. Kontakt: uwe.andersen@rub.de
Seite 20 „ Die EU muss noch viele Anstrengungen - nicht nur in der Asylpolitik und Integration von Migranten - auf sich nehmen, um nicht weiter auseinanderzudriften.“ Wolfram Kuschke
Seite 21 1.3 Städtepartnerschaften : Mehr Köln, Stuttgart, Frankfurt bzw. in den jewei- Heimat und weniger Vorurteile. ligen Ballungsgebieten (Rheinland und Ruhr- gebiet, Rhein-Neckar-Gebiet sowie Rhein- Professor Dr. Haci-Halil Usluçan Main-Gebiet etc.) zwischen 33 % und 43%. 1. Einleitung Ich will mich in den folgenden Ausführun- gen vor allem auf die türkeistämmige Bevöl- Vorurteile bilden ein massives Hindernis des kerung konzentrieren, und zwar aus zwei gesellschaftlichen Zusammenlebens; und sie Gründen: sind eine mentale Hürde bei der Integration bzw. der gleichberechtigten Teilhabe von a) Sie bildet mit etwa 2.8 Millionen die Zuwanderern. Als eine der Möglichkeiten, größte nationale Gruppe innerhalb der ge- wie sich Vorurteile abbauen lassen, ist die genwärtig knapp 18,5 Millionen Personen Annahme naheliegend, Kontakt zum mit Zuwanderungsgeschichte; und auch in Gegenstand des Vorurteils aufzunehmen, Nordrhein-Westfalen mit rund einer Million also die Personen besser kennen zu lernen von den etwa 4,8 Millionen Zuwanderern und im Idealfall die eigene verzerrte Wahr- bilden sie die größte Gruppe. Rund die nehmung zu korrigieren. Mit Blick auf Vor- Hälfte von ihnen ist eingebürgert, staatsbür- urteile im Migrations- und Integrationskon- gerlich betrachtet also Deutsche. text kann damit nicht nur die Kontaktaufnahme vor Ort gemeint sein, son- b) Integrationsrelevante Diskussionen wer- dern auch zu den Menschen aus den Her- den in den letzten Jahren weitestgehend kunftsregionen der Zugewanderten: Völker- (wenn wir die Fluchtzuwanderung der letz- verständigung über transnationale ten beiden Jahre ausnehmen) über Türkei- Beziehungen, wenn man es etwas empha- stämmige bzw. Muslime geführt, bei denen tisch formuliert. Die Institutionalisierung just „Integrationsdefizite“ festgestellt werden. dieser Kontakte erfolgt vielfach über Städte- Was die gleichen Teilhabe- und Teilnahme- partnerschaften. Aber ist diese Idee ge- chancen am gesellschaftlichen Leben rechtfertigt bzw. nicht viel zu umständlich betrifft, belegen Türkeistämmige oft Plätze und voraussetzungsreich? Inwieweit können an hinterster Stelle, auch wenn ihre Migrati- durch Städtepartnerschaften tatsächlich onsgeschichte auf das Jahr 1961 zurück- Vorurteile abgebaut und letztlich eine ge- reicht und sie somit zu den frühesten Zuwan- steigerte Teilhabe von Zuwanderern erreicht derergruppen zählen. Dennoch erscheinen werden? Das soll Gegenstand der folgen- sie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung den kurzen Überlegungen sein. als fremd bzw. befremdlich, wie ein Blick auf jüngere empirische Studien zeigt. So- 2. Städte als genuine Orte der Integration wohl die Mehrheitsgesellschaft als auch sie Zuwanderung nach Deutschland ist zum selber betrachten das Integrationsgesche- großen Teil in die (westdeutschen) Städte hen am skeptischsten: In seinem Integrati- bzw. in Metropolregionen erfolgt; und es onsbarometer stellt der Sachverständigenrat sind die Städte bzw. städtische Metropolre- deutscher Stiftungen für Integration und Mi- gionen, die eine hohe kulturelle Vielfalt auf- gration (SVR; 2016) fest, dass die Einschät- weisen. Das belegen die demographischen zung des Integrationsklimas auf einer Skala Daten recht eindrücklich: So betrifft bspw. von 0 (sehr negativ) bis 100 (sehr positiv) der Anteil von Zuwanderern in Städten wie
Seite 22 bei den Türkeistämmigen mit 62,7 Prozent- land, Belgien, Frankreich, Großbritannien punkten am niedrigsten ausfällt, während oder USA unterhalten. bspw. Aussiedler sowie andere EU-Länder hier durchweg Werte zwischen 68 und 71 Exemplarisch in diesem Kontext hat das Punkten haben. Zentrum für Türkeistudien und Integrations- Zugleich ist empirisch Fakt, dass Zuwande- forschung im Jahre 2015 in NRW die Inten- rer im Allgemeinen, und nicht nur Türkei- sität und Zusammenhänge der Identifikatio- stämmige, starke Herkunftsbezüge haben, nen/Beheimatungen Türkeistämmiger in die aber im politischen Diskurs mitunter einer (für NRW) repräsentativen Befragung etwas gehässig als „mangelnde Integra- erforscht (Sauer, 2016): Als ein Indikator tionsbereitschaft“ gewertet werden. Denn des Zugehörigkeitsgefühls, der auch eine die Annahme, dass mit einer Auswande- bikulturelle Identifikation abbilden kann, rung Menschen ihre herkunftskulturellen wurde die Frage nach der heimatlichen Ver- oder familialen Bezüge und die dabei er- bundenheit zu Deutschland, der Türkei oder worbenen Kompetenzen und Orientierun- mit beiden Ländern gestellt. So empfanden gen ablegen und im neuen Land auch eine 18% der Befragten eine heimatliche Verbun- komplett „neue Sozialisation“ durchlaufen, denheit alleine zu Deutschland; weitere übersieht die „Mächtigkeit“ früher Habitua- 30% sahen sowohl Deutschland als auch lisierungen. Zuwanderer sind in ihrem All- die Türkei als ihre Heimat. Insofern kann tag stets in mindestens doppelte soziale und festgehalten werden, dass knapp die Hälfte kulturelle Bezugsnetze involviert (Herkunfts- aller Türkeistämmigen Deutschland zumin- land und das Aufnahmeland); manchmal dest auch als ihre Heimat sieht. Hingegen auch in transnationale Netzwerke, die jen- war für etwa 47% nur die Türkei ihre Hei- seits von Aufnahme- und Entsendekultur lie- mat; circa 4% fühlte sich nirgends zu Hause gen, wenn etwa Türkeistämmige aus (Vgl. ausführlich Usluçan, 2017). Deutschland heraus Netzwerke nach Hol- Abbildung 1: Heimatliche Verbundenheit mit den Ländern Deutschland und Türkei im Zeitraum von 1999 bis 2015 (Prozentwerte).
