Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Nr. 37 (2019) - Viktor-von ...
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Verbandsmitteilungen Thieme Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Nr. 37 (2019) Die Teilhabe des Todes am Leben Tagung vom 12. bis 14. Die Daseinsweise des Menschen erweist Würzburg) als auch um den Rang der Oktober 2017 in der Stiftung sich als eine in aller Hinsicht relationale und Sprache im Umgang von Arzt und Kranken unabgeschlossene – sie ist Fragment und (Stephan Zierz, Halle). Wie schon bei den Leucorea Lutherstadt dennoch vollendet. Paradigmatisch hierfür anderen Tagungen gab es auch diesmal Wittenberg ist die Krankheit, wie überhaupt jede Situa- parallele Symposien, die sich erneut gro- tion der Not. Ebeling spricht im Lichte der ßer Zustimmung erfreuten: „Leib und Es war eine glückliche Fügung, dass diese reformatorischen Anthropologie von der Seele – moderne Verwandlungen oder Ver- Tagung nicht nur in Verbindung mit der „Existenz des Menschen als Zwischen-Sein“, luste?“ (Jörg Dierken, Halle), „Die Krank- Neurologischen Klinik und der Theologi- wobei dessen Bestimmung große Nähe zu heit und ihre Deutungen“ (Regina schen Fakultät der Martin-Luther-Universität den Denkformen der Medizinischen Anthro- Radlbeck-Ossmann, Halle) und „Selbstbes- Halle-Wittenberg, sondern auch im Jubi- pologie aufweist. Den theologischen Hinter- timmte Teilhabe als Ziel von Pflege und läumsjahr der Reformation stattfand. Denn grund liefert Martin Luthers Formel „simul Therapie“ (Johann Behrens, Berlin/Halle). mit der von Weizsäcker geprägten Formel iustus et peccator“, deren Zeitlogik, nämlich Zum Abschluss der Tagung überraschte der „Teilhabe des Todes am Leben“ verbin- in re Sünder und in spe Gerechter zu sein, unser langjähriges Mitglied aus Chile, der det sich neben der großen Nähe von Medizin an Weizsäckers Verhältnisbestimmung von Generalsekretär der World Association for und Theologie auch eine gewisse Struktur- ontisch und pathisch erinnert. Auch die Social Psychiatry Fernando Lolas Stepke mit verwandtschaft zwischen der medizinischen Medizinische Anthropologie fragt nicht einem bemerkenswerten Vorschlag. und reformatorischen Anthropologie. Die nach dem, was der Mensch ist, sondern: von Weizsäcker in seinen Helmstedter Vorle- „was wird dieser Mensch?“2 Eine weitere Besonderheit dieser Tagung sungen des Jahres 1925 entworfene Skizze lag im Versuch, das über lange Jahre von einer „Umgestaltung der Metaphysik“ lässt Am deutlichsten wurde diese Strukturver- unserem Mitglied Klaus Gahl und dessen an die von der neueren Luther-Forschung wandtschaft der Medizinischen Anthropo- Ehefrau organisierte Braunschweiger Lese- thematisierte „ontologische Revolution“ der logie mit der frühen Neuzeit in den seminare in einer leicht reduzierten Form reformatorischen Anthropologie denken – Beiträgen des Medizinhistorikers Heinz der Tagung anzuschließen. Hierfür war also an die Wende von der Substanzontolo- Schott (Bonn) und des Theologen Chris- nicht nur die räumliche Situation der Leu- gie zu einer Ontologie der Relationen. tian Link (Bochum). Die Kreativität und corea eine gute Voraussetzung, sondern Irritation solcher Verwandtschaft zeigte auch die von Hartwig Wiedebach (Zürich) Weizsäcker entwirft am Beispiel der sog. sich gleich zu Beginn und am Ende und Hilde Gahl (Braunschweig) ausgewähl- „Bipersonalität“ ein Konzept der Alterität der Tagung bei den Versuchen, der titel- ten und kommentierten Texte. Es handelte im Sinne einer „ursprünglichen Verbunden- gebenden Teihabe-Formel streng philoso- sich um Auszüge aus Der kranke Mensch heit“ des Menschen, der als Einzelner phisch (Volker Gerhardt, Berlin) oder von Viktor von Weizsäcker und aus Schul- „ontologisch nicht real“ ist. Für Gerhard literarhistorisch (Wolfgang Riedel, Würz- meisterlein Wutz von Jean Paul. Ebeling ist es die sog. „coram-Relation“, burg) auf die Spur kommen zu wollen. Das die den Menschen gleichermaßen in ein eigentlich Charakteristische der Tagung Rückblick und Ausblick Verhältnis zu Gott, zur Welt und zum Ande- waren indes die Brückenschläge hin zur ren stellt. Dieses „untrennbar korrespon- ärztlichen und pflegerischen Praxis. Hier Von Fernando Lolas Stepke, Chile dierende Beieinander“ der Verhältnisse ging es sowohl um die Aufgaben der Pal- bestimmt das Sein des Menschen als ein liativmedizin (Birgit van Oorschot, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ursprüngliches Bezogensein.1 ich darf mich herzlich bedanken, nicht nur Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, für die Gelegenheit, an dieser lehrreichen S. 334–355. Mohr-Siebeck, Tübingen 1982. Tagung teilnehmen zu dürfen, sondern 1 Vgl. Viktor von Weizsäcker, Seelenbehand- 2 Viktor von Weizsäcker, Der kranke Mensch. auch für die Möglichkeit zu diesem Schluss- lung und Seelenführung. Nach ihren biologi- Eine Einführung in die Medizinische Anthro- wort. Zumal das Thema dieser Tagung für schen und metaphysischen Grundlagen pologie (1951). Ges. Schriften, Bd. 9, S. 311– das Werk und Denken Viktor von Weizsä- betrachtet (1926). Ges. Schriften, Bd. 5, 641, hier S. 558; vgl. Gerhard Ebeling, Luther. S. 67–141, hier S. 119, 71f, 122, 114f. Suhr- Einführung in sein Denken (1964). Mohr-Sie- ckers von zentraler Bedeutung ist. Ich kam kamp, Frankfurt/M. 1987; Gerhard Ebeling, beck, Tübingen 2017, S. 182–185. mit dem Werk dieses großen Gelehrten Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77 71
