Seelische Gesundheit - Aktion Jugendschutz

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Seelische Gesundheit - Aktion Jugendschutz
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                                                                                       2019

A N A LY S E N I M AT E R I A L I E N I A R B E I T S H I L F E N Z U M J U G E N D S C H U T Z

          Seelische Gesundheit
Dr. Klaus Hurrelmann                              Dr. med. Karsten Rudolf

Soziale und psychische Belastungen                „Du bist ja voll psycho...“
von Kindern und Jugendlichen                      Psychische Störung oder
Ergebnisse der Sozialisationsforschung            noch normale Entwicklung?
Seelische Gesundheit - Aktion Jugendschutz
Impressum                                           Inhalt
Herausgeber:
Präsidium der Aktion Jugendschutz
Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg               Dr. Klaus Hurrelmann                                           Seite 4
Marion v. Wartenberg, Angela Blonski                Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen
Wolfgang Borkenstein, Gerald Häcker, Petra Kilian   Ergebnisse der Sozialisationsforschung

Redaktion:                                          Dr. med. Karsten Rudolf                                        Seite 9
Elke Sauerteig (verantw.)                           „Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung
Ursula Kluge                                        oder noch normale Entwicklung?

Unter Mitarbeit der Fachreferent/-innen:
                                                    Interview mit Alina Welser                                    Seite 16
Henrik Blaich, Silke Grasmann, Ute Ehrle,
                                                    Seelische Gesundheit: Was bedeutet das für junge Menschen?
Sabrina Maroni, Lothar Wegner

Die mit Namen versehenen Beiträge geben             Harald Requardt                                               Seite 18
die Meinung der Autorin/des Autors wieder.          Einen hilfreichen Umgang mit traumatisierten
                                                    Kindern und Jugendlichen finden
Alle Rechte sind vorbehalten,
Vervielfältigungen sind nur mit Genehmigung         Karin Pogadl-Bakan, Judith Engel                              Seite 21
der Aktion Jugendschutz gestattet.                  Kinder und ihre psychisch kranken Eltern – offen
                                                    über die Erkrankung in der Familie sprechen
Konto: Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE75 6012 0500 0008 7018 00
                                                    Dr. sc.hum. Annette Stefini                                   Seite 24
BIC: BFSWDE33STG
                                                    Monster unterm Bett – Kinderängsten begegnen und präventiv handeln
Bezugspreis: Einzelheft E 4,00, Abonnement
E 7,50 jährlich inkl. MwSt. und Versand
                                                    Serviceteil – Material zum Thema                              Seite 29

Auflage: 8.500                                      Medien und Materialien                                        Seite 31
Erscheinungsweise: 2 x jährlich
ISSN 0720-3551                                      Aus der Arbeit der ajs                                        Seite 34

Titelbild: Kreativ plus

Layout:    Kreativ plus – Gesellschaft für
           Werbung und Kommunikation mbH
           Hauptstraße 28, 70563 Stuttgart
           www.kreativplus.com

Druck:     Henkel GmbH Druckerei
           Motorstraße 36, 70499 Stuttgart

Aktion Jugendschutz
Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg
Jahnstraße 12, 70597 Stuttgart-Degerloch
Tel. (07 11) 2 37 37-0
Fax (07 11) 2 37 37-30
info@ajs-bw.de
www.ajs-bw.de

Unterstützt durch das Ministerium für
Soziales und Integration aus Mitteln
des Landes Baden-Württemberg.
Editorial

                           Liebe Leserinnen und Leser,

                          „Hallo – Wie geht’s?“ ist eine                      Pubertät, eine momentane Verstimmung, ein Grenzen
                          Begrüßungsfloskel, auf die                          austesten? Oder gibt es Anlass zu ernsthafter Sorge
                          wir meist nicht wirklich eine                       um die Gesundheit der jungen Psyche?
                          Antwort erwarten. Es wäre
                          aber wichtig zu wissen, wie                         Die Beiträge in diesem Heft versuchen, auf diese Fragen
                          es den uns anvertrauten Kin-                        Antworten zu finden und Impulse für den beruflichen
                          dern und Jugendlichen geht,                         Alltag zu geben. Prof. Dr. Klaus Hurrelmann beschreibt
                          ob sie sich gut fühlen, ange-                       in seinem Artikel die „Sozialen und psychischen Be-
nommen und akzeptiert – auch wenn sie nicht perfekt                           lastungen von Kindern und Jugendlichen“ anhand der
sind. Wie steht es heute um das Wohlbefinden und die                          Ergebnisse der Sozialisationsforschung. Dr. med. Karsten
seelische Gesundheit von jungen Menschen?                                     Rudolf greift die Thematik aus dem Blickwinkel des
                                                                              Kinder- und Jugendpsychiaters unter dem Titel „‘Du
Im letzten Jahrhundert entwickelte sich unübersehbar                          bist ja voll psycho…‘ Psychische Störung oder noch
das Phänomen der „neuen Morbidität“, also eine Ver-                           normale Entwicklung?“ auf.
schiebung von den akuten körperlichen Infektionskrank-
heiten hin zu chronischen, somatischen, psychosoma-                           Aus der Praxis heraus werden vielfältige Ansätze vor-
tischen und psychischen Störungen und Krankheiten.                            gestellt, wie Ängsten, Traumata, Stresserfahrungen von
Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens nehmen bei                        Kindern und Jugendlichen im Alltag begegnet werden
Kindern und Jugendlichen stetig zu. Sie beeinträchtigen                       kann und junge Menschen so unterstützt werden können,
erheblich ihren Alltag in der Familie, in den Beziehungen                     schwierige Entwicklungsphasen zu bewältigen und eine
zu Gleichaltrigen und in der Schule.                                          gesunde Psyche zu entwickeln. Karin Pogadl-Bakan (Ca-
                                                                              ritasverband Stuttgart) und Judith Engel (Evangelische
Studien wie BELLA im Kinder- und Jugendgesundheits-                           Gesellschaft Stuttgart) beschreiben Möglichkeiten, wie
survey (KiGGS) bringen alarmierende Ergebnisse hervor:                        Kinder und ihre psychisch kranken Eltern unterstützt
n Den Daten aus KiGGS Welle 2 zufolge sind 16,9 Pro-                          werden können. Der Beitrag von Harald Requardt (Villa
   zent der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen                        Lindenfels, Institut für systemische Therapie und Trau-
   in Deutschland von psychischen Auffälligkeiten be-                         matherapie) informiert, wie ein hilfreicher Umgang mit
   troffen.                                                                   traumatisierten Kindern und Jugendlichen gefunden
n Externalisierende Verhaltensstörungen wie Hyper-                            werden kann. In ihrem Artikel „Monster unterm Bett“
   aktivität, Aggression und Aufmerksamkeitsstörung                           beschreibt Dr. Annette Stefini (Uniklinik Heidelberg)
   haben eine negative Auswirkung auf die Entwicklung                         Möglichkeiten, Kinderängste zu erkennen und damit
   von Kindern und Jugendlichen.                                              umzugehen.
n Emotionale Störungen ab dem Jugendalter haben ein

   hohes Risiko der Chronifizierung und damit eine ungüns-                    Wir hoffen, dass Sie in diesem Heft viele Impulse für
   tige Prognose für den weiteren Entwicklungsverlauf.                        Ihre Arbeit finden und wünschen eine anregende Lektüre.

Pädagogische Fachkräfte aus Jugendhilfe, Schulsozi-
alarbeit und Schule fragen sich oft, wie es denn geht,
Kinder und Jugendliche in ihrer psychischen Entwicklung                       Ute Ehrle
gut zu begleiten und zu unterstützen. Ist das auffällige                      Fachreferentin für Gesundheitsförderung
Verhalten nur ein „schlecht drauf sein“, eine Laune der                       und Suchtprävention

                                          F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   3
D r. K l a u s H u r r e l m a n n

    Soziale und psychische Belastungen
    von Kindern und Jugendlichen
    Ergebnisse der Sozialisationsforschung

                        I   n den letzten 20 Jahren zeichnet sich quer durch die medizinischen, psychologischen und
                            pädagogischen Disziplinen eine übereinstimmende Verwendung der Begriffe Gesundheit und
                        Krankheit ab. Sie folgt der Vorstellung der Weltgesundheitsorganisation von 1945, wonach sich
                        jeder Mensch während seines ganzen Lebens auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit und
                        Krankheit befindet und diese beiden Entitäten keine sich ausschließenden Zustände sind. Das
                        gesundheitspolitische, pädagogische und therapeutische Ziel ist es, Menschen in allen Altersgrup-
                        pen und allen Lebenslagen sowohl im körperlichen als auch im psychischen und sozialen Bereich
                        soweit und solange wie möglich am Pol der Gesundheit zu halten und zu vermeiden, dass sie in
                        einem oder in allen dieser Bereiche zum Pol Krankheit abrutschen.

