Nachrichten für Filmschaffende - Wir drehen keinen Film
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470 | 12. März 2020 Nachrichten für Filmschaffende herausgegeben von Peter Hartig, Oliver Zenglein und Vincent Lutz
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 2 Mit seiner modernen Version einer alten Sage stand Christian Petzold zum fünften Mal im Wettbewerb der Berlinale. Seine Hauptdarstellerin Paula Beer (oben) wurde als Undine mit dem »Silbernen Bären« ausgezeichnet. Es gibt kein Böses gewann den »Goldenen Bären« der Berlinale. Titel: Der Regisseur Mohammad Rasulof, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, darf den Iran nicht verlassen – ihn erwartet eine Haftstrafe wegen seiner vorherigen Filme. Seine Tochter nahm an seiner Stelle die Auszeichnung entgegen, der Filmemacher war übers Smartphone zugeschaltet. 4 von 14 Die 70. Berlinale war nach 20 Jahren die erste unter dem neuen Leitungs-Duo. Und das hatte mit dem Wettbewerb einen gelungenen Einstand gegeben. Ein Streifzug. Text Sabine Felber Titel: Erik Weiss, Berlinale | Foto: Schramm Film, Christian Schulz
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 3 Das war knapp. Wäre die 70. Berlinale auch nur Herrn Kosslick aber sowieso nicht als Partygast, ein paar Tage später terminiert gewesen, hätte sondern als Programmer und Leiter der Interna- sie wahrscheinlich so gar nicht stattfinden kön- tionalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) kann- nen. Zu viele Kontakte, zu volle Kinosäle, zu viel ten, kann der Vergleich auch nur auf dieser Ebe- Austausch, zu international. Ein Virus kann sich ne zu einem subjektiven Ergebnis führen. Und in diesem Klima ideal verbreiten. ich möchte sagen: die 70. Berlinale hatte einen Für mich war das Festival ein gelungener Auf- durchaus interessanten Wettbewerb. Zwei Filme takt des Leitungs-Duos Mariette Rissenbeek (Ge- liefen schon auf anderen Festivals, was eigent- schäftsführerin) und Carlo Chatrian (Künstleri- lich für ein A-Festival nicht geht, aber irgendwie scher Leiter). Mag sein, dass sie nicht so komö- ging es eben doch. Und es gab wie immer stärke- diantisch daherkamen wie Dieter Kosslick, der re und schwächere Produktionen. seinen Stil vom 1. Mai 2001 bis 2019 entwickeln Beginnen möchte ich meine kleine Tour konnte, Schal und Schalk inklusive. Da das Kino- durch den Wettbewerb mit den deutschen Pro- publikum und die allermeisten Journalist*innen duktionen: Undine von Christian Petzold bezieht sich auf treuen Freund. Sie tötet ihn aber nicht, jetzt je- den gleichnamigen Mythos: Undine gehört zu denfalls noch nicht. Dann lernt sie einen Mann den Elementargeistern. Sie verkörpert das Ele- kennen (Franz Rogowski), der halbtags als Indu- ment Wasser und wird erst dann lebendig, wenn strietaucher unter Wasser lebt. Das passt natür- sie sich mit einem Menschen verbindet. Sollte lich viel besser zu Undine. Die beiden verstehen dieser Mensch sie allerdings verlassen, so muß sich auf Anhieb. Bis Johannes sie zurückerobern sie ihn töten. Es ist ungemein nützlich, diesen möchte. Undine trifft sich mit Johannes, was sie Mythos zu kennen, bevor man sich ins Kino be- ihrem Industrietaucher verheimlicht. Das Un- gibt. glück nimmt seinen Lauf. Getötet muss werden Dies ist auch schon das kleine Problem der fil- und Erlösung gibt es auch. mischen Erzählung: sie bleibt eine intellektuelle Der Film ist ein intellektuelles Vergnügen, weil Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Zer- er Fragen aufwirft und sich in die Uneindeutig- störung und Wiederaufbau. Schön finde ich, wie keit wagt. In einem Interview mit dem Tagesspie- Petzold die verschiedenen Ebenen der Erzäh- gel nennt Christian Petzold eine Quelle, die ihm lung verschränkt. Undine (Paula Beer) ist eine den Mythos näher gebracht hat: Undine geht von hoch gebildete, berufstätige also »heutige« Frau, Ingeborg Bachmann. Hier zitiert er Undine, die die als promovierte Stadtplanerin zu einem in- die Männer als Unmenschen benennt und nicht teressierten Publikum über den Wiederaufbau mehr von deren Begehren leben möchte. Nun ja, des Berliner Stadtschlosses spricht. Generationen von Literaturwissenschaftler*in- Ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) ver- nen versuchten sich an der Interpretation des lässt sie und müsste nach dem Undine-Mythos Bachmann-Texts. Er ist und bleibt uneindeutig. jetzt eigentlich von ihr getötet werden. Sehr lako- Der Film ist es auch und, das macht ihn sehens- nisch und kühl sagt Undine genau das ihrem un- wert.
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 4 Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véroni- Le sel des larmes (»Das Salz der Tränen«), den que Reymond ist aufgrund der großartigen französischen Beitrag von Philippe Garrell, fand Schauspielleistung von Nina Hoss sehenswert. ich hingegen wenig interessant. Er erzählt aus ei- Der Film wird von ihr als Schwesterlein Lisa des ner Altherren-Perspektive eine lahme Geschich- an krebskranken Schauspielers Sven (Lars Eidin- te. ger) getragen. Der schöne Luc (Logann Antuofermo) mäan- Bevor Sven an Leukämie erkrankte, war er als dert durch Paris und sein Heimatdorf, in dem er »Hamlet« ein Star an der Berliner »Schaubühne«. seinem Vater (André Wilms) in der Tischlerei Seine fünf Minuten jüngere Zwillingsschwester hilft. Überall sucht er sich und sich und sich und Lisa lebt mit ihrer Familie und einer Schreib- ist mit sich beschäftigt. Seine Suche wird von Be- blockade in der Schweiz. Nach seiner Entlassung gegnungen mit schönen, liebenden Frauen (Ou- aus dem Krankenhaus möchte Sven noch einmal laya Amamra als Djemila und Louise Chevillotte seinen Hamlet geben. Für das Publikum, für sich als Geneviève) garniert. Die Frauen leiden unter und für seinen Theaterregisseur David (Thomas ihm, weil er sich, sorry, wie ein Arschloch ver- Ostermeier), der die Rolle einst für ihn konzipiert hält. hatte. Lisa (Nina Hoss) unterstützt ihren Zwil- Die Bilder (Kamera: Renato Berta) sind schön, lingsbruder bedingungslos dabei, weil sie an sei- klassische Kadrage, 35-Millimeter-Film und na- ne Heilung auch durch das Theaterspiel glaubt. türlich im Schwarzweiß-Look. Das Schwarz und Sie bringt ihn in die Schweiz, wo er sich erholen das Weiß sind nicht ganz gesättigt, was dem Film soll. Lisas Familie spielt eine große Rolle in ihrem einen etwas flaue Anmutung verleiht. Die Ge- Leben. Aber die größte und auch tragischste Rol- schichte ist es ebenso. Zudem wirkt sie in ihrem le wird ihrem Bruder Sven zukommen, der sein Frauen- und Männerbild allzu gestrig und frau- Schwesterlein von ihrer Schreibblockade befrei- enfeindlich. en kann, auch indem er geht. Das Milieu des Films mag etwas selbstbezo- gen daherkommen, die Thematik ist es nicht. Fotos: Vega Film | Rectangle Productions, Close up Films
