EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...

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EINE
WELT
                                        NR. 2 / JUNI 2021

                                        Das DEZA-Magazin
                                        für Entwicklung und
                                        Zusammenarbeit
                                        www.eine-welt.ch

                   10 JAHRE
                   SYRIENKRIEG
                         Humanitäre Krise ohne Ende

  SCHRUMPFENDE BEVÖLKERUNG
                Moldawien leidet unter Abwanderung

   STAATLICHE RETTUNGSPAKETE
     Wie nachhaltig sind die Covid-19-Stimuluspakete?
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INHALT

                          DOSSIER                                             HORIZONTE                         33
                           SYRIENKRIEG                                            MOLDAWIEN                     Langfristige Perspektiven dank
                                                                                                                Partnerschaft auf Augenhöhe
                                                                                                                Bundesrat Ignazio Cassis über
                                                                                                                die Realisierung einer kohärenten
                                                                                                                Aussenpolitik

          8
         Krise ohne Ende
                                                                   20
                                                                   Abwanderung bringt
                                                                                                                              FORUM

         Zehn Jahre nach Beginn des Syrien-                        Gesundheitssystem ins Wanken
         konflikts ist die humanitäre Lage im Land                 Viele Junge verlassen das Land wegen
         schlimmer denn je                                         geringer Erwerbsmöglichkeiten

         10                                                        24
         Engagement für die ganze Region
         Die Syrienkrise ist zum grössten
         humanitären Engagement in der
                                                                   Aus dem Alltag von…
                                                                   Radu Danii, Programmverantwortlicher
                                                                   Lokale Gouvernanz im Kooperationsbüro
                                                                                                                34
                                                                                                                Staatliche Rettungspakete:
         Geschichte der Schweiz geworden                                                                        Zu wenig Fokus auf Nachhaltigkeit?
                                                                   25                                           Die wenigsten Covid-19-
         15                                                        Bill Gates gibt es tatsächlich. Er lebt in   Stimuluspakete sind im Einklang mit
                                                                                                                den UN-Nachhaltigkeitszielen und dem
         «Die internationale Reaktion wird                         einer Kleinstadt in Moldawien.
         dem Ausmass der Katastrophe nicht                         Gheorghe Erizanu über seine Cousine in       Klimavertrag von Paris
         gerecht»                                                  Nordmoldawien
         Mark Cutts, Koordinator für die humanitäre
         Hilfe der UNO, im Interview
                                                                                                                37
                                                                                                                «Ich verwandelte das Pech in
                                                                                                                eine Chance, frei zu sein.»
         17                                                                         DEZA                        Carte blanche: Die Kambodschanerin
         Schweizer Beitrag zum UNO-                                                                             Bopha Phorn über ihre Heirat und
         Friedensprozess                                                                                        den Druck auf Frauen, sich den
         Neben ihrem humanitären Engagement                                                                     gesellschaftlichen Normen anzupassen
         setzt die Schweiz in Syrien auch auf
         friedenspolitische Instrumente

         19                                                                                                                   KULTUR
         Facts & Figures
                                                                   26
                                                                   Mit sozialer Absicherung gegen
                                                                   die Negativspirale
                                                                   In Haiti unterstützt die Schweiz besonders
                                                                   verletzliche Haushalte direkt

          Sie finden uns auch im Internet:
          www.eine-welt.ch
          www.un-seul-monde.ch
                                                                   29
                                                                   Perus blaues Gold im Stress
                                                                                                                38
                                                                                                                Mit Pop-Art gegen den Covid-19-Blues
          www.un-solo-mondo.ch                                     Ein nachhaltiges Wassermanagement soll
          www.one-world-magazine.ch                                helfen, den Wasserstress abzubauen           In der usbekischen Hauptstadt Taschkent
                                                                                                                kämpft eine Galerie mit kreativen Mitteln

         Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
                                                                   31                                           dafür, dass freie Kunstschaffende
                                                                                                                weiterarbeiten können
         (DEZA), die Agentur der internationalen Zusam-
                                                                   Kreativ zu einer nachhaltigen
         menarbeit im Eidgenössischen Departement für              Entwicklung
         auswärtige Angelegenheiten (EDA), ist Herausgeberin       Höhere Einkommen und weniger Armut für        3 Editorial
         von «Eine Welt». Die Zeitschrift ist aber keine offizi-   Bauernfamilien im Südkaukasus                 4 Periskop
         elle Publikation im engeren Sinn; in ihr sollen auch
         andere Meinungen zu Wort kommen. Deshalb geben
                                                                                                                41 Service
         nicht alle Beiträge notwendigerweise den Standpunkt                                                    43 Fernsucht mit KT Gorique
         der DEZA und der Bundesbehörden wieder.                                                                43 Impressum

         2              EINE WELT 02/2021
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
EDITORIAL
            ZEHN JAHRE FINSTERNIS
                                                                    Was    können      Entwicklungsagenturen      bewirken,
                                                                    dort wo sich Weltmächte streiten, und was tut die
                                                                    Schweiz? Dilemmas gibt es viele, denn da, wo Hilfe am
                                                                    Nötigsten ist, kommt sie nicht immer an. Dort, wo das
                                                                    humanitäre Völkerrecht Menschen schützen sollte,
                                                                    wird es oft mit Füssen getreten. Auch längerfristige
                                                                    Projekte, die zum Ziel haben, die zerstörte Infrastruk-
                                                                    tur wiederaufzubauen, erhalten rasch einen politi-
© DEZA

                                                                    schen Charakter.

         Die syrische Geschichte ist turbulent, und das betrifft    Die Schweiz hat sich seit 2011 auf vielen Gebieten
         nicht nur die letzte Dekade. 1961, just als die DEZA vor   engagiert: finanziell mit über 520 Millionen Franken, mit
         60 Jahren ins Leben gerufen wurde, putschten sich          Direktaktionen und der Entsendung von Expertinnen
         syrische Offiziere an die Macht. Das war das Ende der      und Experten des Schweizerischen Korps für Humani-
         drei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Vereinigten Ara-      täre Hilfe (SKH), mit der Unterstützung von Partneror-
         bischen Republik, aber nicht das Ende der Unruhen.         ganisationen, welche aktiv in der Region tätig sind. Es
                                                                    ist die grösste humanitäre Aktion unseres Landes, die
         Dass Syrien 2021, zehn Jahre nach Beginn der Pro-          es je gab. Auch auf dem diplomatischen und multilate-
         teste in der arabischen Welt, aus einem Scherbenhau-       ralen Parkett bringt die Schweiz das Leiden in Syrien
         fen bestehen würde, hätte niemand gedacht. Dunkel-         immer wieder auf die Traktandenliste.
         heit ist nicht nur der Mangel an Licht und Perspektive.
         Dunkelheit in einem Krieg wie demjenigen, der sich in      Es braucht jedoch mehr, viel mehr, damit sich das
         Syrien abspielt, bedeutet unsägliches Leid, Verlust        Land erholen und sich alle seine Bewohnerinnen und
         und Schmerz vor allem in der Zivilbevölkerung. Millio-     Bewohner wieder in Sicherheit fühlen können. Wir
         nen von Menschen auf der Flucht, Existenzen zerstört       geben weder auf, noch schauen wir weg, denn das
         und verdammt zu einem perspektivlosen Dasein in            käme einem Verrat an all jenen Menschen gleich, die
         einem Flüchtlingslager in Libanon, in Jordanien oder       Hoffnung in die internationale Staatengemeinschaft
         der Türkei. Einst reisten Studentinnen und Studen-         setzen – Hoffnung, dass der Druck hochgehalten wird,
         ten aus aller Welt nach Damaskus, um die arabische         damit Licht die Finsternis vertreibt und nach dem Ara-
         Sprache zu erlernen, die reiche Kultur zu bestaunen        bischen Frühling, dem ein endlos langer Winter folgte,
         und sich am Land zu erfreuen. Touristinnen und Tou-        eines Tages der Sommer in Syrien Einzug halten kann.
         risten gibt es in Syrien schon lange keine mehr, aus-
         ländische Kämpfer (Foreign Fighters) haben sie abge-       Patricia Danzi
         löst. Die erbitterten Kämpfe lassen immer aufs Neue        Direktorin der DEZA
         Dramen entstehen, von denen viele Waisenkinder in
         trostlosen Binnenflüchtlingslagern erzählen können.
         Die Frage stellt sich: Wann wird es endlich besser?

         Ein weiterer der vielen «neuen» Konflikte tobt bereits
         seit zehn Jahren. Die Zahlen sprechen Bände. Letz-
         tes Jahr, so schätzte die Weltbank, waren zwei Drittel
         der 18 Millionen Syrerinnen und Syrer auf humanitäre
         Hilfe angewiesen. Ein Drittel der syrischen Bevölke-
         rung besteht aus Flüchtlingen im eigenen Land – über
         sechs Millionen Menschen. 5,5 Millionen sind in die
         Nachbarländer geflohen – eine enorme Belastung für
         die Ressourcen und die Stabilität der grosszügigen
         Nachbarn.