                    Gesundheit wird in dieser Vorstellung, die aus den moder-                                                                      der Verarbeitung der inneren Realität von körperlichen
                    nen salutogenetisch orientierten Gesundheitswissenschaf-                                                                       und psychischen als auch der äußeren Realität von so­
                    ten stammt, als ein gelingendes Gleichgewicht verstanden.                                                                      zialen und physischen Umweltanforderungen. Der Prozess
                    Gesundheit ist dann gegeben, wenn eine Person die funda-                                                                       der Auseinandersetzung mit der inneren und der äußeren
                    mentalen Regelkreise von Körper, Psyche, sozialer Umwelt                                                                       Realität wird von seinem Charakter her als „produktiv“
                    und ökologischer Lebenswelt in Übereinstimmung mitein-                                                                         konzipiert: Es handelt sich hierbei nicht um eine passive
                    ander bringen kann. Dann befinden sich die psychischen                                                                         Informationsverarbeitung, sondern um eine aktive und
                    und physischen Ressourcen, die weitgehend genetisch                                                                            prozesshafte Tätigkeit. Sozialisation ist demnach die stän-
                    angelegt sind, in Einklang mit den äußeren Lebensbedin-                                                                        dige „Arbeit“ an der eigenen Persönlichkeit. Beeinträch-
                    gungen, die gesellschaftlich bestimmt sind. Gesundheit                                                                         tigungen und Störungen der Persönlichkeitsentwicklung
                    ist eingeschränkt, wenn sich in einem oder in mehreren                                                                         sind in der Regel auf Defizite der Realitätsverarbeitung
                    dieser Regelkreise Anforderungen ergeben, die von der                                                                          zurückzuführen (Hurrelmann und Bauer 2018).
                    Person nicht erfüllt werden können.
                                                                                                                                                   Folgen wir diesem interdisziplinären Ansatz, ist Gesund-
                    Die sozialpsychologisch orientierte                                                                                            heit der „Zustand des Wohlbefindens einer Person, der
                    Sozialisationstheorie                                                                                                          gegeben ist, wenn diese Person sich psychisch und sozial
                                                                                                                                                   in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen
                    Die sozialpsychologisch orientierte Sozialisationstheorie,                                                                     und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen
                    die salutogenetische Ansätze aufgenommen hat, definiert                                                                        befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein an-
                    die gesunde Persönlichkeitsentwicklung im Sinne eines                                                                          genehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleich-
                    lebenslang anhaltenden, dynamischen Prozesses sowohl                                                                           gewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu

4   ajs-informationen     F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung

jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut in                            Störungen des Gleichgewichtes von
Frage gestellt ist. Gelingt das Gleichgewicht, dann kann                         Risikofaktoren und Schutzfaktoren bei
dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden; es ist                              Kindern und Jugendlichen
eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und
Leistungspotenziale möglich und es steigt die Bereitschaft,                      Legen wir aber den dynamischen Begriff von Gesund-
sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren“                          heit und Krankheit an, dann ändert sich das Bild. Dann
(Hurrelmann und Richter 2013, S. 147). Krankheit ist da-                         kommen zu diesen fünf Prozent bestimmt noch einmal
nach das Stadium des Ungleichgewichtes von Risiko- und                           10 bis 15 Prozent der Angehörigen der jungen Genera-
Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine                           tion dazu, bei denen schwere
Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen                                Gesundheitsstörungen identi-
nicht gelingt – entsprechend einem Stadium, das eine Be-                         fiziert werden müssen. Diese Sozialisation ist die ständige
einträchtigung des Wohlbefindens und der Lebensfreude                            nehmen ihren Ausgangspunkt „Arbeit“ an der eigenen
eines Menschen mit sich bringt.                                                  bei einer Störung des Gleich- Persönlichkeit. Beeinträch­
                                                                                 gewichtes von Risikofaktoren
                                                                                                                   tigungen und Störungen der
So modern uns diese Definitionen erscheinen, sie haben                           und Schutzfaktoren, die eintritt,
                                                                                                                   Persönlichkeitsentwicklung
ihre geschichtlichen Vorläufer. So hat etwa der Hofarzt                          wenn einem Kind oder Jugend-
Dr. Bernhard Christoph Faust in seinem „Gesundheits-                             lichen eine Bewältigung sowohl sind in der Regel auf Defizite
Katechismus zum Gebrauche in den Schulen und beym                                der inneren körperlichen und der Realitätsverarbeitung
häuslichen Unterrichte“ schon 1794 die Schülerinnen und                          psychischen als auch der äu- zurückzuführen.
Schüler auf die Frage „Was versteht man unter gesund                             ßeren sozialen und physischen
sein?“ antworten lassen: „… dass der Körper, ohne Fehler                         Realität nicht gelingt. Durch gesellschaftliche Verände­
und Schmerzen, alle seine Verrichtungen frei und leicht                          rungen in den Bereichen Mobilität, Technik, Medien, Nah-
ausübe und der Seele zu Gebot stehe. Der Gesunde fühlt                           rungsproduktion, Wohnen, durch veränderte Fami­lien-,
sich stark, voll Leben und Kraft, es schmeckt ihm Essen                          Leistungs- und Klimaanforderungen kommt es heute zu
und Trinken, er kann Wind und Wetter ertragen, die Be-                           Fehlsteuerungen beim Ausgleich der Regelkreise von
wegung oder die Arbeit wird ihm nicht sauer, und es ist                          Körper, Psyche, sozialer und ökologischer Umwelt. Diese
ihm gar wohl“ (Faust 1794, S. 9).                                                Fehlsteuerungen haben sicher auch in früheren histori-
                                                                                 schen Epochen existiert, aber sie fallen uns heute unter
Der Hofarzt Dr. Faust war also der modernen Definition                           veränderten gesellschaftlichen und zivilisatorischen Be-
von Gesundheit schon vor 200 Jahren auf der Spur. Heute                          dingungen besonders auf.
endlich legen wir sie an. Was kommt dabei heraus, wie ist
nach den internationalen epidemiologischen Untersuchun-                          Vier solcher Fehlsteuerungen halte ich für besonders be-
gen der Stand von Gesundheit und Krankheit der Kinder                            einträchtigend für die Herstellung der Balance von Risiko-
und Jugendlichen in den hoch entwickelten Ländern wie                            und Schutzfaktoren:
Deutschland einzuschätzen? Auf den ersten Blick positiv,
denn die klassischen Infektionskrankheiten sind seit ei-                         1. Die Fehlsteuerung von Ernährungs- und
nem halben Jahrhundert stark zurückgegangen. An die                                 Bewegungsverhalten
Stelle von akuten Krankheiten, die in den weniger hoch                              Obwohl heute ein weitaus reichhaltigeres und qua-
entwickelten Ländern immer noch die häufigste Todesur-                              litativ besseres Angebot an Nahrungsmitteln als in
sache bilden, sind allerdings die chronischen Krankheiten                           früheren historischen Epochen zur Verfügung steht,
getreten. Berücksichtigen wir alle krankheitsförmigen Aus-                          kommt es bei einem wachsenden Anteil der Kinder
prägungen von Stoffwechselkrankheiten und Herz- und                                 zu einer Ernährung, durch die der Organismus nicht
Kreislaufkrankheiten, rechnen wir alle Krebskrankheiten,                            gefördert und die Anforderungen an den Körperrhyth-
Epilepsie, Rheuma und Diabetes mit ein, dann kommen                                 mus nicht beachtet werden. Durch industriell vor-
wir in den hoch entwickelten Ländern heute insgesamt auf                            gefertigte Nahrungsmittel, die zu jeder Tages- und
eine Verbreitung von etwa fünf Prozent körperlich basier-                           Nachtzeit zur Verfügung stehen, erfahren sie einen
ten, schweren chronischen Erkrankungen im Kindes- und                               Überschuss an Kalorien und eine unausgewogene
Jugendalter pro Altersjahrgang.                                                     Zusammensetzung der Nahrungsbestandteile. Da