Verbandsmitteilungen Thieme durch zwei Persönlichkeiten in Kontakt, die Moderne zum Vorschein: nämlich die weit- erlebten Lebens mit der Hoffnung und der für meinen wissenschaftlichen Weg von reichende Prägung von Krankheit, Sterben Befürchtung des zukünftigen Lebens in ausschlaggebender Bedeutung waren. und Tod durch die Prozesse der Säkularisa- jedem Moment des Lebens zusammen. tion, der Naturalisierung und der Technisie- Wenn der Erfahrungsraum für all das steht, Hier ist zunächst der spanische Medizinhis- rung. Gibt es im Horizont der Moderne eine was es gibt, was vorhanden und zuhanden toriker Pedro Lain Entralgo zu nennen, dem Teilhabe des Todes am Leben? Zwar tragen ist, andererseits aber der Erwartungshori- wir die Formel von der „Heidelberger die Fortschritte in der medizinischen Diag- zont für all jenes, was wünschenswert ist Schule“ verdanken. Er führte sie 1950 nostik und Therapie zur Verlängerung und oder angestrebt bzw. befürchtet wird, in seiner zum Klassiker gewordenen Schrift Verbesserung des Lebens bei, doch sie ver- dann braucht es zur Beschreibung des Heilkunde in geschichtlicher Entscheidung ändern damit nicht nur das Verhältnis von Lebens immer zwei Haltungen: eine analy- ein.3 Neben seinen wegweisenden Beiträ- Leben und Tod, sondern auch den gesell- tisch-deskriptive und eine normativ- gen zur Geschichte der Medizin wurde er schaftlichen Umgang mit Leben und Tod. präskriptive. für mich besonders wichtig, weil er meine Doch trotz aller Marginalisierung des Todes Nominierung als Korrespondierendes Mit- bleibt die Frage nach dem Sinn des Todes. Besonders deutlich wird die Spannung, glied der Königlichen Spanischen Akademie Offenbar gibt es ein unstillbares Bedürfnis mitunter auch der Widerspruch zwischen für Sprache unterstützte. Doch dann muss des Menschen, nicht nur nach dem Sinn diesen beiden Haltungen angesichts von ich meinen Heidelberger Lehrer Paul Chris- dessen zu fragen, was uns umgibt, also das Sterben und Tod. Weizsäckers Formel von tian erwähnen. Mit seiner Berufung auf den Leben, sondern zugleich auch nach dem der „Teilhabe des Todes am Leben“ steht 1958 erneut eingerichteten Lehrstuhl für Sinn von dessen Verlust zu fragen – also für diesen spannungsvollen Widerspruch, Allgemeine Klinische Medizin trat er nicht nach dem Sinn des Todes. Medizinische Wis- den es gleichwohl im Umgang mit dem nur intellektuell, sondern auch institutionell senschaft und Technik können diese Frage kranken Menschen immer aufs Neue aufzu- in die Nachfolge Viktor von Weizsäckers. nicht beantworten. Denn hier geht es um lösen gilt. Nicht selten stößt hierbei die Seit ich ihn bei meinem ersten Heidelberg- die eigentümliche Mischung von lebensnot- narrative Konstitution des Humanen an die aufenthalt 1975 kennenlernte, profitierte wendigen und zusätzlichen Bedürfnissen Grenze soziotechnischer Zielorientierun- ich bis zu seinem Tod von der geistigen (englisch: needs and wants) – erst beide gen. Denn eine Verwirklichung aller Aufgeschlossenheit, der beneidenswerten zusammen machen den Reichtum und das Ansprüche auf Kohärenz, Befriedigung und Geduld und großen Weisheit dieser unge- Geheimnis des Lebens aus. Glück kann das Leben selbst gefährden. wöhnlichen Persönlichkeit. Ich verdanke Erneut meldet sich das Bedürfnis nach dem ihm wertvolle Einsichten, die mein eigenes Eine ärztliche Anthropologie muss daher Sinn des Todes, nach dem Sinn von Nicht- Denken bis heute prägen. Umso mehr nicht nur Natur und Kultur, sondern auch Verwirklichung und Verlust. freut es mich, dass nun seit einigen Jahren Erfahrungen und Emotionen, gegenwärtige der von Wolfgang Eich und Rainer-M.E. Situation und zukünftige Möglichkeit ver- Und dennoch braucht es einen Erwar- Jacobi herausgegebene Band zur „Biperso- binden. Es geht gleichsam um eine Ver- tungshorizont, aus dem heraus sich der nalität“ vorliegt, der einen tiefen Einblick in schmelzung von Metis und Phronesis, von Erfahrungsraum bereichern lässt. Mein per- Leben und Werk Paul Christians gibt.4 Für Fertigkeit und Klugheit.6 Ein Beispiel hierfür sönlicher Erwartungshorizont beim Besuch mich ist er der Begründer einer Medizin als ist Reinhart Koselleck, einer der originells- dieser Tagung hat mit der Alexander von „dialogischer Handlungswissenschaft“.5 ten Historiker Deutschlands. Wie mir Herr Humboldt Stiftung zu tun und der Erwar- Jacobi erzählte, entwickelte er die tung einer Kooperation dieser Stiftung mit Viktor von Weizsäckers tiefsinnige Rede von berühmte Unterscheidung von „Erfah- der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft – der „Teilhabe des Todes am Leben“, wie sie rungsraum“ und „Erwartungshorizont“ - ganz im Sinne eines „Forums für die Wis- zum Thema dieser Tagung gemacht wurde, angeregt durch den Besuch der späten Vor- senschaften vom Menschen“. Nicht nur bringt sofort ein Grundproblem der lesungen Viktor von Weizsäckers in Heidel- meine Teilnahme an dieser Tagung wurde berg - aus dem intensiven Studium seiner von der Alexander von Humboldt Stiftung 3 Vgl. Pedro Lain Entralgo, Heilkunde in Schriften.7 Hier kommt die Wirklichkeit des ermöglicht, sondern ich kenne als Hum- geschichtlicher Entscheidung. Einführung in boldt-Alumni-Preisträger und ehemaliger die psychosomatische Pathologie. Otto Mül- Stipendiat diese Stiftung als eine der groß- ler, Salzburg 1950. 