Bildung, Betreuung und Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft
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INKLUSION I Christine Preiß Bildung, Betreuung und Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft Hintergründe und bildungspolitische Ansätze In Deutschland leben Menschen aus zahlreichen Ländern und Kulturen, deren Integration eine zentrale ge sellschaftliche Aufgabe ist. Dies bezieht sich vor allem auf Kinder, die Kindertageseinrichtungen besuchen. Die Autorin beschreibt die historische Entwicklung und die aktuelle Situation im Einwanderungsland Deutschland, beleuchtet die rechtliche Lage von Kindern und Familien mit Migrationshintergrund und analysiert, welche Herausforderungen sich für das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung ergeben. WiFF Expertisen | 31 ISBN 978-3-86379-079-0
Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) stellt alle Ergebnisse in Form von Print- und Online-Publikationen zur Verfügung. Alle Publikationen sind erhältlich unter: www.weiterbildungsinitiative.de WiFF Expertisen WiFF Studien WiFF Wegweiser WiFF Kooperationen Weiterbildung Wissenschaftliche Analy- Ergebnisberichte der Exemplarisches Praxis- Produkte und Ergebnis- sen und Berichte zu aktu- WiFF-eigenen Forschun- material als Orientierungs- berichte aus der Zu- ellen Fachdiskussionen, gen und Erhebungen zur hilfe für die Konzeption sammenarbeit mit unter- Die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) ist ein Projekt des Bundesministe- offenen Fragestellungen Vermessung der Aus- und und den Vergleich von schiedlichen Partnern riums für Bildung und Forschung, der Robert Bosch Stiftung und des Deutschen Jugendinstituts e.V. und verwandten Themen Weiterbildungslandschaft kompetenzorientierten und Initiativen im Feld Die drei Partner setzen sich dafür ein, im frühpädagogischen Weiterbildungssystem in Deutsch- von WiFF in der Frühpädagogik Weiterbildungsangeboten der Frühpädagogik land mehr Transparenz herzustellen, die Qualität der Angebote zu sichern und anschlussfähige Bildungswege zu fördern. Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen Zuletzt erschienen WiFF wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und aus dem Euro- päischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert. Der Europäische Sozialfonds ist das DURCHLÄSSIGKEIT AUSBILDUNG ELTERN INKLUSION zentrale arbeitsmarktpolitische Förderinstrument der Europäischen Union. Er leistet einen E D I A Autorengruppe Berufsfachschule Qualifikationsprofil „Frühpädagogik“ – Beitrag zur Entwicklung der Beschäftigung durch Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, des Lotte Rose / Friederike Stibane Männliche Fachkräfte und Väter in Kitas Joanna Dudek/Johanna Gebrande Quereinstiege in den Erzieherinnenberuf Strategien zur Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte in Inklusion – Kinder mit Behinderung Grundlagen für die kompetenzorientierte Berufsfachschule Eine Analyse der Debatte und Projektpraxis Unternehmergeistes, der Anpassungsfähigkeit sowie der Chancengleichheit und der Investition Kindertageseinrichtungen Weiterbildung in die Humanressourcen. Männer sind in Kindertageseinrichtungen unterrepräsentiert. Dies betrifft nicht nur die männlichen Fachkräfte; Quereinstiege in die Ausbildung und in das Berufsfeld von Erzieherinnen und Erziehern haben aufgrund des männliche Bezugspersonen der Kinder beteiligen sich ebenfalls seltener an der Zusammenarbeit mit der Kita als erhöhten Fachkräftebedarfs eine zunehmende Bedeutung. Die vorliegende Expertise stellt die Möglichkeiten weibliche. Die vorliegende Expertise zeichnet die Argumentationslinien nach, die zu der Forderung nach einer der Zugänge und Qualifizierung für Quereinsteigende dar. Der Fokus liegt dabei auf der sogenannten Externen stärkeren Präsenz von Männern in Kitas geführt haben, und zeigt anhand einer Analyse von Praxisprojekten, prüfung – einer Prüfung, die das Nachholen des Berufsabschlusses der Erzieherin / des Erziehers ermöglicht – welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden. Sie leistet einen kritischen Beitrag zur Diskussion über mehr und auf der Teilzeitausbildung. Weitere Möglichkeiten für einen Quereinstieg in das Berufsfeld werden exem Männer in Kitas und zu dem übergeordneten Diskurs über eine geschlechtergerechte Gesellschaft. plarisch anhand von fünf länderspezifischen Maßnahmen aufgezeigt. WiFF Wegweiser Weiterbildung | 6 WiFF Expertisen | 35 WiFF Studien | 19 WiFF Kooperationen | 4 ISBN 978-3-86379-093-6 ISBN 978-3-86379-070-7 ISBN 978-3-86379-082-0 DRUCK_Umschlag_Dudek_Gebrande.indd 1 13.08.12 12:22 DRUCK_Exp_Rose_Umschlag.indd 1 07.05.13 15:48 DRUCK_WW_Inklusion_II.indd 1 28.05.13 11:18 Band 34: Band 19: Band 6: Band 4: Lotte Rose/Friederike Stibane: Joanna Dudek/Johanna Gebrande: Inklusion – Kinder mit Behinderung Autorengruppe Berufsfach Männliche Fachkräfte und Väter Quereinstieg in den Erzieherinnen schule: Qualifikationsprofil in Kitas beruf „Frühpädagogik“ – Berufsfachschule Band 34: Band 18: Band 5: Band 3: Annika Sulzer: Kulturelle Hetero Norbert Schreiber: Die Ausbildung Inklusion – Kulturelle Heterogenität Expertengruppe „Anschluss genität in Kitas. Anforderungen an von Kinderpflegerinnen und in Kindertageseinrichtungen fähige Bildungswege“: Fachkräfte Sozialassistentinnen Kindheitspädagogische Band 4: Bachelorstudiengänge und © 2013 Deutsches Jugendinstitut e. V. Band 33: Band 17: Frühe Bildung – Bedeutung anschlussfähige Bildungswege Ulrich Heimlich: Kinder mit Behin Pamela Oberhuemer: Fort- und und Aufgaben der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) derung – Anforderungen an eine Weiterbildung frühpädagogischer pädagogischen Fachkraft Band 2: Nockherstraße 2, 81541 München inklusive Frühpädagogik Fachkräfte im europäischen Band 3: Expertengruppe Berufs Vergleich begleitende Weiterbildung: Telefon: +49 (0)89 62306-173 / -249 Band 32: Zusammenarbeit mit Eltern Qualität in der Fort- und Hiltrud Otto/Lisa Schröder/Ariane Band 16: E-Mail: info@weiterbildungsinitiative.de Gernhardt: Kulturelle Heterogenität Jan Leygraf: Struktur und Orga Band 2: Weiterbildung von päda Kinder in den ersten drei gogischen Fachkräften in in Kitas – Weiterbildungsformate nisation der Ausbildung von Lebensjahren Kindertageseinrichtungen für Fachkräfte Ezieherinnen und Erziehern Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e. V. (DJI) Band 1: Band 1: Band 30: Band 15: Lektorat: Jürgen Barthelmes Sprachliche Bildung Autorengruppe Fachschul Simone Seitz/Nina-Kathrin Finnern/ Karin Beher/Michael Walter: wesen: Qualifikationsprofil Gestaltung, Satz: Brandung, Leipzig Natascha Korff/Anja Thim: Kinder Qualifikationen und Weiter „Frühpädagogik“ – Fach mit besonderen Bedürfnissen – bildung frühpädagogischer Titelfoto: Uwe Annas © Fotolia.com Tagesbetreuung in den ersten drei Fachkräfte schule / Fachakademie Druck: Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt a. M. Lebensjahren www.weiterbildungsinitiative.de Stand: August 2013 ISBN 978-3-86379-079-0