                                                F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   5
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung

                            gleichzeitig wenig Anlass zu körperlicher Bewegung                                                                       4. Fehlsteuerungen des psychischen und
                            besteht, können sich hieraus problematische Fehlregu-                                                                       sozialen Bewältigungsverhaltens
                            lationen des Körpergewichtes ergeben. Die Fehlsteu-                                                                         Viele Kinder und Jugendliche leben heute in familiä­
                            erungen des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens                                                                             +ren Welten, in denen sie nicht gelernt haben, mit
                            können deshalb das Einfallstor für chronische Krank-                                                                        Anspannungen, Konflikten und Versagungen umzuge-
                            heiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und                                                                         hen. Schon bei Formen von mittelstarken Herausforde-
                            Adipositas sein.                                                                                                            rungen reagieren sie mit Problemverhalten, mit nach
                                                                                                                                                        innen gerichteten Ängsten und Depressionen und mit
                 2. Fehlsteuerungen des Immunsystems                                                                                                    Erschöpfungs- und Stresszuständen oder mit nach au-
                     Sie sind gewissermaßen an die Stelle der infektiösen                                                                               ßen gerichtetem aggressivem und gewaltgeladenem
                     Krankheiten getreten. Diese sind dank eines hohen                                                                                  Entlastungsverhalten, oder mit ausweichenden Leis-
                     Hygienestandards und einer leistungsfähigen medizi-                                                                                tungs- und Konzentrationsblockaden oder drogen- und
                     nischen Behandlung zurückgedrängt worden, während                                                                                  suchtbezogenen Störungen.
                     sich Krankheiten des allergischen Formenkreises in
                                          den letzten Jahrzehnten stark                                                                              Allen diesen vier Fehlsteuerungen ist gemeinsam, dass
                                          und schnell ausgebreitet haben.                                                                            wir es mit einem mangelnden Training, einer schlechten
           Den vier Fehlsteue­rungen Der Hauptgrund: Durch das Ab-                                                                                   Abhärtung und einer zu geringen Widerstandsfähigkeit
                                          schirmen von einer natürlichen                                                                             von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Fast alle tre-
                ist gemeinsam, dass
                                          Umwelt und das Wohnen in ver-                                                                              ten besonders häufig bei Kindern und Jugendlichen aus
       wir es mit einem mangelnden
                                          siegelten Räumen ist das Ab-                                                                               Familien auf, die wirtschaftlich und bildungsmäßig einen
          Training, einer schlechten wehrsystem vieler Kinder und                                                                                    niedrigen Status innehaben. Darunter sind viele mit einem
    Abhärtung und einer zu geringen Jugendlicher nicht widerstands-                                                                                  Zuwanderungshintergrund. Weil die Störungen jeweils in
           Widerstandsfähigkeit von fähig genug. Es ist jedenfalls                                                                                   den Überschneidungsbereichen der vier Regelkreise Körper,
          Kindern und Jugendlichen nicht so trainiert, dass es richtig                                                                               Psyche, soziale und dingliche Umwelt entstehen, können
       zu tun haben. Fast alle treten funktioniert, sondern in vielen                                                                                sie ihrem Charakter nach auch als psycho-, sozio-, und
                                          Fällen den eigenen Körper an-                                                                              ökosomatische Störungen bezeichnet werden.
       besonders häufig bei Kindern
                                          greift. Hier liegen die Einfalls-
     und Jugendlichen aus Familien
                                          tore verschiedenster Allergien                                                                             Welche Herausforderungen ergeben
          auf, die wirtschaftlich und bis hin zu solchen gefährlichen
                                                                                                                                                     sich aus dieser Bestandsaufnahme
     bildungsmäßig einen niedrigen Krankheitsbildern wie Asthma
                                                                                                                                                     für Pädagogik und Pädiatrie sowie für
                   Status innehaben. und Neurodermitis.
                                                                                                                                                     Prävention und Therapie?
                         3. Fehlsteuerungen der Sinneskoordination                                                                                   Strategien der Krankheitsprävention sollten auf einem
                            Sie sind ebenso auf die heute vorherrschende sitzende                                                                    gemeinsamen Nenner für die biologisch, psychologisch,
                            Beschäftigung in Schule, Ausbildung und Freizeit wie                                                                     ökologisch und soziologisch verankerten Störungsbilder der
                            auf die intensive und zeitlich ausgedehnte Nutzung                                                                       Gesundheit aufbauen. Statt sich spezifisch auf die einzelnen
                            von elektronischen Medien zurückzuführen. Hierdurch                                                                      symptombezogenen Störungen zu beziehen, sollten sie all-
                            kommt es zu einer einseitigen Stimulierung des Hör-                                                                      gemein auf das Defizit der Bewältigung der alterstypischen
                            sinns und des Sehsinns, während andere Sinne wie                                                                         Entwicklungsaufgaben im körperlichen, psychischen und
                            Riechen, Fühlen und Tasten, Atmen und Sprechen ver-                                                                      sozialen Bereich und der damit einhergehenden Störungen
                            nachlässigt werden. Wie bei der Ernährung müssen wir                                                                     der Realitätsverarbeitung abstellen. Mit anderen Worten:
                            eine unausgewogene Sinneskost beklagen. Die Folgen                                                                       Sie sollten Kinder und Jugendliche darin unterstützen, die
                            zeigen sich in mangelnden Verschaltungen der Zentren                                                                     täglichen Herausforderungen in der Auseinandersetzung
                            im Gehirn, was wiederum eine Beeinträchtigung der                                                                        mit ihren Lebensanforderungen zu bewältigen.
                            Motorik zur Folge hat. Auch Verhaltens- und Sprachstö-
                            rungen können hier ihren Ausgangspunkt nehmen, die                                                                       Knüpfen wir an die vier Fehlsteuerungen und Regulations-
                            Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssymptome                                                                      störungen an, ergibt sich die Notwendigkeit, mit der päda-
                            ebenso wie viele der Teilleistungsstörungen.                                                                             gogischen Prävention vor allem auf Bewegungsförderung,

6    ajs-informationen      F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung

Ernährungsförderung, Bewältigungsförderung, Sinnesför-                           eigenen Körperkräfte zu entwickeln. Die dritte Kompo-
derung und Förderung der Widerstandsfähigkeit zu zielen.                         nente stellt auf das Zusammenwirken von „Hirn, Herz und
Vorbeugende Strategien, die in diesen Bereichen ansetzen,                        Hand“ ab und setzt auf die sinnhafte Erfahrung, die eine
sprechen die meisten Probleme an, die als Einfallstor für                        intensivere Prägekraft als jede Information und Aufklärung
Krankheiten identifiziert wurden. Viele Strategien können                        allein hat. Und die vierte Komponente, der „Dienst am
dabei in der Bewegungsförderung ihren Ausgangspunkt                              Nächsten“, schult die soziale Verantwortlichkeit und das
nehmen, weil von ihr aus alle anderen vorbeugenden Stra-                         unmittelbare Erleben von Unterstützung und Hilfe, indem
tegien aufgerollt werden können.                                                 die Erfahrung gesammelt wird, dass andere Menschen
                                                                                 auf einen angewiesen sein können, z.B. in Notfällen und
Völlig neu ist diese Erkenntnis nicht. Schon der Hofarzt                         bei Krankheiten.
Dr. Faust hatte vor 200 Jahren einen ganz ähnlichen An-
satz: „Die körperliche Bewegung, besonders in freier Luft,                       Veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen, so zeigt
bewirkt Hunger und Durst, sie hilft Essen und Trinken ver-                       diese Analyse, verlangen auch nach veränderten päda­
dauen, sie erhält das Blut und den Körper, die Eingeweide                        gogischen Antworten, aber völlig neu brauchen diese
und das Mark in den Beinen gesund, sie gibt Ruhe und einen                       nicht entwickelt zu werden. Es reicht, alte Erkenntnisse
sanften Schlaf und die körperliche Arbeit ist es, die dem                        neu zu justieren. Ich denke, das gilt ebenso für therapeu-
Menschen blühende Gesundheit und langes Leben, die ihm                           tische Strategien im psychischen, psychiatrischen, pä­
Friede und Wohlsein schenkt“ (Faust 1794, S. 215). Schon                         diatrischen und medizinischen
Dr. Faust hatte erkannt, Bewegung ist ein Katalysator für                        Sektor. Ähnlich wie bei den pä-
innerkörperliche Prozesse, die den gesamten Stoffwech-                           dagogischen müssen sie nicht Veränderte gesellschaftliche
sel und die Muskeltätigkeit beeinflussen und auch die                            wirklich neu erfunden werden, Lebensbedingungen verlangen
Wahrnehmung des Körpers und der Psyche mit umfassen.                             sondern können an altbewährte auch nach veränderten päda­
                                                                                 anschließen:
                                                                                                                    gogischen Antworten, aber
Wir brauchen also neue pädagogische Ansätze, aber sie
                                                                                                                     völlig neu brauchen diese
können sich auf alte Ansätze berufen. Auch auf die über                          Erstens sollten therapeutische
einhundert Jahre nach Dr. Faust entwickelte „Pädagogik                           Strategien jeglicher Ausrich- nicht entwickelt zu werden.
des Erlebens“ von Kurt Hahn. Es ist schon frappierend, wie                       tung interdisziplinär orientiert Es reicht, alte Erkenntnisse
der große Pädagoge Kurt Hahn im Jahr 1924 den „Verfall                           und institutionell eingebettet neu zu justieren.
der körperlichen Tüchtigkeit“ und die „fehlende Selbstini­                       sein. Zweitens sollte ihr Dreh-
tiative bei zu viel Konsumhaltung und Zuschauermenta­                            und Angelpunkt in der Stärkung der Selbststeuerungsfä-
lität“, den „Verfall der Geschicklichkeit und Sorgfalt“ und                      higkeit der Kinder und Jugendlichen als Patientinnen und
die „mangelnde Fähigkeit zur menschlichen Anteilnahme“                           Patienten liegen. In der Sprache der Sozialisationstheorie
als kritische Ausgangsdiagnose zu Protokoll gibt. Die heu-                       geht es darum, die Kapazität für die produktive Verarbei-
tige Bestandsaufnahme kommt zu einer Problembestim-                              tung der inneren und der äußeren Realität zu erhöhen oder
mung, die von der damaligen nur in Nuancen abweicht.                             wieder herzustellen. Es geht darum, die massive Beein-
Deshalb ist auch die pädagogische „Therapie“ von Kurt                            trächtigung der Balance von körperlichen, psychischen,
Hahn heute so aktuell wie in den 1920er-Jahren. Sie be-                          sozialen und ökologischen Regelkreisen auszugleichen, das
steht aus den vier Komponenten „körperliches Training“,                          Bewältigungsverhalten in allen diesen Bereichen wieder
„Expedition in unbekanntes Terrain“, „gemeinsam hand-                            zu aktivieren. Drittens sollten Kinder und Jugendliche als
werklich, künstlerisch, technisch und geistig arbeiten“ und                      Patienten so weit wie möglich selbst an der Bewältigung
„Dienst am Nächsten“.                                                            ihrer Lebensanforderungen und ganz konkret an der Aus-
                                                                                 einandersetzung mit ihrer Krankheit beteiligt werden. Die
Der erste Aspekt nimmt die Erkenntnis vom Hofarzt Dr. Faust                      betreuenden Therapeutinnen und Therapeuten sollten die
auf und berücksichtigt Bewegung als Katalysator für die                          Rolle von Experten einnehmen, die Beratung und Informa-
Selbststeuerung und die Koordination der vier Regelkrei-                         tionsangebote vermitteln, aber die geeignete Therapie ge-
se. Der zweite Aspekt schult Herausforderungen und den                           meinsam mit dem Kind oder dem Jugendlichen abstimmen.
Mut, sich mit neuartigen Situationen auseinanderzuset-                           Im Ergebnis sollte es sich um eine „Vereinbarung“ zwischen
zen, die eigenen Grenzen zu erfahren und Vertrauen in die                        Therapeut und Patient handeln, wobei selbstverständlich

                                                F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   7
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung

                     auf die jeweilige körperliche, psychische, emotionale und
                     intellektuelle Entwicklungsstufe von Kindern und Jugend-                                                                         Literatur

                     lichen eingegangen werden muss.                                                                                                  Faust, B. C. (1794): Gesundheitskatechismus zum
                                                                                                                                                      Gebrauche in den Schulen und beim häuslichen
                     Die wirklichen Experten für Körper                                                                                               Unterrichte. Bückeburg: Kummer.

                     und Psyche sowie für soziale und                                                                                                 Hahn, K. (1924/1998): Reform mit Augenmaß.
                     physische Umwelt sind die Kinder und                                                                                             Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von
                     Jugendlichen selbst                                                                                                              M. Knoll. Stuttgart: Klett Cotta.

                  Eines ist bei jeder Therapie von chronischen Krankheiten                                                                            Hurrelmann, K. und Bauer, U. (2018): Einführung
                  wichtig: Die wirklichen Experten für Körper und Psyche so-                                                                          in die Sozialisationstheorie. Weinheim: Beltz.
                                                                                                                                                      12. Auflage.
                  wie für soziale und physische Umwelt sind die Kinder und
                  Jugendlichen selbst. Ein Therapeut kann versuchen, sich in                                                                          Hurrelmann, K. und Richter, M. (2013): Gesundheits-
                  die Rolle des jungen Klienten zu vertiefen, um mitzuden-                                                                            und Medizinsoziologie. Weinheim: Beltz Juventa.
                                             ken und einfühlsam den Bera-                                                                             8. Auflage.

                                             tungs- und Behandlungsprozess
          Es sollten sehr viel stärker zu steuern. Aber die eigentliche                                                                           viel stärker als bisher auch die pädiatrischen Angebote in
        als bisher die pädiatrischen Entscheidung darüber, welche                                                                                 die pädagogischen Institutionen hinein verlagern, in de-
     Angebote in die pädagogischen Verhaltensweise der Krank-                                                                                     nen sich Kinder und Jugendliche ohnehin aufhalten. In der
                                             heitsbewältigung realistisch ist                                                                     Sprache der Weltgesundheitsorganisation sind das die in
       Institutionen hinein verlagert
                                             oder nicht, wie die Fehlsteue-                                                                       ein Setting eingebundenen Angebote: Medizinische und
       werden, in denen sich Kinder
                                             rungen in den Regelkreisen zu                                                                        psychologisch therapeutische Leistungen in Kinderkrippen,
           und Jugendliche ohnehin beseitigen sind, die kann nur in                                                                               Kindergärten, Horten, Grundschulen und weiterführenden
       aufhalten. In der Sprache der Abstimmung und Übereinstim-                                                                                  Schulen, in Arbeitsteilung mit Pädagogen, Sozialarbeitern,
     Weltgesundheitsorganisationen mung mit dem kindlichen oder                                                                                   Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräften und
           sind das die in ein Setting jugendlichen Patienten getrof-                                                                             Seelsorgern. Die gleichberechtigte Kooperation dieser
          eingebundenen Angebote. fen werden.                                                                                                     Berufsgruppen ist entscheidend, denn die Gesundheits-
                                                                                                                                                  störungen und Krankheiten, die wir heute bei Kindern und
                     Brauchen wir also angesichts der veränderten gesell-                                                                         Jugendlichen identifizieren, lassen sich nur in ganz seltenen
                     schaftlichen Bedingungen und der neuartigen Störungs-                                                                        Fällen mit einer einzigen professionellen Zugangsweise
                     und Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen neue                                                                       zurückdrängen. Wirklich effizient sind wir dann, wenn je
                     pädagogische und pädiatrische Antworten? Ja, aber sie                                                                        nach Ausgangslage und Fall die verschiedenen Berufs­
                     sollten unbedingt an bisherige Strategien anknüpfen, die                                                                     gruppen kooperieren. Das ist die eigentlich neue Antwort
                     sich bereits bewährt haben. So dringlich wie noch nie er-                                                                    auf die – wie die Analyse gezeigt hat – gar nicht wirklich
                     scheint die Abstimmung der pädagogisch-präventiven mit                                                                       so neuen Gesundheitsstörungen und Krankheiten.
                     den therapeutisch-kurativen Strategien und umgekehrt.
                     Um diese Abstimmung zu erreichen, sollten wir noch sehr                                                                      Der Hofarzt Dr. Faust hat für alle professionellen Fach­
                                                                                                                                                  kräfte, die sich in dieser Weise um Kinder und Jugendliche
                                                                                                                                                  bemühen, den entscheidenden Anreiz formuliert: „Wenn
                                                                                                                                                  Ihr es richtig tut, so werden die künftigen Geschlechter
                                                                                                                                                  ihre Gesundheit und Glückseligkeit zum großen Teil Euch
                                                                                                                                                  zu danken haben, und der Gott, der da will, dass alle Men-
      Der Autor                                                                                                                                   schen durch Erkenntnis der Wahrheit an Seele und Leib
                                                                                                                                                  geholfen werde, und der nichts unbelohnt lässt, wird es
      Professor Dr. Klaus Hurrelmann                                                                                                              Euch belohnen in Zeit und Ewigkeit“ (Faust 1794, S. 11).
      Public Health and Education,
      Hertie School of Governance Berlin

8    ajs-informationen   F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
D r. m e d . K a r s t e n R u d o l f

„Du bist ja voll psycho...“
Psychische Störung oder
noch normale Entwicklung?