                                                                                                             EINE WELT 2/2021   3
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
PERISKOP

                                                                                                                                            LAIENHYDROLOGEN FÜR BESSERE ERNTEN
           © Thomson Reuters Foundation/Rina Chandran

                                                                                                                                            (sch) In Rajasthan und Gujarat im Nordwesten Indiens ist
                                                                                                                                            das Grundwasser knapp und vielerorts übernutzt. Deshalb
                                                                                                                                            werden im Projekt «Marvi», einer Kooperation der Maha-
                                                                                                                                            rana Pratap Universität in Udaipur und der Universität
                                                                                                                                            West Sidney, Laienhydrologen ausgebildet, sogenannte
                                                                                                                                            Bhujal Jankaar. Bauern mit keiner oder nur geringer
                                                                                                                                            Schulbildung lernen in Workshops die Regenmenge zu
                                                                                                                                            registrieren und die Grundwasserspiegel in Brunnen zu
                                                              CORONA FÖRDERT URBANEN LANDBAU                                                messen. Die Daten übermitteln sie per Smartphone an
                                                                                                                                            die Universität. Von dieser erhalten sie Empfehlungen,
                                                            (zs) Die Covid-19-Pandemie verschärft die Armut: In Chiang                      welche Pflanzen wann am besten gesät werden, um die
                                                            Mai, einer Stadt im Norden Thailands, sind viele im Touris-                     kargen Grundwassermengen am effektivsten zu nut-
                                                            mus Beschäftigte arbeitslos. Um die Ärmsten zu ernäh-                           zen. Durch besseres Wassermanagement sowie durch
                                                            ren, liess der Architekt Supawut Boonmahathanakorn                              Einführung von Tröpfchenbewässerung und Sprinkler
                                                            eine ungenutzte Mülldeponie in einen urbanen Bauernhof                          wurden bis zu 70 Prozent Wasser eingespart. Dies bei
                                                            umgestalten. Mit Einwilligung der Behörden rief man in den                      gleichzeitig höheren Ernten. Das Projekt soll nun auf 20 000
                                                            sozialen Netzwerken zu Pflanzen-, Saatgut- und Kompost-                         Dörfer in sieben Bundesstaaten ausgeweitet werden.
                                                            spenden auf. Dann wurden in Handarbeit mehrere tau-
                                                            send Tonnen Abfälle von dem Grundstück (0.48 Hektaren)
                                                            abgetragen. Das Terrain wurde eingeebnet und eine dicke
                                                            Nutzschicht Erdreich aufgebaut. Obdachlose Familien                             EINFACH ANGEMELDET
                                                            sowie Schüler einer öffentlichen Schule bauen nun Auber-                        (zs) Das Recht auf Identität ist fundamental und sichert
                                                            ginen, Mais, Bananen, Maniok, Peperoncini, Tomaten, Kohl                        den Zugang zu allen anderen Rechten. Doch längst nicht
                                                            und Kräuter an. «Urbane Bauernhöfe können nicht ganze                           alle Eltern melden ihre Kinder bei der Geburt an: Ent-
                                                            Städte ernähren, aber sie verbessern die Ernährung und                          weder haben sie keinen Zugang, die Kosten sind zu hoch
                                                            tragen zu einer grösseren Selbstversorgung für bedürf-                          oder sie wissen es nicht besser. Die rechtlich nicht exis-
                                                            tige Menschen bei. Sie sind besonders in Krisenzeiten                           tierenden Kinder haben dann schlechte gesellschaftli-
                                                            wichtig», unterstreicht Boonmahathanakorn.                                      che und ökonomische Aussichten. Die zwei Ingenieure
                                                                                                                                            Adama Sadawago aus Burkina Faso und der Franzose
                                                                                                                                            Francis Bourriès haben mit iCivil eine innovative Lösung
                                                                                                                                            entwickelt: Bei der Geburt versieht die Hebamme das
                                                                                                                                            Neugeborene mit einem Armbändchen, auf dem sich
                                                        DIE GRÖSSTEN RISIKEN                                                                ein QR-Code und ein einmaliger, zufälliger Bubble-Code
                                                        (sch) Der «Global Risks Report 2021» des Weltwirtschafts-                           befinden. Beides registriert sie mit einer speziellen Smart-
                                                        forums (WEF) prognostiziert Risiken hinsichtlich zwei                               phone-App. Die Angaben werden auf den zentralen iCivil-­
                                                        Dimensionen: Welche treten am wahrscheinlichsten ein?                               Server übermittelt, wo die Geburtsurkunde automatisch
                                                        Und welche haben die verheerendsten Auswirkungen?                                   generiert wird. Diese kann bei jedem Zivilstandsamt
                                                        Dafür hat das WEF 650 Expertinnen und Experten von                                  gegen Vorweisen des Armbändchens bezogen werden. Das
                                                        Banken, Versicherungen, UN-Organisationen und Uni-                                  schnelle und effiziente System wurde in einem Dutzend
                                                        versitäten befragt. Top-Risiken bezüglich der Auswirkung                            Pilot-Geburtsstationen in Ouagadougou getestet und
                                                        auf die Weltbevölkerung sind Infektionskrankheiten,                                 wird nun in ganz Burkina Faso eingeführt. Rund zwanzig
                                                        Versagen im Kampf gegen die Klimakrise und Massen-                                  Länder haben ihr Interesse an dem System angemeldet.
                                                        vernichtungswaffen. Standen Infektionskrankheiten im
                                                        letztjährigen Bericht noch lediglich an zehnter Stelle,
                                                                                                                          © Sophie Garcia

                                                        so hat die Covid-19-Pandemie diese zuvorderst auf den
                                                        Risikoradar katapultiert. Wichtigste kurzfristige Risiken
                                                        der Pandemie seien die zunehmende Arbeitslosigkeit
                                                        und fehlende Einkommen. Mit dem Verlust von Leben
                                                        und Lebensgrundlagen steige auch das Risiko, dass der
                                                        soziale Zusammenhalt zunehmend erodiere. Zudem
                                                        wird eine rasant fortschreitende Desillusionierung der
                                                        Jugend konstatiert, welche das Vertrauen in wirtschaft-
                                                        liche und politische Institutionen zunehmend verliert.

                                                        4           EINE WELT 2/2021
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
PERISKOP
FERNSICHT mit Adene (Frankreich): Syrienkrise

PATRIARCHAT MACHT KRANK                                                                KLIMAKRISE FÜHRT ZU HEIRATSKRISE
(sch) Die menschliche Gesundheit wird stark durch soziale                              (sch) Eine Studie zu Auswirkungen der Klimakrise auf Bau-
und kulturelle Rahmenbedingungen geprägt, dies belegen                                 ern im südindischen Gliedstaat Andhra Pradesh führte zu
immer mehr wissenschaftliche Studien. Die Ethnologin                                   einer überraschenden Erkenntnis: Die Bauern finden keine
Siobhán Mattison und die Epidemiologin Katherine Wander                                Ehefrauen mehr. Für 70 Prozent der ländlichen Bevölkerung
zeigen in einer vergleichenden Studie, dass geschlechts-                               Indiens ist die Landwirtschaft die primäre Einkommens-
spezifische Ungleichheit krank macht. Dafür besuchte                                   quelle. Die Klimaerhitzung hat die Regenmuster verändert,
ein Forschungsteam zwei Bauerngemeinschaften der                                       Extremwetter nehmen zu – das wirkt sich negativ auf
ethnischen Minderheit Mosuo im Südwesten Chinas. Der                                   die Ernten und Einkommen der Bauern aus. Ihre wirt-
wichtigste soziokulturelle Unterschied: Die eine Gruppe ist                            schaftliche Lage wird instabil, ihre Existenz zunehmend
matrilinear organisiert; das Erbe wird von Müttern auf die                             prekär. Bei arrangierten Heiraten auf dem Land sind die
Töchter übertragen. Dadurch geniessen die Frauen in der                                Eltern jedoch bestrebt, für ihre Töchter Partner mit einer
Gemeinschaft mehr Autonomie und verfügen über mehr                                     sicheren Existenz zu finden. Basierend auf mehr als 1000
Macht. Die Forscherinnen befragten hunderte von Haushal-                               Befragungen gehen die Forschenden davon aus, dass rund
ten beider Gruppen, massen den Blutdruck und nahmen                                    die Hälfte der Bauern in Andra Pradesh aktuell unter
Blutproben zur Laboruntersuchung. Das Ergebnis: Frauen in                              «Heiratsschwierigkeiten» leiden. Die Studie mit Beteiligung
der matrilinear organisierten Gruppe sind deutlich gesün-                              der Universität Melbourne, dem University College London
der als solche in der patrilinear organisierten. Die Forsche-                          und der Universität Solent fokussiert auf soziale Folgen
rinnen erklären den Unterschied vor allem damit, dass die                              der Klimakrise, die bislang noch wenig erforscht sind.
bessere soziale Inklusion und die stärkere Unterstützung im
Alltag zu weniger gesundheitsschädlichem Stress führen.
                                                                © Hema Chowdary/laif