Christine Preiß Bildung, Betreuung und Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft Hintergründe und bildungspolitische Ansätze Eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)
Vorwort Familien mit Migrationshintergrund leben in Deutschland unter heterogenen Bedingungen hin- sichtlich ihres Rechtsstatus, ihrer Zuwanderungsgeschichte und ihres Zugangs zu Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Mit dem gesellschaftlichen Anspruch, gleiche Teilhabechancen für alle Kinder zu schaffen, kommt auch den Kindertageseinrichtungen eine wichtige Rolle zu. In der vorliegenden Expertise analysiert Christine Preiß integrationspolitische Positionen, Ak- tivitäten und rechtliche Rahmenbedingungen, die den Lebensalltag von Familien und Kindern mit Migrationshintergrund prägen. Ausgehend von einer Zustandsbeschreibung formuliert sie (bildungs-)politische Handlungsbedarfe. Mit einer exemplarischen Darstellung von Praxisansätzen zur Zusammenarbeit mit Eltern zeigt sie, unter welchen Bedingungen die Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern mit Migrationshintergrund gelingen kann. Diese Expertise wurde für die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) erstellt und knüpft an die thematische Arbeit der Expertengruppe „Inklusive Frühpädagogik im Kontext von Migration“ an. Die Verantwortung für die fachliche Aufbereitung der Inhalte liegt bei der Au- torin. Die Ergebnisse dieser Expertise bieten Hintergrundinformationen für die Entwicklung von Weiterbildungsangeboten und sollen zudem den fachlichen und fachpolitischen Diskurs anregen. Unser Dank gilt Angelika Diller, die die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte von Beginn an bis zu ihrem Ausscheiden in den Ruhestand als Projektleitung begleitet und auch diese Publikation betreut hat. München, im August 2013 Prof. Dr. Anke König Projektleitung WiFF 5
Inhalt 1 Einleitung 9 1.1 Zur Aktualität von Migration und Integration 10 1.1.1 Deutschland – ein Einwanderungsland 10 1.1.2 Steuerung der Zuwanderung im historischen Rückblick 10 1.1.3 Zum gegenwärtigen Stand integrationspolitischer Positionen 14 2 Fakten und Zahlen zum Einwanderungsland Deutschland 18 2.1 Migration: Begriffe, Erläuterungen 18 2.2 Migrationshintergrund – ein neues methodisches Konstrukt 19 2.3 Das Konzept „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ 20 3 Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach ausgewählten Merkmalen 22 4 Ungleichbehandlung als Folge staatlicher Regelungen 25 5 Vielfalt an Lebenslagen: Migranten sind keine einheitliche Gruppe 30 6 Der Nationale Integrationsplan: ein zentrales (bildungs-)politisches Instrument 31 6.1 Akteure und Ziele 31 6.2 Zwischenbilanz des Integrationsprozesses 32 7 Migration und Integration: eine Herausforderung für das Bildungssystem 34 7.1 Bildung als Integrationsaufgabe 34 7.2 Frühkindliche Förderung im bildungspolitischen Fokus 35 7.3 Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen 36 7.3.1 Betreuungsquoten von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund 36 7.3.2 Barrieren der Inanspruchnahme öffentlicher Betreuung 37 7.4 Zum Stellenwert einer Betreuung in Kindertageseinrichtungen 39 7.5 Interkulturelle Bildung und Erziehung als pädagogische Aufgabe von Betreuungseinrichtungen 40 7.5.1 Begriffe, Konzepte 40 7.5.2 Interkulturelle Bildung und Erziehung als Chance für alle Kinder 41 7.5.3 Qualität des Personals in Kindertageseinrichtungen 42 8 Die Förderung der Kinder beginnt bei den Familien 44 8.1 Zur Rolle der Eltern mit Migrationshintergrund 44 8.2 Erreichbarkeit der Eltern: Niedrigschwellige Angebote und vielfältige Zugänge 45 8.3 Grundlagen für eine Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Betreuungseinrichtung 46 7
Christine Preiß 9 Ansätze für die Zusammenarbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund 48 9.1 Eltern und Kinder als Zielgruppe 48 9.2 Die „Stadtteilmütter“ – ein sprach- und familienunterstützendes Netzwerk 49 9.3 HIPPY – ein Hausbesuchsprogramm für Eltern von Vorschulkindern 51 9.4 Das Programm Opstapje – Schritt für Schritt 52 9.5 Der Zusammenschluss beider Programme 54 10 Bilanzierung der Konzepte: Erfahrungen und Effekte 55 11 Resümee 56 12 Literatur 58 8
Einleitung Folgen für die Lebenssituation der davon betroffenen 1 Einleitung Kinder, Jugendlichen und Familien gegeben – ver- bunden mit der Frage nach den gesellschafts- und bildungspolitischen Herausforderungen. Das Kapitel 3 enthält die aktuellen Daten zur Bevölke- Zum Thema rung mit Migrationshintergrund zu den Anteilen der Die Bundesrepublik Deutschland gilt mittlerweile als Gesamtbevölkerung, der Kinder und der relevanten Einwanderungsland. Die Folgen der Zuwanderung Bevölkerungsgruppen nach den Merkmalen Status, durchziehen inzwischen alle gesellschaftlichen Be- Aufenthaltsdauer, Alter, Geschlecht und regionale reiche, sie prägen den Lebensalltag von Familien und Verteilung. Kindern und nehmen Einfluss auf die institutionellen Das Kapitel 4 problematisiert die Ungleichbehand- Bildungs- und Erziehungsprozesse. lung von Migrantinnen und Migranten durch den Zuwanderung ist aufgrund wirtschaftlicher und unterschiedlichen Rechtsstatus, durch uneinheitliche soziodemografischer Entwicklungen zwangsläufig, Zugänge zur Bildung sowie durch Einschränkungen dennoch wird das Thema Migration und Integration der Residenzpflicht, Duldung und Abschiebung. Dabei nicht nur in der (medialen) Öffentlichkeit kontrovers wird insbesondere die neue Bleiberechtsregelung für diskutiert. geduldete Kinder und Jugendliche aufgezeigt. Die Stellungnahmen aus Wissenschaft, Politik und Das Kapitel 5 macht auf die Vielfalt der Lebenslagen Wirtschaft machen die Gestaltung der Eingliede- von Migrantinnen und Migranten aufmerksam. rungsprozesse als eine integrationspolitische Not- Der Nationale Integrationsplan als ein zentrales wendigkeit deutlich, insbesondere für die Bereiche (bildungs-)politisches Instrument ist das Thema von Bildung und Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung so- Kapitel 6. wie für das soziale Zusammenleben auf kommunaler Das Kapitel 7 erörtert Migration und