6 Vgl. weiterführend Rainer-M.E. Jacobi, Gegen- zügigsten Stiftungen für Forschung und 4 Wolfgang Eich, Rainer-M.E. Jacobi (Hrsg.), seitigkeit und Normativität. Eine problemge- Studium in Europa.8 Sie trägt dazu bei, Bipersonalität, Psychophysiologie und anthro- schichtliche Skizze zu den Grundfragen der pologische Medizin. Beiträge zur Medizinischen medizinischen Ethik, in: Gahl, K., Achilles, P., deutsche Kultur und Wissenschaft weltweit Anthropologie, Bd. 8. Königshausen & Neu- Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.), Gegenseitigkeit. Grund- bekannt zu machen. Eine Kooperation mit mann, Würzburg 2014. fragen medizinischer Ethik, S. 461–492, hier der Alexander von Humboldt Stiftung 5 Fernando Lolas Stepke, Paul Christian – Medi- bes. S. 481ff. Königshausen & Neumann, Würz- könnte dazu verhelfen, das Anliegen der zin als dialogische Handlungswissenschaft, burg 2008. in: Eich, W., Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.), Biperso- 7 Vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ nalität, a.a.O., S. 115–123; ders., Paul Chris- und „Erwartungshorizont“ – zwei historische 8 Bei der Förderung meines Heidelberger Stu- tian und die Heidelberger Schule. Persönliche Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. diums ist auch für die Unterstützung durch Darstellung eines Werdegangs. Fundamenta Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, S. 349– den Deutschen Akademischen Austausch- Psychiatrica 4 (2001), S. 135–138. 375. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1979. dienst (DAAD) zu danken. 72 Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77
Viktor von Weizsäcker Gesellschaft auch in nur durch das Gelebte und Geschehene, die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann Ländern und Sprachen bekannt zu sondern auch und vielleicht sogar nachhal- gewonnen werden. Sie hatte das Thema machen, in denen dies bislang nicht mög- tiger durch die erhofften wie befürchteten „Rhythmen und Rahmen individuellen und lich war. Ich bin gern bereit eine solche aber nicht geschehenen Ereignisse. In kollektiven Erinnerns“ gewählt. Kooperation zu unterstützen – hier liegt Anlehnung an den Historiker Reinhart mein Erwartungshorizont: mein Ausblick, Koselleck könnte man von einer „Zukunft Ich durfte – wie in den Jahren zuvor – die der aus einem Rückblick erwächst.9 der Vergangenheit“ sprechen, die noch Einführung und Moderation des Sympo- nicht Gegenwart geworden ist.11 Mit dieser siums übernehmen. Ich wies darauf hin, Satellitensymposium Wende vom Gewesenen und Seienden zum dass die Psychosomatik einerseits bestrebt Nicht-Gewesenen und Noch-Ausstehenden sein sollte, sich als eigenständiges Spezial- Fast scheint es, als ob die Institution des gewinnt die „biographische Methode“ eine gebiet in der Medizin zu etablieren. Ande- jetzt zum siebten Mal stattgefundenen kulturanthropologische Dimension, die es rerseits ist sie aber – auch aus Sicht der Satellitensymposiums beim Deutschen Kon- verdient, näher untersucht zu werden. Das Gründungsväter der Psychosomatik, wozu gress für Psychosomatische Medizin und jüngste Satellitensymposium war ein erster Viktor von Weizsäcker zu zählen ist – eine Psychotherapie in Berlin bereits vor Beginn Schritt in diese Richtung. Grundlagenwissenschaft der Medizin. der Diskussion um eine Neuausrichtung Wenn sie den Dialog mit den Nachbardiszi- unserer Gesellschaft zu deren sichtbarstem Bericht zum plinen pflegt und sich insbesondere Anre- Zeichen geworden ist. Denn es geht gerade gungen auch aus den nicht-empirisch nicht um ärztliche Fort- und Weiterbildung Satellitensymposium 2018 forschenden Disziplinen holt, wird sie die im engeren Sinn, sondern um den Versuch, Von Hans Stoffels umfassende Sicht auf den Menschen nicht etwas von den geistigen Grundlagen und aus den Augen verlieren. Im Mittelpunkt dem kulturellen Horizont ärztlichen Tuns zu Die vor Jahren getroffene Entscheidung der des diesjährigen Symposiums, so führte ich vermitteln. Am Beispiel der Geschichtlich- beiden führenden deutschen psychosoma- weiter aus, steht die Frage nach der Bedeu- keit menschlichen Krankseins wird dies tischen Fachgesellschaften (DKPM und tung von Erinnerung und Gedächtnis. Es besonders deutlich. Es ist kein Zufall, dass DGPM), stets gemeinsam und stets in Ber- stellen sich Fragen, die für jede Psychothe- die moderne, biomolekular und gentech- lin im Frühjahr den „Deutschen Kongress rapie von Relevanz sind. Es zeigt sich ein nisch orientierte Medizin ein Kind der euro- für Psychosomatische Medizin und Psycho- paradoxes Phänomen: auf der einen Seite – päischen Neuzeit ist und von den geistigen therapie“ auszurichten, hat zu einer angestoßen durch die psychoanalytische Grundlagen der klassischen Naturwissen- Erfolgsgeschichte geführt. Jedes Jahr kom- Theorie der Verdrängung – wird Erinnerung schaft bestimmt wird. Die eigentümliche men immer mehr Ärzte nach Berlin, um an als der Königsweg der Therapie bezeichnet. Struktur von Geschichtlichkeit, wie sie sich diesem Kongress teilzunehmen. Die Kon- Auf der anderen Seite sind Heilung und in der gegenseitigen