Seelische Gesundheit - Aktion Jugendschutz
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I 2019 A N A LY S E N I M AT E R I A L I E N I A R B E I T S H I L F E N Z U M J U G E N D S C H U T Z Seelische Gesundheit Dr. Klaus Hurrelmann Dr. med. Karsten Rudolf Soziale und psychische Belastungen „Du bist ja voll psycho...“ von Kindern und Jugendlichen Psychische Störung oder Ergebnisse der Sozialisationsforschung noch normale Entwicklung?
Impressum Inhalt Herausgeber: Präsidium der Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg Dr. Klaus Hurrelmann Seite 4 Marion v. Wartenberg, Angela Blonski Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen Wolfgang Borkenstein, Gerald Häcker, Petra Kilian Ergebnisse der Sozialisationsforschung Redaktion: Dr. med. Karsten Rudolf Seite 9 Elke Sauerteig (verantw.) „Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung Ursula Kluge oder noch normale Entwicklung? Unter Mitarbeit der Fachreferent/-innen: Interview mit Alina Welser Seite 16 Henrik Blaich, Silke Grasmann, Ute Ehrle, Seelische Gesundheit: Was bedeutet das für junge Menschen? Sabrina Maroni, Lothar Wegner Die mit Namen versehenen Beiträge geben Harald Requardt Seite 18 die Meinung der Autorin/des Autors wieder. Einen hilfreichen Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen finden Alle Rechte sind vorbehalten, Vervielfältigungen sind nur mit Genehmigung Karin Pogadl-Bakan, Judith Engel Seite 21 der Aktion Jugendschutz gestattet. Kinder und ihre psychisch kranken Eltern – offen über die Erkrankung in der Familie sprechen Konto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE75 6012 0500 0008 7018 00 Dr. sc.hum. Annette Stefini Seite 24 BIC: BFSWDE33STG Monster unterm Bett – Kinderängsten begegnen und präventiv handeln Bezugspreis: Einzelheft E 4,00, Abonnement E 7,50 jährlich inkl. MwSt. und Versand Serviceteil – Material zum Thema Seite 29 Auflage: 8.500 Medien und Materialien Seite 31 Erscheinungsweise: 2 x jährlich ISSN 0720-3551 Aus der Arbeit der ajs Seite 34 Titelbild: Kreativ plus Layout: Kreativ plus – Gesellschaft für Werbung und Kommunikation mbH Hauptstraße 28, 70563 Stuttgart www.kreativplus.com Druck: Henkel GmbH Druckerei Motorstraße 36, 70499 Stuttgart Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg Jahnstraße 12, 70597 Stuttgart-Degerloch Tel. (07 11) 2 37 37-0 Fax (07 11) 2 37 37-30 info@ajs-bw.de www.ajs-bw.de Unterstützt durch das Ministerium für Soziales und Integration aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg.
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, „Hallo – Wie geht’s?“ ist eine Pubertät, eine momentane Verstimmung, ein Grenzen Begrüßungsfloskel, auf die austesten? Oder gibt es Anlass zu ernsthafter Sorge wir meist nicht wirklich eine um die Gesundheit der jungen Psyche? Antwort erwarten. Es wäre aber wichtig zu wissen, wie Die Beiträge in diesem Heft versuchen, auf diese Fragen es den uns anvertrauten Kin- Antworten zu finden und Impulse für den beruflichen dern und Jugendlichen geht, Alltag zu geben. Prof. Dr. Klaus Hurrelmann beschreibt ob sie sich gut fühlen, ange- in seinem Artikel die „Sozialen und psychischen Be- nommen und akzeptiert – auch wenn sie nicht perfekt lastungen von Kindern und Jugendlichen“ anhand der sind. Wie steht es heute um das Wohlbefinden und die Ergebnisse der Sozialisationsforschung. Dr. med. Karsten seelische Gesundheit von jungen Menschen? Rudolf greift die Thematik aus dem Blickwinkel des Kinder- und Jugendpsychiaters unter dem Titel „‘Du Im letzten Jahrhundert entwickelte sich unübersehbar bist ja voll psycho…‘ Psychische Störung oder noch das Phänomen der „neuen Morbidität“, also eine Ver- normale Entwicklung?“ auf. schiebung von den akuten körperlichen Infektionskrank- heiten hin zu chronischen, somatischen, psychosoma- Aus der Praxis heraus werden vielfältige Ansätze vor- tischen und psychischen Störungen und Krankheiten. gestellt, wie Ängsten, Traumata, Stresserfahrungen von Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens nehmen bei Kindern und Jugendlichen im Alltag begegnet werden Kindern und Jugendlichen stetig zu. Sie beeinträchtigen kann und junge Menschen so unterstützt werden können, erheblich ihren Alltag in der Familie, in den Beziehungen schwierige Entwicklungsphasen zu bewältigen und eine zu Gleichaltrigen und in der Schule. gesunde Psyche zu entwickeln. Karin Pogadl-Bakan (Ca- ritasverband Stuttgart) und Judith Engel (Evangelische Studien wie BELLA im Kinder- und Jugendgesundheits- Gesellschaft Stuttgart) beschreiben Möglichkeiten, wie survey (KiGGS) bringen alarmierende Ergebnisse hervor: Kinder und ihre psychisch kranken Eltern unterstützt n Den Daten aus KiGGS Welle 2 zufolge sind 16,9 Pro- werden können. Der Beitrag von Harald Requardt (Villa zent der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen Lindenfels, Institut für systemische Therapie und Trau- in Deutschland von psychischen Auffälligkeiten be- matherapie) informiert, wie ein hilfreicher Umgang mit troffen. traumatisierten Kindern und Jugendlichen gefunden n Externalisierende Verhaltensstörungen wie Hyper- werden kann. In ihrem Artikel „Monster unterm Bett“ aktivität, Aggression und Aufmerksamkeitsstörung beschreibt Dr. Annette Stefini (Uniklinik Heidelberg) haben eine negative Auswirkung auf die Entwicklung Möglichkeiten, Kinderängste zu erkennen und damit von Kindern und Jugendlichen. umzugehen. n Emotionale Störungen ab dem Jugendalter haben ein hohes Risiko der Chronifizierung und damit eine ungüns- Wir hoffen, dass Sie in diesem Heft viele Impulse für tige Prognose für den weiteren Entwicklungsverlauf. Ihre Arbeit finden und wünschen eine anregende Lektüre. Pädagogische Fachkräfte aus Jugendhilfe, Schulsozi- alarbeit und Schule fragen sich oft, wie es denn geht, Kinder und Jugendliche in ihrer psychischen Entwicklung Ute Ehrle gut zu begleiten und zu unterstützen. Ist das auffällige Fachreferentin für Gesundheitsförderung Verhalten nur ein „schlecht drauf sein“, eine Laune der und Suchtprävention F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 3