                                                                                                                          EINE WELT 2/2021       5
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                               Leben und Alltag unter schwierigsten
                               Bedingungen: Aleppo im Juni 2019.
                               © Meridith Kohut/NYT/Redux/laif
EINE WELT - Eidgenössisches Departement für auswärtige ...
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
                  DOSSIER
10 JAHRE SYRIENKRIEG
                KRISE OHNE ENDE SEITE 8
        ENGAGEMENT FÜR DIE GANZE REGION SEITE 10
  «DIE INTERNATIONALE REAKTION WIRD DEM AUSMASS DER
          KATASTROPHE NICHT GERECHT» SEITE 15
  SCHWEIZER BEITRAG ZUM UNO-FRIEDENSPROZESS SEITE 17
                FACTS & FIGURES SEITE 19
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DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                                                          KRISE OHNE ENDE
                                                        Zehn Jahre nach Beginn des Syrienkonflikts ist die humanitäre
                                                       Lage im Land schlimmer denn je. Doch während die Bedürfnisse
                                                         zunehmen, kommt die internationale Hilfe immer mehr unter
                                                       Druck. Fehlende Gelder und Zugangsbeschränkungen gefährden
                                                               die Unterstützung mehrerer Millionen Menschen.
                                                                                  Text: Christian Zeier

                               Am Anfang stand die Hoffnung. Im         landesweit Hunderttausende. Was zu       aus Sicherheitsgründen nicht publiziert
                               März 2011, als der Arabische Frühling    diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt:      werden kann. «Wir verstanden nicht,
                               schon erste Blüten trieb, kommt es       Es ist der Beginn eines verheerenden     was mit unserem Land passierte», sagt
                               auch in Syrien zu grösseren Protesten.   Konfliktes, der auch zehn Jahre später   sie. «Plötzlich fiel alles auseinander.»
                               Nachdem Jugendliche fürs Sprayen re-     noch kein Ende findet.
                               volutionärer Slogans verhaftet werden,                                            Geht es den Demonstrierenden zu Be-
                               gehen die Menschen im südlichen Da-      «Wenn ich zurückdenke, erinnere ich      ginn vor allem um Freiheit, demokra-
                               raa auf die Strasse. Sicherheitskräfte   mich an ein Gefühl der Verwirrung und    tische Reformen und Korruptionsbe-
                               schiessen in die Menge, Wut und Pro-     Verdrängung», sagt die Syrerin Amira,    kämpfung, kommt bald ein zentrales
                               teste nehmen zu. Im Juli demonstrieren   deren echter Name und Aufenthaltsort     Anliegen dazu: Die Regierung um Prä-
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DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
                                                                         Syrien – April 2021
                                                                    Vereinfachte Darstellung der Frontlinien

                                                                                Türkei

                                                                                                      al-Rakka
                                                                             Aleppo
                                                                Idlib

                                                                                                                    Deir al-Sor

                                                                                   SYRIEN
sident Bashar al-Assad soll abgelöst
werden. Die syrischen Sicherheitskräfte
                                                          Libanon
jedoch reagieren mit brutaler Repres-                                   Damaskus
sion, versuchen die Revolution mit allen                                                                                     Irak
Mitteln zu ersticken. Erst zum eigenen
Schutz, dann zum Kampf gegen die
Staatsgewalt formieren sich bewaffnete
                                                 Israel
Oppositionsgruppen. Bald kommen                                                                                    ■ Grenzübergang Bab al-Salam
dschihadistische Gruppierungen hinzu                                     ■ Türkische Truppen und von der Türkei unterstützte oppositionelle Kräfte
                                                                         ■ Hay'at Tahrir al-Sham, Syrische Opposition, Islamistische Gruppierungen
und Drittstaaten beginnen, bewaffnete
                                                                                                ■ Kurdische Streitkräfte, Syrian Democratic Forces
Gruppierungen zu finanzieren. Syrien                                                                        ■ Streitkräfte der syrischen Regierung
versinkt im Krieg.                                                               ■ US-Truppen und von den USA unterstützte oppositionelle Kräfte

Flucht oder Tod
                                           chen zu überleben.» Amiras Geschichte               terschiedlichsten Affiliationen wa-
Viele von Amiras Freunden werden           ist eine von Millionen, die vom Leid die-           ren und sind am Konflikt beteiligt.
im Krieg getötet, die meisten verlas-      ses Landes erzählen.                                Dazu schalten sich früh ausländische
sen das Land. Sie selber bleibt. «Zu Be-                                                       Mächte ein – unter anderem die Tür-
ginn dachten wir, dass der Albtraum        «Wir warten darauf, dass das Leben                  kei, Russland, die USA, der Iran, Israel
bald vorbei sein werde», sagt sie. «Kein   weitergeht», sagt etwa Ahmed, der aus               oder Saudi-Arabien. Der Syrienkon-
Mensch konnte sich vorstellen, dass es     dem Südwesten Syriens nach Jordanien                flikt wird zum Stellvertreterkrieg.
zehn Jahre dauern würde.» Aus ihrer        geflohen ist und heute mit seiner Fami-
friedlichen Stadt wird ein Ort der Ge-     lie in einem Flüchtlingslager lebt. «Wir            Nach anfänglichen Erfolgen der Oppo-
flohenen und der Detonationen. Bis die     Erwachsenen haben keine Zukunft                     sition erobert die syrische Regierung
Syrerin die neue Realität akzeptieren      mehr. Die Zukunft unserer Kinder ist                ab 2015 mit iranischer und russischer
kann, dauert es mehrere Jahre. Und         auch unsere.» «Mein Land ist jetzt ein              Unterstützung grosse Teile des Landes
auch heute noch sagt sie: «Gewöhnen        Platz zum Kämpfen, nicht zum Leben»,                zurück. Heute ist Syrien bis auf einige
kann man sich nicht daran. Wir versu-      sagt Farhad, der aus der nordöstli-                 Gebiete im Norden wieder unter staatli-
                                           chen Stadt Dêrik über die Türkei in die             cher Kontrolle.
                                           Schweiz gelangt ist. «Es gibt viele gute
                                           Menschen in Syrien, aber längst keine               Der Nordosten wird grösstenteils von
                                           guten Gruppierungen mehr.»                          Truppen der «Syrian Democratic
                                                                                               Forces» kontrolliert, im Nordwesten
                                           Während die westliche Berichterstat-                kontrollieren von der Türkei unter-
Am Anfang stand die Hoffnung:
Erste Proteste im Frühling 2011 in der     tung lange auf Aufstieg und Nieder-                 stützte oppositionelle Streitkräfte sowie
Stadt Darra. Auf den Protestbannern        gang des Islamischen Staates fokus-                 islamistische Gruppierungen ein Ge-
steht unter anderem «Darra
                                           siert, wird die Lage vor Ort mit jedem              biet, in dem rund drei Millionen Zivilis-
blutet» und «Wer seine eigenen
Leute tötet, ist ein Verräter».            Kriegsjahr komplizierter. Unzählige                 tinnen und Zivilisten eingepfercht sind.
© UPI/laif                                 Gruppierungen und Milizen mit un-                   Viele von ihnen fürchten sich davor, in

                                                                                                                   EINE WELT 2/2021                  9
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DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                               ihre vom Regime kontrollierte Heimat        Schweiz zum finanziell grössten huma-         «Whole of Syria»-Ansatz entwickelt.
                               zurückzukehren.                             nitären Engagement ihrer Geschichte           Das Konzept zielt darauf ab, dass alle
                                                                           geworden (siehe Kasten unten).                Menschen im Land unabhängig von
                                                                                                                         ihrer politischen, religiösen oder ethni-
                               «Whole of Syria»                            Der Zugang zu den Bedürftigen war             schen Zugehörigkeit mit der notwendi-
                                                                           und ist dabei eine der zentralen Her-         gen Hilfe versorgt werden können.
                               Zehn Jahre nach Ausbruch gilt der Sy-       ausforderungen für die internationale
                               rienkonflikt als eine der grössten men-     humanitäre Hilfe. Kampfhandlungen             Eine Resolution des UNO-Sicherheitsra-
                               schengemachten Katastrophen seit            und sich ändernde Konfliktlinien er-          tes machte es ab 2014 offiziell möglich,
                               dem Zweiten Weltkrieg. Die Zahl der         schweren die Arbeit im Feld. Zudem ver-       für lebensrettende Unterstützung vier
                               Toten wird grob auf eine halbe Million      suchen immer wieder Konfliktparteien,         Grenzübergänge zu nutzen, die nicht
                               geschätzt, mehr als sechs Millionen ha-     die humanitäre Hilfe zu blockieren            von der Regierung kontrolliert wer-
                               ben das Land verlassen und weitere fast     oder sie zu ihren Gunsten zu nutzen.          den. Dadurch kann die UNO ohne Zu-
                               sieben Millionen wurden innerhalb des       Verschiedene NGOs haben den Vorwurf           stimmung von Damaskus grenznahe
                               Landes vertrieben. 13 Millionen Men-        geäussert, dass Hilfe politisch miss-         Gebiete, die nicht von der syrischen
                               schen sollen laut UNO Anfang 2021 al-       braucht wird (siehe Randspalte Seite 14).     Regierung kontrolliert werden, belie-
                               lein in Syrien auf Hilfe angewiesen sein.   Um solche Zugangsprobleme anzu-               fern. Es entstanden, grob gesagt, drei
                               Kein Wunder, ist der Konflikt für die       gehen, hat die UNO schon früh den             Zugangskategorien für humanitäre