Verschränkung und gressleitung lud gleich zu Anfang die Viktor Befreiung von seelischen Nöten, Ängsten Verborgenheit von Vergangenheit, Gegen- von Weizsäcker Gesellschaft ein, im Rah- und Zwängen nur möglich, wenn auch Ver- wart und Zukunft zeigt, führt dann immer men dieses Kongresses ein Symposium gessen gelingt. Somit taucht die Frage auf, wieder zu Täuschungen und Fehlurteilen bei auszurichten, dessen Thematik und Gestal- in welchem Verhältnis die Unfähigkeit zu der Beschreibung menschlichen Krankseins. tung die Weizsäcker-Gesellschaft selbst erinnern und die Fähigkeit zu vergessen zuei- bestimmen kann. Die Einladung wurde nanderstehen, wenn es um Gesundheit Eine Medizin, wie sie Viktor von Weizsäcker dankbar angenommen, und so hat sich und Krankheit geht. vor Augen stand, wird auch ein Stück weit über die Jahre ein Satellitensymposium der Kulturanthropologie sein müssen. So wie Weizsäcker-Gesellschaft beim Deutschen Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches das Nachdenken über Gedächtnis und Erin- Kongress für Psychosomatische Medizin Unzeitgemäße Betrachtungen hatte Aleida nerung in kulturellen und politischen und Psychotherapie etabliert, das zu einem Assmann gemeinsam mit der Historikerin Zusammenhängen immer eine therapeuti- eigenen Format weiterentwickelt wurde. Ute Frevert bereits 1999 auf Widersprüche sche Dimension hat, mag es naheliegend Wobei das übergeordnete Thema erhalten im Umgang mit der geschichtlichen Vergan- sein, in Weizsäckers therapeutischen Kon- blieb: „Die Psychosomatik und ihre Nach- genheit hingewiesen. In ihrer Publikation zept der „biographischen Methode“ glei- bardisziplinen“. Hielten anfangs mehrere Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessen- chermaßen einen kulturanthropologischen Referenten Kurzvorträge, so war das Sym- heit ist die Rede von einem „verzehrenden Ansatz zu erkennen. Eines der Postulate posium zuletzt geprägt vom Vortrag eines historischen Fieber“, das Kreativität verküm- dieser Methode ist die „Wirksamkeit des Referenten. Dies führte zu einer Vertiefung, mern lasse und die Gestaltung der Zukunft Ungelebten“.10 Vergangenheit wirkt nicht zu erhöhter Konzentration und Dichte. Für verhindere. So würden sich gerade die Deut- das Symposium am 16. März 2018 konnte schen eines „Erinnerungsmarathons“ im Hin- blick auf ihre jüngste Geschichte befleißigen. 9 Rainer-M.E. Jacobi danke ich für Anregungen Umgekehrt aber sei evident, dass die Ver- und redaktionelle Hinweise. 11 Vgl. Rainer-M.E. Jacobi, Die Zukunft der Ver- drängung von Vergangenheiten in der indivi- 10 Vgl. Viktor von Weizsäcker, Erinnerung an Ale- gangenheit. Geschichte und Therapie bei Vik- duellen, aber auch in der gesellschaftlichen xander von Humboldt (1950). Ges. Schriften, tor von Weizsäcker und Reinhart Koselleck. Bd. 1, S. 451–456, hier S. 451f.; ders., Patho- Vortrag im Karl Jaspers-Haus Oldenburg am Geschichte ein pathogener Faktor ist, der sophie (1956). Ges. Schriften, Bd. 10, S. 274ff. 24. Juni 2016. produktive Entwicklungen blockiert. Welche Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77 73
Verbandsmitteilungen Thieme Gesichtspunkte wird Aleida Assmann in den alleine auf. Aleida Assmann zitierte Han- anzuerkennen. Die hierzu erforderliche Vordergrund stellen, deren letzte Buchpubli- nah Ahrendts Schrift Elemente und historische Forschung sei immer wieder kationen sich mit „Formen des Vergessens“ Ursprünge totaler Herrschaft: „Wir können angewiesen auf Zeugen und Zeugenschaft. und mit dem „neuen Unbehagen an der es uns nicht mehr leisten, nur das Gute in Erinnerungskultur“ auseinandersetzen? der Vergangenheit auszuwählen und als Die Diskussion des Vortrags von Aleida Ass- unser Erbe anzunehmen, während wir das mann war lebhaft. Sie drehte sich um die In ihrem Vortrag führte Aleida Assmann Schlechte einfach ignorieren und es als Frage, wie der Funktionalisierung der Erin- anhand historischer Beispielen aus, dass totes Gewicht ansehen, das die Zeit von nerung für gegenwärtige Interessen zu Erinnerung für sich nicht in Anspruch neh- selbst im allgemeinen Vergessen begra- begegnen ist, sei es im gesellschaftlichen men kann, stets das Gute zu repräsentie- ben wird. (. . .) Und deshalb sind alle Zusammenhang oder in der Psychothera- ren. So hätten die Nationalsozialisten Anstrengungen umsonst, sich aus der bit- pie – zum Beispiel bei Patienten, die sich immer wieder an den Versailler Vertrag teren Gegenwart in die Nostalgie einer nicht von belastenden Erinnerungen erinnert und die damit verknüpfte Demüti- noch intakten Vergangenheit zu stürzen befreien können oder wollen. gung, um Gefühle von Revanche zu oder in das Vergessen in Hoffnung auf wecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg eine bessere Zukunft.