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 5 DAU – Natasha – über das Filmprojekt von Ilja Chrschanowski und Jekaterina Oertel möchte ich jetzt gleich ein paar Sätze loswerden, damit das erledigt ist. Ach, was ist darüber schon geschrieben wor- den und jede weitere Spekulationen sollte DAU – Natasha noch interessanter machen. Und genau das möchte ich hier nicht bedienen. Der Film ist weder interessant noch erwäh- nenswert, sondern nur ein Spiegel eines totalitär daherkommenden Regie-Guru-Sektenführers, der seine Gemeinde unglaublich geschickt zu manipulieren weiß. So assoziiert er mit dem Pro- jekt respektable Künstler*innen wie Brian Eno, Peter Sellars, Jürgen Jürges (Kamera) und Maria- Damangchin yeoja (»Die Frau, die rannte«) von na Abramovic. Was deren Rolle in der ganzen Ge- Sangsoo Hong fand ich hingegen mindestens in- schichte ist, bleibt unklar (ausser natürlich im teressant. Gamhee (Kim Minhee) begibt sich auf Falle des Kameramanns) weil alle Beteiligten an eine Reise zu ihren Freundinnen in einem Vorort dem Schlamassel ein Non-Disclosure Agreement von Seoul. Sie ist seit fünf Jahren verheiratet, hat unterschrieben haben, freiwillig. einen eigenen Blumenladen, der leidlich läuft Und dann gibt es noch die vielleicht Alibi-Co- und ist das erste Mal für ein paar Tage von ihrem Regisseurin. Ich schreibe das jetzt, weil ich auf Mann getrennt. Mit allen drei Freundinnen der Pressekonferenz den Umstand, dass alle an spricht Gamhee über anscheinend alltäglich Be- sie gerichteten Fragen unbeantwortet blieben, langlosigkeiten. als Hinweis auf ihren Einsatz als Alibi-Frau inter- Der Film lebt von den Dialogen. In ruhigen pretiere. Einstellungen sieht man den ständig sprechen- Überhaupt, die Pressekonferenz, sie war min- den Protagonistinnen bei alltäglichen Verrich- destens erhellend: Der Herr Regisseur spricht, tungen wie Essen und Arbeiten, zu. Da ist nichts die Laiendarstellerinnen auf der Bühne (Natalja Spektakuläres. In vermeintlichen Nebensätzen Bereschnaja als Natasha, Olga Schkabarnja als erfahren wir dennoch viel über die wirklichen Olga) lächeln alle kritischen Nachfragen, insbe- Themen, die die Frauen beschäftigen. Und im- sondere den anonym gebliebenen Vorwurf von mer wieder tauchen männliche Protagonisten Frauen, dass der Regisseur seine Macht miss- auf, die aber offensichtlich nur als Anspielpart- braucht habe, weg. Seine Laiendarstellerinnen ner dienen. Ihnen gewährt Hong keine eigene finden ihn einfach genial. Die Frauen fühlen sich Entwicklung. Sie kommen als das fordernd sichtlich wohl im Bewusstsein, das Projekt bis Männliche daher und verschwinden dann in der zum Ende durchgestanden zu haben und zu den Lächerlichkeit. Auserwählten des Meisters Ilja Chrschanowski Ein Film, der nur von Frauen handelt, die aber zu gehören. Ich empfehle: den Film einfach dennoch in ihren Dialogen schlußendlich immer ignorieren. um Männer kreisen. Foto: Jeonwonsa Film
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 6 Effacer l’historique (»Chronologische Übersicht Fafollace von Fabio und Damiano D’Innocenzo löschen«) hat mich, ich gebe es zu, amüsiert. Die konnte sich im Wettbewerb ebenfalls gut be- etwas grob gestrickte Situationskomödie von haupten. Schon in der Anfangsszene ist die Be- Benoît Delépine und Gustave Kervern funktio- klemmung auch aufgrund der filmisch umge- niert deshalb, weil der Kern der Geschichte uns setzten Hitze (es ist Hochsommer, wir hören allen bekannt ist: Endlose Warteschleifen, Social Grillen und sehen flimmerndes Licht) spürbar. Media- und Serien-Abhängigkeit, virtuelle Ver- Eine Reihenhaussiedlung in der Nähe von Rom führung, hohe Gebühren für dies und das und wird zum Epizentrum eines Bebens, das von unsere völlige Austauschbarkeit. Kindern ausgelöst wird. An der Oberfläche Social Media meint niemals uns persönlich, herrscht Spannung. Die Familien geben sich trifft aber auf uns als fühlende Wesen. Und so Mühe, einander nicht voller Wut an die Gurgel zu fühlen sich Marie (Blanche Gardin), Christine gehen. Auch das Verhältnis der Kinder zu ihren (Corinne Masiero) und Bertrand (Denis Podaly- Eltern ist von sublimer Gewalt geprägt. Nichts ist dès) von der virtuellen Welt angezogen und ver- offensichtlich. Bis eine Bombe gefunden wird. folgt. Bis sie beschließen, auszusteigen. Offline Und dann die nächste. Gebaut nach der Anlei- gehen oder gleich die Konzerne, die ihnen diese tung des Vorstadtlehrers, der seinen Schüler*in- ambivalente schöne neue Internet-Welt einge- nen etwas beibringen wollte. So entstanden brockt haben, zur Rede stellen dann endlich die Bomben, die nicht explodieren, aber eine gewal- Daten löschen, das ist ihr Plan. Auch wenn ihnen tige Wirkung haben. das alles nicht gelingt, so geht ihre Geschichte Warum sollte man diesen Film schauen? Weil doch auf. der Blick auf die Kinder und deren Nöte lohnt. Natürlich ist der Film etwas vorhersehbar, Diese Nöte sind ein Spiegel des prekären Lebens auch ein »bisschen drüber« aber eben sehr der Eltern. Es kann uns alle betreffen. menschlich komisch. Wir sind irgendwie alle ein bisschen Marie, Christine und Bertrand. Mit Popcorn noch besser. Fotos: Les Films du Worso, No Money Productions | Pepito Produzioni, Amka Film Production
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 7 El profugo (»Der Eindringling«) von Natalia Meta erreichte mich hingegen nicht. Der Film wird als Psycho-Sex-Thriller angekündigt, was er nicht einlöst. Es passieren zwar Dinge, die so wahr- scheinlich nicht alltäglich sind: nach einem Ur- laubs-Streit stürzt sich ein Mann vom Hotelbal- kon und stirbt. Zuvor ging er seiner neuen Gelieb- ten, der Synchronsprecherin Inés (Érica Rivas) aus Buenos Aires, heftig auf die Nerven. Belastet durch den unverhofften Ausgang ihrer Urlaubs- reise entwickelt sie bei ihrer Rückkehr nach Bue- The Roads not Taken – auf den neuen Film von nos Aires Störgeräusche, die aus ihrem Inneren zu Sally Potter, freute ich mich als bekennende Ver- kommen scheinen. Der Tontechniker hört diese ehrerin besonders. Insofern war die Fallhöhe Inés Stimme überlagernden Frequenzen während hoch, und so kam es dann auch zu einer notwen- der Tonaufnahmen im Synchron-Studio. digen Ernüchterung. Das ist eine schöne Idee. Leider läuft sich das Yes, Ginger und Rosa, The Party sind Potter-Fil- starke Thema in zu vielen Nebengleisen tot, ohne me, die mit cleverem Humor unsere kleinen und Schrecken oder Suspense zu erzeugen; der Ein- größeren Unzulänglichkeiten ins Zentrum rük- dringling, der das Geräusch erzeugt, könnte Stress ken. In ihrem neuen Film geht’s fast ausschließ- sein oder ein fremder Mann oder ein Trauma lich um den verwirrten oder schon etwas de- oder, oder, oder … Auch visuell (Kamera: Bárbara menten 50-jährigen Leo (Javier Bardem), der von Álvarez) lässt sich das Problem nicht lösen. Wir se- seiner Tochter Molly (Elle Fanning) manchmal in hen zwar so etwas wie eine Schlange, die