P      sychische Störungen stellen eine gesellschaftliche Realität dar: In Deutschland gehen wir
       von rund 17 Prozent erkrankter Kinder und Jugendlicher bzw. 28 Prozent betroffener Erwach-
sener aus. Federführend sind hierbei Angst- und depressive Störungen sowie Alkohol-/Medikamen-
tenkonsumstörungen. Rund die Hälfte aller psychischen Störungen beginnen ab dem 14. Lebensjahr.

„Du bist ja voll psycho...!“ – In diesem Ausspruch eines                         und Ausgrenzung, Distanz und Vernachlässigung. In den
Jugendlichen gegenüber einem anderen auf einem Schul-                            Krankheitsmodellen wurden sich ablösend religiöse, bio-
hof irgendwo in Deutschland steckt so vieles drinnen. Ju-                        logische und soziale Ursachen beschrieben.
gendlicher Überschwang und Übertreibung, Expression und
Provokation, Scherz und Ernst, aber auch Diskriminierung,                        Die frühesten Aufzeichnun-
Ausgrenzung und Stigmatisierung.                                                 gen, noch sehr vage, datieren Psychische Erkrankungen oder
                                                                                 bis in die Jungsteinzeit etwa in der WHO-Sprechweise
Psychische Erkrankungen oder in der WHO-Sprechweise                              11.500 v. Chr. Dämonen galten „Psychische Störungen“ sind
„Psychische Störungen“ sind keine Phänomene der Neuzeit,                         zu dieser Zeit als ausschlagge-
                                                                                                                   keine Phänomene der Neuzeit,
keine Erfindungen der Psychiatrie und keine „Seuchen“ der                        bend für die Krankheit. Auch
                                                                                                                   keine Erfindungen der Psy­
Industrienationen. Durch internationale Forschung wissen                         in den Hochkulturen, wie z.B.
wir sehr genau, dass psychische Störungen weltweit ver-                          in Ägypten oder Mesopota- chiatrie und keine „Seuchen“
breitet und häufig sind, den Betroffenen und sein Umfeld                         mien, waren strafende Götter der Industrienationen. Durch
in seiner Teilhabe und Lebensqualität beeinträchtigen und                        kausal. Erstmals sprach man internationale Forschung wissen
immer noch mit einer Stigmatisierung belegt werden. Wir                          in dieser Zeit von „Geistesstö- wir sehr genau, dass psychische
wissen aber auch: Die Menschheitsgeschichte war stets                            rungen“ und man begann mit Störungen weltweit verbreitet
begleitet von Krankheiten, so auch die Psyche betreffend.                        Aufzeichnungen. Auf diesen
                                                                                                                   und häufig sind.
                                                                                 Erkenntnissen aufbauend wur-
Die Historie psychischer Krankheiten                                             den im Alten Griechenland und Römischen Reich, voran-
                                                                                 getrieben durch Hippokrates, einzelne Geistesstörungen
Die Historie psychischer Krankheiten ist geprägt durch                           schon sehr detailliert beschrieben: Depression, Manie,
das Menschenbild und die Gesellschaft, Krankheitsmo-                             Wahn u.a.m. Hippokrates beschrieb nun ein Krankheits-
dell-Vorstellungen und dem Selbstverständnis der Pro-                            modell, das das Gehirn in den Mittelpunkt des Krankheits-
fessionen in den jeweiligen Epochen.                                             geschehens rückte und natürliche Ursachen definierte.
                                                                                 Zudem entwickelten sich erste „Therapien“, um den Be-
In einem Bogen von der Jungsteinzeit bis in die Mo-                              troffenen in einer Zugewandtheit zu helfen: Gespräche,
derne wird deutlich, dass die wechselvolle Geschich-                             Aktivierung, Förderung des Schlafs und Medikamente aus
te stets pendelte zwischen Neugier, Erforschung, Nähe                            dem Pflanzenreich.

                                                F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   9
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung?

                 In den nun folgenden 1.000 Jahren etablierte sich eine                                                                             konzipierte wegweisend und mustergültig die Verbesse-
                 Parallelwelt: Europa unter dem dominierenden Einfluss                                                                              rung der Versorgung.
                 der Kirche und die Welt des Islamischen Reichs. In Europa
                 wurden psychisch erkrankte Menschen als „Irre“ tituliert                                                                           Moderne Psychiatrie kann heute auf einem breiten Wis-
                 und ausgegrenzt („Irrenkolonien“) oder gar als Hexen ver-                                                                          sensfundament diagnostisch und therapeutisch, präventiv
                 brannt. Modellvorstellungen waren geprägt von Dämo-                                                                                und rehabilitativ, qualitativ hochwertig sowie differenziert
                 nenglauben und Teufelsbesessenheit. Das „alte Wissen“                                                                              Menschen mit psychischen Störungen versorgen. Fundierte
                 wurde exklusiv in den Klöstern beherbergt, Forschung oder                                                                          Forschung zu den einzelnen Störungsbildern bezüglich Ri-
                 gar Therapie fanden nicht statt. Im Herrschaftsgebiet des                                                                          siko- und Schutzfaktoren, biologischen Abläufen auf Zell­
                 Islam hingegen wurden erste Krankenhäuser speziell für                                                                             ebene, Genetik, Störungsverläufen und Prognosen sowie
                 psychisch Kranke konzipiert und gebaut, so 981 n.Chr. in                                                                           Wirksamkeit von Interventionen schafft Grundlagen für qua-
                                            Bagdad, sowie wichtige Lehr-                                                                            litativ hohes und dem Einzelnen angemessenes Arbeiten.
                                            bücher veröffentlicht. „Geistes-                                                                        Moderne Entwicklungen diverser Psychotherapieformen,
     Moderne Psychiatrie kann heute gestörte sind Gottesgesandte“                                                                                   pharmakotherapeutischer Optionen sowie differenzierter
         auf einem breiten Wissens­ so lautete die Beschreibung der                                                                                 Diagnostikinstrumente ermöglichen eine gute Ausstattung
        fundament diagnostisch und Betroffenen.                                                                                                     des „Werkzeugkoffers“ der Profis. Klassifikationssysteme
                                                                                                                                                    und Leitlinien repräsentieren Navigationsinstrumente und
                therapeutisch, präventiv
                                             Erst Ende des 19.Jahrhunderts                                                                          Leitplanken des professionellen Handelns.
             und rehabilitativ, qualitativ
                                             vollzog sich der klare Paradig-
        hochwertig sowie differenziert menwechsel: Religiöse Modell-                                                                                Gemeindenahe, niedrigschwellige Versorgungsmöglich­
           Menschen mit psychischen vorstellungen wurden nun von                                                                                    keiten sowie Konzepte der Autonomie, Partizipation, Selbst-
               Störungen versorgen. somatischen, biologischen Er-                                                                                   hilfe, Angehörigenarbeit, Empowerment und Recovery
                                             klärungen abgelöst und in einer                                                                        unter Würdigung der rechtlichen Rahmenbedingungen
                  späten Renaissance hippokratischen Wissens das Gehirn                                                                             (Menschen-, Kinder-, Behindertenrechte: UN-Konven­
                  als betroffenes relevantes Organ anatomisch systematisch                                                                          tionen; Patientenrechte) schaffen heute individualisierte
                  untersucht. Die Versorgungssituation für psychisch kranke                                                                         menschenwürdige Bedingungen in einer vielfältigen Un-
                  Menschen blieb jedoch bis in die Zeit nach dem Zweiten                                                                            terstützung der Betroffenen.
                  Weltkrieg schlecht. Schwer erkrankte Menschen, wie z.B.
                  Schizophrene oder Maniker, wurden oft jahrelang in An-                                                                            Neue Phänomene fordern uns heraus
                  stalten unter mangelhaften Umständen mehr verwahrt
                  als behandelt. Reformpsychiatrische Ansätze fanden noch                                                                           Die beschriebene progressive Moderne offeriert jedoch
                  keine Verbreitung, die Weltkriege bedeuteten heftigste                                                                            im Rahmen der vielfältigen gesellschaftlichen Verände-
                  Zäsuren und die Ära des Nationalsozialismus vollzog die                                                                           rungen auch die Kehrseite der Medaille: Ökonomisierung,
                  systematische Verfolgung und Tötung von Betroffenen.                                                                              Bürokratisierung, Fachkräfte- und Qualifizierungsmangel
                                                                                                                                                    sowie Persistenz der Stigmatisierung.
                      Die Vertreter der Antipsychiatrie im Rahmen der 68er-
                      Bewegung favorisierten Therapiemodelle abseits der In­                                                                        Neue Phänomene fordern uns heraus, so die Digitalisierung
                      stitutionen und Psychiatrie; sehr viel stärker definierten sie                                                                unseres Lebens im gesellschaftlichen Diskurs zwischen
                      gesellschaftliche Faktoren statt biologischer als Ursachen                                                                    Nutzen und Schaden. Konsekutive „neue Morbiditäten“,
                      der psychischen Veränderungen.                                                                                                wie z.B. die „Internet-Sucht“, das Neuroenhancement
                                                                                                                                                    (Hirndoping) oder allmähliche Grenzverschiebungen, wie
                      Fundierte Forschung zu den einzelnen                                                                                          das weit verbreitete Doping im Breitensport, erfordern In-
                      Störungsbildern                                                                                                               strumente, um zwischen krank und gesund bzw. tolerabel
                                                                                                                                                    und behandlungsbedürftig zu differenzieren.
                      Quasi in einer Synthese wurde in den Folgejahren das
                      Bio-Psycho-Soziale Krankheitsmodell als Grundlage aller                                                                       Die kritische Würdigung neuer Klassifikationen (DSM 5 der
                      psychischen Störungen entwickelt, das bis heute seine                                                                         US-amerikanischen Psychiater oder das kommende ICD-11
                      Gültigkeit bewahrt. Die Psychiatrie-Enquête-Kommission                                                                        der WHO) mahnen, nicht zu voreilig und zu niedrigschwellig