“13 Kein Zweifel, auch der Kampf um die Etab- waren die Reaktionen auf das Jahrhundert- lierung einer selbstkritischen und dialog- verbrechen höchst unterschiedlich bei Poli- In den 70er Jahren nahmen sich die deut- ischen Erinnerungskultur hat bereits eine tikern, Historikern und auch in der schen Medien, insbesondere das Fernse- Geschichte. Zu dieser Geschichte gehört, allgemeinen Bevölkerung. Eine Erinne- hen, des Themas „Holocaust“ an in einer dass Aleida Assmann ein halbes Jahr später rungskultur konnte sich nicht entwickeln, Serie, die Millionen von Menschen sahen. in der Paulskirche in Frankfurt gemeinsam vielen erschien das Schweigen und Ver- Über die Vergangenheit, die nicht verge- mit ihrem Mann den Friedenspreis des schweigen, das Vergessen als die bessere hen will, kam es in den 80er Jahren zu Deutschen Buchhandels erhielt. Option. Aleida Assmann wies auf Winston einem Streit unter Historikern und zu Churchill hin, der im September 1946 in einer Kritik an der „Schlussstrich-Mentali- Karl Jaspers-Haus Oldenburg Zürich eine bemerkenswerte Rede hielt. tät“. Am 08.05.1985 hielt der damalige Ihm ging es um den Bau des neu zu gründ- Bundespräsident Richard von Weizsäcker Die Karl-Jaspers-Gastprofessur, die unser enden Hauses Europa und er forderte ein seine berühmte Rede, in der er das Ende Mitglied Martin Sack (München) im Som- „Ende der Abrechnungen“: „Wir alle müs- des Zweiten Weltkrieges nicht als Nieder- mersemester 2016 in Oldenburg innehatte, sen den Gräueln der Vergangenheit den lage sondern als Befreiung zu verstehen wurde zum Anlass für ein kleines Sympo- Rücken zuwenden. Wir müssen in die suchte. Nach der Wende 1989 stand sium zu Werk und Wirkung Viktor von Weiz- Zukunft schauen. Wir können es uns nicht erneut die Erinnerungskultur auf dem säckers im Oldenburger Karl Jaspers-Haus. leisten, in die kommenden Jahre den Hass Prüfstand. Wann darf ein Schlussstrich Im Rückblick auf diese Veranstaltung, die und die Rache hineinzuziehen, die aus den gezogen werden? unserem Gründungsvorsitzenden Dieter Wunden der Vergangenheit entstanden Janz Gelegenheit zu einer letzten großen sind. Wenn Europa vor endlosem Unheil Aleida Assmann erörterte den Begriff des Präsentation seiner Bemühungen um die und endgültigem Untergang gerettet wer- „kollektiven Gedächtnisses“, das einen Briefe Viktor von Weizsäckers gab, lag es den soll, müssen wir es auf einen Akt des Rahmen brauche. Es organisiere sich in nahe, über mögliche Fortsetzungen dieses Glaubens an die europäische Familie der Narration, im Erzählen und in der Formats nachzudenken.14 Vor allem ist es und einen Akt des Vergessens aller Gemeinschaft. Auch in der Narration die enge Zusammenarbeit der Heisenberg- Verbrechen und Irrtümer der Vergangen- wähle das Gedächtnis aus. Erinnert wird Professur für Vergleichende Ideenge- heit gründen.“12 zumeist das, was die Identität stärkt, wäh- schichte an der Carl von Ossietzky Universi- rend Schuld- und Schamgefühle, worauf tät mit der Oldenburger Karl Jaspers-Klinik, Dem stellte Aleida Assmann die Forde- Nietzsche schon hinwies, Gedächtnisin- die zur European Medical School gehört, rung von Hannah Arendt nach einer halte ausgrenzen oder verfälschen. Das wodurch es bei medizinisch-anthropologi- neuen ethischen Erinnerungskultur nationale Gedächtnis tendiert zum Mono- schen Themen im Karl Jaspers-Haus zu einer gegenüber, da sich im Totalitarismus „ein logischen. Der monologischen Gedächt- erfreulichen Mischung zwischen akademi- absolutes Böses“ offenbart habe, das niskonstruktion müsse eine dialogische schen Fachpublikum und einer interessier- nicht mit den Kategorien verständlicher Gedächtnisentwicklung entgegengestellt ten Öffentlichkeit kommt. Motive zu erklären sei. In der neuen Erin- werden. Am Ende betonte Assmann, dass nerungskultur müsse sowohl das die Schlussstrich-Mentalität nach 1945 die Auf Matthias Bormuth, dem Inhaber der Schlechte als auch das Gute benannt wer- Täter geschützt und den Opfern gescha- Heisenberg-Professur und Leiter des Karl den. Die Vergangenheit löst sich nicht von det habe. Sie forderte daher, auch die Jaspers-Hauses, geht der Vorschlag zurück, schwerwiegenden Verbrechen in der eige- den seinerzeit von Martin Sack vorges- nen nationalen Geschichte im Rahmen tellten Begriff des „Pathischen“ sowohl 12 Zitiert nach Aleida Assmann, Das neue Unbe- einer selbstkritischen Erinnerungskultur hagen an der Erinnerungskultur. Eine Inter- vention, S. 185. C.H. Beck, München 2013, 2. 14 Vgl. Mitteilungen Nr. 35 (2017), Fortschr. Aufl. 2016. 13 Zitiert nach ebd., S. 188. Neurol. Psychiatr. 2017; 85, S. 641. 74 Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77
werkgenetisch als auch ideengeschichtlich Begriffen aus dem realen Umgang mit Dietrich Ritschl näher zu verfolgen.15 In Absprache mit lebendigen, unsicheren, erfahrungsoffenen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Menschen in der pathischen Situation“ – 17. Januar 1929 – 11. Januar waren zwei Vortragsveranstaltungen für also in Situationen der Krise, der Entschei- den 14. und 15. Mai 2018 vorgesehen. dung und Wandlung. 