Integration Ebene. Die daraus resultierenden Handlungsanforde- nach verschiedenen Facetten und geht im Besonderen rungen sind nur als (dauerhafte) Querschnittsaufgabe auf die Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder unterschiedlicher Politikbereiche und unter breiter mit Migrationshintergrund ein. Dabei stehen die Inter- Beteiligung gesellschaftlicher Akteure zu lösen (Sach- kulturelle Bildung und Erziehung im Mittelpunkt so- verständigenrat deutscher Stiftungen für Integration wie die Merkmale der Qualität für die pädagogischen und Migration SVR 2011, 2010; Bundesjugendkuratori- Fachkräfte. um 2008, 2005; Bruhns 2006; Wildung 2006; Bundes- Die Kapitel 8 und 9 widmen sich den Zielgruppen ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Kinder bzw. Familien mit Migrationshintergrund und BMFSFJ 2000). Die Rolle, die die Kindertagesbetreuung zeigen die Situation und den Stellenwert einer Be- hierbei spielen kann, ist im engeren Sinne Gegenstand treuung in Kindertageseinrichtungen unter integra- dieser Expertise, wobei herauszustellen ist, dass die bil- tiven Gesichtspunkten auf. Anhand beispielhafter dungspolitische Antwort auf den Integrationsbedarf Praxiskonzepte wird dargestellt, wie sich Zugänge ein relativ neues Phänomen ist. zu Migrantenfamilien erschließen lassen und unter welchen Bedingungen eine integrationsfördernde Zum Aufbau der Expertise Zusammenarbeit mit Kindern und Eltern mit Migra- Mit dieser Expertise werden Hintergrundinformati- tionshintergrund möglich ist. onen zu einzelnen Aspekten des komplexen Themen- Die Expertise liefert hiermit Hintergrundwissen feldes „Migration und Integration“ bereitgestellt. über die Lebensbedingungen von Familien mit Mi- Das Kapitel 1 zeigt in einem historischen Rückblick grationshintergrund und stellt die bildungspolitische auf die Nachkriegsgeschichte die wichtigsten integra- Bedeutung von Kindertageseinrichtungen als erste tionspolitischen Entwicklungslinien auf. Instanz des Bildungssystems dar. Weiterbildnerinnen Das Kapitel 2 skizziert die aktuelle Situation des und Weiterbildner erhalten so wichtige Hinweise für Einwanderungslandes Deutschland. Damit werden die Konzeption und Ausgestaltung ihrer Angebote für Einblicke in die gesellschaftliche Migrationsrealität, frühpädagogische Fachkräfte, die den Bildungsauf- in die rechtlichen Rahmenbedingungen und deren trag erfüllen sollen. 9
Christine Preiß 1.1 Zur Aktualität von Migration und schichte unterschiedlicher politischer Orientierungen Integration und Aktivitäten – von der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, über den Anwerbestopp bis hin zur 1.1.1 Deutschland – ein Einwanderungsland Aufhebung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts Bereits in früheren Jahrhunderten erfolgten aus (1913) und Einführung des Zuwanderungsgesetzes unterschiedlichen Anlässen (wie kriegerische Ausei- (2005) – die sich nicht nur auf die nationale Ebene nandersetzungen und religiöse Verfolgungen) Zuwan- beschränken, sondern auch eingebettet sind in den derungen in den deutschsprachigen Raum, beispiels- Kontext internationaler Entwicklungen von Migrati- weise im 17. Jahrhundert durch die Hugenotten aus onsprozessen (Oltmer 2009). Frankreich (Bade/Oltmer 2010, S. 141 ff.). Seither hat es immer wieder Aus- und Einwanderungswellen gege- Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte ben (Peucker u. a. 2010, S. 207 f.; Mecheril 2005, S. 311). Mit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ in den In der vorindustriellen Zeit war Deutschland vorran- 1950er-Jahren der Bundesr epublik Deutschland gig ein Auswanderungsland, das unter anderem durch wuchs der Bedarf an zumeist ungelernten oder ange- die Wanderung der Handwerksgesellen, durch Sied- lernten Arbeitskräften in der Landwirtschaft und im lungsmigration zur Erschließung von Gebieten, durch Untertage-Bergbau, später auch in anderen Bereichen Flüchtlingsströme infolge religiöser Verfolgung und der Industrie. Da dieser Bedarf durch das inländische Hungersnöte sowie durch Prozesse der Saisonwande- Arbeitskräfteangebot nicht ausreichend gedeckt rung gekennzeichnet war. Wanderarbeit als Folge der werden konnte, wurden Arbeitnehmer aus Südeuropa zunehmenden Industrialisierung und wachsender bzw. dem Mittelmeerraum angeworben. Industriestädte, die mit dem Eisenbahnbau einher- Zur Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräf- gehende Verbesserung des Transportsystems und ten schloss die Bundesrepublik mit verschiedenen enorme Migrationsbewegungen nach Übersee mar- Ländern Abkommen für deren, in der Regel auf ein kieren das Wanderungsgeschehen im ausgehenden Jahr befristeten, Einsatz auf dem bundesdeutschen Ar- 19. und frühen 20. Jahrhundert. Danach bestimmten beitsmarkt ab: Die Anwerbung begann 1955 mit einem vor allem Immigrationsprozesse das Wanderungsge- Abkommen mit Italien. Später folgt en Anwerbe schehen. Mit der steigenden geografischen Mobilität abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), verband sich der Gedanke von ökonomischer Absiche- der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), rung und sozialem Aufstieg. Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968), (Schulte/ Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Treichler 2010, S. 21). die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland Diese Form der Arbeitsmigration wurde von den zum Ziel von Migrantinnen und Migranten in Europa. beteiligten Herkunftsländern, den Arbeitskräften Während zwischen 1950 und 1998 etwa 20 Mio. Men- selbst („Gastarbeitern“) sowie vom Aufnahmeland schen Deutschland verließen, kamen in diesem Zeit- Deutschland unter der Perspektive des Rückkehr- raum gleichzeitig rund 30 Mio. Menschen in dieses und Rotationsprinzips eingegangen. Der jährliche Gebiet (Münz u.a. 1999, S. 18). Insbesondere die Bedarfs- Austausch von eingearbeiteten Arbeitskräften stieß lage der Wirtschaft hat immer wieder zu Anwerbungs- jedoch auf den Widerstand bei den Unternehmen, was zyklen (Gastarbeiter) geführt. Dennoch war nicht ab- zur aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Lockerung der sehbar, dass Deutschland fast 50 Jahre später auf drei zeitlichen Befristung führte. Generationen Migrationsgeschichte zurückblicken Auch nach dem Konjunktureinbruch 1966/1967 hielt würde. Deutschland wurde somit für viele Menschen aufgrund der wieder erstarkten Wirtschaft der Bedarf nicht nur zur Übergangssituation, sondern zu einem an ausländischen Arbeitskräften an. Volkswirtschaft- neuen Lebensmittelpunkt. lich betrachtet fungierten die ausländischen Arbeits- kräfte in den Rezessionsphasen 1966/1967 und 1973 als 1.1.2 Steuerung der Zuwanderung im „Hebel im konjunkturellen Aufschwung und Puffer im historischen Rückblick Abschwung“ (Heckmann 1981, S. 162 f.). Gestützt auf Die letzten 60 Jahre seit Gründung der Bundesrepublik das im Aufenthalts-und Arbeitserlaubnisrecht veran- Deutschland dokumentieren eine wechselvolle Ge- kerte Inländerprinzip wurden frei werdende Arbeits- 10