                               ENGAGEMENT FÜR DIE GANZE REGION
                               (cz) Da sich der Konflikt auf die gesamte   Friedensförderung sowie Wasser und            nen, welche von der Schweiz selbst um-
                               Region auswirkt und auch die Nachbar-       sanitäre Anlagen. Zudem leistet die           gesetzt werden – etwa ein Projekt, das
                               länder stark belastet, hat die Schweiz      DEZA Nothilfe bei akuten humanitären          benachteiligten Bevölkerungsgruppen
                               ihr Engagement in einem regionalen          Krisen.                                       im Libanon Zugang zu sauberem Was-
                               Kooperationsprogramm definiert. Die-                                                      ser ermöglicht. Zweitens unterstützt
                               ses umfasst neben Syrien auch Jor-          Das Engagement der Humanitären                die DEZA multilaterale und bilaterale
                               danien, den Libanon, den Irak sowie die     Hilfe lässt sich in vier Kategorien eintei-   Partner, indem sie beispielsweise in die
                               Türkei und hat das Ziel, vom Konflikt       len: Erstens realisiert sie Direktaktio-      humanitären Fonds der UNO einzahlt,
                               betroffene Menschen zu schützen, ihre
                               Not zu lindern und, wo möglich, Ent-
                               wicklungsbestrebungen zu fördern.

                               Seit 2011 hat die Schweiz über 500 Mil-
                               lionen Franken für die betroffene Be-
                               völkerung in der Region bereitgestellt.
                               Ein Fokus liegt dabei auf den Bereichen
                               Schutz und Migration, Bildung und
                               Einkommen, Konfliktprävention und

                               Trotz Krieg und Corona
                               endlich wieder in die Schule:
                               Flüchtlingslager Zaatari
                               im September 2020.
                               © UNHCR/Shawkat Alharfosh

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DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
Hilfe nach Syrien: Hilfslieferungen aus     zeitig ist aufgrund der politischen Ein-    halb Syriens unterstützten. Heute ist sie
Regierungsgebiet in oppositionelles         schränkungen durch Konfliktparteien         in verschiedensten Bereichen tätig, vom
Territorium via Frontlinie (cross-line);    kaum möglich. Wie dies konkret aus-         Lageraufbau über Kindererziehung bis
Lieferungen in oppositionelles Gebiet       sieht, lässt sich am Beispiel zweier NGOs   hin zu WASH-Projekten. «Unser Haupt-
aus Jordanien, dem Irak oder der Türkei     aufzeigen, die für dasselbe Ziel unter-     quartier ist in der Türkei, doch wir ha-
via Grenzübergang (cross-border); und       schiedliche Ansätze gewählt haben.          ben zahlreiche Mitarbeitende in Syrien
Lieferungen in Regierungsgebiet von         Einerseits: die Maram Foundation, die       und verstehen uns als lokale NGO», sagt
Damaskus aus.                               ihr Hauptquartier im türkischen Ga-         Yakzan Shishakly von Maram. Die Vor-
                                            ziantep hat und von dort aus Hilfe für      teile dieses Cross-Border-Ansatzes sind
                                            die Bevölkerung im Nordwesten Syriens       für ihn offensichtlich: Weil man nicht
Zwei Ansätze, zwei Welten                   organisiert. Andererseits: die interna-     auf die Bewilligung der Regierung ange-
                                            tionale NGO Première Urgence Inter-         wiesen sei, könne man schneller sowie
Bis heute haben alle Varianten mit ei-      nationale (PUI), die von Damaskus aus       flexibler agieren und die Hilfsleistungen
genen Herausforderungen zu kämpfen.         Menschen in von der Regierung kont-         würden nicht politisch missbraucht.
Den meisten NGOs ist es nur möglich,        rollierten Gebieten erreicht.
entweder von Damaskus aus oder aus                                                      Emmanuel Tronc, der seit fünf Jahren
den Nachbarländern via Grenze huma-         Anfang 2012 war Maram eine der ersten       für die internationale NGO PUI in Da-
nitäre Hilfe zu leisten. Beides gleich-     Organisationen, die Vertriebene inner-      maskus arbeitet, kennt die Vorwürfe
                                                                                        der politischen Einflussnahme. Für
                                                                                        seine Organisation jedoch träfen sie
                                                                                        nicht zu, sagt er: «Wir waren bislang
                                                                                        nie von einer Beeinflussung durch die
                                                                                        Regierung betroffen.» Einerseits arbeite
                                                                                        PUI nicht cross-line und unterstütze
                                                                                        daher ausschliesslich Menschen in von
das IKRK finanziell unterstützt oder       Physisch sowohl in Syrien als auch in        der Regierung kontrollierten Gebieten.
Projekte internationaler und lokaler       den Nachbarländern präsent zu sein,          Andererseits habe man von Beginn weg
NGOs ermöglicht.                           sei ein grosser Mehrwert, sagt Andreas       klargemacht, dass Aktivitäten zwar mit
                                           Huber, Leiter des regionalen DEZA-Ko-        den syrischen Behörden koordiniert,
Drittens werden Expertinnen und            operationsbüros in Amman. Nur so             die Einschätzung der Bedürfnisse sowie
Experten des Schweizerischen Korps         könne die Schweiz sicherstellen, dass        die Umsetzung und Überwachung aber
für humanitäre Hilfe (SKH) entsendet.      ihre humanitäre Hilfe unabhängig             unabhängig durchgeführt würden.
Diese leisten fachliche Unterstützung,     von Konfliktlinien an alle Menschen
aber auch Beratung auf strategischen       in Not gelange.                              PUI war schon vor Ausbruch des Kon-
Positionen bei der UNO. Viertens en-                                                    fliktes in Syrien präsent und passte ihre
gagiert sich die Schweiz auch im Be-        Zudem können man Projekte direkt            Operationen Ende 2012 entsprechend
reich der humanitären Diplomatie.          begleiten und wichtige Kontakte vor          an. «Zu dieser Zeit verliessen viele Or-
Aufgrund ihres Engagements für             Ort pflegen. Wo die Schweiz wie viel         ganisationen Damaskus, um sich von
das humanitäre Völkerrecht und die         investiere, hänge von den Bedürfnis-         der Regierung zu distanzieren», sagt
Menschenrechte geniesst sie hohe           sen und der sich verändernden Lage           Tronc. «Wir hingegen sagten: Die Men-
Glaubwürdigkeit und kann sich so für       ab. Als Beispiel nennt Huber den Ent-        schen brauchen Hilfe, ganz egal wer an
eine Verbesserung der Bedingungen          scheid des UNO-Sicherheitsrates, den         der Macht ist.» Die verschiedenen Zu-
im humanitären Bereich einsetzen.          wichtigen Übergang Al-Jarubija an            gangsvarianten dürfe man nicht gegen-
                                           der Grenze zum Irak zu schliessen. Die       einander ausspielen, so der humanitäre
Im Sinne eines ganzheitlichen Ansat-       UNO habe kurzfristig Beiträge einstel-       Helfer. Aktuell könnten gewisse Gebiete
zes (siehe Haupttext) unterstützt die      len müssen, die Geldgeber mussten            nur aus Damaskus, andere nur aus den
Schweiz humanitäre Projekte in allen       schnell reagieren. «Wir sind in die          Nachbarländern erreicht werden. «Wir
Gebieten Syriens. Sie betreibt seit 2017   Bresche gesprungen und haben unser           ergänzen uns. Nur so können wir un-
ein humanitäres Büro in Damaskus,          Engagement mit Fokus auf den Ge-             parteiisch der ganzen Bevölkerung hel-
welches die finanzielle Unterstützung      sundheitsbereich erweitert», sagt er.        fen.»
von Projekten in Regierungsgebieten        «Dass wir schnell und flexibel agieren,
und im Nordosten abdeckt. Die DEZA         ist eines unserer Markenzeichen.»            Wie lange diese Ergänzung noch beste-
finanziert aber auch Akteure, die Hilfe                                                 hen bleibt, ist allerdings unklar. Immer
über die Grenze in den Nordwesten                                                       mehr internationale NGOs haben sich
liefern.                                                                                in den letzten Jahren von der Regie-