10    ajs-informationen    F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung?

Befindlichkeitsstörungen oder angemessene Reaktionen                            sorgt für eine einheitliche Benennung der einzelnen Stö-
auf Lebensereignisse als Psychische Störungen zu eti-                           rungsbilder und schreibt im Sinne der Kodierungsrichtlinie
kettieren. Auch jüngste Entwürfe zu Gesetzesnovellen in                         störungsspezifische Kriterienlisten vor. Somit kann über die
demokratischen Gesellschaften (Bayerisches Psychiatrie-                         Qualität, Quantität, zeitliche Dimension, Erkrankungsalter,
gesetz) zeugen davon, dass psychisch erkrankte Betroffene                       Kombination und Graduierung der psychopathologischen
immer noch zu voreilig als gefährlich eingestuft werden.                        Symptome eine Diagnose vergeben werden oder auch nicht.

Wie definieren wir nun eine                                                     Psychische Krankheiten differenzieren die
„psychische Störung“?                                                           kognitive, emotionale und Verhaltensebene

Grundsätzlich begleitet jeden Menschen sein Leben lang                          Krankheit repräsentiert grundsätzlich ein komplexes Ge-
ein Wechsel von Gesundheit und Krankheit in meistens                            schehen und spielt sich in der somatischen, psychischen
fließenden Übergängen und fluktuierenden Dynamiken                              und geistigen Dimension ab. Psychische Krankheiten dif­
der Symptomatik. Ebenso verläuft es bei psychischen Stö-                        ferenzieren die kognitive, emotionale und Verhaltens­ebene.
rungen: häufig einige Zeit mit unspezifischen Symptomen                         In der Betrachtung psychischer
als Vorlauf („Prodrom“), wie z.B. Konzentrationsprobleme,                       Störungen des Kindes- und Ju-
Schlafstörungen, Stimmungslabilitäten, die dann im Wei-                         gendalters müssen zudem Ent- Die Weltgesundheitsorganisation
teren kombiniert, andauernd und beeinträchtigend durch                          wicklungs- und syste­mische Re- WHO definiert eine psychische/
mehrere Symptome im Leben des Betroffenen auftreten                             alitäten erfasst werden.            seelische Störung als ein
und seinen Alltag und die Lebensqualität bestimmen.
                                                                                                                  Zustandsbild, das durch
                                                                                Das Kind und der Jugendliche
                                                                                                                  krankheitswertige Verän­
Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert: „Eine                            bewegen sich in multiplen Kon-
psychische/seelische Störung ist ein Zustandsbild, das                          texten (Familie, Umfeld, Um- derungen des Erlebens und
durch krankheitswertige Veränderungen des Erlebens und                          welt), treten dort in spezifische Verhaltens gekennzeichnet ist.
Verhaltens gekennzeichnet ist.“ Typisch sind laut WHO                           Interaktionen und werden mit
Abweichungen der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens                              diversen Strukturen sowie Herausforderungen kon­frontiert,
oder auch des Selbstbildes. Eine psychische Störung ist                         aber auch in Wechselwirkung von Risiko- und Schutzfak-
zudem geprägt von subjektivem Leidensdruck, Minderung                           toren geprägt. Dies gilt es in diagnostischen Prozessen
der Lebensqualität und in moderner Betrachtungsweise                            zu erfassen und in spezifische Therapieinterventionen zu
auch einer erheblichen Teilhabebeeinträchtigung.                                transferieren.

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter füh-                            Entwicklung stellt einen lebenslangen, mehrdimensionalen
ren zu Einschränkungen in der Alltagsbewältigung und                            (körperlichen, kognitiven, psychischen und sozio-emotio-
zusätzlichen Belastungen in der erfolgreichen Erfüllung                         nalen) Prozess dar. Das Individuum ist aktiver Gestalter
von Entwicklungsaufgaben. Bei Erwachsenen können Ein-                           seiner Entwicklung in Interaktion mit seiner Umwelt. Er-
bußen in der Erziehungs- und Beziehungsfähigkeit in der                         kenntnisse über vulnerable Phasen der Hirnentwicklung,
Elternrolle, negative Folgen in der Partnerschaft sowie in                      Fundamente der Bindung, Emotionsregulation und Identität
beruflichen Kontexten beschrieben werden. Psychische                            sowie Wissen über entwicklungsphasentypische Phäno-
Erkrankungen erhöhen das Risiko für körperliche Erkran-                         mene und Entwicklungsaufgaben bilden die Prüfmatrix
kungen, z.B. Herz-/Kreislaufkrankheiten, Suizidalität und                       in der Bewertung psychopathologischer Symptome bzw.
verkürzte Lebenserwartung. Auch sozioökonomisch sind                            Verhaltensauffälligkeiten im Sinne einer Krankheitswer-
diese Störungen gesellschaftlich von Belang: Arbeitsun-                         tigkeit versus Normvariante ab.
fähigkeit, Berufsunfähigkeit, Frühberentung.
                                                                                Eine Erklärung bietet das Bio-Psycho-
Hilfreich in der Einschätzung einer Krankheitswertigkeit                        Soziale Krankheitsmodell
ist die Nutzung der Klassifikationssysteme. In Deutsch-
land ist die ICD-10 der WHO („International Classification                      Eine fundierte Erklärung bietet das sogenannte Bio-Psycho-
of Diseases, 10.Revision“) vorgeschrieben. Dieses Werk                          Soziale Krankheitsmodell, das eine psychische Störung

                                               F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   11
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung?