sich un- seinem kleinen New Yorker Apartment besucht ter Inés’ Kleidung abzeichnet und in sie eindrin- wird. Wir erfahren in Rückblenden von seinem gen will, aber das wirkt eher plump als mysteriös. unbewältigten Trauma. Auch seine erste, starke Der Film ist unentschlossen und so blieb ich als Frau Dolores (Salma Hayek), mit der er das Zuschauerin auch zurück. Schrecklichste, was Eltern passieren kann, in sei- ner Heimat Mexiko erlebt hat, kommt nicht an sein Innenleben heran. So versinkt Leo immer tiefer in Schuldgefühlen und Selbstmitleid. Das Paar trennt sich, Leo versucht einen Neuanfang, mit einer anderen Frau in einem anderen Land. Aber auch diese Ehe zerbricht. Sowieso ist Leo nie wirklich in New York angekommen; mit sei- nen Gefühlen und Empfindungen ist er am Ort des Traumas, Mexiko, steckengeblieben. Bardem spielt Leo konsequent in sich gefangen. Die Frau- en um ihn herum sind praktisch, mütterlich und lebenstüchtig. Ein etwas schwacher Film, aber ich bleibe natürlich Sally-Potter-Fan. Fotos: Rei Cine | Universal
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 8 Irradiés lief am letzen Tag der Berlinale und war Volevo Nascondermi (deutscher Titel: Hidden der schwierigste Wettbewerbsbeitrag. Manche away) zeigt eine herausragende schauspieleri- Menschen mögen die Archivbilder, die Rithy Pan sche Leistung von Elio Germano. Er spielt den selbst zu einem Leinwand-Triptychon zusam- 1899 in Zürich geborenen Bildhauer Antonio mengebaut hat, wahllos und schockierend fin- (Toni) Ligabue. Der Film von Giorgio Diritti greift den. Schreckliche Bilder präsentiert der kambo- die wahre Geschichte des Waisenkinds auf, das dschanische Filmemacher uns. Es fällt bei vielen wegen geistiger und körperlicher Zurückgeblie- Szenen schwer, den Blick nicht angewidert oder benheit mit Füssen getreten wurde und mit 61 entsetzt von der Leinwand abzuwenden. Aber Jahren endlich die ihm zustehende Beachtung genau das ist es, was der Dokumentarfilm sagen erfährt: Er wird als Maler und Bildhauer ent- möchte: Vergesst nicht und schaut nicht weg! deckt. In den Szenen, in denen Germano als Toni Die Bilder stammen aus Archiven des Holo- die Leinwand umkreist, sie angreift, Tierlaute caust und unterschiedlichen anderen Genoziden. und -Bewegungen nachahmt, versteht man, dass Bomben fliegen aus Flugzeugen fast tänzerisch hier etwas aus einem Menschen raus muss. Ge- auf bewohnte Gebiete. Von oben sieht man die fühle brechen sich Bahn. Große Kunst entsteht. Zerstörung nicht. Aber Rithy Panh montiert im- Die persönlichen Deformationen sind zu dem mer wieder grauenhafte Aufnahmen von Lei- Zeitpunkt schon so irreversibel, dass Toni seinen chenbergen, Bilder von verstümmelten, verkohl- Ruhm wohl noch erleben kann, seine menschli- ten Menschen und allem erdenklich Unsehbarem che Einsamkeit aber nicht mehr überwindet. als Resultat von befehligter Gewalt dazwischen. Das ist traurig, aber eben großartig gespielt. Genozide und Kriege sind immer von Menschen verantwortet und befohlen. Unsichtbar bleiben die Opfer nur so lange, bis jemand sie zeigt. Ich kann jeden Menschen verstehen, der die- sen Film nicht aushält. Wie ertragen wir nur die Gewalt, die tagtäglich anderen Menschen ange- tan wird, deren Leiden wir nicht sehen müssen. Vielleicht würden wir den Anblick auch einfach nicht ertragen. Wir schauen weg, die Seele will Frieden. Rithy Panh lässt uns den nicht. Fotos: Rithy Panh | 01 Distribution
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 9 Niemals selten manchmal immer gehört zu den nen schenken und fahren nach New York City. Filmen, die mir am stärksten erschienen. Die un- Dort wird Autumn einen legalen Weg in eine Ab- terschiedlichen Stimmungen werden bei diesem treibungsklinik finden. Bei der Anmeldung muss kleinen Meisterwerk von Eliza Hittman bis auf sie viele Fragen der einfühlsamen Sozialarbeite- die titelgebende Ausnahme größtenteils über rin beantworten. Wie bei einem Multiple-Choi- das Spiel der Protagonistinnen erzeugt. Geredet ce-Test stehen ihr vier Antwortkategorien zur wird nicht viel. Autumn (Sidney Flanigan) ist 17 Verfügung: niemals, selten, manchmal, immer … Jahre alt und lebt im ländlichen Pennsylvania ein Die Fragen, ob ihr Partner ihr gegenüber schon sozial etwas ausgeschlossenes Leben. No big einmal gewalttätig war und ob sie schon einmal deal. Mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) jobbt von jemandem zum Sex gezwungen wurde, las- sie neben der Schule an der Kasse eines Marktes. sen die bis dahin verschlossenen Gesichtszüge Dann wird ihr schlecht, und Skylar versteht von Autumn zerfliessen. Sie weint, und das muss wortlos, dass Autumn schwanger ist. In ihrer als Antwort genügen. Heimatstadt gibt es keine Möglichkeit, über Ab- Niemals selten manchmal immer ist ein Film, treibung auch nur nachzudenken. Ihren dys- der eine nach wie vor aktuelle Problematik mit funktionalen Eltern kann sie sich nicht anver- unaufgeregten Bildern (Hélène Louvart) erzählt. trauen und schon gar nicht auf die Zustimmung Das frei von jeglicher erwachsenen Hilfe agie- zu einem Schwangerschaftsabbruch hoffen. rende Mädchen-Duo kann sich auf nichts ausser Autumn und Skylar nutzen die fehlende Auf- sich selbst und die Freundschaft zueinander ver- merksamkeit, die ihre Familie und ihr Umfeld ih- lassen. Und diese gibt den beiden Stärke. Foto: Focus Features
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 10 First Cow von Kelly Reichardt handelt ebenfalls Businessplan, der die superben Backkünste von von Freundschaft. Am Anfang des Films findet Cookie als Zentrum hat. Wie aber kann das Back- eine Frau zwei Skelette, die wie ein Liebespaar werk so gut gelingen, dass die beiden ihre Back- nebeneinander im Unterholz von Oregon liegen. waren tagein, tagaus auf dem örtlichen Markt Wer waren die beiden? Otis »Cookie« Figowitz restlos verkauft bekommen? (John Magaro) arbeitete um 1821 als sensibel Cookie melkt nachts heimlich die einzige Kuh fühlender Koch in rauen Zeiten. Es gelten die Ge- weit und breit, die unglücklicherweise nicht ihm setze des Wilden Westens Nordamerikas. Oder gehört. Aber so fürsorglich und zart, wie er das eben keine Gesetze, wie wir es aus klassischen macht, möchte man jeder heutigen Kuh einen Western kennen. Aber immer agieren harte Ker- solchen Milchdieb wünschen. Sein Freund King- le, trink- und schießsicher. Frauen spielen eine Lu ist eher zuständig für den Ausbau des Ge- unterstützende oder, wie in diesem Film, gar kei- schäfts und das Schmierestehen (er sitzt auf ei- ne Rolle. Das ist nicht weiter schlimm, weil die nem Baum und hält Ausschau nach dem Besitzer Komik und Schrägsichtigkeit von Kelly Reichardt der Kuh) während Cookie die Kuh erleichtert. es ihr erlaubt, eine etwas langatmige aber bisher Der sich einstellende finanzielle Erfolg macht ungesehene Geschichte zu erzählen. King-Lu gierig, und er denkt größer. Das Ver- Cookie trifft King-Lu (Orion Lee), einen Mann kaufsglück der Freunde verschafft ihnen eigent- chinesischer Herkunft, dem er das Leben minde- lich die Mittel, weiterzuziehen, ehe ihr allnächt- stens erleichtert, vielleicht auch rettet. Das ver- licher Diebstahl auffällt. Aber King-Lu hat das bindet die beiden. Sie verlieren sich kurz aus den Gen eines vermoderten Kapitalisten und will Augen, nur um sich dann im Dunstkreis einer noch ein bisschen mehr. Es muß schiefgehen. Ansiedlung mit Marktplatz und so etwas wie Aber die Freundschaft bleibt. »städtischem« Leben wiederzutreffen. Und dies- Ein etwas langer, aber sehenswerter Beitrag mal bleiben sie zusammen. Sie entwickeln einen von Kelly Reichardt. Foto: Allyson Riggs, A24