D r. K l a u s H u r r e l m a n n Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen Ergebnisse der Sozialisationsforschung I n den letzten 20 Jahren zeichnet sich quer durch die medizinischen, psychologischen und pädagogischen Disziplinen eine übereinstimmende Verwendung der Begriffe Gesundheit und Krankheit ab. Sie folgt der Vorstellung der Weltgesundheitsorganisation von 1945, wonach sich jeder Mensch während seines ganzen Lebens auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit befindet und diese beiden Entitäten keine sich ausschließenden Zustände sind. Das gesundheitspolitische, pädagogische und therapeutische Ziel ist es, Menschen in allen Altersgrup- pen und allen Lebenslagen sowohl im körperlichen als auch im psychischen und sozialen Bereich soweit und solange wie möglich am Pol der Gesundheit zu halten und zu vermeiden, dass sie in einem oder in allen dieser Bereiche zum Pol Krankheit abrutschen. Gesundheit wird in dieser Vorstellung, die aus den moder- der Verarbeitung der inneren Realität von körperlichen nen salutogenetisch orientierten Gesundheitswissenschaf- und psychischen als auch der äußeren Realität von so ten stammt, als ein gelingendes Gleichgewicht verstanden. zialen und physischen Umweltanforderungen. Der Prozess Gesundheit ist dann gegeben, wenn eine Person die funda- der Auseinandersetzung mit der inneren und der äußeren mentalen Regelkreise von Körper, Psyche, sozialer Umwelt Realität wird von seinem Charakter her als „produktiv“ und ökologischer Lebenswelt in Übereinstimmung mitein- konzipiert: Es handelt sich hierbei nicht um eine passive ander bringen kann. Dann befinden sich die psychischen Informationsverarbeitung, sondern um eine aktive und und physischen Ressourcen, die weitgehend genetisch prozesshafte Tätigkeit. Sozialisation ist demnach die stän- angelegt sind, in Einklang mit den äußeren Lebensbedin- dige „Arbeit“ an der eigenen Persönlichkeit. Beeinträch- gungen, die gesellschaftlich bestimmt sind. Gesundheit tigungen und Störungen der Persönlichkeitsentwicklung ist eingeschränkt, wenn sich in einem oder in mehreren sind in der Regel auf Defizite der Realitätsverarbeitung dieser Regelkreise Anforderungen ergeben, die von der zurückzuführen (Hurrelmann und Bauer 2018). Person nicht erfüllt werden können. Folgen wir diesem interdisziplinären Ansatz, ist Gesund- Die sozialpsychologisch orientierte heit der „Zustand des Wohlbefindens einer Person, der Sozialisationstheorie gegeben ist, wenn diese Person sich psychisch und sozial in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen Die sozialpsychologisch orientierte Sozialisationstheorie, und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen die salutogenetische Ansätze aufgenommen hat, definiert befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein an- die gesunde Persönlichkeitsentwicklung im Sinne eines genehmes und durchaus nicht selbstverständliches Gleich- lebenslang anhaltenden, dynamischen Prozesses sowohl gewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu 4 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut in Störungen des Gleichgewichtes von Frage gestellt ist. Gelingt das Gleichgewicht, dann kann Risikofaktoren und Schutzfaktoren bei dem Leben Freude und Sinn abgewonnen werden; es ist Kindern und Jugendlichen eine produktive Entfaltung der eigenen Kompetenzen und Leistungspotenziale möglich und es steigt die Bereitschaft, Legen wir aber den dynamischen Begriff von Gesund- sich gesellschaftlich zu integrieren und zu engagieren“ heit und Krankheit an, dann ändert sich das Bild. Dann (Hurrelmann und Richter 2013, S. 147). Krankheit ist da- kommen zu diesen fünf Prozent bestimmt noch einmal nach das Stadium des Ungleichgewichtes von Risiko- und 10 bis 15 Prozent der Angehörigen der jungen Genera- Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine tion dazu, bei denen schwere Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen Gesundheitsstörungen identi- nicht gelingt – entsprechend einem Stadium, das eine Be- fiziert werden müssen. Diese Sozialisation ist die ständige einträchtigung des Wohlbefindens und der Lebensfreude nehmen ihren Ausgangspunkt „Arbeit“ an der eigenen eines Menschen mit sich bringt. bei einer Störung des Gleich- Persönlichkeit. Beeinträch gewichtes von Risikofaktoren tigungen und Störungen der So modern uns diese Definitionen erscheinen, sie haben und Schutzfaktoren, die eintritt, Persönlichkeitsentwicklung ihre geschichtlichen Vorläufer. So hat etwa der Hofarzt wenn einem Kind oder Jugend- Dr. Bernhard Christoph Faust in seinem „Gesundheits- lichen eine Bewältigung sowohl sind in der Regel auf Defizite Katechismus zum Gebrauche in den Schulen und beym der inneren körperlichen und der Realitätsverarbeitung häuslichen Unterrichte“ schon 1794 die Schülerinnen und psychischen als auch der äu- zurückzuführen. Schüler auf die Frage „Was versteht man unter gesund ßeren sozialen und physischen sein?“ antworten lassen: „… dass der Körper, ohne Fehler Realität nicht gelingt. Durch gesellschaftliche Verände und Schmerzen, alle seine Verrichtungen frei und leicht rungen in den Bereichen Mobilität, Technik, Medien, Nah- ausübe und der Seele zu Gebot stehe. Der Gesunde fühlt rungsproduktion, Wohnen, durch veränderte Familien-, sich stark, voll Leben und Kraft, es schmeckt ihm Essen Leistungs- und Klimaanforderungen kommt es heute zu und Trinken, er kann Wind und Wetter ertragen, die Be- Fehlsteuerungen beim Ausgleich der Regelkreise von wegung oder die Arbeit wird ihm nicht sauer, und es ist Körper, Psyche, sozialer und ökologischer Umwelt. Diese ihm gar wohl“ (Faust 1794, S. 9). Fehlsteuerungen haben sicher auch in früheren histori- schen Epochen existiert, aber sie fallen uns heute unter Der Hofarzt Dr. Faust war also der modernen Definition veränderten gesellschaftlichen und zivilisatorischen Be- von Gesundheit schon vor 200 Jahren auf der Spur. Heute dingungen besonders auf. endlich legen wir sie an. Was kommt dabei heraus, wie ist nach den internationalen epidemiologischen Untersuchun- Vier solcher Fehlsteuerungen halte ich für besonders be- gen der Stand von Gesundheit und Krankheit der Kinder einträchtigend für die Herstellung der Balance von Risiko- und Jugendlichen in den hoch entwickelten Ländern wie und Schutzfaktoren: Deutschland einzuschätzen? Auf den ersten Blick positiv, denn die klassischen Infektionskrankheiten sind seit ei- 1. Die Fehlsteuerung von Ernährungs- und nem halben Jahrhundert stark zurückgegangen. An die Bewegungsverhalten Stelle von akuten Krankheiten, die in den weniger hoch Obwohl heute ein weitaus reichhaltigeres und qua- entwickelten Ländern immer noch die häufigste Todesur- litativ besseres Angebot an Nahrungsmitteln als in sache bilden, sind allerdings die chronischen Krankheiten früheren historischen Epochen zur Verfügung steht, getreten. Berücksichtigen wir alle krankheitsförmigen Aus- kommt es bei einem wachsenden Anteil der Kinder prägungen von Stoffwechselkrankheiten und Herz- und zu einer Ernährung, durch die der Organismus nicht Kreislaufkrankheiten, rechnen wir alle Krebskrankheiten, gefördert und die Anforderungen an den Körperrhyth- Epilepsie, Rheuma und Diabetes mit ein, dann kommen mus nicht beachtet werden. Durch industriell vor- wir in den hoch entwickelten Ländern heute insgesamt auf gefertigte Nahrungsmittel, die zu jeder Tages- und eine Verbreitung von etwa fünf Prozent körperlich basier- Nachtzeit zur Verfügung stehen, erfahren sie einen ten, schweren chronischen Erkrankungen im Kindes- und Überschuss an Kalorien und eine unausgewogene Jugendalter pro Altersjahrgang. Zusammensetzung der Nahrungsbestandteile. Da F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 5