                                                                                                       EINE WELT 2/2021         11
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                               rung in Damaskus registrieren lassen.    gänge für UNO-Hilfe stetig reduziert.      erneut ab. Wird die Resolution nicht
                               16 waren es 2016, 2021 sind es bereits   Ende 2019 legten Russland und China        verlängert, sind den Vereinten Natio-
                               32. Ein möglicher Grund dafür: Die hu-   ihr Veto gegen eine Verlängerung der       nen im Cross-Border-Bereich fortan
                               manitäre Hilfe von ausserhalb Syriens    Resolution ein, welche die Cross-Bor-      die Hände gebunden. Für NGOs wie die
                               kommt immer mehr unter Druck.            der-Hilfe der UNO ermöglicht. Statt vier   Maram Foundation und für die Bevöl-
                                                                        durften fortan nur noch zwei Gren-         kerung im Nordwesten Syriens hätte
                               Durch Gebietsgewinne der Regierung       zübergänge benutzt werden.                 das verheerende Folgen. «Wenn sich die
                               sowie durch internationalen politi-                                                 UNO zurückzieht, fällt ein riesiger Teil
                               schen Druck wurden die Grenzüber-                                                   der Gelder und der Infrastruktur weg»,
                                                                        Zugang in Gefahr                           sagt Yakzan Shishakly von Maram.
                                                                                                                   «Wir haben versucht, Alternativen zu
                                                                        Im Sommer 2020 sorgten die beiden          entwickeln. Aber nichts funktioniert.
                                                                        Länder für eine erneute Verschärfung,      Niemand weiss, wie es ohne Resolution
                               Im November 2019 flüchten
                                                                        seither ist Bab al-Hawa zwischen dem       weitergehen soll.»
                               Hunderttausende Kurden,
                               Araber und Aramäer aus                   Süden der Türkei und Syriens Nord-
                               dem Norden Syriens vor der               westen der letzte verbliebene Übergang.    «Ein Wegfall der Resolution wäre ver-
                               Offensive der Türken – hier das
                                                                        Und auch der ist gefährdet: Im Som-        heerend für den humanitären Zugang»,
                               Flüchtlingslager Washu Kanyia
                               nahe der Stadt Al Hassakeh.              mer stimmt der UNO-Sicherheitsrat          sagt auch Mohannad Talas, der sich als
                               © Daniel Pilar/laif
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
Vertreter des NGO Forum Northwest           dass die UNO ihren Fonds für Cross-Bor-     gen nicht verbessert. Zwar sterben nun
Syria für die Anliegen der betroffenen      der-Operationen an andere Akteure           weniger Menschen durch Bomben oder
Organisationen einsetzt. Technisch ge-      übergibt oder eine Art Konsortium die       im Gefecht, dafür nimmt die Mangeler-
sehen könnten die lokalen NGOs den          grenzüberschreitende Hilfe koordiniert.     nährung zu, die Währung ist eingebro-
Nordwesten weiterhin beliefern, mit         So oder so ist es für Mohannad Talas un-    chen, Nahrungsmittelpreise sind mas-
dem Wegfall der UNO würde es aber an        verständlich, dass gerade jetzt über eine   siv gestiegen und alltägliche Dinge wie
Geldern, Koordination und auch an Si-       Einschränkung der humanitären Hilfe         Brot oder Benzin werden immer knap-
cherheit fehlen. «Für Assads Regierung      diskutiert wird. «Die wirtschaftliche       per. Obwohl die Lage sicherer geworden
sind diese humanitären Helfer Terro-        Situation in Syrien ist katastrophal»,      ist, verstärken der jahrelange Konflikt
risten», sagt er. Auf keinen Fall könnten   sagt er. «Und Covid-19 macht alles noch     und die unbestimmte Zukunft das Lei-
sie daher von Damaskus aus arbeiten.        schlimmer.»                                 den der syrischen Bevölkerung.
Und: Eine Belieferung des Nordwestens
via Frontlinie aus Damaskus sei aus Si-                                                 Zehn Jahre nach Ausbruch des Konflik-
cherheitsgründen und mangels Akzep-         Die Krise nach dem Krieg                    tes befindet sich Syrien in einer Sack-
tanz zurzeit nicht möglich.                                                             gasse. Assads wichtigsten Verbünde-
                                            Tatsächlich hat sich die humanitäre         ten fehlen die nötigen Ressourcen, um
Denkbar wäre, dass künftig mehr Gel-        Lage durch Assads militärischen Sieg        einen Wiederaufbau zu finanzieren.
der direkt an lokalen NGOs fliessen,        und den Rückgang der Kampfhandlun-          Potenzielle Geldgeberinnen wie die EU,
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                                                                    die USA und die meisten europäischen       glaubt ans Licht am Ende des Tunnels,
                               VEREINNAHMUNG DER HILFE              Staaten machen ihre diesbezügliche         auch wenn es nicht sichtbar sei. «Ich
                               Die NGOs Oxfam und NRC halten        Hilfe von einer politischen Lösung ab-     habe Hoffnung in die Menschen in Sy-
                               in einem gemeinsamen Bericht
                                                                    hängig. Und auch eine Aufhebung der        rien», sagt er. «Sie haben die Fähigkeit,
                               vom Juli 2020 fest, dass Syrien
                                                                    Sanktionen ist an Konzessionen der Re-     ihr Land wieder aufzubauen. Aber dazu
                               einer der schwierigsten Kontexte
                               weltweit sei, um prinzipientreue     gierung gebunden.                          braucht es die nötigen Ressourcen.»
                               humanitäre Hilfe zu leisten. Wer
                               von Damaskus aus arbeite, habe       Der UNO-Friedensprozess in Genf je-        Und Amira wäre schon froh, sich über-
                               etwa mit bürokratischen Hin-         doch kommt kaum vorwärts, die USA          haupt eine Zukunft in ihrem Land
                               dernissen zu kämpfen, gewisse
                                                                    und andere Staaten werfen Assad vor,       vorstellen zu können. «Wir leben nur
                               Programmaktivitäten würden
                               von der Regierung stärker über-
                                                                    die Ausarbeitung einer neuen Verfas-       noch von Tag zu Tag», sagt sie. «Es wäre
                               prüft und seien daher schwer         sung hinauszuzögern. Eine politische       schön, wieder Träume zu haben.» ■
                               zu realisieren. Immer wieder         Lösung bleibt so in weiter Ferne – und
                               wurden zudem in den vergange-        damit wohl auch eine Verbesserung der
                               nen Jahren Vorwürfe laut, dass
                                                                    humanitären Lage.
                               Konfliktparteien, insbesondere
                               die Regierung in Damaskus, die
                               internationale Hilfe für ihre Zwe-   Ist also jede Hoffnung auf eine bessere
                               cke missbrauche. Um solchen          Zukunft vergebens? Für Yakzan Shisha-
                               Missbrauch zu verhindern und die     kly von der Maram Foundation ist klar,
                               Risiken früh zu erkennen, wenden     dass es nur eine Zukunft ohne die ak-
                               NGOs, die UNO sowie Geberländer
                                                                    tuelle Regierung gibt. «Alles hängt von
                               wie die Schweiz umfangreiche
                               Kontrollmechanismen an.
                                                                    den grossen Staaten ab», sagt er. «Sy-
                                                                                                                          Nothelfer verteilen im November
                                                                    rien hat die Kontrolle längst verloren.»              2019 in der Dschazira-Region im
                                                                    Emmanuel Tronc von der NGO PUI                        Nordosten Syriens Wasser und
                                                                                                                          WC-Papier an arabische Flüchtlinge.
                                                                                                                          © Alex Lourie/Polaris/laif

                               14           EINE WELT 2/2021
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
«DIE INTERNATIONALE REAKTION WIRD DEM
AUSMASS DER KATASTROPHE NICHT GERECHT»
Als Koordinator für die humanitäre Hilfe der UNO im Syrienkonflikt hat Mark Cutts das grosse Ganze
im Blick. Im Interview spricht er über die aktuelle Lage in Syrien, seine grösste Sorge sowie den Grund,
weshalb er an den negativen Nachrichten noch nicht verzweifelt ist.
Interview: Christian Zeier

Mark Cutts, interessiert sich die Welt
nach zehn Jahren noch für Syrien?
Es ist schwierig, die benötigten Mittel zu
bekommen – besonders weil der Krieg
schon so lange andauert. Von Seiten
der Geldgeber ist eine gewisse Müdig-
keit zu spüren, und viele Länder geraten
aufgrund der Pandemie in finanzielle
Schwierigkeiten. Zudem gibt es andere
Krisen, die zurzeit stärker im Fokus ste-
hen. Doch wir dürfen nicht vergessen:
Das Ausmass der Krise in Syrien ist ge-
waltig. Wir sind sehr besorgt über die
Zukunft.