470 | 12. März 2020 Berlinale: Wettbewerb | 11 Es gibt kein Böses. Bis zum letzten Festivaltag das eigene Leben, auch wenn der Zusammen- mussten wir auf den stärksten Beitrag des dies- hang nicht offensiv moralischer Natur ist. Und jährigen Wettbewerbs warten.In vier Episoden auch die moralisch richtige Entscheidung kann beleuchtet Mohammad Rasoulof die Themen für andere Menschen, die unter den Folgen zu Wahlfreiheit angesichts repressiver Systeme, leiden haben, unmoralisch sein. Es ist kompli- Schuld und Verantwortung. Die Episoden wer- ziert … den leicht durch die Anwesenheit der Todesstra- Und deshalb ist der Film so sehenswert. Er fe als Arbeitsaufgabe zusammengehalten. knickt nicht ein vor der Komplexität und Die Todesstrafe wird nicht als Bedrohung in schweift auch nicht ins »sowohl, als auch« ab. ihrer strafenden Funktion verhandelt. Sondern Mohammad Rasoulof hat uns etwas sehr Kon- als etwas, was von Menschen ausgeführt werden kretes zu sagen. c muss. Der fast schon lakonischen, alltägliche Be- wältigung dieser Aufgabe, dem Vollzug der Stra- fe, setzt Rasoulof die Geschichte der Verweige- rung des Vollzugs entgegen. Alles hat Folgen. Ein 18 Filme liefen im Wettbewerb der Berlinale. Vier davon hat unsere verweigerter Befehl setzt das eigene Leben aufs Autorin leider verpasst: Reiz (Regie: Ming-Liang Tsai), Berlin Spiel und schont das zu nehmende Leben viel- Alexanderplatz (Regie: Burhan Qurbani), Siberia (Regie: Abel leicht, aber nur bis zu dem Moment, in dem je- Ferrara) und Todos os mortos (Regie: Caetano Gotardo und Marco mand anderes den Befehl nicht verweigert. Ein Dutra). ausgeführter Tötungsbefehl zerstört vielleicht www.berlinale.de Foto: Cosmopol Film
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470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 13 In Walchensee Forever lässt Janna Ji Wonders die Geschichte ihrer weiblichen Vorfahren Revue passieren – und wie deren Erfahrungen auch die folgende Generation geprägt haben. Der 110-Minüter hatte im Januar bereits den »Bayerischen Filmpreis« als Bester Dokumentarfilm gewonnen. Konzentriert und divers Und was macht der Nachwuchs im eigenen Land? Einen Überblick bietet die Berlinale seit 20 Jahren durch die Perspektive Deutsches Kino. Unter der neuen Leitung wurde das Programm stark gestrafft, doch die Auswahl kann sich sehen lassen. Text Elisabeth Nagy Foto: Flare Film
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 14 Eine neue Berlinale mit einem neuen Team. Was rever), eine Tochter, die zu ihrer Mutter durch- bedeutete das für die Reihe »Perspektive Deut- dringen möchte (Schlaf), eine Stiefmutter, die sches Kino«, die einst von Dieter Kosslick ins Le- sich von jeder Vergangenheit losgesagt hat (Ein ben gerufen worden war? Eine Konzentration Fisch, der auf dem Rücken schwimmt). Aber auch fand auch in dieser Sektion statt. Waren es bisher ein Vater, der lernt, die Vaterrolle auszufüllen gut ein Dutzend Filme, beschränkte sich das (Kids Run) und Männer, die ihr eigenes kleines Auswahlteam unter der Sektionsleiterin Linda Idyll für sich schaffen (Garagenvolk). Söffker auf acht. Mittellange und kurze Filme gab es nicht. Der erste Jahrgang unter der neuen Der Begriff Heimat: Auch wenn man mit offenen künstlerischen Hauptfestivalleitung von Carlo Augen in einen Sichtungsprozess geht, kristali- Chatrian setzte auf Filme, die qualitativ sogleich sieren sich nach einer Weile Themen heraus. Ein ins Kino kommen können. Und das tun sie zum Begriff, der in vielen der Perspektive-Filmen auf großen Teil auch. die eine oder andere Art fällt, ist der der Heimat: In die Auswahl kamen acht Produktionen. Ein junge Soldatin kehrt in Im Feuer in die Fünf davon hatten bereits vor dem Festival einen Heimat ihrer Kindheit zurück, um ihre Schwester deutschen Verleih. Dokumentar- und Spielfilm zu suchen. Aufgewachsen ist sie Deutschland, wurden gleichwertig aufgestellt, was angeblich doch während sie in ihrer neuen Heimat die Ein- dem Zufall zuzuschreiben sei. Vier Spielfilme wanderin ist, gilt sie im Herkunftsland bereits als und vier Dokumentarfilme wurden es – eine run- »zu deutsch«. de Sache. Die sogenannte Frauenquote wurde Die Schwestern Anna und Frauke Werner zie- sogar übererfüllt: Sechs der Filme waren von Re- hen vom Walchensee, wo ihre Mutter quasi ihr gisseurinnen gedreht worden. Wobei die Haupt- ganzes Leben verbracht hat, hinaus in die Welt, figuren aller Filme zum überwiegenden Teil bis nach Kalifornien und bis nach Indien. Auch Frauen waren, unabhängig davon, ob Regisseur über Generationen hinweg ist Walchensee trotz- oder Regisseurin über sie erzählten. Soweit die dem die Heimat und der Ankerpunkt – Walchen- Statistik. see Forever heißt der Film dann auch. Die Konzentration auf eine überschaubare Die Kinder von Andi haben keinen festen Be- Menge an Filmen bewerte ich als positiv. Die zugspunkt in Kids Run. Sie leben beim Vater, der Präsentation der einzelnen Filme wurde sogar selbst noch nicht erwachsen scheint und haben verbessert. Zum einen bekam jeder der Filme unterschiedliche Mütter. Doch Andi begreift, eine Pressevorführung. Leider hatten die ande- dass seine Kinder ihm alles bedeuten, er für sei- ren Sektionen nicht so viel Glück. Für die Pre- ne Familie, für sein Stück Heimat, etwas tun mieren konnten die Filmteams sogar ins »Inter- muss. national« einladen, ein Kino von Format und Re- Die Männer, zum überwiegenden Teil, im Nor- nommé. den Russlands, suchen sich ein bißchen Zuhause Die Figuren in den Filmen kamen aus allen in ihren Garagen, die außerhalb der Stadt liegen. Lebenssegmenten. Darunter gab es eine Solda- Hier können sie sich ihren Freunden und ihren tin (Im Feuer), eine Fabrikarbeiterin und eine Hobbies widmen. Sie sind das Garagenvolk. Headhunterin (Automotive), eine Politikerin Mit der Arbeit kommt Stabilität. Ohne Arbeit (Wagenknecht), eine Fotografin (Walchensee Fo- oder mit der Furcht, diese zu verlieren, kann