                    als multifaktoriell darstellt. Biologische Faktoren, wie                                                                        Fallbeispiele
                    beispielsweise chromosomale oder genetische Verände-
                    rungen, Alkoholexposition in der Schwangerschaft, Sau-                                                                          Folgende Fallbeispiele beschreiben Kinder und Jugendliche
                    erstoffmangel unter der Geburt, prägen im Wechselspiel                                                                          mit psychischen Störungen, aus denen sowohl bezogen auf
                    mit psychosozialen Faktoren die individuelle Vulnerabilität.                                                                    die Symptomatik als auch die Teilhabebeeinträchtigung die
                    Hinzutretender Stress, der sich im Zusammenspiel von Risi-                                                                      Abgrenzung zu Normvarianten deutlich wird.
                    ko- und Schutzfaktoren entwickelt, kann dann die individu-
                                                elle Schwelle zur Ausprägung                                                                        Die erste Kasuistik beschreibt eine depressive Störung,
                                                einer Krankheit überschreiten.                                                                      die national und weltweit zu den häufigsten Störungen
              Die vulnerable Phase der                                                                                                              zählt. Bereits im Grundschulalter könne Raten von zwei
          Adoleszenz stellt die größte Im Kindes- und Jugendalter ist                                                                               bis drei Prozent, im Jugendalter bis neun Prozent ermittelt
      Herausforderung in der Diagno­ die Einschätzung des Entwick-                                                                                  werden.
                                                lungsstandes in den jeweiligen
          se­stellung in Abgrenzung zu
                                                Domänen kognitiv-körperlich-
         typisch adoleszentären Aus­
                                                sozioemotional/psychisch und                                                                        Der 8-jährige Tim berichtet, dass es ihm seit 5-6 Wochen
      drucksformen dar. Diese Phase die Kenntnis über die zu be-                                                                                    sehr schwer fällt morgens aufzustehen. Er sei müde und
      repräsentiert eine erhöhte Rate wältigenden Entwicklungsauf-                                                                                  energielos. Die Mutter müsse ihn mehrfach auffordern,
     Suizidalität, riskanter Verhal­tens­ gaben zentral. So kennen wir                                                                              sich für die Schule fertig zu machen. In der Schule könne
        weisen, Schul­schwän­zen und phasentypische, altersspezifi-                                                                                 er sich schlecht konzentrieren, er vergesse einiges und
       Konflikte mit Bezugspersonen. sche Angstphänomene, rege                                                                                      auf dem Schulhof habe er einfach keinen Spaß mehr am
                                                Fantasietätigkeiten, imaginative                                                                    Fußballspielen mit seinen Kumpels. Zunehmend ziehe er
                    Begleiter, magisches Denken, flüchtiges halluzinatorisches                                                                      sich zurück, gehe nach der Schule nicht mehr raus, sitze
                    Erleben, Trauerreaktionen, emotionale Instabilitäten, inten-                                                                    einfach in seinem Zimmer und müsse oft grundlos weinen.
                    sive gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Sinn des                                                                          Auch seine Geschwister und seine Eltern helfen nicht mit
                    Lebens oder auch kurzandauernde psychische Reaktionen                                                                           ihren Aufmunterungsversuchen. Häufiger kämen nun auch
                    auf Übergänge (Wechsel Kindergarten-Schule u.a.), ohne                                                                          Gedanken an das Sterben, vielleicht wäre es besser, wenn
                    dass wir fachlich sofort eine Diagnose mit Krankheitswert,                                                                      es ihn gar nicht mehr geben würde.
                    wie z.B. eine Angststörung, Depression, Schizophrenie oder
                    Borderline-Störung vergeben. Insbesondere die vulnerable
                    Phase der Adoleszenz stellt die größte Herausforderung in                                                                       Tim beschreibt die typischen Symptomkonstellationen
                    der Diagnosestellung in Abgrenzung zu typisch adoleszen-                                                                        einer Depression: die depressive Stimmung, die Antriebs-
                    tären Ausdrucksformen dar. Wie wir wissen, repräsentiert                                                                        verminderung und eine Freud- bzw. Interesselosigkeit.
                    diese Phase eine erhöhte Rate Suizidalität, riskanter Verhal-                                                                   Erste gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Tod
                    tensweisen (Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten,                                                                      und Sterben, vermindertem Selbstwert und schulische
                    Straßenverkehr, Substanz- und Medienkonsum, Delinquenz),                                                                        Probleme gesellen sich hinzu. Deutlich wird seine Teilha-
                    Schulschwänzen und Konflikte mit Bezugspersonen.                                                                                bebeeinträchtigung im Alltag, in der Schule und Freizeit
                                                                                                                                                    sowie seine geminderte Lebensqualität. Versuche seiner
                                                                                                                                                    unmittelbaren Bezugspersonen, allesamt gut gemeint,
                                                                                                                                                    zu einer Veränderung kommen nicht an. Auch dies ist ty-
                                                                                                                                                    pisch für die depressive „Einmauerung“ und den Rückzug
       Der Autor                                                                                                                                    auf sich selbst.Würden die beschriebenen Symptome nur
                                                                                                                                                    vereinzelt und flüchtig auftreten, so würden wir fachlich
       Dr. med. Karsten Rudolf                                                                                                                      nicht von einer Depression ausgehen. So könnten aku-
       Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik                                                                                                      te Streitigkeiten mit Schulfreunden, Schwierigkeiten mit
       Mosbach und Chefarzt der Klinik für Kinder-                                                                                                  dem Schulstoff, Sorgen um elterliche Konflikte oder auch
       und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie                                                                                                     körperliche Erkrankungen einzelne psychopathologische
       der Johannes-Diakonie Mosbach                                                                                                                Phänomene der Unlust, der traurigen Verstimmung, Kon-
                                                                                                                                                    zentrationsprobleme oder Müdigkeit erklären.

12    ajs-informationen    F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung?

In unserer zweiten Kasuistik folgen wir der aktuellen Le-                         Die dritte Kasuistik beschreibt die 17,5 Jahre alte Emily,
bensspur des 16-jährigen Julian, der an seiner ersten Epi-                        die seit einem Jahr in einer Jugendhilfeeinrichtung in ei-
sode einer Schizophrenie erkrankt ist, einer Störung an der                       ner Wohngruppe lebt.
einer von hundert Menschen im Laufe seines Lebens leidet.