2018 Zunächst versuchte der Berliner Philosoph Der besondere Charakter der Viktor von und Publizist Sebastian Kleinschmidt von Am darauffolgenden Abend sollte der Würz- Weizsäcker Gesellschaft hat nicht zum Weizsäckers Spätwerk Pathosophie her, die burger Literarhistoriker Wolfgang Riedel am wenigsten mit den Geschichten und Vorge- Grundzüge des Menschenbildes der anth- Beispiel des Pathischen der ideengeschichtli- schichten von deren Gründung zu tun. ropologischen Medizin zu entfalten. chen Konstellation zwischen Viktor und Carl Diese erfolgte dank der Gastgeberschaft Friedrich von Weizsäcker nachgehen, zumal von Friedhelm Lamprecht am 11. Dezember Den Ausgangspunkt bildete das „Schlüssel- es eine Vielzahl von literarischen Spuren 1994 in Hannover. Schon hier flossen zwei ereignis im Entstehen der anthropologi- gibt, die der von seinem Onkel Viktor Vorgeschichten zusammen. Einmal die mit schen Medizin“ – nämlich die Einführung des geprägte Begriff des Pathischen in den einem Gestaltkreis-Kolloquium an der For- Subjekts. Es gilt Abschied zu nehmen von Schriften des Physikers und Naturphiloso- schungsstätte der Evangelischen Studienge- den Erwartungen und Gewissheiten der phen hinterlassen hat. Obgleich eine längere meinschaft (FEST) im Jahr 1973 ausgelöste Objektivität. Der Mensch und seine Lebens- Erkrankung die Vorbereitung dieses Vortra- Arbeit an den „Gesammelten Schriften“ Vik- wirklichkeit erschließen sich keinem positi- ges verhinderte, stellte sich Wolfgang Riedel tor von Weizsäckers, die unter der Leitung ven Wissen von dem, was ist. Vielmehr sind für ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der von Dieter Janz stand, und zum anderen die es die Widerfahrnisse des Nicht-Seins, des Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, dem von Rudolf Prinz zur Lippe begründeten Verlustes und des Mangels, in denen sich Bonner Wissenschaftsphilosophen Rainer-M. „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der etwas vom „Menschlichen im Menschen“ E. Jacobi zur Verfügung, das von Matthias Zeit“, die ihrerseits zur organisatorischen zeigt. Daher ist es auch nicht die vermeintli- Bormuth moderiert wurde. Hier ging es vor und geistigen Vorbereitung jener Gründung che Normalität der Gesundheit, sondern die allem um die Frage nach den literarischen verhalfen.17 Doch es gibt noch eine weitere Vielfalt der Negativitäten des Lebens und Formen, die eine Rede vom Pathischen erfor- Vorgeschichte, die bislang eher wenig der Umgang mit ihnen, aus dem das Men- dert. Die dem Weizsäckerschen Werk häufig bekannt war. Sie hat mit dem ökumeni- schenbild der anthropologischen Medizin nachgesagte mangelhafte Klarheit und Sys- schen Theologen, Psychotherapeuten und erwächst. Beispiele hierfür sind die „Verlo- tematik könnte sich als eine den Erfahrungen Medizinethiker Dietrich Ritschl zu tun. genheit des Lebens“, die „pathischen Kate- des Pathischen angemessene Darstellungs- gorien“ und das geschichtsphilosophisch- form erweisen. Es spräche einiges dafür, Nach dem Studium der Physik, Philosophie therapeutische Konzept von der „Wirksam- Weizsäckers Werk in eine Epochenverwandt- und Theologie, intensiver Gemeindearbeit in keit des Ungelebten“ – alles Formen pathi- schaft mit der Zeit um 1800 zu stellen. Die Schottland und im Süden der USA, begleitete scher Existenz, mit denen sich bisherige Kontroverse zwischen dem Systemanspruch er Professuren für patristische und Anthropologien noch kaum beschäftigt der transzendentalen Subjektphilosophie systematische Theologie in Austin/Texas, haben. Es ist eine Rede vom Menschen, die und der Poetik des Fragmentarischen in der Pittsburgh und schließlich am berühmten in einen „philosophischen Schwebezustand“ Frühromantik würde vermutlich Ansätze für Union Theological Seminary in New York. führt. Herausforderung und Fragwürdigkeit neue Lektüren nicht nur des Weizsäcker- Doch sein akademischer Weg führte ihn des Weizsäckerschen Denkens liegen hier schen, sondern auch anderer Werke des frü- dann über Mainz nach Heidelberg, der wohl eng beieinander. Um Reichtum und Tiefe hen 20. Jahrhunderts bieten.16 wichtigsten und längsten Station. Hier lehrte des Menschenbildes der anthropologischen er ökumenische und systematische Theolo- Medizin zu erfassen, braucht es das Der große Publikumszuspruch und die gie, aber auch medizinische Ethik und „Hineingehen in die Gegenseitigkeit einer Qualität der Diskussion lässt es angeraten betreibt seinen „zweiten Beruf“ als analyti- konkreten Erfahrung und das Gewinnen von sein, über geeignete Formen der Fortset- scher Psychotherapeut. Zusätzlich wird er zung nachzudenken. Das kleinere Format Direktor des Ökumenischen Instituts und solcher Tages-Veranstaltungen scheint der Gründungsdirektor des Internationalen Wis- 15 Hier ist auf eine leider noch wenig beachtete Bekanntmachung und Weiterverbreitung senschaftsforums der Universität Heidelberg. grundlegende Studie zu verweisen: Hartwig des Denkens Viktor von Weizsäckers nicht Wiedebach, Pathische Urteilskraft. Alber, Freiburg/München 2014; vgl. die Bespre- abträglich zu sein. 17 Vgl. hierzu Rainer-M.E. Jacobi, 20 Jahre Viktor chungen von Helmut Holzhey, Pathische von Weizsäcker Gesellschaft, Mitteilungen Urteilskraft. Gedanken zum Leiden im 16 Vgl. Rainer-M.E. Jacobi, Vom System zum Nr. 32 (2014), Fortschr. Neurol. Psychiatr. Anschluss an ein Buch von Hartwig Wiede- Fragment. Anmerkungen zur Denkform der 2014; 82, S. 721–724; sowie Rudolf zur bach, Information Philosophie 43 (2015), Medizinischen Anthropologie Viktor von Lippe, Aufbruch ins Unzeitgemäße. Erinne- Heft 4, S. 44–53 und von Rainer-M.E. Jacobi, Weizsäckers, in: Wiedebach, H. (Hrsg.), Die rung an die Vorgeschichte einer Gründung, psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz in: Jacobi, R.-M.E., Janz, D. (Hrsg.), Zur Aktua- Philosophie und Kultur, Bd. 11 (2016), S. Rosenzweigs „Stern der Erlösung“, S. 199– lität Viktor von Weizsäckers, S. 287–298. 238–255. 212. Duncker & Humblot, Berlin 2013. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003. Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77 75