Einleitung plätze vorrangig mit deutschen Erwerbspersonen be- Trotz hoher allgemeiner Arbeitslosigkeit zeigte sich setzt, was letztlich seine konsequente Fortsetzung in Ende der 1980er-Jahre in bestimmten Sektoren der der Verhängung des Anwerbestopps erfuhr (Schulte/ westdeutschen Wirtschaft ein Mangel an Arbeits- Treichler 2010, S. 22). kräften (z. B. in der Landwirtschaft sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe). Dies führte zur teilweisen Anwerbestopp mit Ausnahmen Lockerung des Anwerbestopps. Die Ölkrise von 1973, die das vorläufige Ende des Jenseits des prinzipiell fortbestehenden Anwerbe Wirtschaftswachstums signalisierte, beendete diese stopps für nicht, gering oder norm al qualifizierte Phase bundesdeutscher Anwerbe-Politik. Nachdem Drittstaatsangehörige bestehen (bis heute) etliche das Bundeskabinett am 23. November 1973 den soge- Ausnahmen (z. B. Fachkräfte) für bestimmte Beschäf- nannten Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer tigungsgruppen sowie für besondere Sektoren des beschlossen hatte, konnten Drittstaatsangehörige nur Arbeitsmarktes (Parusel/Schneider 2010). noch in geringem Umfang zum Zwecke der Arbeits- aufnahme zuwandern; eine Wiedereinreise nach Beschäftigung und Familiennachzug erfolgter Rückwanderung in das Herkunftsland war Hatte der Anwerbestopp die Beschäftigung auslän- nicht mehr möglich. Diese Maßnahme bewog die hier discher Arbeitskräfte zunächst verringert bzw. stagnie- ansässigen ausländischen Arbeitsmigranten, ihre ren lassen, wuchs durch die Möglichkeit des Familien- Arbeitsperspektive und ihren aufenthaltsrechtlichen nachzugs die ausländische Wohnbevölkerung weiter Status, aber auch die Rückkehrerwägungen selbst bei an: „Es gehörte zu den politisch nicht intendierten Arbeitslosigkeit zu überdenken (Schulte/Treichler Handlungsfolgen des staatlichen Anwerbestopps, dass 2010, S. 22 f.). die Gastarbeiterbevölkerung nun begann, sich langfris Jene Einwanderer, die sich unter diesen Bedin- tig in der Bundesrepublik Deutschland einzurichten“ gungen entschieden, dauerhaft in Deutschland zu (Schulte/Treichler 2010, S. 22). bleiben, bildeten die Basis für weitere Einwanderungen Die Beschäftigungsquote stieg von 0,4 % im Jahre über die Familienzusammenführung (Netzwerk Mi- 1955 auf 11,9 % im Jahr 1973 (Herbert 2001, S. 198 f.). 1980 gration in Europa 2012, S. 2). Die Erkenntnis, dass eine hielt sich ein Drittel der Ausländer bereits zehn Jahre längerfristige Anwesenheit der Zugewanderten nicht oder länger in Deutschland auf, 1985 lag der Anteil auszuschließen ist, bewirkte einen kontinuierlichen, bereits bei 55 %. wenn auch unter aufenthaltsrechtlichen Bedingungen Je mehr die aus Italien, der Türkei und dem dama- bis heute restriktiv gehandhabten Familiennachzug ligen Jugoslawien stammenden Gastarbeiter Teil der (Filsinger 2011). bundesdeutschen Arbeiterschaft wurden und die Mit Blick auf diese Praxis wurde bereits im Sechs- Gesellschaft wirtschaftlich und kulturell veränderten, ten Familienbericht angemahnt, dass die Eingliede- gewann ihr arbeits-, aufenthalts- und sozialrechtlicher rungsprozesse von Familien ausländischer Herkunft Status zunehmend an Bedeutung. Die Erhöhung der verbunden mit der Neustrukturierung der familialen Aufenthaltsdauer in Verbindung mit dem Ehegatten- Beziehungen im Aufnahmeland nicht nur eine länger- und Familiennachzug wurde auch zur politischen fristige Perspektive benötigen würden, sondern dass Herausforderung für die Gestaltung der Lebensverhält- es dazu auch kontinuierlicher Rahmenbedingungen nisse dieses Bevölkerungsteils, sodass die Notwendig- bedarf (Bundesministerium für Familie, Senioren, keit für Integrationsprozesse immer offensichtlicher Frauen und Jugend BMFSFJ 2000). wurde (Oltmer 2009, S. 159). Forderungen nach Begrenzungsmaßnahmen be- Die Mitgestaltung der Lebensbedingungen für stimmten weiterhin das politische Handeln; Auslän- diese Personengruppen wurde zu einem wichtigen der- und arbeitsmarktpolitisch war eine längerfristige Handlungsfeld der Wohlfahrtsverbände, deren Integration der Gastarbeiterbevölkerung nicht vorge- Sozialberatung zunächst – komplementär zu den sehen (Meier-Braun 2011, S. 39; Schulte/Treichler 2010, ökonomischen Interessen der Ausländerpolitik – auf S. 148). In diese Phase fällt der politische Vorstoß, per eine soziale Integration auf Zeit ausgerichtet war. Mit Gesetz (1983) die Rückkehrbereitschaft auch durch zunehmender Aufenthaltsdauer der Gastarbeiter wur- finanzielle Anreize zu stimulieren. de diese Betreuungsarbeit durch staatliche Zuschüsse 11
Christine Preiß und die entsprechende personelle Ausstattung für Bodens, Landes“): Die Staatsangehörigkeit wird nun den Ausbau der Ausländerberatungsstellen zu einem vom Geburtsort bzw. Geburtsland abgeleitet. ökonomischen Faktor der Verbandsarbeit (Schulte/ Die Feststellung der Staatsangehörigkeit ist unter Treichler 2010, S. 148). anderem für den Bereich der Jugendhilfe wie für das Die Einwanderergruppen begannen, sich jenseits Sozialrecht generell von zentraler Bedeutung, weil der Wohlfahrtsverbände in eigenständigen Organi- die Leistungen zumindest zum Teil an die deutsche sationen zusammenzufinden. Heute ist ihre Selbst- Staatsangehörigkeit mindestens eines Elternteils und/ vertretung in professionalisierten Organisationen ein oder des Kindes gebunden sind (Diefenbach 2002, wichtiger Bestandteil der Integrationsarbeit sowohl S. 75). Kinder ausländischer Eltern sind aber nicht auf kommunaler als auch auf Landes- und Bundesebe- zwangsläufig Ausländer, da sie aufgrund des neuen ne. Ihnen wird ein hoher Stellenwert für die Kommu- Staatsangehörigkeitsrechts anders als die Eltern auch nikations- und Verständigungsprozesse innerhalb der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Zivilgesellschaft sowie zwischen dieser und dem Staat „Der Jus-soli-Erwerb der deutschen Staatsangehö- beigemessen (Die Beauftragte der Bundesregierung rigkeit wird künftig einen entscheidenden Beitrag zur 2010; Çağlar 2004, S. 336 f.; BMFSFJ 2000). Integration der Kinder ausländischer Eltern leisten, weil diese damit nicht mehr aufgrund ihrer nicht- Wende in der Ausländerpolitik: deutschen Staatsangehörigkeit vom Leistungsbezug Das Staatsangehörigkeitsrecht von 1999 ausgeschlossen sind“ (Diefenbach 2002, S. 76). In den 1990er Jahren erfolgte die Zuwanderung von Während der 1990er-Jahre wurden in Deutschland Asylsuchenden und Aussiedlern in die Bundesrepublik jährlich etwa um die 100.000 Kinder mit ausländischer bei einer zugleich zunehmenden Zahl von Einbürge- Staatsangehörigkeit geboren. Nach der Einführung rungen, die durch das neue Ausländergesetz von 1991 des Jus-soli-Prinzips im Jahr 2000 hat sich die Zahl der ermöglicht wurde. Voraussetzung war ein fünfzehn- in Deutschland geborenen Kinder mit (nur) auslän- jähriger Aufenthalt, der später auf acht Jahre verkürzt discher Staatsangehörigkeit im Vergleich zum Vorjahr wurde. Dadurch nahm der Anteil der Deutschen „mit fast halbiert und ist seitdem kontinuierlich gesunken Migrationshintergrund“ zu. Verstärkt wurde diese (BMI/BAMF 2011, S. 217, S. 225; Rühl 2009). Tendenz durch die Verabschiedung des Staatsange- Im Jahr 2007 wurden 35.666 Geburten im Rahmen hörigkeitsgesetzes von 1999, das eine Optionsregelung der Jus-soli-Regelung registriert. Zum Ende des Jahres für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern 2008 war von den in Deutschland lebenden Auslän- vorsieht (BMI/BAMF 2010, S. 223). dern etwa jeder Fünfte im Inland geboren. Bei den Die Aufhebung des Staatsangehörigkeitsrechts Ausländern unter 18 Jahren betrug dieser Anteil 71,2 %. von 1913 markiert einen historischen Wendepunkt Dabei weisen insbesondere Staatsangehörige aus in der Ausländerpolitik (Meier-Braun 2011, S. 41; Rühl den ehemaligen Anwerbeländern einen überdurch- 2009). Bis Ende 1999 wurden Einbürgerungen von schnittlich hohen Anteil an bereits in Deutschland Ausländern eher restriktiv gehandhabt, was im euro- geborenen Personen auf (Hinweis auf zweite und dritte päischen Vergleich zu einer unterdurchschnittlichen Generation) (BMI/BAMF 2011). Einbürgerungsquote geführt hat (Bundesministerium des Innern/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Rückkehr von Spätaussiedlern BMI/BAMF 2011). Einen besonderen Stellenwert nimmt für die Bundes In diese Phase fällt auch der Paradigmenwechsel republik die Zuwanderung (Rückkehr) von Spätaus- von einer an Modellprojekten orientierten „Auslän- siedlerinnen und Spätaussiedlern ein, die insbesondere derpolitik“ zu einer programmatischen Integrations- während des Zweiten Weltkriegs von Umsiedlungen politik (Söhn 2010, S. 277). und Deportationen betroffen waren. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung damit Grundlage für die Anerkennung als Aussiedler bzw. vom Abstammungsprinzip ab (Jus sanguinis – „Recht Spätaussiedler ist seit 1993 der Art. 116 des Grundge- des Blutes“): Die Staatsangehörigkeit wurde von den setzes, das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz Eltern abgeleitet. Kern der Reform ist die Einbürge- sowie das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (BMI/BAMF rung durch das Geburtsrecht (Jus soli – „Recht des 2011, S. 49 f.; Schulte/Treichler 2010; Bade/Oltmer 2003). 12
Einleitung Die staatsbürgerrechtliche Anerkennung als Deut- tion, sondern auch hinsichtlich der Rechtssicherheit sche und die damit verbundenen Integrationshilfen der in Deutschland lebenden Zuwanderer. Dieses Kon- begründen noch heute den vergleichsweise privi- zept begründete ein „migrationspolitisches Moder- legierten Status von Aussiedlern. Denn anders als nisierungsprojekt, das sich nach langem Ringen um Ausländer genießen sie auch im gesamten Sozialrecht unterschiedliche politische Positionen, unter anderem dieselben Rechte wie deutsche Staatsangehörige. über die Übernahme eines Punktesystems nach kana- Dennoch ist nicht zu verkennen, dass sich auch diese dischem Vorbild, dem Übergang der Bundesrepublik Migrantengruppen mit den sozialen Folgen ihrer zu einem modernen Einwanderungsland verschrieb, Rückkehrsituation auseinandersetzen müssen und bislang aber nur zum Teil umgesetzt werden konnte“ ähnliche Integrationsschwierigkeiten aufweisen wie (Oltmer 2009, S. 165; Bade/Oltmer 2004, S. 127 ff.). Ausländer (Diefenbach 2002, S. 74). Gleichzeitig wurde mit diesem Gesetz auch der Ehe- gatten- und Familiennachzug, der sich auf den Schutz Zuwanderungspolitik auf der Grundlage des von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 des Grundge- Zuwanderungsgesetzes(2005) setztes bezieht, neu geregelt (BMI/BAMF 2011, S. 127 ff.). Erst seit Beginn dieses Jahrhunderts standen erleich- Für den Ehegattennachzug ist seit 2009 eine erfolg- terte Einbürgerungen, die Entwicklung eines Zuwan- reiche Sprachprüfung im Herkunftsland erforderlich. derungsgesetzes und die Etablierung umfassender Fast drei Viertel des gesamten Ehegattennachzugs Integrationsprogramme auf der Agenda (Oltmer 2009, (71,4 %) betrifft den Nachzug von Ehefrauen (ebd., S. 138). S. 165). Häufigstes Herkunftsland des Ehegatten- und Fami- Mit dem am 1. Januar 2005 nach kontroversen De- liennachzugs ist noch immer die Türkei, gefolgt von batten in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz wurde Personen aus dem Kosovo, der Russischen Föderation, eine neue Phase eingeleitet, die wieder eine Öffnung Indien, Syrien, Thailand und Marokko (ebd. S. 133). für bestimmte Gruppen von Migranten zur mittel- oder Daneben stellt die Rückkehrförderung weiterhin ein langfristigen Zuwanderung vorsah und insbesondere Instrument der Migrationssteuerung dar, das durch auf wichtige Arbeitsmarktsegmente und Wirtschafts- entsprechende von Bund und Ländern finanzierte sektoren abzielte (Bundesministerium des Innern BMI Programme die freiwillige Rückkehr in die Herkunfts- 2010, S.90 ff.). Das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung länder unterstützen soll. Dadurch kehren jährlich der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und mehrere tausend Personen in ihre Heimatländer zu- der Integration von Unionsbürgern und Ausländern nennt rück oder wandern in andere Staaten weiter. zum ersten Mal ausdrücklich das politische Ziel, die In- Seit 2002 erfolgte eine Wiederaufnahme der welt- tegration von Ausländern in die deutsche Gesellschaft weiten Rückkehrförderung (BMI 2008, S. 157). Ein we- fördern zu wollen. sentlicher Teil der Rückkehrprojekte und Rückkehrbe- Mit integrationsfördernden Maßnahmen wurden ratung findet auf der Ebene der Kommune und durch Voraussetzungen geschaffen, das umstrittene Konzept Wohlfahrtsverbände statt (BMI/BAMF 2011, S. 195). einer Integration auf Zeit partiell abzulösen (Schulte/ Die Rückkehrpolitik ist auch weiterhin darauf ausge- Treichler 