    «IN DEN NICHT VON DER
  REGIERUNG KONTROLLIERTEN
   GEBIETEN IM NORDWESTEN
LEBEN 4,1 MILLIONEN MENSCHEN,
     WOVON 2,7 MILLIONEN
                                             © UNOCHA

      VERTRIEBENE SIND.»
                                                                                                    MARK CUTTS arbeitet seit fast
                                                                                                    30 Jahren für die UNO und ist seit
                                                        Wo leben die vertriebenen Menschen?         2018 Koordinator für die huma-
                                                        Sie sind in Camps oder informellen          nitäre Hilfe der UNO im Syrien-
Wie hat sich die Lage in den letzten                    Siedlungen untergekommen, in Schu-          konflikt. Zuvor war er Büroleiter
                                                                                                    des UN-Amtes zur Koordinierung
Jahren verändert?                                       len, Lagerhallen oder Ruinen. Am
                                                                                                    humanitärer Angelegenheiten
Zwischen Dezember 2019 und März 2020                    schlimmsten ist es für diejenigen, die
                                                                                                    OCHA in Myanmar und im Sudan.
musste fast eine Million Menschen vor                   in Zelten leben. Da wird es richtig heiss   Für das UNHCR hat er in verschie-
der Regierungsoffensive fliehen. Jetzt                  im Sommer, im Winter friert man und         denen Positionen in Genf, Brüs-
leben in den nicht von der Regierung                    vor Überschwemmungen gibt es keinen         sel, Bosnien und Herzegowina
kontrollierten Gebieten im Nordwesten                   Schutz. Einige haben nur eine Plastik-      sowie Albanien gearbeitet. Nach
                                                                                                    einem Universitätsabschluss in
4,1 Millionen Menschen, wovon 2,7 Mil-                  plane, um sich vor heftigem Regen oder
                                                                                                    Theologie sowie Internationalen
lionen Vertriebene sind. Dazu kommt                     Schneefall zu schützen. Das ist scho-       Beziehungen war er für die NGO
die katastrophale wirtschaftliche Lage.                 ckierend. Wir erleben eine der grössten     Save the Children in diversen
Dazu Covid-19. Dann auch noch ein kal-                  humanitären Notsituationen der Welt         Ländern tätig.
ter Winter und Überschwemmungen.                        und sind nicht in der Lage, in dem Aus-
Die Lage ist furchtbar – so schlimm wie                 mass zu reagieren, das nötig wäre.
noch nie.

                                                                                                        EINE WELT 2/2021            15
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                               Woran fehlt es denn?                      Was hätte das für Folgen?                   Einschränkungen, die bei der Hilfe via
                               In erster Linie an der Finanzierung       Falls die Resolution nicht verlängert       Frontlinie zu erwarten sind, ist es uner-
                               und an einem sicheren, dauerhaften        wird, gibt es ein Desaster. Die UNO wird    lässlich, dass die Grenzübergänge offen
                               Zugang. Syrien erhält jährlich mehr       nicht mehr in der Lage sein, syrische       bleiben.
                               als zwei Milliarden Dollar an humani-     Organisationen direkt zu finanzieren
                               tärer Hilfe – das ist viel Geld und wir   und humanitäre Hilfe so zu leisten,
                               sind sehr dankbar dafür. Aber es ist      wie sie es derzeit tut. Zudem spielt die    Sind Sie optimistisch, dass das gelingt?
                               nicht genug, um allen Betroffenen zu      UNO eine wichtige Rolle bei der Über-       Alles hängt davon ab, ob die Mitglieder
                               helfen. Im ganzen Land sind 13 Millio-    wachung und Kontrolle der grenzüber-        des UNO-Sicherheitsrates einen Weg
                               nen Menschen auf Hilfe angewiesen. Sie    schreitenden Hilfsmassnahmen. Sie           finden, ihre Differenzen zu überwinden.
                               brauchen Nahrung, ein Dach über dem       verhindert die Abzweigung von Hilfsgü-      Wir appellieren dringendst an alle Rats-
                               Kopf, sauberes Trinkwasser, Zugang        tern und stellt sicher, dass sie dort an-   mitglieder, die Bedürfnisse der schutz-
                               zum Gesundheitssystem und so weiter.      kommen, wo sie benötigt werden. Ohne        bedürftigen Zivilistinnen und Zivilis-
                               Die internationale Reaktion wird dem      UNO gäbe es weniger Transparenz und         ten an vorderste Stelle zu setzen. Wenn
                               Ausmass der Katastrophe nicht gerecht.    Rechenschaftspflicht. Das wiederum          sie das tun, werden sie diese Lebensader,
                                                                         birgt das Risiko, dass die Finanzierung     die in den letzten Jahren Millionen von
                                                                         abnimmt. Schliesslich ist der Nordwes-      Menschen im Nordwesten Syriens ver-
                               Der Zugang für die humanitäre Hilfe aus   ten eine riskante Region, in der grosse     sorgt hat, nicht kappen. Wir zählen da-
                               dem Ausland wurde laufend erschwert.      Teile von Organisationen kontrolliert       rauf, dass der Sicherheitsrat Menschen
                               Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?   werden, die vom UN-Sicherheitsrat als       über Politik stellt.
                               Der humanitäre Bedarf im Nordwesten       terroristische Organisationen gelistet
                               ist gestiegen, wir bräuchten also mehr    sind. Obwohl unsere Partner vor Ort
                               Mittel und besseren Zugang. Gleichzei-    hervorragende Arbeit leisten, wären sie     Wie schaffen Sie es persönlich, trotz all
                               tig sind wir sehr besorgt darüber, dass   mit vielen zusätzlichen Herausforde-        der negativen Nachrichten weiterzuma-
                               der UNO-Sicherheitsrat im Sommer die      rungen konfrontiert.                        chen?
                               Resolution nicht verlängern könnte,                                                   In solchen Krisen zeigt sich gleich-
                               welche die grenzüberschreitende Un-                                                   zeitig das Schlimmste und Beste der
                               terstützung der UNO überhaupt mög-        Gibt es einen Plan B?                       Menschheit. Wir sehen brutale Angriffe
                               lich macht.                               Klar ist: Es gibt keinen gleichmässigen     auf Zivilisten, Folter und Inhaftierun-
                                                                         Ersatz für das aktuelle Arrangement.        gen. Aber es gibt auch das Heldentum
                                                                         Daher setzen wir alles daran, dass die      der Helfenden. Allein im Nordwesten
                                                                         Resolution verlängert wird. Aber natür-     arbeiten 15 000 syrische humanitäre
                                                                         lich arbeiten wir überall auf der Welt      Helferinnen und Helfer. Dazu kommen
                                                                         mit Eventualplänen – so auch in Sy-         Lehrerinnen, Ärzte, Rettungsarbeiter
                                                                         rien. Wir werden den Menschen in Sy-        oder Pflegerinnen, die jeden Tag ihr Le-
                                                                         rien nicht den Rücken zukehren, wenn        ben riskieren, um anderen Menschen
                                                                         die Resolution nicht verlängert wird.       zu helfen. Sie haben geliebte Menschen
                                                                         Wir wären weiterhin in viele Aspekte        verloren, wurden vertrieben, doch sie
                               GROSSES LOB                               involviert, müssten die Art und Weise,      geben nicht auf. Die Opfer, welche diese
                               Auf das Schweizer Engagement              wie wir arbeiten, aber grundlegend än-      Menschen bringen, ihre Hingabe und
                               im Syrien-Kontext angespro-
                                                                         dern. Jede denkbare Alternative ist viel    ihr Mut, das inspiriert mich immer
                               chen, hat Mark Cutts nur lobende
                               Worte übrig. Die Schweiz leiste
                                                                         schlechter und würde zu massivem            wieder. Als UNO ist es unsere Pflicht ih-
                               einen grossen Beitrag an                  menschlichem Leid führen.                   nen beizustehen. Wir dürfen sie nicht
                               zahlreiche Initiativen und sei                                                        im Stich lassen. ■
                               eine wichtige Geldgeberin für die
                               humanitäre Hilfe. Man arbeite             Könnte die UNO die Menschen im
                               in verschiedensten Bereichen
                                                                         Nordwesten auch von Damaskus aus
                               sehr eng mit staatlichen Stellen
                               zusammen und kooperiere auch              unterstützen?
                               mit NGOs wie etwa dem Centre              Die UNO setzt sich für Zugang von allen
                               for Humanitarian Dialogue oder            Seiten ein. Falls sich die Konfliktpar-
                               Geneva Call. «Die Schweiz nimmt           teien einigen könnten, wäre wir durch-
                               zudem eine Führungsrolle in
                                                                         aus bereit, Konvois aus dem Regierungs-
                               politischen Diskussionen zu
                               humanitären Angelegenheiten
                                                                         gebiet heraus zu organisieren. Nicht als
                               ein», so Cutts. «Davon profitiert         Ersatz für die grenzüberschreitende
                               die UNO stark.»                           Hilfe, sondern als Ergänzung. Bei all den

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DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
SCHWEIZER BEITRAG
ZUM UNO-FRIEDENSPROZESS
Ohne Frieden keine Entwicklung. Nach diesem Grundsatz setzt die Schweiz neben dem humanitären
Engagement in Syrien auch auf friedenspolitische Instrumente. Eines davon: die Diskussionsplattform
«Civil Society Support Room».