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 15 Der Sohn trauert noch um seine verstorbene Mutter, der Vater hat eine neue Frau an seiner Seite. Im bürgerlichen Idyll inszeniert Eliza Petkova mit Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt eine Dreiecksgeschichte. Aus der Boxer- Karriere wurde nichts, Andi (Jannis Niewöhner) schafft als Tagelöhner auf dem Bau am Existenzminimum. Wenigstens ein guter Vater will er sein. Barbara Otts beschreibt in ihrem Langfilmdebüt Kids Run die Patch- workfamilie als Dauerstress. Foto: Constanze Schmitt, DFFB | Farbfilm
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 16 man auch seinen Anker verlieren. Auch darum gen Film I Remember vorgestellt, der die Ge- geht es in Automotive. schichte von zwei Freunden in Kalifornien er- Wieviel Heimat hat man, wenn man nichts zählte, die durch die Präsenz eier Frau zu Rivalen aus seinem Leben erzählt, wenn man sogar vor- werden. gibt, keine »Anekdoten« zu haben? In Der Fisch, Kalifornien ist das Heimatland von Wonders’ der auf dem Rücken schwimmt bliebt die neue Vater. In Walchensee Forever erzählt sie jedoch Frau an Vaters Seite kaum greifbar und Projekti- von der Familiengeschichte mütterlicherseits. onsfläche. Kannte man die junge Regisseurin bisher als Fil- Die Heimat in Schlaf ist mit Traumata und memacherin und Musikerin, so lernt man jetzt, Albträumen verbunden. Der Begriff der Heimat dass ihre Mutter und ihre Tante, die sie nicht ist dabei nicht nur ein Ort, sondern auch und so- mehr kennenlernen konnte, weitaus bekannter gar bestimmend die Identität. sind und waren: Anna und Frauke Werner gehör- ten zum »Harem« der Kommune von Rainer Lebenswege in Dokumentar- und Spielfilmen: Langhans. Als erster Film gleich nach der Berlinale startet Doch das alleine macht den sehr per- Wagenknecht im Kino. Die Identität der Politike- sönlichen Film noch nicht spannend und ist rin wird durch die parteiinternen Querelen zwar auch nur eine Episode im Lebenslauf. Wonders nicht geformt, aber auf einen neuen Weg ge- setzt mit der Geschichte ihrer Großmutter an, bracht. Sahra Wagenknecht, die ehemalige Par- und mit Hilfe von zahlreichen Fotos kann sie so- teivorsitzende der Linken, galt nicht als unum- gar von deren Mutter berichten, die nach Wal- stritten. Für die Regisseurin Sandra Kaudelka er- chensee zog, um dort ein Ausflugscafé zu eröff- wies sich der Umstand, dass sie sich 2019 nen. Norma, die Großmutter, hatte ihre Schwe- zurückzog, dann sogar als dramaturgischer Vor- ster an die Spanische Grippe verloren und wollte teil. Als Klammer setzt sie Wagenknechts Rück- fortan der Mutter beide Töchter ersetzen. Trotz zug von der Spitze ihrer Partei, während über großer Träume blieb sie am Walchensee, und es den dramaturgischen Bogen der Alltag der Poli- waren ihre Töchter, die dann hinaus in die Welt tik mit Interviews und Sitzungen und Parteita- zogen. gen und öffentlichen Reden gezeigt wird. Der Wonders weiß das Material, das ihr zur Verfü- Person Wagenknecht kommt das Filmteam da- gung steht, so zu montieren, dass es für die Zeit- bei nicht nahe, auch das ist eine Aussage. geschichte eine starke Aussagekraft hat. Dabei ist Bereits mit dem »Bayrischen Filmpreis« am es ein Glücksfall, dass ihr Großvater bereits eine Revers stellte sich Janna Ji Wonders im Sektions- Kamera besaß und sowohl filmte als auch foto- programm vor. Walchensee Forever startet wohl grafierte und seinen Kindern diese Kunst auch im Herbst in den deutschen Kinos. Der Doku- nahebrachte. Anna Werner studierte folglich mentarfilm gewann den Hauptpreis der Reihe, auch Fotografie und ist als Fotografin bekannt. den »Kompass-Perspektive-Preis«, nachdem das Doch nicht nur über das 20. Jahrhundert und Konzept zum Film bereits 2016 den »Made in das Motiv Heimat weiß der Film etwas zu erzäh- Germany Förderpreis – Perspektive« erhalten len. Die Frauen der Familie müssen sich jede in hatte. Dabei ist Wonders keine Unbekannte in ihrer Generation an den Vätern, Ehemännern der Sektion. Bereits 2015 hatte sie den mittellan- und Lebenspartnern abarbeiten.
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 17 Was bedeutet Arbeit für Menschen? Auf zwei Frauen konzentriert sich Jonas Heldt in seinem Dokumentarfilm Automotive – die eine ist Leiharbeiterin in der Autobranche, die andere Headhunterin. In einem Provinzhotel begegnet Sandra Hüller den Geistern der Vergangenheit. Michael Venus inszenierte seinen Debütspielfilm Schlaf als Horrorgeschichte. Rojda (Almila Bagriacik) ist Deutsche, ihre Familie nicht. Die floh vor dem Krieg im Irak un ein Flüchtlingslager in Griechenland. Die junge Frau setzt alles daran, sie dort herauszuholen. Schließlich ist sie Stabsunteroffizierin bei der Bundeswehr. Daphne Charizani spricht Im Feuer gleich mehrere Themen an. Fotos: Jonas Heldt | Junafilm | Pallas Film
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 18 Erst Ende 2020 wird der Eröffnungsfilm Kids Deutschen haben ihre Schrebergärten, nichts Run, in die Kinos kommen. Darin erzählt die Fil- anderes sind die Garagen etwas außerhalb von memacherin Barbara Ott, Absolventin der Film- Murmansk. Hier richten sich hauptsächlich akademie Baden-Württemberg, von Andi (Jannis Männer ihre Werkstätten ein, machen Bodybuil- Niewöhner), einem jungen Vater von drei Kin- ding oder nutzen den Raum als Proberaum für dern von zwei Müttern. Am Anfang ist er noch ihre Band. Ich-bezogen und vergisst schon mal Fläschchen Natalja Yefimkina bleibt mit Axel Schneppats und Schnuller, wenn er die kleineren Kinder bei Kamera die ruhige Beobachterin, die es schafft, seiner Ex abliefert. Es ist halt chaotisch in seinem mit dieser Zurückhaltung etwas von den Seelen Haushalt. Doch als ihm bewußt wird, dass er die dieser Garagenbewohner*innen zu erhaschen. Kinder verlieren könnte, weil die Mutter des Auch Yefimkina, Jahrgang 1983, hat bereits das, jüngsten Sprosses eine neue Familie gründen was man Lebenserfahrung nennen kann. Gara- will, da rappelt er sich auf. Jetzt ist seine Lage genvolk ist ihr erster langer Dokumentarfilm. Ur- prekär und die Welt dunkel und voller Hindernis- sprünglich hatte sie Geschichte und Literatur se. Barbara Ott zeigt keine heile Welt, sondern studiert und hat dann bei anderen Filmen als Re- geht ans Eingemachte. Andi will einen Boxkampf gie- und Produktionsassistentin gearbeitet. Ga- gewinnen, um zu Geld zu kommen. Ein recht ragenvolk ist, ein Termin steht noch offen, bei aussichtsloses Unterfangen. Missing Films im Verleih. Ganz anders ist Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt von Eliza Petkova. Sie studierte zuerst Ein weiterer Dokumentarfilm ist Automotive von Philosophie und Modernes Japan in Düsseldorf Jonas Heldt, der zwei Frauen in der Arbeitswelt und kam 2012 an die DFFB zum Regie-Fach. Ihr vorstellt: Sedanur Koca hat kein Problem Spielfilm ist eine kühle ruhige Dreiecksanord- Schichtarbeit zu leisten. Ihr liegt die Arbeit, die nung zwischen Vater, Sohn und der neuen Frau Abläufe in der Produktionszulieferkette für die des Vaters, gespielt von Nina