2010, S. 82). Es leitete unter anderem mit richtet, mit einzelnen Ländern entsprechende Abkom- Sprach- und Orientierungskursen ein neues integra- men abzuschließen. tionspolitisches Engagement des Bundes ein, in das auch die Länder und Kommunen eingebunden sind. Einbindung in internationale Regelungen Zentrale Fragen der politischen Gestaltung von In- Das Phänomen „Zuwanderung“ ist nicht ausschließlich tegration wurden dadurch verstärkt in das Blickfeld die Folge nationaler migrationspolitischer Aktivitäten. unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure gerückt Sie basiert auch auf den besonderen historischen Ent- (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Inte- wicklungen und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, gration und Migration SVR 2010; Die Beauftragte der die zu grundrechtlichen und menschenrechtlichen Bundesregierung 2007, S. 18 ff.; Bundesjugendkurato- Normen sowie zu internationalen Abkommen geführt rium 2008, 2005). haben. Dieses Gesetz bedeutet nicht nur einen wichtigen Auch die Aufnahme von Asylsuchenden oder ande- Schritt im Hinblick auf die Notwendigkeit von Integra- ren Flüchtlingen gründet demzufolge auf der histo- 13
Christine Preiß rischen Selbstverpflichtung durch das Grundgesetz Nachholende Integrationspolitik sowie auf internationalen Konventionen (Gogolin Erst seit einigen Jahren wird in der Steuerung und 2005, S. 285). Gestaltung der Zuwanderung eine wichtige gesell- schaftspolitische, staatlich geregelte Aufgabe gese- 1.1.3 Zum gegenwärtigen Stand hen. Zwar wurde auch in der Vergangenheit Zuwan- integrationspolitischer Positionen derung gesteuert, meist jedoch mit der Ausrichtung, die Zahl der Einwanderer in Abhängigkeit von den Integration auf Zeit – ein umstrittenes Konzept volkswirtschaftlichen Interessen zu begrenzen (Maier- Die im politischen Diskurs vertretenen Positionen zur Braun 2011; Rühl 2009; Schneider 2009; Bade u.a. 2008, „Integration“ haben in den letzten Jahrzehnten keine 2004; Worbs 2008). einheitliche und vorausschauende integrationspoli- Nach Einschätzung von Migrationsexperten befin- tische Haltung der Bundesrepublik Deutschland er- det sich die Bundesrepublik gegenwärtig noch immer kennen lassen. Der Sechste Familienbericht (2000) stellt im Stadium einer nachholenden Integrationspolitik dazu Folgendes fest: Betrieben wurde eine in vieler (SVR 2010; Bade u. a. 2008). Trotz eines politischen Hinsicht widersprüchliche Politik, die einerseits wach- Paradigmenwechsels von einer Politik der strikten sende Sicherheit im Aufenthaltsstatus (Verlängerung Verhinderung arbeitsmarktbezogener Einwanderung der Arbeitsaufenthalte) vorsah, andererseits mit Kon- hin zu einer Politik der dosierten Öffnung bleiben Ab- zepten zur „Förderung der Rückkehrbereitschaft“ bzw. und Begrenzungsbestrebungen weiterhin bestehen zu einer „sozialen Integration auf Zeit“ die Motivation (Cyrus 2003). zur Rückkehr stets wachhalten sollte. Die gemeinsame Auch das neue Zuwanderungsgesetz hat – der Migra- Haltung aller Bundesregierungen (bis 1998) fand ihren tionsforschung zufolge – noch keine Balance zwischen Ausdruck in dem „ausländerpolitischen“ Statement: den an die Zuwanderer gerichteten Integrationsan- „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland“ forderungen gegenüber den Integrationsangeboten (BMFSFJ 2000, S. 37). Erst seit Januar 2005 hat sich die vonseiten des Staates erzeugt (SVR 2010; Oberndörfer Bundesregierung offiziell auf die Bezeichnung „Ein- 2007; Gogolin 2005; Bade/Oltmer 2004). Zwar existiert wanderungsland“ verständigt. einerseits ein breiter politischer Konsens darüber, Die lang vorhandene Ignorierung der Migrations- dass die Bundesrepublik Deutschland de facto ein realität bestimmt auch heute noch den gesellschaft- Einwanderungsland ist und sich demzufolge auch den lichen Umgang mit dieser Thematik. Bis in die jüngste daraus resultierenden gesellschaftspolitischen He- Zeit war das politische Handeln von der Vorstellung rausforderungen stellen muss. Andererseits wurden geprägt, dass Angeworbene nicht dauerhaft integriert in den vergangenen Jahren geltende Einwanderungs- werden müssten, sondern nach von vornherein festge- möglichkeiten wiederum massiv eingeschränkt, unter legter Aufenthaltsdauer in ihre Heimat zurückkehren anderem durch das Dublin-System für Flüchtlinge, die würden (Rotationsprinzip). Die „Nichtintegration“ Neuregelung der Aufnahme jüdischer Zuwanderer von Zuwanderern hatte zur Folge, dass sie auch mit aus der ehemaligen Sowjetunion sowie die Einführung finanziellen und sozialen Belastungen für die Auf- von Spracherfordernissen für Spätaussiedler und für nahmegesellschaft einherging (von Loeffelholz/ nachziehende Familienangehörige. Thränhardt 1996). Diese Haltung erwies sich für eine kontinuierliche Politik der dosierten Öffnung und vorausschauende Migrations- und Integrations- Arbeitsmarktbezogene Zuwanderung, die aktuell und politik in Deutschland als kontraproduktiv (Gogolin perspektivisch für Deutschland auch aus Gründen der 2005, S. 285). „Öffnung“ und „Abwehr“ kennzeichnen demografischen Entwicklung immer wichtiger wird, das politische Handeln bis in die Gegenwart (BMFSFJ „hat sich im globalen Wettbewerb um nachgefragte 2000, S. 37). Integration wurde oft einseitig normativ Arbeitskräfte sowohl aus ökonomischer als auch men- als Bringschuld jener Personengruppen thematisiert, schenrechtlicher Perspektive zu bewähren“ (Cyrus die in diesem Land leben und arbeiten wollen, und 2003, S. 69). weit weniger aus der Perspektive verantwortungs- Ob die jüngst vom Bundeskabinett beschlossene vollen staatlichen Handelns (Gogolin 2005, S. 279). neue Blue-Card-Richtlinie, die den Mangel an hoch- 14