Verbandsmitteilungen Thieme Diese beiden Institutionen wurden zu den „neue Theologie“, sondern um eine andere es die Grundhaltung einer „therapeuti- ersten Wirkungsstätten der Viktor von Art und Weise des theologischen Fragens schen Ethik“, in deren Horizont sich Theo- Weizsäcker Gesellschaft. Im Ökumenischen und Argumentierens im Rückblick auf die logie und Medizin auch und gerade Institut versammelte sich unter der Leitung biblische Tradition, im Dialog mit den angesichts aktueller Herausforderungen von Dietrich Ritschl eine interdisziplinäre Humanwissenschaften und in Verantwortung gegenseitig unterstützen und bereichern Arbeitsgruppe zu den „Dimensionen der gegenüber der konkreten Situation der Welt. können.22 Heilung“, der auch prominente Mitglieder Theologie versteht sich dann weniger als unserer Gesellschaft angehörten: Peter Wissenschaft als dass sie hindrängt „auf die Klaus Michael Meyer-Abich Hahn, Jürgen Hübner, Ernst Petzold und Rei- Weisheit liebevollen, therapeutischen Han- ner Wiehl. Zu eben jener Zeit fanden dort delns mit Menschen, um sie auf allen Ebenen 8. April 1936–19. April 2018 intensive Lektüre-Seminare zu klassischen spüren zu lassen, dass sie Menschen bleiben Der zaghafte Hinweis auf die einge- Texten der Medizinischen Anthropologie sollen, und auf die Weisheit der Doxologie, schränkte Gesundheit des Jubilars, wie er statt. Es ging um Autoren wie Wolfgang die Gott zuruft, dass er unser Gott ist.“20 sich im redaktionellen Vorspann zur Würdi- Blankenburg, Paul Christian, Fritz Hartmann, gung aus Anlass seines 80. Geburtstages Viktor von Weizsäcker und Dieter Wyss. So Im Hintergrund steht ein Verständnis vom findet, hat nun seinen ganzen Ernst entfal- ergab es sich fast von selbst, dass unsere Menschen, wie es der Medizinischen Anth- tet: Klaus Michael Meyer-Abich ist nach lan- neugegründete Gesellschaft mit ihren ers- ropologie Viktor von Weizsäckers zu ent- ger schwerer Krankheit im Frühjahr des ten Jahrestagungen Gast des Internationa- sprechen scheint. So ist es kein Zufall, vergangenen Jahres in seiner häuslichen len Wissenschaftsforums sein durfte. Aber wenn sich Dietrich Ritschl in der soeben Umgebung verstorben. Enge Wegbegleiter auch für die frühe Öffentlichkeitsarbeit zitierten Heidelberger Antrittsvorlesung und profunde Kenner seines Werkes hatten ebnete Dietrich Ritschl die Wege. Neben der für sein „Jerusalemer-Modell“ auf Wolf- seinerzeit einen Eindruck vom Spektrum ersten öffentlichen Nachricht zur Gründung gang Jacob bezieht: „Hier ist der kranke seines Denkens und Wirkens gegeben. der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft und kaputte Mensch, der Leidende und Hierzu gehörten der Theologe Christian erschienen auch Tagungsberichte und Unverwirklichte, der geliebte, der wahre Link (Bochum), der Philosoph Stephan Rezensionen in der Zeitschrift „Ethik in der Mensch, der Träger der Menschenwürde. Grätzel (Mainz) und der Kunsthistoriker Medizin“.18 Als Organ der 1986 gegründe- Aber nach diesem Modell – das leidende Frank Fehrenbach (Hamburg).23 ten „Akademie für Ethik in der Medizin“ Israel bis zu den Juden unseres Jahrhun- wurde sie lange Jahre in ihrer Schriftleitung derts, sowie der Mensch Jesus stehen ja Die eindrückliche und von großer Wert- von Dietrich Ritschl und dann später auch gerade nicht im Zeichen der Selbstver- schätzung getragene Ansprache von Pastor von Klaus Gahl maßgeblich geprägt. wirklichung und Anpassung – nach diesem Klaus-Georg Poehls bei der Trauerfeier in Modell aber gehen wir nicht mit unseren der Blankeneser Marktkirche ließ etwas von Aber was war es eigentlich, das Dietrich leidenden Mitmenschen, mit Patienten der religiösen Grundhaltung erahnen, die Ritschl zum frühen und nachhaltigen Förde- und mit unseren Kindern um. Nur im Not- den naturphilosophischen Ansatz von rer der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft fall suchen wir Zuflucht beim Jerusalemer- Meyer-Abich wohl immer begleitet hat, werden ließ? Es hat mit der Vielfalt seiner Modell; krass gesagt: Wenn das Athener- ohne dass dies zureichend thematisiert beruflichen Orientierungen als Prediger, Modell von Normalität uns missrät, dann worden wäre. Im Rückblick mag es den theologischer Lehrer und Therapeut zu tun - ziehen wir uns fromm zum Jerusalemer- Unwillen verständlich machen, mit dem er genauer wohl mit seiner Bemühung, diese Modell zurück.“21 Für Dietrich Ritschl ist kritischen Einlassungen begegnete, sofern Vielfalt zu einer Einheit werden zu lassen. diese seinem „holistischen Physiozentris- Hierzu finden sich in seinem umfangreichen mus“ nicht zu folgen vermochten.24 München 1984, 2. Aufl. 1988; ders., Jones, Werk bemerkenswerte Ansätze, sei es die Hugh O., „Story“ als Rohmaterial der Theolo- „Hermeneutik der Ökumene“, das „Story- gie. Chr. Kaiser, München 1976; ders., Kon- Konzept“ oder seine Formel von den „implizi- zepte. Ökumene, Medizin, Ethik. medizinisch-philosophischen Aufbau des Weizsäckerschen Werkes. ten Axiomen“.19 Es ging ihm nicht um eine Gesammelte Aufsätze. Chr. Kaiser, München 1986; Wolfgang Huber, Ernst Petzold, Theo 22 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, a.a. Sundermeier (Hrsg.), Implizite Axiome. Tie- O., S. 326f. 18 Unter der Rubrik „Informationen“ erschien in fenstrukturen des Denkens und Handelns. 