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung gleichzeitig wenig Anlass zu körperlicher Bewegung 4. Fehlsteuerungen des psychischen und besteht, können sich hieraus problematische Fehlregu- sozialen Bewältigungsverhaltens lationen des Körpergewichtes ergeben. Die Fehlsteu- Viele Kinder und Jugendliche leben heute in familiä erungen des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens +ren Welten, in denen sie nicht gelernt haben, mit können deshalb das Einfallstor für chronische Krank- Anspannungen, Konflikten und Versagungen umzuge- heiten wie Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und hen. Schon bei Formen von mittelstarken Herausforde- Adipositas sein. rungen reagieren sie mit Problemverhalten, mit nach innen gerichteten Ängsten und Depressionen und mit 2. Fehlsteuerungen des Immunsystems Erschöpfungs- und Stresszuständen oder mit nach au- Sie sind gewissermaßen an die Stelle der infektiösen ßen gerichtetem aggressivem und gewaltgeladenem Krankheiten getreten. Diese sind dank eines hohen Entlastungsverhalten, oder mit ausweichenden Leis- Hygienestandards und einer leistungsfähigen medizi- tungs- und Konzentrationsblockaden oder drogen- und nischen Behandlung zurückgedrängt worden, während suchtbezogenen Störungen. sich Krankheiten des allergischen Formenkreises in den letzten Jahrzehnten stark Allen diesen vier Fehlsteuerungen ist gemeinsam, dass und schnell ausgebreitet haben. wir es mit einem mangelnden Training, einer schlechten Den vier Fehlsteuerungen Der Hauptgrund: Durch das Ab- Abhärtung und einer zu geringen Widerstandsfähigkeit schirmen von einer natürlichen von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Fast alle tre- ist gemeinsam, dass Umwelt und das Wohnen in ver- ten besonders häufig bei Kindern und Jugendlichen aus wir es mit einem mangelnden siegelten Räumen ist das Ab- Familien auf, die wirtschaftlich und bildungsmäßig einen Training, einer schlechten wehrsystem vieler Kinder und niedrigen Status innehaben. Darunter sind viele mit einem Abhärtung und einer zu geringen Jugendlicher nicht widerstands- Zuwanderungshintergrund. Weil die Störungen jeweils in Widerstandsfähigkeit von fähig genug. Es ist jedenfalls den Überschneidungsbereichen der vier Regelkreise Körper, Kindern und Jugendlichen nicht so trainiert, dass es richtig Psyche, soziale und dingliche Umwelt entstehen, können zu tun haben. Fast alle treten funktioniert, sondern in vielen sie ihrem Charakter nach auch als psycho-, sozio-, und Fällen den eigenen Körper an- ökosomatische Störungen bezeichnet werden. besonders häufig bei Kindern greift. Hier liegen die Einfalls- und Jugendlichen aus Familien tore verschiedenster Allergien Welche Herausforderungen ergeben auf, die wirtschaftlich und bis hin zu solchen gefährlichen sich aus dieser Bestandsaufnahme bildungsmäßig einen niedrigen Krankheitsbildern wie Asthma für Pädagogik und Pädiatrie sowie für Status innehaben. und Neurodermitis. Prävention und Therapie? 3. Fehlsteuerungen der Sinneskoordination Strategien der Krankheitsprävention sollten auf einem Sie sind ebenso auf die heute vorherrschende sitzende gemeinsamen Nenner für die biologisch, psychologisch, Beschäftigung in Schule, Ausbildung und Freizeit wie ökologisch und soziologisch verankerten Störungsbilder der auf die intensive und zeitlich ausgedehnte Nutzung Gesundheit aufbauen. Statt sich spezifisch auf die einzelnen von elektronischen Medien zurückzuführen. Hierdurch symptombezogenen Störungen zu beziehen, sollten sie all- kommt es zu einer einseitigen Stimulierung des Hör- gemein auf das Defizit der Bewältigung der alterstypischen sinns und des Sehsinns, während andere Sinne wie Entwicklungsaufgaben im körperlichen, psychischen und Riechen, Fühlen und Tasten, Atmen und Sprechen ver- sozialen Bereich und der damit einhergehenden Störungen nachlässigt werden. Wie bei der Ernährung müssen wir der Realitätsverarbeitung abstellen. Mit anderen Worten: eine unausgewogene Sinneskost beklagen. Die Folgen Sie sollten Kinder und Jugendliche darin unterstützen, die zeigen sich in mangelnden Verschaltungen der Zentren täglichen Herausforderungen in der Auseinandersetzung im Gehirn, was wiederum eine Beeinträchtigung der mit ihren Lebensanforderungen zu bewältigen. Motorik zur Folge hat. Auch Verhaltens- und Sprachstö- rungen können hier ihren Ausgangspunkt nehmen, die Knüpfen wir an die vier Fehlsteuerungen und Regulations- Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssymptome störungen an, ergibt sich die Notwendigkeit, mit der päda- ebenso wie viele der Teilleistungsstörungen. gogischen Prävention vor allem auf Bewegungsförderung, 6 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung Ernährungsförderung, Bewältigungsförderung, Sinnesför- eigenen Körperkräfte zu entwickeln. Die dritte Kompo- derung und Förderung der Widerstandsfähigkeit zu zielen. nente stellt auf das Zusammenwirken von „Hirn, Herz und Vorbeugende Strategien, die in diesen Bereichen ansetzen, Hand“ ab und setzt auf die sinnhafte Erfahrung, die eine sprechen die meisten Probleme an, die als Einfallstor für intensivere Prägekraft als jede Information und Aufklärung Krankheiten identifiziert wurden. Viele Strategien können allein hat. Und die vierte Komponente, der „Dienst am dabei in der Bewegungsförderung ihren Ausgangspunkt Nächsten“, schult die soziale Verantwortlichkeit und das nehmen, weil von ihr aus alle anderen vorbeugenden Stra- unmittelbare Erleben von Unterstützung und Hilfe, indem tegien aufgerollt werden können. die Erfahrung gesammelt wird, dass andere Menschen auf einen angewiesen sein können, z.B. in Notfällen und Völlig neu ist diese Erkenntnis nicht. Schon der Hofarzt bei Krankheiten. Dr. Faust hatte vor 200 Jahren einen ganz ähnlichen An- satz: „Die körperliche Bewegung, besonders in freier Luft, Veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen, so zeigt bewirkt Hunger und Durst, sie hilft Essen und Trinken ver- diese Analyse, verlangen auch nach veränderten päda dauen, sie erhält das Blut und den Körper, die Eingeweide gogischen Antworten, aber völlig neu brauchen diese und das Mark in den Beinen gesund, sie gibt Ruhe und einen nicht entwickelt zu werden. Es reicht, alte Erkenntnisse sanften Schlaf und die körperliche Arbeit ist es, die dem neu zu