Einleitung qualifizierten Arbeitskräften unter anderem in den Deutschland gelebt. Aufgrund der Finanz- und Schul- sogenannten MINT-Berufen (MINT steht für Mathe- denkrise sind im ersten Halbjahr 2011 rund 435.000 matik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) Personen (68.000 oder 19 Prozent mehr als im entspre- beheben soll, eine quantitativ bedeutsame Öffnung für chenden Vergleichszeitraum) nach Deutschland ein- Arbeitsmigranten zur Folge haben wird, bleibt weiter gewandert (Netzwerk Migration in Europa 2012, S. 1. umstritten (Hinte/Zimmermann 2010 a, b). www.migration-info.de/). Eine Niederlassungserlaubnis wird auch künftig Die Zuwanderungen stehen auch in Zusammen- nur unter Vorbehalt gewährt. Bei einem Mindest- hang mit der seit Mai 2011 bestehenden Arbeitnehmer- jahreseinkommen von 33.000 Euro erhalten diese freizügigkeit für Bürger jener acht mittel- und osteuro Spitzen-Arbeitskräfte die Blaue Karte und damit ein päischen Länder, die 2004 der EU beigetreten sind; bis zu vier Jahre währendes Aufenthaltsrecht. Wer dazu gehören unter anderem Polen, Ungarn und die mehr als 44.800 Euro (bislang 66.000 Euro) jährlich Slowakei. Für Bulgarien und Rumänien gilt die volle verdient, erhält unter bestimmten Voraussetzungen europarechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit erst ab ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Dennoch bleibt 2014. auch die Bundesregierung skeptisch, ob diese Rege- Die Nettozuwanderung aus Osteuropa betrug in lung für mehr qualifizierte Zuwanderer aus den Nicht- den ersten fünf Monaten der Freizügigkeitsregelung EU-Staaten attraktiv sein wird: Im Jahr 2011 (bis Ende 37.000. Ob sich dieser Trend fortsetzen wird, ist unklar. September) hatten lediglich 661 Hochqualifizierte eine Nach Angaben des Instituts für Arbeits- und Berufsfor- Niederlassungserlaubnis. schung (IAB) gehen seit der EU-Osterweiterung 80 % der Diese nachholende Umsetzung einer entsprechen Migranten nach Großbritannien und Irland. In der ge- den EU-Richtlinie aus dem Jahr 2009 wird vonseiten der ringen Zuwanderung der jungen, hoch qualifizierten Wirtschaft (Deutsche Industrie- und Handelskammer Kohorten wird ein erheblicher Verlust für die deutsche DIHK und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeits- Volkswirtschaft gesehen (Baas u. a. 2011, S. 7. doku.iab. geberverbände BDA) und von Arbeitsmarktexperten de/kurzber/2011/kb2411.pdf). zwar grundsätzlich begrüßt, stößt aber wegen der gel- Gravierend bleibt nach Einschätzung des Statis- tenden Aufenthaltsbefristung auf Kritik. Angemahnt tischen Bundesamtes die niedrige Geburtenrate, die werden eine rasche unbürokratische Umsetzung und durch Einwanderung nicht ausgeglichen werde (Netz- die Entwicklung einer echten „Willkommenskultur“ werk Migration in Europa 2012, S. 1). der zuständigen Behörden. Abhilfe soll auch das Gesetz über die Feststellung der Die Koppelung des Aufenthaltsrechts an den Nicht- Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen (Berufsqua- bezug von Sozialleistungen, beispielsweise bei Verlust lifikationsfeststellungsgesetz BQFG) schaffen, das zum des Arbeitsplatzes, ist nach Auffassung des Bündnis 90/ 1. April 2012 in Kraft treten wird und den beruflichen Die Grünen ein Verstoß gegen das Zuwanderungsrecht. Zugang unter anderem zu Berufen im Pflege-, Erzie- hungs- und Gesundheitsbereich erleichtern soll. Zuwanderung: Aktuelle Trends Der gesetzliche Anspruch auf das Bewertungsver- Aufgrund der aktuellen Entwicklung sprechen Ex- fahren soll die formale Anerkennung der im Ausland perten bezogen auf die Bundesrepublik auch von erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen nach einem Einwanderungsland ohne Einwanderer, denn einheitlichen Kriterien überprüfbar machen. Auch der Anwerbestopp bleibt mit wenigen Ausnahmen auf Länderebene werden die berufsrechtlichen Re- bestehen, was die Debatte über die Zuwanderung gelungen unter anderem für Lehrer und Erzieher hochqualifizierter Fachkräfte zeigt. entsprechend modifiziert. Die Zahl derer, die aufgrund Die Zuwanderungszahlen bewegten sich jahrelang einer gesetzlichen Neuregelung ein Anerkennungs- auf ein Rekordtief zu (Meier-Braun 2011, S. 46). Seit 2002 verfahren anstreben könnten, wird laut Bundesmi- war die Bevölkerungszahl stetig gesunken. Erstmals nisterium für Bildung und Forschung (BMBF) auf circa seit acht Jahren ist nach Schätzungen des Statistischen 300.000 Personen geschätzt (Pressemitteilung des Bundesamtes wieder eine Zunahme der Zuwanderung BMBF vom 4.11.2011. www.bmbf.de/press/3171.php; zu verzeichnen. Danach haben rund 82 Mio. Menschen www.bmbf.de/de/15644.php; www.zar.nomos.de/ zum Jahresende 2011 – 50.000 mehr als im Vorjahr – in fileadmin/zar/doc/Aufsatz_ZAR_11_07.pdf). 15
Christine Preiß Bis zum Jahr 2030 wird nach den Prognosen der Bun- Wohnraum zur Verfügung stehen. Der Familiennach- desanstalt für Arbeit mit einem Rückgang des Arbeits- zug ist unter bestimmten Umständen auch an das kräftepotenzials von sechs Millionen ausgegangen. Einkommen gebunden (vgl. hierzu die Ausführungen Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sieht darin zur neuen Bleiberechtsregelung, S. 29). das Ergebnis jahrzehntelanger, von Versäumnissen Bei anderen Familienangehörigen (Geschwister, und Fehleinschätzungen geprägten Abschottungs- Großeltern, Onkel, Tanten, Enkel) darf der Familien politik. Die Zuwanderungspolitik der vergangenen nachzug nur in außergewöhnlichen Härtefällen zuge Jahrzehnte mit der Anwerbung vor allem gering qua- lassen werden. Ausgeschlossen ist der Familiennachzug lifizierter Arbeitskräfte aus der Türkei und Südeuropa für macht sich bis heute auf dem Arbeitsmarkt sichtbar –– Geduldete, deren Abschiebung vorübergehend (BMFSFJ 2011). Angesichts des prognostizierten wei- ausgesetzt ist, teren Rückgangs der Bevölkerung (bis 2030 auf 77 –– Asylbewerber ohne abgeschlossenes Asylverfahren Mio. – 2060 auf 65 Mio.) wird von Arbeitsmarkt- und (mit Aufenthaltsgestattung), Migrationsexperten ein realitätsbezogenes Zuwande- –– Ausreisepflichtige Ausländer, die ihrer Pflicht zur rungskonzept eingefordert, das den demografischen Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Grün- Perspektiven Rechnung trägt (Hinte/Zimmermann den nicht nachkommen können (z. B. unverschul- 2010 b). dete Passlosigkeit), –– Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe Familienzusammenführung: ein kontroverses (vorläufiges Bleiberecht zur Arbeitsaufnahme). Thema www.behoerdenwegweiser.bayern.de/dokumente/ In der Bundesrepublik Deutschland wird die Fami- aufgabenbeschreibung/537980134428 lienzusammenführung durch das Aufenthaltsgesetz (§§ 27 – 36 Aufenth.G) geregelt. Regelungen über die Der Familiennachzug bildete 2005 mit rund 80.000 Aufenthaltsgewährung aus familiären Gründen stüt- Menschen den größten Anteil dauerhaft zugewan- zen sich auf Artikel 6 des Grundgesetzes (GG), wonach derter Ausländer nach Deutschland. Für den Ehegat- Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des tennachzug wurde für beide Ehegatten ein Alter von Staates stehen (dejure.org/gesetze/AufenthG/30.html; 18 Jahren (Volljährigkeit) festgelegt. Für den Nachzug Juristischer Informationsdienst de jure.org/). ausländischer Ehegatten, Kinder oder Lebenspartner Grundvoraussetzung für die Gewährung eines Auf- wird in der Regel ein Visum benötigt. enthaltsrechtes (Ehegatten und minderjährige Kinder Seit der Neufassung des Zuwanderungsrechts (2007) bzw. der Lebenspartner) ist