Schwabe, Theo Audi-Werke zu koordinieren. Aber ihr Job steht Trebs und Henning Kober. Der Vater und Ehe- auf der Kippe, dann ist er weg. Heldt zeigt sie so- mann glänzt erstmal mit Abwesenheit, so dass wohl beim Job, als auch dabei, ihren Job zurück- sich der Sohn und die neue Frau in Vaters Leben zugewinnen. Gleichzeitig stellt er uns Eva Hep- nahe kommen können. Zu nahe allerdings. Da- pel vor, die in Amsterdam im Büro am Telefon bei ist es gerade die Weigerung, die Frau mit ei- sitzt, um Arbeitskräfte für Audi anzuwerben. Sie ner Vergangenheit auszustatten, die sie zur Pro- ist Headhunterin. Offensichtlich gibt es in den jektionsfläche macht. Immer wieder, wenn man höheren Etagen Bedarf. Auch sie mag ihren Job, denkt, man hat sie verstanden, entwindet sie auch ihr Job ist dabei austauschbar. sich der Projektion. Was macht das mit einem als Heldt hatte das Glück, zwei Frauen stellvertre- Zuschauerin, fragte ich mich? tend zu finden, die gut mit der Kamera können, die sympathisch sind und die Prozesse in der Ar- Eine sehr fremde Welt offenbart sich dem Publi- beitswelt zu vermitteln wissen. Die Firma Audi kum in Garagenvolk. Dabei ist der Gedanke, dass (und im Fernsehen laufen im Hintergrund die der Mensch eine kleine Nische braucht, in der er Meldungen über den Konzern), mag ein aktuel- schalten und walten kann, gar nicht fremd. Die les Beispiel sein, doch steht auch dieses stellver-
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 19 tretend für die Arbeitswelt allgemein, die nur be- Das allerdings verstößt gegen zahlreiche Bun- dingt eine Heimat geben kann. Kräfte muss man deswehrregeln. Was leider auch der Knackpunkt sich längst aus anderen Lebensbereichen ziehen. der Handlung ist. Rojda wird von ihren Emo- Die Lebenskraft der Flugbegleiterin Marlene, tionen geleitet. Als Dolmetscherin soll sie den gespielt von Sandra Hüller, wird von ihren Alp- deutschen Soldaten ermöglichen, Frauen den träumen aufgesogen. Immer wieder träumt sie Kampf an der Waffe beizubringen, damit sie sich das Gleiche. Immer wieder taucht im Traum der verteidigen können. Die Frauen vor Ort sehen gleiche Ort auf, ein Hotel im Harz. Schließlich ihre Rolle im Krieg jedoch ganz anders, als sich fällt sie in einen Stupor, ist in ihrem eigenen Kör- ein deutscher Mann beim Militär das so ausrech- per gefangen. Ihr Tochter, Mona (Gro Swantje net. Kohlhof), forscht nun nach den Ursachen, um Das ist die spannende Geschichte. Gedreht ihr zu helfen. wurde nur ein kleiner Teil im Nordirak. Man Michael Venus benutzt bewußt bekannte Hor- suchte in Griechenland die Hauptdrehorte. Da- rorfilmelemente für eine Handlung, die durch- phen Charizani ist übrigens auch kein unbe- aus ans Eingemachte geht. Schlaf, sein Lang- schriebenes Blatt. Sie hat bereits Bühnenbild in spielfilmdebüt, ist ein Genrefilm, der im August Paris und Politik in Hamburg studiert. Schon bei Salzgeber ins Kino kommen wird. Venus hat- 1999 lief ein Film von ihr, Make Up, im Forum te ursprünglich Visuelle Kommunikation in Wei- der Berlinale. Bisher hat sie erfolgreich Drehbü- mar studiert. Später ging er an die Hamburg Me- cher geschrieben. Für Der Architekt erhielt sie dia School, um Regisseur zu werden. Sein Ab- 2009 den Drehbuchpreis beim Max-Ophüls- schlußkurzfilm Roentgen gewann zahlreiche Preis. Erst im November kam der Film Das Vor- Auszeichnungen. Schlaf deckt ein Familienge- spiel ins Kino, für den sie das Drehbuch zusam- heimnis auf, zieht dabei die Decke der Vergan- men mit der Regisseurin Ina Weisse geschrieben genheit fort. hatte. Eine griechische Koproduktion ist der Spielfilm Der junge deutsche Film war aber auch in ande- Im Feuer, der international den Titel Sisters Apart ren Sektionen des Festivals vertreten. Nicolaas trägt. Darin holt eine junge kurdischstämmige Schmidt hatte 2017 seinen romantischen Kurz- Frau ihre Familie aus dem Irak heim. Sie reist so- film Final Stage in der Perspektive vorgestellt. gar bis nach Griechenland, um die Flüchtlingsfa- Mit Inflorescence kehrte er nun in die Berlinale- milie abzuholen. Doch ihre Schwester hatte sich Shorts-Sektion zurück. In einem Loop weht im- diesem Weg verweigert. Sie ist einfach in der vom mer wieder eine pinke Rose in den Bildaus- Krieg beherrschten Heimat geblieben. Rojda, ge- schnitt, während kaum merkbar im Hintergrund spielt von Almila Bagrıaçık, gibt in Daphne Cha- eine deutsche Flagge weht. Es weht und stürmt, rizanis Spielfilm nicht so einfach auf. Als Kind konstant und hypnotisierend, während aus dem kam sie nach Deutschland und ist inzwischen so Off die Stimme des Sängers Neil Finn »Don't sehr deutsch, dass nur diese neue Heimat für sie Dream It's over« intoniert, bis er zu einem Echo erstrebenswert ist. Sie ist sogar Berufssoldatin verhallt. Nicht viel mehr als eine kurze Übung geworden. Und so lässt sie sich nun dorthin ver- scheint das zu sein, ein Installationsfilm, dem setzen, wo sie ihre Schwester zu finden glaubt. vielleicht Varianten folgen könnten.
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 20 In den Garagen bei Murmansk blüht ein seltsames Biotop: Statt Autos beherbergen sie Werkstätten, Fitnessstudios, Probenraum oder Ge- flügelzucht – sogar eine mehrgeschossige Tunnelanlage hat Natalija Yefimkina beim Garagenvolk entdeckt. Zwei Jahre lang begleitete Sandra Kaudelka die linke Politikerin Sarah Wagenknecht vom Bundestagswahlkampf bis zum Rückzug als Fraktionsvorsitzende – immer dicht dran, aber doch nur an der Oberfläche. Fotos: Tamtam Film | Kundschafter
470 | 12. März 2020 Berlinale: Perspektive Deutsches Kino | 21 Ein weiterer Film landete in der Sektion Gene- wissheit der Zukunft der neuen Freunde lässt ihn ration 14plus. Kokon erzählt von einem jungen seine Privilegien erkennen. Mädchen, Nora (Lena Urzendowsky), im Mikro- kosmos Berlin-Kreuzberg. In der Klasse ihrer äl- Kein Debütfilm, aber ein Film, der fast nicht ent- teren Schwester lernt sie Romy (Jella Haase) ken- standen wäre, ist im Forum Sabine Herpichs Do- nen, die ihr Selbstvertrauen gibt und ihr Mög- kumentarfilm Kunst kommt aus dem Schnabel, lichkeiten aufzeigt, ihren eigenen Weg zu finden. wie er gewachsen ist. Herpich ist freie Filmschaf- Leonie Krippendorff studierte an der Hochschu- fende und arbeitet als Mitglied im Kino-Kollektiv le für Film und Fernsehen Konrad Wolf, heute des »FSK-Kino« in Berlin. In den Behinderten- Filmuniversität Babelsberg. Bereits ihr Ab- werkstätten Spandau befindet sich die Kunst- schlußfilm Looping, der 2016 ins Kino kam, be- werkstatt Mosaik. Dort schaffen die Mitwirken- freite ein junges Mädchen, die sich freiwillig in den des Films wie Adolf Beutler oder Suzy van die Psychiatrie einweisen ließ, aus dem Kokon, Zehlendorf Kunst, als würden sie zur Arbeit ge- den ihre Umwelt für sie geschnürrt hatte. Das hen. Ihre Kunst finanziert auch die Werkstatt. Drehbuch zu Kokon wurde prompt 2018 bei der