Seite 23 Die Analyse der heimatlichen Verbunden- gen seit ihrer Ankunft mindestens einmal im heit im Zeitverlauf zeigt, dass diese von all- Jahr ihre Heimat besucht haben; etwa 77 % gemeinen Stimmungen beeinflusst wird. Ins- der Türkeistämmigen in Deutschland aus besondere ab dem Jahre 2012 nimmt die der ersten Generation hatten Angehörige Verbundenheit mit der Türkei zu; hingegen im Ausland (Fauser & Reisenauer, 2013). nimmt die Verbundenheit zu Deutschland Diese vorhandenen intensiven transnationa- tendenziell eher ab bzw. stagniert. Diese len Beziehungen unterstreichen die Sinnhaf- Entwicklungen zeigen einen spiegelbildli- tigkeit von Städtepartnerschaften; sie geben chen Verlauf: Nimmt die Verbundenheit mit nicht nur die Möglichkeit, Herkunftsregio- der Türkei ab, steigt sie mit beiden Ländern nen von Zugewanderten besser kennen zu und umgekehrt. Wie ist das zu erklären? lernen, sondern auch möglicherweise ge- Denkbar ist, dass das eine Folge der „Wer- meinsame gesellschaftliche Herausforderun- bung“ der seit 2002 in der Türkei regieren- gen und Lösungsmöglichkeiten für beide den AKP um die „Auslandstürken“ ist, die Regionen zu identifizieren, so etwa im Be- sie in ihre politisch strategischen Überlegun- reich des Umweltschutzes, des Umgangs gen stärker einbezieht (wie etwa durch Er- mit Zuwanderung oder auch Gentrifizie- richtung der Wahlmöglichkeiten in den Kon- rung etc. sulaten, Gründung eines Ministeriums für die Belange der „Auslandstürken“, symboli- 3. Vorurteilsabbau durch Begegnungen sche Identitätsangebote an türkeistämmige Lassen sich durch verstärkte Begegnungen, Zuwanderer durch türkische Politiker als so etwa durch Städtepartnerschaften, „stolze Erben“ eines großen osmanischen wechselseitige Vorurteile abbauen und Reiches etc.) bei gleichzeitiger Fokussierung bei Zuwanderern Beheimatungsgefühle der deutschen Integrationspolitik auf angeb- erzeugen? lich gescheiterte türkische/islamische Integ- ration, die als Identifikationsbarrieren wir- Zunächst gilt es zu klären, was mit Vorurteil ken und die Zugehörigkeit zu Deutschland gemeint ist: Als „Vorurteil“ wird oft eine von abschwächen. der Wirklichkeit nicht gerechtfertigte Mei- nung bzw. Urteil über Gruppen, Ethnien, Gerade auch vor diesem Hintergrund könn- aber auch Lebensweisen, Ideologien, Religi- te die Aktivierung von herkunftskulturellen onen, Berufsgruppen usw. bezeichnet, die Bezügen aus Deutschland heraus, so etwa meistens emotional negativ besetzt ist. Ge- im Rahmen von Städtepartnerschaften, hel- genstand bzw. Träger von Vorurteilen kön- fen, Türkeistämmige nicht zum Spielball der nen also makrosoziale (also ganze Gesell- Interessen türkischer Außenpolitik werden schaften) oder mikrosoziale Einheiten zu lassen. Denn eine detailliertere Analyse (Familien oder Gruppen) sowie einzelne In- brachte auch zum Vorschein, dass mehr dividuen sein (Vgl. hierzu ausführlich Erstgenerationsangehörige beide Länder Usluçan, 2011). als ihre Heimat sehen als Zweitgenerations- angehörige. Sprachlich wird diese Vorrangstellung des Urteils vor der Reflexion in vielen Sprachen Nicht zuletzt verdeutlicht auch eine Analyse im Begriff des „Vorurteils“ deutlich. So heißt der Daten des Sozio-oekonomische Panels, es etwa im englischen „prejudice“, im fran- dass mehr als drei Viertel der Türkeistämmi-
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