justieren. Ich denke, das gilt ebenso für therapeu- Menschen blühende Gesundheit und langes Leben, die ihm tische Strategien im psychischen, psychiatrischen, pä Friede und Wohlsein schenkt“ (Faust 1794, S. 215). Schon diatrischen und medizinischen Dr. Faust hatte erkannt, Bewegung ist ein Katalysator für Sektor. Ähnlich wie bei den pä- innerkörperliche Prozesse, die den gesamten Stoffwech- dagogischen müssen sie nicht Veränderte gesellschaftliche sel und die Muskeltätigkeit beeinflussen und auch die wirklich neu erfunden werden, Lebensbedingungen verlangen Wahrnehmung des Körpers und der Psyche mit umfassen. sondern können an altbewährte auch nach veränderten päda anschließen: gogischen Antworten, aber Wir brauchen also neue pädagogische Ansätze, aber sie völlig neu brauchen diese können sich auf alte Ansätze berufen. Auch auf die über Erstens sollten therapeutische einhundert Jahre nach Dr. Faust entwickelte „Pädagogik Strategien jeglicher Ausrich- nicht entwickelt zu werden. des Erlebens“ von Kurt Hahn. Es ist schon frappierend, wie tung interdisziplinär orientiert Es reicht, alte Erkenntnisse der große Pädagoge Kurt Hahn im Jahr 1924 den „Verfall und institutionell eingebettet neu zu justieren. der körperlichen Tüchtigkeit“ und die „fehlende Selbstini sein. Zweitens sollte ihr Dreh- tiative bei zu viel Konsumhaltung und Zuschauermenta und Angelpunkt in der Stärkung der Selbststeuerungsfä- lität“, den „Verfall der Geschicklichkeit und Sorgfalt“ und higkeit der Kinder und Jugendlichen als Patientinnen und die „mangelnde Fähigkeit zur menschlichen Anteilnahme“ Patienten liegen. In der Sprache der Sozialisationstheorie als kritische Ausgangsdiagnose zu Protokoll gibt. Die heu- geht es darum, die Kapazität für die produktive Verarbei- tige Bestandsaufnahme kommt zu einer Problembestim- tung der inneren und der äußeren Realität zu erhöhen oder mung, die von der damaligen nur in Nuancen abweicht. wieder herzustellen. Es geht darum, die massive Beein- Deshalb ist auch die pädagogische „Therapie“ von Kurt trächtigung der Balance von körperlichen, psychischen, Hahn heute so aktuell wie in den 1920er-Jahren. Sie be- sozialen und ökologischen Regelkreisen auszugleichen, das steht aus den vier Komponenten „körperliches Training“, Bewältigungsverhalten in allen diesen Bereichen wieder „Expedition in unbekanntes Terrain“, „gemeinsam hand- zu aktivieren. Drittens sollten Kinder und Jugendliche als werklich, künstlerisch, technisch und geistig arbeiten“ und Patienten so weit wie möglich selbst an der Bewältigung „Dienst am Nächsten“. ihrer Lebensanforderungen und ganz konkret an der Aus- einandersetzung mit ihrer Krankheit beteiligt werden. Die Der erste Aspekt nimmt die Erkenntnis vom Hofarzt Dr. Faust betreuenden Therapeutinnen und Therapeuten sollten die auf und berücksichtigt Bewegung als Katalysator für die Rolle von Experten einnehmen, die Beratung und Informa- Selbststeuerung und die Koordination der vier Regelkrei- tionsangebote vermitteln, aber die geeignete Therapie ge- se. Der zweite Aspekt schult Herausforderungen und den meinsam mit dem Kind oder dem Jugendlichen abstimmen. Mut, sich mit neuartigen Situationen auseinanderzuset- Im Ergebnis sollte es sich um eine „Vereinbarung“ zwischen zen, die eigenen Grenzen zu erfahren und Vertrauen in die Therapeut und Patient handeln, wobei selbstverständlich F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 7
Soziale und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen – Ergebnisse der Sozialisationsforschung auf die jeweilige körperliche, psychische, emotionale und intellektuelle Entwicklungsstufe von Kindern und Jugend- Literatur lichen eingegangen werden muss. Faust, B. C. (1794): Gesundheitskatechismus zum Gebrauche in den Schulen und beim häuslichen Die wirklichen Experten für Körper Unterrichte. Bückeburg: Kummer. und Psyche sowie für soziale und Hahn, K. (1924/1998): Reform mit Augenmaß. physische Umwelt sind die Kinder und Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Jugendlichen selbst M. Knoll. Stuttgart: Klett Cotta. Eines ist bei jeder Therapie von chronischen Krankheiten Hurrelmann, K. und Bauer, U. (2018): Einführung wichtig: Die wirklichen Experten für Körper und Psyche so- in die Sozialisationstheorie. Weinheim: Beltz. 12. Auflage. wie für soziale und physische Umwelt sind die Kinder und Jugendlichen selbst. Ein Therapeut kann versuchen, sich in Hurrelmann, K. und Richter, M. (2013): Gesundheits- die Rolle des jungen Klienten zu vertiefen, um mitzuden- und Medizinsoziologie. Weinheim: Beltz Juventa. ken und einfühlsam den Bera- 8. Auflage. tungs- und Behandlungsprozess Es sollten sehr viel stärker zu steuern. Aber die eigentliche viel stärker als bisher auch die pädiatrischen Angebote in als bisher die pädiatrischen Entscheidung darüber, welche die pädagogischen Institutionen hinein verlagern, in de- Angebote in die pädagogischen Verhaltensweise der Krank- nen sich Kinder und Jugendliche ohnehin aufhalten. In der heitsbewältigung realistisch ist Sprache der Weltgesundheitsorganisation sind das die in Institutionen hinein verlagert oder nicht, wie die Fehlsteue- ein Setting eingebundenen Angebote: Medizinische und werden, in denen sich Kinder rungen in den Regelkreisen zu psychologisch therapeutische Leistungen in Kinderkrippen, und Jugendliche ohnehin beseitigen sind, die kann nur in Kindergärten, Horten, Grundschulen und weiterführenden aufhalten. In der Sprache der Abstimmung und Übereinstim- Schulen, in Arbeitsteilung mit Pädagogen, Sozialarbeitern, Weltgesundheitsorganisationen mung mit dem kindlichen oder Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegekräften und sind das die in ein Setting jugendlichen Patienten getrof- Seelsorgern. Die gleichberechtigte Kooperation dieser eingebundenen Angebote. fen werden. Berufsgruppen ist entscheidend, denn die Gesundheits- störungen und Krankheiten, die wir heute bei Kindern und Brauchen wir also angesichts der veränderten gesell- Jugendlichen identifizieren, lassen sich nur in ganz seltenen schaftlichen Bedingungen und der neuartigen Störungs- Fällen mit einer einzigen professionellen Zugangsweise und Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen neue zurückdrängen. Wirklich effizient sind wir dann, wenn je pädagogische und pädiatrische Antworten? Ja, aber sie nach Ausgangslage und Fall die verschiedenen Berufs sollten unbedingt an bisherige Strategien anknüpfen, die gruppen kooperieren. Das ist die eigentlich neue Antwort sich bereits bewährt haben. So dringlich wie noch nie er- auf die – wie die Analyse gezeigt hat – gar nicht wirklich scheint die Abstimmung der pädagogisch-präventiven mit so neuen Gesundheitsstörungen und Krankheiten. den therapeutisch-kurativen Strategien und umgekehrt. Um diese Abstimmung zu erreichen, sollten wir noch sehr Der Hofarzt Dr. Faust hat für alle professionellen Fach kräfte, die sich in dieser Weise um Kinder und Jugendliche bemühen, den entscheidenden Anreiz formuliert: „Wenn Ihr es richtig tut, so werden die künftigen Geschlechter ihre Gesundheit und Glückseligkeit zum großen Teil Euch zu danken haben, und der Gott, der da will, dass alle Men- Der Autor schen durch Erkenntnis der Wahrheit an Seele und Leib geholfen werde, und der nichts unbelohnt lässt, wird es Professor Dr. Klaus Hurrelmann Euch belohnen in Zeit und Ewigkeit“ (Faust 1794, S. 11). Public Health and Education, Hertie School of Governance Berlin 8 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