23 Mitteilungen Nr. 34 (2016), Fortschr. Neurol. Ethik in der Medizin 8 (1996), Heft 1, S. 43– Chr. Kaiser, München 1990. Psychiatr. 2016; 84, S. 775–779. 44 die Nachricht zur Gründung der Viktor 20 Dietrich Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit. 24 Vgl. hierzu Klaus Michael Meyer-Abich, Natur von Weizsäcker Gesellschaft. Wie es der Die Steuerung von Denken und Handeln und Freiheit. Goethe, Alexander von Hum- Zufall wollte, enthielt dieses Heft einen ein- durch implizite Axiome (Antrittsvorlesung in boldt und Viktor von Weizsäcker als Wegwei- drucksvollen Text des Wiener Theologen und Heidelberg am 6. Juni 1984), Heidelberger ser einer gesundheitsorientierten Medizin, in: Medizinethikers Ulrich H.J. Körtner zu Jahrbücher 29 (1985), S. 35–49, hier S. 35. Gahl, K., Achilles, P., Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.), „Dimensionen von Heil und Heilung“, der 21 Ebd., S. 45. Vgl. Wolfgang Jacob, Kranksein Gegenseitigkeit. Grundfragen medizinischer auch Bezug auf Weizsäcker nahm (ebd., und Krankheit. Anthropologische Grundlagen Ethik, S. 65–85. Königshausen & Neumann, S. 27–42). einer Theorie der Medizin. Fischer, Heidel- Würzburg 2008; weiterführend ders., Prakti- 19 Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. berg 1978. Bei dieser Schrift des Sozialpatho- sche Naturphilosophie. Erinnerung an einen Kurze Darstellung der Zusammenhänge logen Jacob handelt es sich um eine der vergessenen Traum. C.H. Beck, München theologischer Grundgedanken. Chr. Kaiser, frühesten Annäherungen an den 1997. 76 Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77
Wie ein aus dem Nachlass veröffentlichter sen, „dass es letztlich das Ganze der Natur Ein bemerkenswertes Gegenstück zu die- kleiner Text zeigt, verstand sich dieser ist, das uns aus unserer natürlichen Mitwelt sem Unternehmen findet sich in jener bis naturphilosophische Ansatz als eine „per- den erkennenden Blick zurückgibt, wenn heute kaum ernsthaft rezipierten naturphi- sönliche Konfession“ in der Gestalt eines auch wir uns zu erkennen geben.“ Insofern losophischen Vorlesung, mit der sich Viktor lebensgeschichtlich gewachsenen christli- bedarf es einer religiösen Unbefangenheit, von Weizsäcker nach dem Ende des Ersten chen Pantheismus.25 Die leitende Frage war, um „das unsichtbare Wesen, das als das Weltkrieges in der Heidelberger Universität wie es möglich sei, „sich aus der Natur als Ganze der Natur aus allen Dingen und Lebe- an Hörer aller Fakultäten wandte. Den Aus- man selbst angesehen zu fühlen“? Und wesen blickt, als göttlich zu empfinden.“ gang boten ihm nicht die Evangelien, son- genau dieser Frage sollte eine größere Auf diesem Weg sei ihm erst in den letzten dern die biblische Urgeschichte von der Schrift gewidmet sein, an der er buchstäb- Jahren klar geworden, „dass die Evangelien Schöpfung. Es spricht viel dafür, in diesem lich bis zum Moment der Erkrankung gear- des Neuen Testaments selbst pantheistisch Text eine religionsphilosophische Grundle- beitet hatte. Hier würde natürlich vor allem zu verstehen sind.“ Sein Wunsch war es gung seiner Medizinischen Anthropologie zur Sprache kommen, „was uns unter den wohl, sich durch eine von den Evangelien zu sehen.26 heutigen Lebensverhältnissen meistens gestützte „religiöse Wiederentdeckung der davon abhält, den aus der Natur auf uns Natur“ von den etablierten theologischen gerichteten Blick überhaupt wahrzuneh- Interpretationen zu befreien. men.“ Wichtig war ihm der Gedanke gewe- 26 Viktor von Weizsäcker, Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphi- losophie (1919/20). Ges. Schriften, Bd. 2, S. 263–349. Im Nachwort wird darauf verwie- 25 Dieser Text erschien unter dem Titel „Eine sen, dass ein Teil dieser Vorlesung „durch persönliche Konfession“ in: Scheidewege 48 Kriegseinwirkung verlorengegangen“ sei. (2018/19), S. 5–7. Alle folgenden Zitate sind Im Nachlass Viktor von Weizsäckers, der sich diesem Text entnommen. im Deutschen Literaturarchiv Marbach befin- det, konnte eine unvollständige Abschrift des bislang unveröffentlichten Teils gefunden werden, so dass angesichts des bevorstehen- den Jubiläums dieser Vorlesung eine ergänzte Edition zu erwägen ist. Nachrichten Auf Einladung des Dekans der Theologi- Akademische Festvortrag von Rudolf von schen Fakultät der Universität Heidelberg Sinner (Sáo Leopoldo) zu „Dietrich Ritschl – findet am Freitag, dem 18. Januar 2019, Theologie im Dialog mit den Neuen Wel- um 19.30 Uhr in der Aula der Alten Univer- ten.“ Sodann ein Grußwort des Vorstandes sität eine Akademische Gedenkfeier für der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Prof. Dr. h.c. mult. Dietrich Ritschl, PhD., (Rainer-M.E. Jacobi) und ein Dankwort der D.D. statt. Nach der Einführung durch den Direktorin des Ökumenischen Institutes Dekan Christoph Strohm folgt der (Friederike Nüssel). Impressum Verantwortlich für diese Rubrik: Redaktion: Korrespondenzadresse: Peter Henningsen, München Rainer-M.E. Jacobi, Bonn Dr. phil. Rainer-M.E. Jacobi Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Tel.: +49 228 287 1500 Fax: +49 228 287 1506 E-Mail: rme.jacobi@vvwg.de Mitteilungen der Viktor ... Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77 77
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