Ihre Behinderung ist für Herpich kein Thema. Berlinale Talents Script Station aufgenommen. Sie zeigt den Schöpfungsprozess und zeigt uns, Das Fachmagazin Variety erkannte ihr Talent welches Echo es in der Kunstwelt darauf gibt. Für und machte sie zu einer der zehn Europäer*in- ihre stille, beobachtenden Dokumentation gab nen, auf die es dieses Jahr zu achten gelte. es keine Förderung, wodurch Herpich das Pro- jekt zuerst abbrechen musste. Erst als sie noch In der Sektion Panorama wurde das Spielfilm- einmal mit etwas Abstand an das Material ging, debüt von Faraz Shariat, Futur Drei vorgestellt. um wenigstens für die Werkstatt etwas zusam- Stark autobiografisch erzählt Shariat von einem menzuschneiden, kristalisierte sich die Qualität jungen Iraner, der die Sprache seiner Eltern nur des Materials heraus. Zum Glück. noch unzureichend beherrscht. Zumindest fällt Es brauchte schließlich Crowdfunding-Geld, es ihm schwer, in einer Flüchtlingsunterkunft die um den Film fertigzustellen. Sabine Herpich Aussagen einer jungen Frau ins Deutsche zu arbeitete auf eigene Kosten, doch ihr Team von übertragen, die vor einer Kommission um ihren Tonschnitt, Mischung und Farbkorrektur sollte Aufenthalt kämpft. Parvis (gespielt von Benja- bezahlt werden. Peripher, der eigene Verleih des min Radjaipour) sollte doch nur 30 Stunden So- »FSK«, wird den Film im Herbst ins Kino brin- zialdienst abreißen, weil er sich im Klub mit Dro- gen. c gen hat erwischen lassen. Mit seiner schwulen Identität hat er gar kein Problem, aber das seine Handlungen Konsequenzen haben, das muss er erst lernen. Auch muss er erkennen, wie viel er der harten Arbeit seiner Eltern (die von den El- tern des Regisseurs gespielt werden) verdankt. Er lernt im Asylheim die Geschwister Amon (Eidin Seyed Jalali) und Banafshe (Banafshe Hourmaz- di) kennen, in Amon verliebt er sich. Die Unge-
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470 | 12. März 2020 Wir drehen keinen Film! | 23 Filme wollte sie schon machen, als sie 30 war. Dann kamen nochmal 30 Jahre und einige Umwege, bis Ulla Geiger (links) sich an ihren Debütfilm wagte. Im Rückblick findet sie das sinnvoll. Ihr Hauptdarsteller Michael Ransburg (rechts) bekräftigte sie in ihrem Entschluss. Wir drehen keinen Film! Der Titel täuscht – sie tat es doch. Mit Mitte 60 erfüllte sich Ulla Geiger den Traum, der sie einst in die Branche gebracht hatte: Sie drehte ihren Debütfilm. Text Ulla Geiger Foto: Ulla Geiger
470 | 12. März 2020 Wir drehen keinen Film! | 24 Mit Mitte 60 habe ich meinen Debütfilm gedreht. sehr schnell ziehen: Da war man erst mal Assi Eigentlich hatte ich Filmemacherin werden wol- und musste die schweren Kameras schleppen … len, seit ich 30 Jahre alt war, aber mein Leben hat für mich und meine zierliche Statur ein absolu- immer wieder Haken geschlagen und mich wo- tes No-Go! andershin gespült. Nie hatte ich gesagt »Nein, Also dann zur Regie. Es folgte die übliche Lauf- das ist aber jetzt nicht zielführend!«, sondern ich bahn: Script/Continutity und Regieassistenz. Als bin mit dem Leben mitgegangen. Dabei habe ich ich mich knappe zehn Jahre später als Assistentin dann so ganz unbemerkt alles gelernt, was ich etabliert hatte, drehte ich eine populäre Serie, wie nun für die Arbeit an diesem Film hatte brau- sich das gehörte. Ich stellte fest, dass mich das so chen können. gar nicht erfüllte, und ich außerdem meinem Ziel, Das Ziel »Filmemacherin«: 1981, mit 30 Jah- Filme zu machen, nicht die Bohne näher gekom- ren, lag ich in letzten Zügen meines Studiums an men war. Niemand sagte: »Ulla, du bist ja so su- der Akademie der Bildenden Künste in Mün- per, ich geb’ dir die Chance, deine erste Regie zu chen, hatte aber keine Lust mehr auf die anvi- machen!« Ende der 1980er-Jahre war ein männli- sierte Kunsterzieher-Laufbahn. Das Studium war cher Regieassistent selbstverständlich ein ange- aber nicht umsonst gewesen. Ich hatte meine hender Filmemacher, während eine Frau halt die optische Wahrnehmung gesteigert und war Assistentin war und vom Regisseur für eine gute durch fotografische Maltechniken zu einer De- Idee ein Zehnerl bekam – tatsächlich passiert! tailfieslerin geworden. Damals gab es an neuen Regisseurinnen Doris Die verrückten Filme von Carlos Saura hatten Dörrie, und dann kam lange nichts, und diese war es mir damals angetan – ein Faktor für meinen Absolventin der HFF gewesen. Ich war also in ei- Entschluss, Filmemacherin zu werden. Ich über- ner Sackgasse gelandet! Aber ich hatte einiges ge- legte, ob ich mit einem Studium an der HFF mei- lernt: Einen Drehplan und eine Dispo machen, nen Eltern weiter auf der Tasche liegen sollte – ein Set organisieren, und Rollen besetzen, was ich hatte ja schon zehn Jahre studiert. Also ent- mir am meisten Spaß machte. schied mich, das Filmhandwerk von der Pike auf zu lernen. Ich machte ein Praktikum bei einer Auf zum Ziel mit Eigeninitiative: Ich schrieb ein Kinderserie, und wurde dort noch für eine kleine Drehbuch, das noch von Anfängerfehlern strotz- Rolle engagiert, die ich eigentlich gar nicht woll- te. Um mich der Schauspielführung zu nähern, te. Ich wollte beim Film alles machen nur nicht belegte ich 1990 semiprofessionelle Schauspiel- Schauspielerin, nicht zuletzt aus Trotz gegen workshops. Es könnte ja sinnvoll sein, zu wissen, meine Mutter, die, selbst ehemals Schauspiele- wie sich ein Schauspieler fühlt. Das Ganze nahm rin und Sängerin, immer sagte: »Kind, du gehörst aber eine überraschende Wendung, denn bei vor die Kamera!« Wie witzig, dass sie irgendwie dem Seminar stellte sich heraus, dass ich wohl recht behalten hat, ich bin ja auch Schauspiele- selbst Schauspieltalent hatte! In einer Übung rin geworden! sollte ich spielen, in einem Cafe zu sitzen und Ich fing also bei diesem Praktikum mit Klappe auf jemanden zu warten. Ich guckte also rum, ob an und orientierte mich erst mal: Vom Bild her- derjenige nun kommt – und die Leute lachten! kommend, hätte ich natürlich am liebsten Ka- Wieso, verstand ich nicht. Anscheinend war ich mera gemacht, aber den Zahn musste ich mir irgendwie komisch …
470 | 12. März 2020 Wir drehen keinen Film! | 25 Die Kamera als Therapie: Zum Zweck der Selbsterfahrung heuert der Schauspieler Kurt (Michael Ransburg) eine Kamerafrau an. Sie soll ihn auf Schritt und Tritt begleiten und seinen Alltag dokumentieren. Links probt die Regieassistentin Jacqueline König die »eingeschwungene« Klappe, rechts zeigt sie, dass sie auch Ton angeln kann. Tatsächlich führte die Kamera Hans Albrecht Lusznat, hier in der Rückansicht. Fotos: Ulla Geiger