D r. m e d . K a r s t e n R u d o l f „Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? P sychische Störungen stellen eine gesellschaftliche Realität dar: In Deutschland gehen wir von rund 17 Prozent erkrankter Kinder und Jugendlicher bzw. 28 Prozent betroffener Erwach- sener aus. Federführend sind hierbei Angst- und depressive Störungen sowie Alkohol-/Medikamen- tenkonsumstörungen. Rund die Hälfte aller psychischen Störungen beginnen ab dem 14. Lebensjahr. „Du bist ja voll psycho...!“ – In diesem Ausspruch eines und Ausgrenzung, Distanz und Vernachlässigung. In den Jugendlichen gegenüber einem anderen auf einem Schul- Krankheitsmodellen wurden sich ablösend religiöse, bio- hof irgendwo in Deutschland steckt so vieles drinnen. Ju- logische und soziale Ursachen beschrieben. gendlicher Überschwang und Übertreibung, Expression und Provokation, Scherz und Ernst, aber auch Diskriminierung, Die frühesten Aufzeichnun- Ausgrenzung und Stigmatisierung. gen, noch sehr vage, datieren Psychische Erkrankungen oder bis in die Jungsteinzeit etwa in der WHO-Sprechweise Psychische Erkrankungen oder in der WHO-Sprechweise 11.500 v. Chr. Dämonen galten „Psychische Störungen“ sind „Psychische Störungen“ sind keine Phänomene der Neuzeit, zu dieser Zeit als ausschlagge- keine Phänomene der Neuzeit, keine Erfindungen der Psychiatrie und keine „Seuchen“ der bend für die Krankheit. Auch keine Erfindungen der Psy Industrienationen. Durch internationale Forschung wissen in den Hochkulturen, wie z.B. wir sehr genau, dass psychische Störungen weltweit ver- in Ägypten oder Mesopota- chiatrie und keine „Seuchen“ breitet und häufig sind, den Betroffenen und sein Umfeld mien, waren strafende Götter der Industrienationen. Durch in seiner Teilhabe und Lebensqualität beeinträchtigen und kausal. Erstmals sprach man internationale Forschung wissen immer noch mit einer Stigmatisierung belegt werden. Wir in dieser Zeit von „Geistesstö- wir sehr genau, dass psychische wissen aber auch: Die Menschheitsgeschichte war stets rungen“ und man begann mit Störungen weltweit verbreitet begleitet von Krankheiten, so auch die Psyche betreffend. Aufzeichnungen. Auf diesen und häufig sind. Erkenntnissen aufbauend wur- Die Historie psychischer Krankheiten den im Alten Griechenland und Römischen Reich, voran- getrieben durch Hippokrates, einzelne Geistesstörungen Die Historie psychischer Krankheiten ist geprägt durch schon sehr detailliert beschrieben: Depression, Manie, das Menschenbild und die Gesellschaft, Krankheitsmo- Wahn u.a.m. Hippokrates beschrieb nun ein Krankheits- dell-Vorstellungen und dem Selbstverständnis der Pro- modell, das das Gehirn in den Mittelpunkt des Krankheits- fessionen in den jeweiligen Epochen. geschehens rückte und natürliche Ursachen definierte. Zudem entwickelten sich erste „Therapien“, um den Be- In einem Bogen von der Jungsteinzeit bis in die Mo- troffenen in einer Zugewandtheit zu helfen: Gespräche, derne wird deutlich, dass die wechselvolle Geschich- Aktivierung, Förderung des Schlafs und Medikamente aus te stets pendelte zwischen Neugier, Erforschung, Nähe dem Pflanzenreich. F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 9
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? In den nun folgenden 1.000 Jahren etablierte sich eine konzipierte wegweisend und mustergültig die Verbesse- Parallelwelt: Europa unter dem dominierenden Einfluss rung der Versorgung. der Kirche und die Welt des Islamischen Reichs. In Europa wurden psychisch erkrankte Menschen als „Irre“ tituliert Moderne Psychiatrie kann heute auf einem breiten Wis- und ausgegrenzt („Irrenkolonien“) oder gar als Hexen ver- sensfundament diagnostisch und therapeutisch, präventiv brannt. Modellvorstellungen waren geprägt von Dämo- und rehabilitativ, qualitativ hochwertig sowie differenziert nenglauben und Teufelsbesessenheit. Das „alte Wissen“ Menschen mit psychischen Störungen versorgen. Fundierte wurde exklusiv in den Klöstern beherbergt, Forschung oder Forschung zu den einzelnen Störungsbildern bezüglich Ri- gar Therapie fanden nicht statt. Im Herrschaftsgebiet des siko- und Schutzfaktoren, biologischen Abläufen auf Zell Islam hingegen wurden erste Krankenhäuser speziell für ebene, Genetik, Störungsverläufen und Prognosen sowie psychisch Kranke konzipiert und gebaut, so 981 n.Chr. in Wirksamkeit von Interventionen schafft Grundlagen für qua- Bagdad, sowie wichtige Lehr- litativ hohes und dem Einzelnen angemessenes Arbeiten. bücher veröffentlicht. „Geistes- Moderne Entwicklungen diverser Psychotherapieformen, Moderne Psychiatrie kann heute gestörte sind Gottesgesandte“ pharmakotherapeutischer Optionen sowie differenzierter auf einem breiten Wissens so lautete die Beschreibung der Diagnostikinstrumente ermöglichen eine gute Ausstattung fundament diagnostisch und Betroffenen. des „Werkzeugkoffers“ der Profis. Klassifikationssysteme und Leitlinien repräsentieren Navigationsinstrumente und therapeutisch, präventiv Erst Ende des 19.Jahrhunderts Leitplanken des professionellen Handelns. und rehabilitativ, qualitativ vollzog sich der klare Paradig- hochwertig sowie differenziert menwechsel: Religiöse Modell- Gemeindenahe, niedrigschwellige Versorgungsmöglich Menschen mit psychischen vorstellungen wurden nun von keiten sowie Konzepte der Autonomie, Partizipation, Selbst- Störungen versorgen. somatischen, biologischen Er- hilfe, Angehörigenarbeit, Empowerment und Recovery klärungen abgelöst und in einer unter Würdigung der rechtlichen Rahmenbedingungen späten Renaissance hippokratischen Wissens das Gehirn (Menschen-, Kinder-, Behindertenrechte: UN-Konven als betroffenes relevantes Organ anatomisch systematisch tionen; Patientenrechte) schaffen heute individualisierte untersucht. Die Versorgungssituation für psychisch kranke menschenwürdige Bedingungen in einer vielfältigen Un- Menschen blieb jedoch bis in die Zeit nach dem Zweiten terstützung der Betroffenen. Weltkrieg