(cz) Egal in welcher Funktion, das          schen wie Marwa Jerdy müssen Teil des        rer im Ausland. Bedingung ist, dass die
oberste Ziel von Marwa Jerdy bleibt stets   Prozesses sein.                              Teilnehmenden keiner Konfliktpartei
dasselbe: «Ich will alles dafür tun, dass                                                angehören. Gesprochen wird über ver-
sich das Leben meiner Mitmenschen                                                        schiedenste Themen, von der Verfas-
verbessert.» Erst versuchte die Syrerin     Schweizer Initiative                         sungsreform über Waffenstillstände bis
dies als Journalistin, dann wechselte                                                    hin zu Frauenrechte oder den humani-
sie als Medienverantwortliche zur Nour      So trifft sich die Syrerin regelmässig on-   tären Zugang.
Foundation, die in Syrien Nothilfe leis-    oder offline mit einer bunten Mischung
tet und sich für die Förderung von Ju-      zivilgesellschaftlicher Akteure. Darun-
gendlichen und Frauen engagiert. Seit       ter sind NGO-Vertretende, humanitäre
knapp eineinhalb Jahren nun vertritt        Organisationen, Frauengruppierungen,
sie ihre Organisation zusätzlich im «Ci-    Menschen aus dem akademischen Be-
vil Society Support Room» (CSSR), einer     reich, Journalistinnen und Journalisten
Diskussionsplattform der syrischen          oder auch ehemalige Beamte des syri-
Zivilgesellschaft, welche die UNO-Frie-     schen Staates. Die einen leben in Regio-
                                                                                                   Die Schweiz hat die
densgespräche in Genf ergänzt. Die zen-     nen, die von der Regierung kontrolliert                Diskussionsplattform der syrischen
trale Idee hinter dem Projekt: Nicht nur    werden, andere in Oppositionsgebieten                  Zivilbevölkerung CSSR mitkonzipiert.
                                                                                                   Um die Teilnehmenden – hier in Genf
die Konfliktparteien sollen über die Zu-    und wieder andere sind Teil der mehr
                                                                                                   im Januar 2020 – zu schützen,
kunft Syriens verhandeln – auch Men-        als sechs Millionen Syrerinnen und Sy-                 bleiben sie auf dem Bild anonym.
                                                                                                   © NOREF
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG

                               Der CSSR wurde von der Schweiz mit-         sich die Gruppierungen aber angenä-         Premiere», sagt er. Erstmals überhaupt
                               konzipiert und 2016 durch den dama-         hert, es gebe ein besseres Verständnis      seien zivilgesellschaftliche Akteure in-
                               ligen UN-Sondergesandten für Syrien         für Gemeinsamkeiten und eine Akzep-         stitutionell in einen UNO-Friedenspro-
                               etabliert. Als Teil des friedenspoliti-     tanz für Differenzen.                       zess miteinbezogen worden. Ein Ansatz,
                               schen Engagements des Bundes (siehe                                                     der nun auch in anderen Kontexten
                               Randspalte) soll die Plattform die Ur-      Bis die Treffen in den virtuellen Raum      verfolgt wird.
                               sachen des Konfliktes angehen und           verschoben wurden, kamen die Teil-
                               zu einer möglichen Lösung beitragen.        nehmenden des CSSR in Genf zusam-           Auch die CSSR-Teilnehmerin Marwa
                               Umgesetzt wird sie von der Schweizeri-      men. Sie werden regelmässig vom             Jerdy glaubt daran, dass der instituti-
                               schen Friedensstiftung Swisspeace und       UNO-Sondergesandten angehört und            onalisierte Austausch etwas bewegen
                               dem Norwegian Centre for Conflict Re-       zeigen diesem auf, wie die im Friedens-     kann. Zwar fehle dem Prozess noch die
                               solution, finanzielle Unterstützung leis-   prozess besprochenen Themen in der          klare Vision, die konkrete Rolle, wel-
                               ten neben der Schweiz auch Norwegen,        Zivilgesellschaft aufgenommen werden.       che die Plattform bei einer politischen
                               Schweden und die EU.                        Zudem sind einige ehemalige CSSR-Teil-      Lösung spielen könne. Dennoch ist die
                                                                           nehmende mittlerweile ganz direkt Teil      Journalistin überzeugt: «Die Zivilgesell-
                                                                           des UNO-Friedensprozesses. Im Verfas-       schaft kann zur dritten Kraft werden,
                                                                           sungsausschuss, der über die Ausarbei-      die unser Land zusammenbringt.» ■
                                                                           tung einer neuen Verfassung für Syrien
                                    «EINIGE DER TEILNEHMENDEN              diskutiert, sitzen neben Vertretenden
                                     TREFFEN SICH IM RAHMEN                der Regierung und der Opposition auch
                                        DES CSSR DAS ERSTE                 50 Personen aus der Zivilgesellschaft.
                                      MAL, DA ES SONST KAUM
                                    AUSTAUSCHMÖGLICHKEITEN
                                           ZWISCHEN DEN                    Syrische Zivilgesellschaft
                                         FRONTLINIEN GIBT.»                erfolgreich miteinbezogen
                                               Luca Urech

                                                                           Als bislang grösste Herausforderung
                                                                           sieht Luca Urech den Aufbau einer
                                                                           Vertrauensbasis zwischen den Teil-                     FRIEDENSPOLITISCHES
                                                                                                                                  ENGAGEMENT
                                                                           nehmenden sowie die Akzeptanz des
                                                                                                                                  Als Gaststaat des in Genf ange-
                               «Der CSSR ist ein gutes Beispiel dafür,     CSSR durch die Konfliktparteien. Nach                  siedelten UNO-Friedensprozes-
                               wie sich die Schweiz mit eigenen Ini-       anfänglicher Skepsis würden sich mitt-                 ses für Syrien hat die Schweiz
                               tiativen friedenspolitisch einbringen       lerweile auch Länder wie Russland, die                 eine besondere Rolle inne.
                               kann», sagt Luca Urech von der Ab-          Türkei, Iran oder die USA für die Sicht-               Einerseits spielt sie bei logisti-
                                                                                                                                  schen Fragen wie der Einreise
                               teilung Frieden und Menschenrechte,         weisen der Teilnehmenden interessie-
                                                                                                                                  von Gesprächsteilnehmenden
                               welche im Aussendepartement für die         ren. «Da hat ein grosser Schritt stattge-
                                                                                                                                  eine wichtige Rolle, andererseits
                               Initiative zuständig ist. Die Förderung     funden», sagt der Diplomat. Die Staaten                initiiert sie auch eigene friedens­
                               eines inklusiven Friedensprozesses          hätten realisiert, dass der Austausch                  politische Initiativen. Neben der
                               passe bestens zur Schweizer Demokra-        mit der Zivilgesellschaft ein Mehrwert                 Unterstützung des Friedens-
                               tie und ihrer langen Tradition der Gu-      für sie sein kann.                                     prozesses durch Projekte wie
                                                                                                                                  den CSSR setzt sich die Schweiz
                               ten Dienste.
                                                                                                                                  für ein friedlicheres Zusam-
                                                                           Damit dieser Einblick möglichst re-                    menleben vor Ort ein, sowie für
                                                                           präsentativ ist, versucht die UNO die                  die Achtung des humanitären
                               Einfluss auf den Friedensprozess            Vielfalt der Teilnehmenden durch eine                  Völkerrechts und die Bekämp-
                                                                           Kombination von Kontinuität und Ro-                    fung der Straflosigkeit. So hat
                                                                                                                                  sie etwa die Schaffung eines
                               Im Zentrum des Projekts steht die           tation zu garantieren. Über die Jahre
                                                                                                                                  internationalen, unparteiischen
                               Brückenbauer-Funktion. «Einige der          ist so eine Datenbank mit mehreren
                                                                                                                                  und unabhängigen Mechanismus
                               Teilnehmenden treffen sich im Rah-          hundert Vertreterinnen und Vertretern                  (IIIM) unterstützt, in dessen
                               men des CSSR das erste Mal, da es sonst     der syrischen Zivilgesellschaft entstan-               Rahmen Beweise für schwere
                               kaum Austauschmöglichkeiten zwi-            den, die sich einmal oder öfters im CSSR               völkerrechtliche Verbrechen im
                               schen den Frontlinien gibt», sagt Luca      ausgetauscht haben. Für Luca Urech                     Syrienkonflikt gesammelt und
                                                                                                                                  analysiert werden. Diese konnten
                               Urech. Zu Beginn seien die Sitzungen        ist dieses breit abgestützte Engage-
                                                                                                                                  bereits in Gerichtsprozessen
                               schwieriger gewesen und es sei zu hef-      ment der Bevölkerung eine der weni-                    in mehreren Ländern verwen-
                               tigen argumentativen Auseinanderset-        gen positiven Begleiterscheinungen des                 det werden und sollen auch in
                               zungen gekommen. Mittlerweile hätten        Konflikts. «Der Prozess an sich ist eine               Zukunft Verfahren ermöglichen.