470 | 12. März 2020 Wir drehen keinen Film! | 26 Mit einer anderen Kursteilnehmerin entwik- der Professor. Aber ich malte meine Faltenwürfe! kelte sich dann beim Abendessen spontan eine Über Kabarett hörte ich, das sei das Schwierigste Impro zweier bayrischer Hausfrauen – und alle überhaupt. Ich habe es einfach gemacht. Und so lagen vor Lachen unter dem Tisch. Wieder war ähnlich sollte es dann später auch mit meinem ich vollkommen überrascht. Barbara Jürgensen Kinofilm laufen. und ich machten ein Kabarettprogramm daraus. Nach zehn Jahren war für mich die Luft raus Damals war diese Branche noch entspannt. Wir aus dem Kabarett, und ich habe es auslaufen las- haben ein lustiges Foto gemacht, bei Bühnen an- sen. Aber die Zeit war alles andere als umsonst gerufen, gesagt, wir sind »Boschetsrieder und gewesen: Das Kabarett war meine Schauspiel- Hinterpaintner«, und schon hatten wir einen ausbildung, denn das Publikum ist der gnaden- Auftritt. Wir landeten auf dem 3. Platz beim loseste Lehrer! Entweder du kriegst die da unten, »Scharfrichterbeil« und kamen sehr gut an. oder du kriegst sie nicht. Und das war bei unter- Auf der Bühne zusammen genial – im Privaten schiedlichen Vorstellungen unterschiedlich, nicht miteinander kompatibel … wir trennten trotz haargenau gleichem Text! uns leider. Dann machte ich Soloprogramme Wenn man am Anfang des Programms regi- und kreierte die Figur Frau Wurmrieder, die mit striert, da unten ist es heute aber eher still, an einer Moderatorin vom Band zusammen agierte. der Stelle war doch sonst ein Lacher, darf man Ich zog mich in Windeseile hinter der Bühne um, auf keinen Fall anfangen, sich anzustrengen und um mit einer anderen Perücke und mit einem an ihnen zu ziehen! Dann geht es noch weiter anderen Dialekt wieder rauszukommen … kam bergab! Einfach bei sich bleiben, sich in den alles auch gut an! Fluss seines Textes schmeißen. Überhaupt eine Regel für die Schauspielerei … bloß nicht nach- Mitte der 90er immer noch keine Filmemacherin. denken! In der Kabarettzeit bildete sich außer- Ich stellte mich bei einer kleinen Kinderserie als dem ein Gefühl für Dramaturgie und Timing. Drehbauchautorin vor. Als solche wollten sie Und: Lacher kann man nicht planen. Am besten mich nicht, dafür wurde ich als Schauspielerin man macht das, was man selbst komisch findet. engagiert. Das war meine erste TV-Rolle. Ich Ende der 90er endlich der erste Film? Es stellte mich bei Castern vor, die damals auch erst tauchte ein Plot auf, der mich interessierte: Die alle anfingen. Und so kam ganz langsam eine wahre Geschichte einer Frau, die sich mit Krebs Rolle zur anderen. Mit 45 Jahren als Schauspiele- im Endstadium durch Psychotherapie heilte. Ich rin anzufangen, ist nach allen Regeln der Bran- habe in Zusammenarbeit mit einer Filmfirma che wenig erfolgversprechend. In dem Alter geht ein Drehbuch geschrieben. Dieses liegt jetzt in es sogar bei etablierten Schauspielerinnen meist einem sehr guten Zustand in der Schublade, erstmal runter mit den Angeboten. Aber ich hat- denn die Frau starb neun Jahre später an einem te mich von sogenannt »Unmöglichem« oder Rückfall, und so gab es keine vermarktbare Er- Schwierigem noch nie besonders beeindrucken folgsgeschichte mehr. Aber ich hatte gelernt, wie lassen. Auf der Kunstakademie hatte ich ohne je- man Drehbücher schreibt. mals einen Pinsel mit Ölfarbe in der Hand ge- habt zu haben, gesagt: Ich möchte Faltenwürfe Mitte der 2000er mit 55 Jahren immer noch kei- malen! Das sei das Schwierigste von allem, sagte ne Filmemacherin: Ich sah im Fernsehen eine
470 | 12. März 2020 Wir drehen keinen Film! | 27 Sendung über einen Herrn Heinle, der vollkom- aber nicht meinen Humor mitgebracht! Also men hoffnunglose Langzeitarbeitslose in Arbeit habe ich das auch selbst gemacht. Im Internet brachte, indem er ihnen die Frage stellte: »Wo steht schließlich, wie eine Trailerdramaturgie möchten Sie in fünf Jahren sein, wenn es keine auszuschauen hat! Grenzen der Vorstellung gäbe?« Er war erfolg- In meinem Demobandservice drehte ich klei- reich und hatte gerade ein schickes neues Büro ne Szenen für Schauspielfrischlinge, die noch aufgemacht, in dem es einen Tag der offenen Tür keine Ausschnitte aus TV-Drehs hatten. Ich gab. Irgendwie trieb es mich da hin, obwohl schrieb die Drehbücher, triezte die Schauspieler, mich das Thema »Langzeitarbeitslose« gar nicht bis sie es gut machten, und schnitt hinterher die interessierte. Aber vielleicht war ich ja selbst eine Filmchen. Dann machte ich Kamera und Ton Abart davon? An einem schicken Multimedia- auch noch selbst, denn weitere Mitarbeiter kom- Tisch demonstrierte Herr Heinle seine Methode men zu teuer für die schmalen Kundengeldbeu- an den Besuchern. Ich antwortete auf die Frage tel. Ich hatte anfänglich keine Ahnung von Licht- mit den fünf Jahren: Ich will eigentlich Filme ma- setzung … dann lernt man es eben! chen, komme aber ewig nicht dazu. Er sagte: »Fangen Sie doch einfach mal an, und drehen Sie 2012 drehte ich meinen ersten Kurzfilm. Ein kleine Filme!« Ich könne doch Bewerbungs- Freund wollte seine neue Red ausprobieren, ein videos machen. Dieses ganze Sujet Bewerbung Freund vom Freund machte den Ton, Freun- hat mich eigentlich nicht interessiert, aber ich dinnen übernahmen die beiden Rollen. Die Plä- machte es und richtete mir eine Website ein. ne waren hochtrabend: Natürlich Preise gewin- nen auf Festivals! Ich zurrte Wort für Wort genau Das Ganze brachte nichts ein, war aber nicht fest, habe die Schauspieler mit meinen Vorstel- umsonst: Erstens lernte ich Filmschnitt, zwei- lungen überfordert, und heraus kam technisch tens entwickelte sich später daraus mein Demo- perfekt gemachter kalter Kaffe. Ich war demora- bandservice, denn ich hatte angefangen, meine lisiert. Demobänder selbst zu schneiden (Gelderspar- Dann wollte eine befreundete Schauspielerin nis!) und dachte, was ich für mich selbst kann, und Kabarettistin »zufällig« mit mir an einem kann ich auch für andere. Kurzfilmwettbewerb teilnehmen. Sie sagte, sie Selbst zu schneiden war eine gewisse Hürde habe es nicht so mit Textlernen und wolle lieber gewesen. Muss da nicht jemand mit Abstand von improvisieren. Okay, dann jetzt das. Von großem außen draufschauen? Aber es ging gut. Und diese Aufwand hatte ich die Nase voll, also machte ich Hürde ein erstes Mal genommen zu haben, hat die Kamera selbst. Desweiteren spielte aus dem es mir später erleichtert, meinen Film auch Off die Rolle einer Redakteurin, die den Film selbst zu schneiden! Zwei meiner Mitarbeiter macht. Das Ganze wurde mehrmals gedreht und hatten mir das wohl nicht so wirklich zugetraut anschließend »schmutzig« Bild in Bild geschnit- und wollten mir dezent einen Profi zur Seite stel- ten. So entstanden zwei Kurzfilme – und meine len. Die Dame hatte keine Zeit, was gut war, Arbeitsweise für den Langfilm. Die Improvisati- denn das hätte ein Riesen-Durcheinander gege- on finde ich eine ideale Arbeitsweise, weil sich ben. Beim Kinotrailer wurde dann wieder der geniale Texte entwickeln können, die einem am Ruf nach einem Spezialisten laut … der hätte Schreibtisch nie einfallen würden.
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