schlecht. Schwer erkrankte Menschen, wie z.B. Schizophrene oder Maniker, wurden oft jahrelang in An- Neue Phänomene fordern uns heraus stalten unter mangelhaften Umständen mehr verwahrt als behandelt. Reformpsychiatrische Ansätze fanden noch Die beschriebene progressive Moderne offeriert jedoch keine Verbreitung, die Weltkriege bedeuteten heftigste im Rahmen der vielfältigen gesellschaftlichen Verände- Zäsuren und die Ära des Nationalsozialismus vollzog die rungen auch die Kehrseite der Medaille: Ökonomisierung, systematische Verfolgung und Tötung von Betroffenen. Bürokratisierung, Fachkräfte- und Qualifizierungsmangel sowie Persistenz der Stigmatisierung. Die Vertreter der Antipsychiatrie im Rahmen der 68er- Bewegung favorisierten Therapiemodelle abseits der In Neue Phänomene fordern uns heraus, so die Digitalisierung stitutionen und Psychiatrie; sehr viel stärker definierten sie unseres Lebens im gesellschaftlichen Diskurs zwischen gesellschaftliche Faktoren statt biologischer als Ursachen Nutzen und Schaden. Konsekutive „neue Morbiditäten“, der psychischen Veränderungen. wie z.B. die „Internet-Sucht“, das Neuroenhancement (Hirndoping) oder allmähliche Grenzverschiebungen, wie Fundierte Forschung zu den einzelnen das weit verbreitete Doping im Breitensport, erfordern In- Störungsbildern strumente, um zwischen krank und gesund bzw. tolerabel und behandlungsbedürftig zu differenzieren. Quasi in einer Synthese wurde in den Folgejahren das Bio-Psycho-Soziale Krankheitsmodell als Grundlage aller Die kritische Würdigung neuer Klassifikationen (DSM 5 der psychischen Störungen entwickelt, das bis heute seine US-amerikanischen Psychiater oder das kommende ICD-11 Gültigkeit bewahrt. Die Psychiatrie-Enquête-Kommission der WHO) mahnen, nicht zu voreilig und zu niedrigschwellig 10 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? Befindlichkeitsstörungen oder angemessene Reaktionen sorgt für eine einheitliche Benennung der einzelnen Stö- auf Lebensereignisse als Psychische Störungen zu eti- rungsbilder und schreibt im Sinne der Kodierungsrichtlinie kettieren. Auch jüngste Entwürfe zu Gesetzesnovellen in störungsspezifische Kriterienlisten vor. Somit kann über die demokratischen Gesellschaften (Bayerisches Psychiatrie- Qualität, Quantität, zeitliche Dimension, Erkrankungsalter, gesetz) zeugen davon, dass psychisch erkrankte Betroffene Kombination und Graduierung der psychopathologischen immer noch zu voreilig als gefährlich eingestuft werden. Symptome eine Diagnose vergeben werden oder auch nicht. Wie definieren wir nun eine Psychische Krankheiten differenzieren die „psychische Störung“? kognitive, emotionale und Verhaltensebene Grundsätzlich begleitet jeden Menschen sein Leben lang Krankheit repräsentiert grundsätzlich ein komplexes Ge- ein Wechsel von Gesundheit und Krankheit in meistens schehen und spielt sich in der somatischen, psychischen fließenden Übergängen und fluktuierenden Dynamiken und geistigen Dimension ab. Psychische Krankheiten dif der Symptomatik. Ebenso verläuft es bei psychischen Stö- ferenzieren die kognitive, emotionale und Verhaltensebene. rungen: häufig einige Zeit mit unspezifischen Symptomen In der Betrachtung psychischer als Vorlauf („Prodrom“), wie z.B. Konzentrationsprobleme, Störungen des Kindes- und Ju- Schlafstörungen, Stimmungslabilitäten, die dann im Wei- gendalters müssen zudem Ent- Die Weltgesundheitsorganisation teren kombiniert, andauernd und beeinträchtigend durch wicklungs- und systemische Re- WHO definiert eine psychische/ mehrere Symptome im Leben des Betroffenen auftreten alitäten erfasst werden. seelische Störung als ein und seinen Alltag und die Lebensqualität bestimmen. Zustandsbild, das durch Das Kind und der Jugendliche krankheitswertige Verän Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert: „Eine bewegen sich in multiplen Kon- psychische/seelische Störung ist ein Zustandsbild, das texten (Familie, Umfeld, Um- derungen des Erlebens und durch krankheitswertige Veränderungen des Erlebens und welt), treten dort in spezifische Verhaltens gekennzeichnet ist. Verhaltens gekennzeichnet ist.“ Typisch sind laut WHO Interaktionen und werden mit Abweichungen der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens diversen Strukturen sowie Herausforderungen konfrontiert, oder auch des Selbstbildes. Eine psychische Störung ist aber auch in Wechselwirkung von Risiko- und Schutzfak- zudem geprägt von subjektivem Leidensdruck, Minderung toren geprägt. Dies gilt es in diagnostischen Prozessen der Lebensqualität und in moderner Betrachtungsweise zu erfassen und in spezifische Therapieinterventionen zu auch einer erheblichen Teilhabebeeinträchtigung. transferieren. Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter füh- Entwicklung stellt einen lebenslangen, mehrdimensionalen ren zu Einschränkungen in der Alltagsbewältigung und (körperlichen, kognitiven, psychischen und sozio-emotio- zusätzlichen Belastungen in der erfolgreichen Erfüllung nalen) Prozess dar. Das Individuum ist aktiver Gestalter von Entwicklungsaufgaben. Bei Erwachsenen können Ein- seiner Entwicklung in Interaktion mit seiner Umwelt. Er- bußen in der Erziehungs- und Beziehungsfähigkeit in der kenntnisse über vulnerable Phasen der Hirnentwicklung, Elternrolle, negative Folgen in der Partnerschaft sowie in Fundamente der Bindung, Emotionsregulation und Identität beruflichen Kontexten beschrieben werden. Psychische sowie Wissen über entwicklungsphasentypische Phäno- Erkrankungen erhöhen das Risiko für körperliche Erkran- mene und Entwicklungsaufgaben bilden die Prüfmatrix kungen, z.B. Herz-/Kreislaufkrankheiten, Suizidalität und in der Bewertung psychopathologischer Symptome bzw. verkürzte Lebenserwartung. Auch sozioökonomisch sind Verhaltensauffälligkeiten im Sinne einer Krankheitswer- diese Störungen gesellschaftlich von Belang: Arbeitsun- tigkeit versus Normvariante ab. fähigkeit, Berufsunfähigkeit, Frühberentung. Eine Erklärung bietet das Bio-Psycho- Hilfreich in der Einschätzung einer Krankheitswertigkeit Soziale Krankheitsmodell ist die Nutzung der Klassifikationssysteme. In Deutsch- land ist die ICD-10 der WHO („International Classification Eine fundierte Erklärung bietet das sogenannte Bio-Psycho- of Diseases, 10.Revision“) vorgeschrieben. Dieses Werk Soziale Krankheitsmodell, das eine psychische Störung F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 11