                               18         EINE WELT 2/2021
DOSSIER 10 JAHRE SYRIENKRIEG
                                        2011            1 Dollar = 0.02
                                        2013            0.012
FACTS & FIGURES                         2015
                                        2017
                                                        0.0047
                                                        0.002
                                        2019            0.002
                                        2021            0.0008

Geflüchtete Syrerinnen
                     30 und Syrer                                                                                        Schlüsselzahlen
                                                                                                                         – Geschätzte 400 000 bis
                                         20
                                                                                                                           500 000 Menschen
                                   Türkei
                                                                                                                           wurden im Syrienkonflikt
                                  3,6 Mio.
                                       10
                                                                                                                           getötet
                                           0                                                                             – Hunderttausende
                                                    2013        2015        2017       2019         2021                   wurden inhaftiert
 Deutschland                                                Innerhalb Syriens                                            – Fast 128 000 sind nie
 600 000                                                                                                                   mehr aufgetaucht und
                                                            6,7 Millionen                                                  gelten als tot oder noch
                                               50
                                                                                                                           immer inhaftiert
                                               40
                                                                                                      Irak
                                                                                                                         – Rund 15 000 Menschen
                       Libanon                 30                                                   240 000
                                      Dollar

                                                                                                                           sollen zwischen 2011 und
                       860 000                 20
                                                                                                                           2020 durch Folter gestor-
                                               10           Jordanien
                                                                                                                           ben sein
                                                0
                                                             660 000
                                                        2011 2013 2015              2017 2019           2021             – Mit 20 Milliarden Euro
*Geflohene unter UNHCR-Mandat inkl. Asylsuchende 2020
                                                                                                                           sind die EU und ihre Mit-
                                                                                                                           gliedstaaten die wichtigs-
Zerfall der                                              0.02             Syrische Lira                                    ten Geldgeber für die
                                                  1.0                                                                      Überwindung der Folgen
Syrischen Lira                                    0.8                                                                      der Syrienkrise
2011: 1 Dollar = 0.02 Lira
                                                  0.6
                                                                                                                         – Über 500 Millionen
                                         Dollar

2013: 0.012                                                      0.012
2015: 0.0047                                      0.4                      0.0047                                          Franken hat die Schweiz
                                                                                     0.002     0.002
2017: 0.002                                       0.2                                                                      seit 2011 für die betroffene
                                                                                                         0.0008
2019: 0.002                                         0                                                                      Bevölkerung in der Region
2021: 0.0008                                             2011    2013      2015      2017 2019            2021             bereitgestellt

Zitate

   2014       «Die Lage in Syrien ist                             2016     «Syrien ist die                            2021       «Die Syrien-Krise
die dramatischste humanitäre Krise,                              grösste humanitäre Krise                         bleibt die grösste Flüchtlingskrise
       mit der die Welt seit sehr                                     unserer Zeit.»                                 der Welt und für viele ist die
     langer Zeit konfrontiert ist.»                                        Filippo Grandi,                        Situation schlimmer als je zuvor.»
             António Guterres,                                  aktueller UN-Flüchtlingskommissar                          Ayman Gharaibeh,
    damaliger UNO-Flüchtlingskommissar                                                                            UNHCR-Leiter der Region Mittlerer Osten
                                                                                                                             und Nordafrika

Quellen und Links

www.deza.admin.ch             www.unhcr.org                     www.thenewhumanitarian.org         https://reliefweb.int/              www.unhcr.org/sy/
(Suche: Länder, Naher und     (Suche: Emergencies, Syria        (Suche: Browse by region, Middle   Aktuelle Länderberichte,            Informationen zur
Mittlerer Osten)              emergency)                        East, Syria)                       Projektinformationen und Zahlen     Arbeit des UNO-
Informationen zum             Zahlen und Statistiken            News und Hintergründe zur          zur humanitären Lage                Hochkommissariats für
Engagement der Schweiz        zur Lage der registrierten        humanitären Hilfe in Syrien                                            Flüchtlinge in Syrien
                                                                                                   www.unocha.org/syria
im Mittleren Osten (Syrien,   syrischen Flüchtlinge in          und der Region
                                                                                                   Neuigkeiten des UN-Amtes für
Libanon, Jordanien, Irak)     der Region
                                                                                                   die Koordinierung humanitärer
                                                                                                   Angelegenheiten

                                                                                                                                     EINE WELT 2/2021          19
HORIZONTE MOLDAWIEN
HORIZONTE MOLDAWIEN
             ABWANDERUNG
       BRINGT GESUNDHEITSSYSTEM
               INS WANKEN
                                     Seit Jahren leidet Moldawien unter einer stark schrumpfenden Bevölkerung
                                        und der paradoxen Situation, dass viele junge Leute wegen politischer
                                      Instabilität, geringen Erwerbsmöglichkeiten und dem tiefen Lohnniveau in
                                      den Westen auswandern, gleichzeitig aber im Land ein Fachkräftemangel
                                            herrscht. Besonders prekär ist die Lage im Gesundheitssektor.
                                                                    Text: Volker Pabst

Moldawien führt nicht viele internatio­                  Rodica Cheptine-Nenita lebt seit Ende      sellschaftliche Anerkennung in Molda­
nale Ranglisten an. Doch in einer Hin­                   letzten Jahres mit ihrem Mann in Lon­      wien.» Ihr Mann ist Filmproduzent. In
sicht belegt das kleine Land zwischen                    don. Die 32-Jährige führte während         London arbeitete er aber zuletzt im Ma­
Rumänien und der Ukraine seit Jahren                     Jahren einen Schönheitssalon in der        nagement eines Supermarkts.
Spitzenplätze: beim Bevölkerungsrück­                    moldawischen Hauptstadt Chisinau.
gang. Seit der Unabhängigkeit ist die                    Daneben gab sie Schminkkurse. «Als
Bevölkerung in der ehemaligen Sowjet­                    während des Lockdowns plötzlich alle
republik von 4,3 auf etwa 3,3 Millionen                  zuhause blieben, waren meine Dienste
geschrumpft. Hält der Trend an, könn­                    nicht mehr gefragt. Innert vier Mo­
                                                                                                              GESPALTENES LAND
ten 2050 laut Schätzungen weniger als                    naten ging mein Geschäft Pleite.» Die                Kurz nachdem die Republik
2 Millionen Menschen in Moldawien                        staatliche Unterstützung für Selbst­                 Moldawien 1991 ihre Unabhän-
leben.                                                   ständige ist im armen Land minimal.                  gigkeit von der Sowjetunion
                                                         «Weil mein Mann früher schon in Lon­                 erklärt hatte, erklärte der
                                                                                                              dünne Landstreifen östlich des
Der Hauptgrund für diese Entwick­                        don arbeitete und dort Familie hat, lag
                                                                                                              Flusses Dnjestr seinerseits die
lung ist die Emigration. Politische In­                  es nahe, den Neuanfang dort zu versu­
                                                                                                              Unabhängigkeit von Moldawien.
stabilität, aber vor allem die geringen                  chen.»                                               1992 kommt es zu einem kurzen,
Erwerbsmöglichkeiten und das tiefe                                                                            blutigen Krieg, der durch eine
Lohnniveau führen seit drei Jahrzehn­                                                                         russische Intervention beendet
ten dazu, dass viele Moldawier ihr Glück                 Viele haben einen EU-Pass                            wird. Seither gilt der Konflikt als
                                                                                                              «eingefroren». Transnistrien
im Ausland suchen. Jährlich entschei­
                                                                                                              wird von keinem Staat der Erde
den sich 1.5 Prozent der Bevölkerung                     Der Wegfall der Personenfreizügigkeit                anerkannt, auch nicht von Russ-
auszuwandern. Die Emigration ist zum                     für EU-Bürger auf Ende Jahr habe den                 land. Dennoch agiert Moskau als
nächstliegenden Schritt geworden, um                     Beschluss beschleunigt. Sehr viele Mol­              Protektionsmacht des Pseu-
die eigene Situation zu verbessern. Das                  dawier besitzen auch einen rumäni­                   dostaats, dessen Existenz den
                                                                                                              russischen Einfluss in Moldawien
gilt auch in der Pandemie.                               schen Pass, der aus historischen Grün­
                                                                                                              sichert und eine Westintegration
                                                         den einfach zu erhalten ist. Der grösste
                                                                                                              verhindert. Obwohl es keine
                                                         Teil des Landes war in der Zwischen­                 Anzeichen für eine Wiederver-
                                                         kriegszeit Teil Rumäniens; die Sprache               einigung gibt, ist der Kontakt
                                                         ist dieselbe. Die Wohnung in Chisinau                zwischen den Landesteilen in
                                                         hätten sie zwar vorerst behalten, sagt               den letzten Jahren einfacher
Kommen und Gehen: Auf dem
                                                                                                              geworden. Transnistrien hat den
Flohmarkt hinter dem Bahnhof                             Cheptine-Nenita. Eine Rückkehr hält
der Hauptstadt Chisinau kaufen                                                                                Grossteil der Schwerindustrie der
                                                         sie dennoch für unwahrscheinlich.                    moldawischen Sowjetrepublik
und verkaufen viele Einheimische
insbesondere Kleider.                                    «Am Ende ist die Lebensqualität in                   geerbt und beliefert Moldawien
© Ashley Gilbertson/VII/Redux/laif                       Grossbritannien mehr wert als die ge­                bis heute mit Strom.

                                                                                                                  EINE WELT 2/2021             21
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