                                                                                  Sie erlebt täglich stark wech- Typisch für die beschriebene
Genau genommen fing alles bereits im 14. Lebensjahr an. Ju-                       selnde Stimmungen. Häufig emotional-instabile Persön­lich­
lian konnte sich zunehmend schlecht konzentrieren, litt unter                     ohne Anlass sei sie „zu Tode keitsstörung sind die deutlichen,
Schlafstörungen und empfand immer häufiger Unsicherhei-                           betrübt“ und dann wieder
                                                                                                                       dauerhaft abweichenden
ten bezüglich Menschen in seiner Umgebung. Manchmal                               „himmelhochjauchzend gut ge-
                                                                                                                       inneren Erfahrungs- und
gewann er den Eindruck, beobachtet zu werden, er wurde                            launt“. Die anderen Mädchen
seinen Klassenkameraden gegenüber misstrauischer und                              der Gruppe seien genervt und Verhaltens­muster bezogen
fand, dass so manche Situation wie im Film abliefe und er                         könnten sie wegen ihrer Unbe- auf Kognitionen, Affekte,
quasi Zaungast sei. Aktuell ist er seit einem halben Jahr                         rechenbarkeit häufig nicht gut Beziehungen, Impuls­kontrolle
der Überzeugung, dass sein Klassenlehrer mit seinen Eltern                        leiden. In Krisensituationen rit- und Bedürfnisbefriedigung.
gemeinsame Sache mache. Sie spionieren ihn aus, beein-                            ze sie sich, um sich zu spüren
flussen seine Gedanken, hören ihn ab und bedrohen ihn.                            und Spannung abzubauen. Emily habe bald vor, die Schule
Die Personen, deren Namen er nicht aussprechen darf, da                           zu verlassen und Schauspielerin zu werden. Im Netz könne
er sonst getötet werde, sind Mitglieder eines weltweit ge-                        sie sich vorstellen als Influencerin aufzutreten; ihr gerade
heim operierenden Netzwerks. Täglich kann er seine Eltern                         bester Freund, „die Liebe ihres Lebens“, den sie seit einer
belauschen, wie sie über ihn schlecht reden bzw. sich mit                         Woche kenne, habe auch schon Fotos von ihr gemacht und
anderen Netzwerkmitgliedern austauschen. Zunehmend                                in die sozialen Medien eingestellt. Die Beziehung sei ihr
werde in seinem Kopf eine Stimme laut, die ihm befiehlt                           ein und alles; wenn Tom sie verlasse, bringe sie sich um.
andere Menschen zu schlagen, um sich zu wehren. Julian                            Die Erzieher der Gruppe nerven. Immer wieder müsse man
empfindet eine große innere Anspannung, Bedrohung und                             mit denen „labern“, statt dass sie einen einfach in Ruhe
zieht sich stark sozial zurück. An einen Schulbesuch oder                         lassen. Wenn man sie dann bräuchte, seien sie sowieso
Treffen mit Freunden ist nicht zu denken. Die Bezugsper-                          nicht da. Nur die Nachtwache verstehe sie, nur ihr könne
sonen sind irritiert, registrieren die Anschuldigungen und                        sie so richtig vertrauen. Niemand in ihrem bisherigen Le-
Selbstgespräche sowie Phasen der geistigen Abwesenheit                            ben sei so richtig für sie da gewesen.
und der wirren Gedankengänge, sind voller Besorgnis und
ziehen sich ihrerseits unverständig zurück.
                                                                                  Typisch für die beschriebene emotional-instabile Persön-
                                                                                  lichkeitsstörung sind die deutlichen, dauerhaft abweichen-
Bei Julian zeigen sich sowohl die prodromale Entwicklung                          den inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster bezogen
mit unspezifischen Symptomen seit dem 14.Lebensjahr und                           auf Kognitionen, Affekte, Beziehungen, Impulskontrolle und
schließlich seit mehr als einem Monat die Vollausprägung                          Bedürfnisbefriedigung. Kontextübergreifend dominieren
einer schizophrenen Episode: Gedankenbeeinflussung,                               unflexible Verhaltensmuster mit einer gewissen zeitlichen
akustische Halluzinationen in Form imperativer Stimmen,                           Stabilität und Dauer. Emily präsentiert heftigste emotionale
Beeinträchtigungs-/Verfolgungswahn, Derealisationserle-                           Instabilitäten, Schwarz-Weiß-Denkmuster, Instabilitäten in
ben, formale Denkstörungen (zunehmende Zerfahrenheit).                            Beziehungen sowie generell bezüglich Nähe und Distanz,
Die Symptome haben für Julian subjektive Gewissheit                               wechselnde unklare Rollen des Selbst und der Präferen-
und reale Überzeugung, sind nicht von außen korrigierbar                          zen, Neigung zu Krisen und Selbstverletzungen sowie ein
und auch nicht objektivierbar. Die Teilhabebeeinträchti-                          chronisches Gefühl der Leere.
gung ist eklatant und betrifft alle Lebensbereiche. Die
Entwicklungsaufgaben des Lernerfolgs, der Autonomie,
Identitätsentwicklung und sozialen Rollenfindung in der
Gleichaltrigengruppe sind massiv in der Bewältigung be-
einträchtigt.

                                                 F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t   ajs-informationen   13
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung?

                      Was sind hilfreiche Strategien im                                                                                                 Literatur
                      Umgang mit psychischen Störungen?
                                                                                                                                                        Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho-
                   „Früherkennung und Frühintervention“ sind zentrale Stra-                                                                             therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DG-
                   tegien verbunden mit einem Handeln in regionalen Netz-                                                                               PPN (2018): Dossier Psychische Erkrankungen in
                                                                                                                                                        Deutschland: Schwerpunkt Versorgung. Berlin.
                   werken und digitaler Wissensnutzung. In einem ersten
                   Schritt sollten sich Betroffene ihren Bezugs- und Vertrau-                                                                           Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation
                   enspersonen öffnen. Beobachtende Personen der Umge-                                                                                  und Information (DIMDI). ICD-10-GM Version 2018.
                   bung, Eltern wie Freunde oder Lehrer wie auch Erzieher,
                                                                                                                                                        Fegert H.-J., Eggers, Resch F. (2012): Psychiatrie und
                   können durch ein sicheres Beziehungsangebot Vertrauen
                                                                                                                                                        Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters.
                   schaffen, um dem Betroffenen zu signalisieren, wir hören                                                                             2. Auf­lage. Springer, Heidelberg.
                   Dir zu, wir nehmen dich ernst und wir besprechen transpa-
                   rent die nächsten Schritte der Inanspruchnahme professio-                                                                            Klipker et al. (2018): Psychische Auffälligkeiten bei
                                               neller Hilfe. Seriöses Basiswis-                                                                         Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Journal
                                                                                                                                                        of Health Monitoring. Robert-Koch-Institut, Berlin.
                                               sen über psychische Störungen
        Biografische und entwicklungs­­ kann im Internet beispielsweise                                                                                 Nissen G. (2005): Kulturgeschichte seelischer Störungen
        anam­nestische Daten ergänzen über Seiten der Berufsverbände                                                                                    bei Kindern und Jugendlichen.Klett-Cotta, Stuttgart.

        und formen kriteriengeleitet ein der Kinder- und Jugendpsychia-                                                                                 Nützel J. et al. (2005): Kinder – und jugendpsychiatri-
                                               trie, -psychotherapie (Deutsche
                  Bild des psychischen                                                                                                                  sche Versorgung von psychisch belasteten Heimkindern.
                                               Gesellschaft für Kinder- und Ju-                                                                         In: Prax.Kinderpsychol.Kinderpsychiat., 54, S.627-644.
         Geschehens, um „normal“ von
                                               gendpsychiatrie, Psychosoma-
            „krank“ beim Individuum zu tik und Psychotherapie (DGKJP),                                                                                  Rudolf K. (2016): Der gemeinsame Blick. Ein gelungenes
                 unterscheiden und ein Berufsverband für Kinder- und                                                                                    Modell der Kooperation von Erziehungshilfen mit der
                                                                                                                                                        Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Jugendhilfe in Koope-
        Krankheitsmodell zu definieren. Jugendpsychia­trie, Psychoso-
                                                                                                                                                        ration; Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe
                                               matik und Psychotherapie in                                                                              14. EREV. Hannover.
                   Deutschland e.V. (bkjpp), BAG) oder die Bundeszentrale
                   für gesundheitliche Aufklärung (BzGA) ebenso abgerufen                                                                               Steinhausen H.-Chr. (2016): Psychische Störungen bei
                                                                                                                                                        Kindern und Jugendlichen. 8.Auflage. Urban & Fischer,
                   werden, wie Adressen regionaler Hilfen.
                                                                                                                                                        München.

                      „Normal“ oder „krank“?

                      Dem Kinder- und Jugendpsychiater stehen nun diagnos-                                                                          psychischen Geschehens, um „normal“ von „krank“ beim
                      tisch und therapeutisch differenzierte Werkzeuge zur Ver-                                                                     Individuum zu unterscheiden und ein Krankheitsmodell zu
                      fügung, um sowohl zu einer diagnostischen Einschätzung                                                                        definieren. Das therapeutische Vorgehen ist multimodal
                      als auch zur Ableitung indizierter therapeutischer Inter-                                                                     und durch eine Kombination von individuums-, familien-
                      ventionen und Settingfragen zu gelangen. Passgenaue                                                                           und umgebungszentrierter Interventionen charakterisiert.
                      individuelle Hilfen können ambulant, tagesklinisch und                                                                        So können Psychotherapie, Spezialtherapien (Ergo-, Bewe-
                      stationär erbracht werden, sodass adaptiert auf die Aus-                                                                      gungs-, Musiktherapie, Heilpädagogik), Pharmakotherapie
                      prägung der Psychopathologie die in ihrer Intensität an-                                                                      mit Elternarbeit, Jugendhilfemaßnahmen und Verände-
                      gemessene Intervention wirken kann.                                                                                           rungsimpulse im Kontext Kindergarten/Schule/Ausbildung
                                                                                                                                                    kombiniert werden.
                      Mit Hilfe von Interviews, testpsychologischen Verfahren,
                      Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen taucht der                                                                          Psychisch erkrankte junge Menschen
                      Profi in die inneren Gedanken- und Erlebenswelten seines                                                                      in der Jugendhilfe
                      Gegenübers ein. Die Erfassung, Beschreibung und Ein-
                      ordnung der Komplexität der Psyche eröffnet hierbei ein                                                                       Psychisch erkrankte junge Menschen in der Jugendhilfe
                      Verstehen. Biografische und entwicklungsanam­nestische                                                                        repräsentieren – und dies unterstreichen systematische
                      Daten ergänzen und formen kriteriengeleitet ein Bild des                                                                      Untersuchungen (u.a. Ulmer Heimkinderstudie, Nützel et

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