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? als multifaktoriell darstellt. Biologische Faktoren, wie Fallbeispiele beispielsweise chromosomale oder genetische Verände- rungen, Alkoholexposition in der Schwangerschaft, Sau- Folgende Fallbeispiele beschreiben Kinder und Jugendliche erstoffmangel unter der Geburt, prägen im Wechselspiel mit psychischen Störungen, aus denen sowohl bezogen auf mit psychosozialen Faktoren die individuelle Vulnerabilität. die Symptomatik als auch die Teilhabebeeinträchtigung die Hinzutretender Stress, der sich im Zusammenspiel von Risi- Abgrenzung zu Normvarianten deutlich wird. ko- und Schutzfaktoren entwickelt, kann dann die individu- elle Schwelle zur Ausprägung Die erste Kasuistik beschreibt eine depressive Störung, einer Krankheit überschreiten. die national und weltweit zu den häufigsten Störungen Die vulnerable Phase der zählt. Bereits im Grundschulalter könne Raten von zwei Adoleszenz stellt die größte Im Kindes- und Jugendalter ist bis drei Prozent, im Jugendalter bis neun Prozent ermittelt Herausforderung in der Diagno die Einschätzung des Entwick- werden. lungsstandes in den jeweiligen sestellung in Abgrenzung zu Domänen kognitiv-körperlich- typisch adoleszentären Aus sozioemotional/psychisch und Der 8-jährige Tim berichtet, dass es ihm seit 5-6 Wochen drucksformen dar. Diese Phase die Kenntnis über die zu be- sehr schwer fällt morgens aufzustehen. Er sei müde und repräsentiert eine erhöhte Rate wältigenden Entwicklungsauf- energielos. Die Mutter müsse ihn mehrfach auffordern, Suizidalität, riskanter Verhaltens gaben zentral. So kennen wir sich für die Schule fertig zu machen. In der Schule könne weisen, Schulschwänzen und phasentypische, altersspezifi- er sich schlecht konzentrieren, er vergesse einiges und Konflikte mit Bezugspersonen. sche Angstphänomene, rege auf dem Schulhof habe er einfach keinen Spaß mehr am Fantasietätigkeiten, imaginative Fußballspielen mit seinen Kumpels. Zunehmend ziehe er Begleiter, magisches Denken, flüchtiges halluzinatorisches sich zurück, gehe nach der Schule nicht mehr raus, sitze Erleben, Trauerreaktionen, emotionale Instabilitäten, inten- einfach in seinem Zimmer und müsse oft grundlos weinen. sive gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Sinn des Auch seine Geschwister und seine Eltern helfen nicht mit Lebens oder auch kurzandauernde psychische Reaktionen ihren Aufmunterungsversuchen. Häufiger kämen nun auch auf Übergänge (Wechsel Kindergarten-Schule u.a.), ohne Gedanken an das Sterben, vielleicht wäre es besser, wenn dass wir fachlich sofort eine Diagnose mit Krankheitswert, es ihn gar nicht mehr geben würde. wie z.B. eine Angststörung, Depression, Schizophrenie oder Borderline-Störung vergeben. Insbesondere die vulnerable Phase der Adoleszenz stellt die größte Herausforderung in Tim beschreibt die typischen Symptomkonstellationen der Diagnosestellung in Abgrenzung zu typisch adoleszen- einer Depression: die depressive Stimmung, die Antriebs- tären Ausdrucksformen dar. Wie wir wissen, repräsentiert verminderung und eine Freud- bzw. Interesselosigkeit. diese Phase eine erhöhte Rate Suizidalität, riskanter Verhal- Erste gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Tod tensweisen (Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten, und Sterben, vermindertem Selbstwert und schulische Straßenverkehr, Substanz- und Medienkonsum, Delinquenz), Probleme gesellen sich hinzu. Deutlich wird seine Teilha- Schulschwänzen und Konflikte mit Bezugspersonen. bebeeinträchtigung im Alltag, in der Schule und Freizeit sowie seine geminderte Lebensqualität. Versuche seiner unmittelbaren Bezugspersonen, allesamt gut gemeint, zu einer Veränderung kommen nicht an. Auch dies ist ty- pisch für die depressive „Einmauerung“ und den Rückzug Der Autor auf sich selbst.Würden die beschriebenen Symptome nur vereinzelt und flüchtig auftreten, so würden wir fachlich Dr. med. Karsten Rudolf nicht von einer Depression ausgehen. So könnten aku- Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik te Streitigkeiten mit Schulfreunden, Schwierigkeiten mit Mosbach und Chefarzt der Klinik für Kinder- dem Schulstoff, Sorgen um elterliche Konflikte oder auch und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie körperliche Erkrankungen einzelne psychopathologische der Johannes-Diakonie Mosbach Phänomene der Unlust, der traurigen Verstimmung, Kon- zentrationsprobleme oder Müdigkeit erklären. 12 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? In unserer zweiten Kasuistik folgen wir der aktuellen Le- Die dritte Kasuistik beschreibt die 17,5 Jahre alte Emily, bensspur des 16-jährigen Julian, der an seiner ersten Epi- die seit einem Jahr in einer Jugendhilfeeinrichtung in ei- sode einer Schizophrenie erkrankt ist, einer Störung an der ner Wohngruppe lebt. einer von hundert Menschen im Laufe seines Lebens leidet. Sie erlebt täglich stark wech- Typisch für die beschriebene Genau genommen fing alles bereits im 14. Lebensjahr an. Ju- selnde Stimmungen. Häufig emotional-instabile Persönlich lian konnte sich zunehmend schlecht konzentrieren, litt unter ohne Anlass sei sie „zu Tode keitsstörung sind die deutlichen, Schlafstörungen und empfand immer häufiger Unsicherhei- betrübt“ und dann wieder dauerhaft abweichenden ten bezüglich Menschen in seiner Umgebung. Manchmal „himmelhochjauchzend gut ge- inneren Erfahrungs- und gewann er den Eindruck, beobachtet zu werden, er wurde launt“. Die anderen Mädchen seinen Klassenkameraden gegenüber misstrauischer und der Gruppe seien genervt und Verhaltensmuster bezogen fand, dass so manche Situation wie im Film abliefe und er könnten sie wegen ihrer Unbe- auf Kognitionen, Affekte, quasi Zaungast sei. Aktuell ist er seit einem halben Jahr rechenbarkeit häufig nicht gut Beziehungen, Impulskontrolle der Überzeugung, dass sein Klassenlehrer mit seinen Eltern leiden. In Krisensituationen rit- und Bedürfnisbefriedigung. gemeinsame Sache mache. Sie spionieren ihn aus, beein- ze sie sich, um sich zu spüren flussen seine Gedanken, hören ihn ab und bedrohen ihn. und Spannung abzubauen. Emily habe bald vor, die Schule Die Personen, deren Namen er nicht aussprechen darf, da zu verlassen und Schauspielerin zu werden. Im Netz könne er sonst getötet werde, sind Mitglieder eines weltweit ge- sie sich vorstellen als Influencerin aufzutreten; ihr gerade heim operierenden Netzwerks. Täglich kann er seine Eltern bester Freund, „die Liebe ihres Lebens“, den sie seit einer belauschen, wie sie über ihn schlecht reden bzw. sich mit Woche kenne, habe auch schon Fotos von ihr gemacht und anderen Netzwerkmitgliedern austauschen. Zunehmend in die sozialen Medien eingestellt. Die Beziehung sei ihr werde in seinem Kopf eine Stimme laut, die ihm befiehlt ein und alles; wenn Tom sie verlasse, bringe sie sich um. andere Menschen zu schlagen, um sich zu wehren. Julian Die Erzieher der Gruppe nerven. Immer wieder müsse man empfindet eine große innere Anspannung, Bedrohung und mit denen „labern“, statt dass sie einen einfach in Ruhe zieht sich stark sozial zurück. An einen Schulbesuch oder lassen. Wenn man sie dann bräuchte, seien sie sowieso Treffen mit Freunden ist nicht zu denken. Die Bezugsper- nicht da. Nur die Nachtwache verstehe sie, nur ihr könne sonen sind irritiert, registrieren die Anschuldigungen und sie so richtig vertrauen. Niemand in ihrem bisherigen Le- Selbstgespräche sowie Phasen der geistigen Abwesenheit ben sei so richtig für sie da gewesen. und der wirren Gedankengänge, sind voller Besorgnis und ziehen sich ihrerseits unverständig zurück. Typisch für die beschriebene emotional-instabile Persön- lichkeitsstörung sind die deutlichen, dauerhaft abweichen- Bei Julian zeigen sich sowohl die prodromale Entwicklung den inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster bezogen mit unspezifischen Symptomen seit dem 14.Lebensjahr und auf Kognitionen, Affekte, Beziehungen, Impulskontrolle und schließlich seit mehr als einem Monat die Vollausprägung Bedürfnisbefriedigung. Kontextübergreifend dominieren einer schizophrenen Episode: Gedankenbeeinflussung, unflexible Verhaltensmuster mit einer gewissen zeitlichen akustische Halluzinationen in Form imperativer Stimmen, Stabilität und Dauer. Emily präsentiert heftigste emotionale Beeinträchtigungs-/Verfolgungswahn, Derealisationserle- Instabilitäten, Schwarz-Weiß-Denkmuster, Instabilitäten in ben, formale Denkstörungen (zunehmende Zerfahrenheit). Beziehungen sowie generell bezüglich Nähe und Distanz, Die Symptome haben für Julian subjektive Gewissheit wechselnde unklare Rollen des Selbst und der Präferen- und reale Überzeugung, sind nicht von außen korrigierbar zen, Neigung zu Krisen und Selbstverletzungen sowie ein und auch nicht objektivierbar. Die Teilhabebeeinträchti- chronisches Gefühl der Leere. gung ist eklatant und betrifft alle Lebensbereiche. Die Entwicklungsaufgaben des Lernerfolgs, der Autonomie, Identitätsentwicklung und sozialen Rollenfindung in der Gleichaltrigengruppe sind massiv in der Bewältigung be- einträchtigt. F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t ajs-informationen 13
„Du bist ja voll psycho...“ Psychische Störung oder noch normale Entwicklung? Was sind hilfreiche Strategien im Literatur Umgang mit psychischen Störungen? Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho- „Früherkennung und Frühintervention“ sind zentrale Stra- therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DG- tegien verbunden mit einem Handeln in regionalen Netz- PPN (2018): Dossier Psychische Erkrankungen in Deutschland: Schwerpunkt Versorgung. Berlin. werken und digitaler Wissensnutzung. In einem ersten Schritt sollten sich Betroffene ihren Bezugs- und Vertrau- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation enspersonen öffnen. Beobachtende Personen der Umge- und Information (DIMDI). ICD-10-GM Version 2018. bung, Eltern wie Freunde oder Lehrer wie auch Erzieher, Fegert H.-J., Eggers, Resch F. (2012): Psychiatrie und können durch ein sicheres Beziehungsangebot Vertrauen Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. schaffen, um dem Betroffenen zu signalisieren, wir hören 2. Auflage. Springer, Heidelberg. Dir zu, wir nehmen dich ernst und wir besprechen transpa- rent die nächsten Schritte der Inanspruchnahme professio- Klipker et al. (2018): Psychische Auffälligkeiten bei neller Hilfe. Seriöses Basiswis- Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Journal of Health Monitoring. Robert-Koch-Institut, Berlin. sen über psychische Störungen Biografische und entwicklungs kann im Internet beispielsweise Nissen G. (2005): Kulturgeschichte seelischer Störungen anamnestische Daten ergänzen über Seiten der Berufsverbände bei Kindern und Jugendlichen.Klett-Cotta, Stuttgart. und formen kriteriengeleitet ein der Kinder- und Jugendpsychia- Nützel J. et al. (2005): Kinder – und jugendpsychiatri- trie, -psychotherapie (Deutsche Bild des psychischen sche Versorgung von psychisch belasteten Heimkindern. Gesellschaft für Kinder- und Ju- In: Prax.Kinderpsychol.Kinderpsychiat., 54, S.627-644. Geschehens, um „normal“ von gendpsychiatrie, Psychosoma- „krank“ beim Individuum zu tik und Psychotherapie (DGKJP), Rudolf K. (2016): Der gemeinsame Blick. Ein gelungenes unterscheiden und ein Berufsverband für Kinder- und Modell der Kooperation von Erziehungshilfen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Jugendhilfe in Koope- Krankheitsmodell zu definieren. Jugendpsychiatrie, Psychoso- ration; Beiträge zu Theorie und Praxis der Jugendhilfe matik und Psychotherapie in 14. EREV. Hannover. Deutschland e.V. (bkjpp), BAG) oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA) ebenso abgerufen Steinhausen H.-Chr. (2016): Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. 8.Auflage. Urban & Fischer, werden, wie Adressen regionaler Hilfen. München. „Normal“ oder „krank“? Dem Kinder- und Jugendpsychiater stehen nun diagnos- psychischen Geschehens, um „normal“ von „krank“ beim tisch und therapeutisch differenzierte Werkzeuge zur Ver- Individuum zu unterscheiden und ein Krankheitsmodell zu fügung, um sowohl zu einer diagnostischen Einschätzung definieren. Das therapeutische Vorgehen ist multimodal als auch zur Ableitung indizierter therapeutischer Inter- und durch eine Kombination von individuums-, familien- ventionen und Settingfragen zu gelangen. Passgenaue und umgebungszentrierter Interventionen charakterisiert. individuelle Hilfen können ambulant, tagesklinisch und So können Psychotherapie, Spezialtherapien (Ergo-, Bewe- stationär erbracht werden, sodass adaptiert auf die Aus- gungs-, Musiktherapie, Heilpädagogik), Pharmakotherapie prägung der Psychopathologie die in ihrer Intensität an- mit Elternarbeit, Jugendhilfemaßnahmen und Verände- gemessene Intervention wirken kann. rungsimpulse im Kontext Kindergarten/Schule/Ausbildung kombiniert werden. Mit Hilfe von Interviews, testpsychologischen Verfahren, Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen taucht der Psychisch erkrankte junge Menschen Profi in die inneren Gedanken- und Erlebenswelten seines in der Jugendhilfe Gegenübers ein. Die Erfassung, Beschreibung und Ein- ordnung der Komplexität der Psyche eröffnet hierbei ein Psychisch erkrankte junge Menschen in der Jugendhilfe Verstehen. Biografische und entwicklungsanamnestische repräsentieren – und dies unterstreichen systematische Daten ergänzen und formen kriteriengeleitet ein Bild des Untersuchungen (u.a. Ulmer Heimkinderstudie, Nützel et 14 ajs-informationen F a c h z e i t s c h r i f t d e r A k t i o n J u g e n d s c h u t z · N r. 1 | 5 5 . J a h r g a n g · A p r i l 2 0 1 9 · S t u t t g a r t
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