die Herstellung und Wah- müssen alle Antragsteller aus Nicht-EU-Staaten, die zu rung einer familiären Lebensgemeinschaft bzw. der ihrem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft. Ehegatten (Verlobten) nachziehen wollen, Basiskennt- Der Ehegatten- und Familiennachzug setzt im All- nisse der deutschen Sprache nachweisen, die mittels gemeinen einen gesicherten Aufenthaltsstatus des einer erfolgreichen schriftlichen und mündlichen bereits in Deutschland lebenden Angehörigen voraus. Prüfung (Sprachzertifikat Stufe A1 „Start Deutsch1“) Handelt es sich um einen Ausländer, so muss dieser bereits im Herkunftsland erworben werden müssen im Besitz einer Aufenthalts- oder Niederlassungser- (Goethe-Institut: Informationen zum Nachweis ein- laubnis sein. Bei einem deutschen Staatsangehörigen facher Deutschkenntnisse beim Ehegattennachzug genügt der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet. www.goethe.de/Ehegattennachzug/http; www.zeit. Die weiteren Voraussetzungen für einen Anspruch auf de/2006/24/Einwanderung; 19.01.2012). Von dieser Familiennachzug bzw. die Ermessensentscheidung Regelung sind ausgenommen Unionsbürger, Staatsan- über den Nachzugswunsch variieren in Abhängigkeit gehörige der Schweiz oder der in Deutschland lebende von dem Aufenthaltsstatus des hier lebenden Teils. Ehegatte mit Aufenthaltserlaubnis als anerkannter Der Lebensunterhalt einschließlich eines ausrei- GFK-Flüchtling. chenden Krankenversicherungsschutzes muss in der Diese Sprachkenntnisse sollen die soziale Integra- Regel ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel be- tion erleichtern und Zwangsehen verhindern. Die stritten werden können. Zudem muss ausreichender Kosten für Vorbereitungskurse und Prüfungen müssen 16
Einleitung von den Antragstellern selbst getragen werden. Die www.behoerdenwegweiser.bayern.de/dokumente/ Prüfung kann beliebig oft wiederholt werden. aufgabenbeschreibung/537980134428 (19.01.2012). Im ersten Halbjahr 2008 sind fast ein Viertel weni- Kinder von Ausländern können grundsätzlich bis ger Visa aufgrund fehlender Sprachkenntnisse der aus- zum 16. Lebensjahr zu ihren Eltern in Deutschland ländischen Ehepartner erteilt worden als im gleichen ziehen (§ 32 Absatz 3 AufenthG). Darüber hinaus erhält Zeitraum 2007. In den wichtigsten Herkunftsländern ein 16 oder 17 Jahre altes Kind eine Aufenthaltserlaub- haben 59 % aller Antragsteller den Sprachtest bestan- nis, wenn es Deutsch spricht oder sich in die hiesigen den, zwei von fünf Ehegatten konnten wegen nicht Lebensverhältnisse einfügen kann oder die Eltern bestandener Prüfung vorerst nicht nach Deutschland Asylberechtigte sind oder im Familienverbund ein- einreisen. reisen (§ 32 Absatz 1 und 2 AufenthG); in den übrigen Am erfolgreichsten schlossen Ehepartner aus Indien Fällen liegt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (73 %), gefolgt von russischen (71 %) und chinesischen für nachziehende Kinder im Ermessen der Auslän- (70 %) Ehepartnern. Ehepartner aus Kasachstan (38 %), derbehörde (§ 32 Absatz 4 AufenthG) (vgl. hierzu die Thailand (52 %) und der Ukraine (52 %) gehörten zu den Bleiberechtsregelung S. 29). weniger erfolgreichen Absolventen. Nach Angaben Die Zielrichtung dieser Gesetzesnovelle als Instru- der Bundesregierung bestehen – über alle Nationen mentarium zur Verhinderung von Zwangsehen wurde hinweg – rund 64 % die Deutschprüfung. Dabei werden vielfach aus den Reihen der Opposition kritisiert, da notwendige Wiederholungen der Tests nicht erfasst. bezweifelt wurde, dass Sprachtests diese tatsächlich Das Mindestalter von 18 Jahren sowie die geforderten verhindern könnten. Migrantenselbstorganisationen Sprachkenntnisse gelten auch für die Einwanderung forderten bereits anlässlich des Dritten Integrations des ausländischen Ehepartners eines deutschen Staats- gipfels (November 2008) ein „Überdenken“ der Nach- angehörigen (§ 28 Absatz 1 Satz 5 AufenthG n. F., Art. 1 zugsregelungen (www.migration-info.de/). Nr. 20 Änderungsgesetz. www.migration-info.de/). Nach Ansicht der Kritiker (wie Rechtsexperten, Eine Ausnahme gilt für Ehegatten mit Hochschul- Verband binationaler Familien und Partnerschaften abschluss, die einen „erkennbar geringen Integra- iaf e. V.) verstößt die geltende Regelung zum Fami- tionsbedarf“ haben, da angenommen wird, dass sie liennachzug vor allem gegen die EU-Richtlinie zur sich ohne staatliche Hilfe in das wirtschaftliche, gesell- Familienzusammenführung (2003) sowie gegen das schaftliche und kulturelle Leben der Bundesrepublik sogenannte Assoziationsabkommen der EU mit der Deutschland integrieren werden. Türkei. Die EU-Kommission hat der Bundesrepublik ei- Eine weitere Ausnahme besteht für Ehegatten von nen Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit der EU Ausländern, die wegen ihrer Staatsangehörigkeit vorgeworfen und ein Verfahren vor dem Europäischen visumsfrei einreisen und sich hier aufhalten dürfen. Gerichtshof gegen die Bundesrepublik eingeleitet. Be- Zu diesen gemäß § 41 AufenthV festgelegten Staaten sonders kritisiert werden der restriktiv gehandhabte unterhält die Bundesrepublik Deutschland enge wirt- Zuzug direkter Verwandter sowie die im Vergleich zu schaftliche Beziehungen (z.B. Australien, Israel, Japan, EU-Regeln härtere Ausweisungspraxis von EU-Auslän- Kanada, USA). Staatsangehörige aus diesen Ländern, dern. Im Falle homosexueller Lebenspartner (Sprach- die in die Bundesrepublik zuziehen, gelten als höher test) mussten bereits Nachbesserungen erfolgen. oder hoch qualifizierte Ausländer. Neben wirtschaftli- www.tagesspiegel.de/politik/einwanderer-deutsch chen spielen hierbei auch migrationspolitische Erwä- test-im-eu-test/5875730.html (22.11.2011). gungen eine Rolle (z.B. keine Rückführungsprobleme, legale Ein-und Auswanderungspraxis). Zusammenfassung Die für diese Staatsangehörigen existierenden An den bisherigen Bewältigungsstrategien der mit Privilegien (Einreise ohne Zuzugsbeschränkung und Integration verbundenen gesellschaftspolitischen He- Ausnahme vom Spracherwerb) sind Voraussetzungen rausforderungen kritisieren Migrationsexperten den für einen erleichterten Ehegattennachzug (Zuzug noch immer begrenzten und ambivalenten Charakter. zum Stammberechtigten). Dies gilt insbesondere für Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, wie sich die Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis als Hoch- Integrationspolitik perspektivisch weiterentwickeln qualifizierte, Forscher oder Selbstständige besitzen. soll (Schulte/Treichler 2010, S. 88). 17
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