Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft Nr. 37 (2019) - Viktor-von ...

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  Mitteilungen der
  Viktor von Weizsäcker Gesellschaft
  Nr. 37 (2019)

  Die Teilhabe des Todes am Leben

  Tagung vom 12. bis 14.                                            Die Daseinsweise des Menschen erweist                    Würzburg) als auch um den Rang der
  Oktober 2017 in der Stiftung                                      sich als eine in aller Hinsicht relationale und          Sprache im Umgang von Arzt und Kranken
                                                                    unabgeschlossene – sie ist Fragment und                  (Stephan Zierz, Halle). Wie schon bei den
  Leucorea Lutherstadt                                              dennoch vollendet. Paradigmatisch hierfür                anderen Tagungen gab es auch diesmal
  Wittenberg                                                        ist die Krankheit, wie überhaupt jede Situa-             parallele Symposien, die sich erneut gro-
                                                                    tion der Not. Ebeling spricht im Lichte der              ßer Zustimmung erfreuten: „Leib und
  Es war eine glückliche Fügung, dass diese                         reformatorischen Anthropologie von der                   Seele – moderne Verwandlungen oder Ver-
  Tagung nicht nur in Verbindung mit der                            „Existenz des Menschen als Zwischen-Sein“,               luste?“ (Jörg Dierken, Halle), „Die Krank-
  Neurologischen Klinik und der Theologi-                           wobei dessen Bestimmung große Nähe zu                    heit und ihre Deutungen“ (Regina
  schen Fakultät der Martin-Luther-Universität                      den Denkformen der Medizinischen Anthro-                 Radlbeck-Ossmann, Halle) und „Selbstbes-
  Halle-Wittenberg, sondern auch im Jubi-                           pologie aufweist. Den theologischen Hinter-              timmte Teilhabe als Ziel von Pflege und
  läumsjahr der Reformation stattfand. Denn                         grund liefert Martin Luthers Formel „simul               Therapie“ (Johann Behrens, Berlin/Halle).
  mit der von Weizsäcker geprägten Formel                           iustus et peccator“, deren Zeitlogik, nämlich            Zum Abschluss der Tagung überraschte
  der „Teilhabe des Todes am Leben“ verbin-                         in re Sünder und in spe Gerechter zu sein,               unser langjähriges Mitglied aus Chile, der
  det sich neben der großen Nähe von Medizin                        an Weizsäckers Verhältnisbestimmung von                  Generalsekretär der World Association for
  und Theologie auch eine gewisse Struktur-                         ontisch und pathisch erinnert. Auch die                  Social Psychiatry Fernando Lolas Stepke mit
  verwandtschaft zwischen der medizinischen                         Medizinische Anthropologie fragt nicht                   einem bemerkenswerten Vorschlag.
  und reformatorischen Anthropologie. Die                           nach dem, was der Mensch ist, sondern:
  von Weizsäcker in seinen Helmstedter Vorle-                       „was wird dieser Mensch?“2                               Eine weitere Besonderheit dieser Tagung
  sungen des Jahres 1925 entworfene Skizze                                                                                   lag im Versuch, das über lange Jahre von
  einer „Umgestaltung der Metaphysik“ lässt                         Am deutlichsten wurde diese Strukturver-                 unserem Mitglied Klaus Gahl und dessen
  an die von der neueren Luther-Forschung                           wandtschaft der Medizinischen Anthropo-                  Ehefrau organisierte Braunschweiger Lese-
  thematisierte „ontologische Revolution“ der                       logie mit der frühen Neuzeit in den                      seminare in einer leicht reduzierten Form
  reformatorischen Anthropologie denken –                           Beiträgen des Medizinhistorikers Heinz                   der Tagung anzuschließen. Hierfür war
  also an die Wende von der Substanzontolo-                         Schott (Bonn) und des Theologen Chris-                   nicht nur die räumliche Situation der Leu-
  gie zu einer Ontologie der Relationen.                            tian Link (Bochum). Die Kreativität und                  corea eine gute Voraussetzung, sondern
                                                                    Irritation solcher Verwandtschaft zeigte                 auch die von Hartwig Wiedebach (Zürich)
  Weizsäcker entwirft am Beispiel der sog.                          sich gleich zu Beginn und am Ende                        und Hilde Gahl (Braunschweig) ausgewähl-
  „Bipersonalität“ ein Konzept der Alterität                        der Tagung bei den Versuchen, der titel-                 ten und kommentierten Texte. Es handelte
  im Sinne einer „ursprünglichen Verbunden-                         gebenden Teihabe-Formel streng philoso-                  sich um Auszüge aus Der kranke Mensch
  heit“ des Menschen, der als Einzelner                             phisch (Volker Gerhardt, Berlin) oder                    von Viktor von Weizsäcker und aus Schul-
  „ontologisch nicht real“ ist. Für Gerhard                         literarhistorisch (Wolfgang Riedel, Würz-                meisterlein Wutz von Jean Paul.
  Ebeling ist es die sog. „coram-Relation“,                         burg) auf die Spur kommen zu wollen. Das
  die den Menschen gleichermaßen in ein                             eigentlich Charakteristische der Tagung                  Rückblick und Ausblick
  Verhältnis zu Gott, zur Welt und zum Ande-                        waren indes die Brückenschläge hin zur
  ren stellt. Dieses „untrennbar korrespon-                         ärztlichen und pflegerischen Praxis. Hier                 Von Fernando Lolas Stepke, Chile
  dierende Beieinander“ der Verhältnisse                            ging es sowohl um die Aufgaben der Pal-
  bestimmt das Sein des Menschen als ein                            liativmedizin    (Birgit  van   Oorschot,                Meine sehr verehrten Damen und Herren,
  ursprüngliches Bezogensein.1                                                                                               ich darf mich herzlich bedanken, nicht nur
                                                                           Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1,        für die Gelegenheit, an dieser lehrreichen
                                                                           S. 334–355. Mohr-Siebeck, Tübingen 1982.          Tagung teilnehmen zu dürfen, sondern
  1     Vgl. Viktor von Weizsäcker, Seelenbehand-                   2      Viktor von Weizsäcker, Der kranke Mensch.         auch für die Möglichkeit zu diesem Schluss-
        lung und Seelenführung. Nach ihren biologi-                        Eine Einführung in die Medizinische Anthro-
                                                                                                                             wort. Zumal das Thema dieser Tagung für
        schen und metaphysischen Grundlagen                                pologie (1951). Ges. Schriften, Bd. 9, S. 311–
                                                                                                                             das Werk und Denken Viktor von Weizsä-
        betrachtet (1926). Ges. Schriften, Bd. 5,                          641, hier S. 558; vgl. Gerhard Ebeling, Luther.
        S. 67–141, hier S. 119, 71f, 122, 114f. Suhr-                      Einführung in sein Denken (1964). Mohr-Sie-       ckers von zentraler Bedeutung ist. Ich kam
        kamp, Frankfurt/M. 1987; Gerhard Ebeling,                          beck, Tübingen 2017, S. 182–185.                  mit dem Werk dieses großen Gelehrten

  Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77                                                                                71
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  durch zwei Persönlichkeiten in Kontakt, die             Moderne zum Vorschein: nämlich die weit-                    erlebten Lebens mit der Hoffnung und der
  für meinen wissenschaftlichen Weg von                   reichende Prägung von Krankheit, Sterben                    Befürchtung des zukünftigen Lebens in
  ausschlaggebender Bedeutung waren.                      und Tod durch die Prozesse der Säkularisa-                  jedem Moment des Lebens zusammen.
                                                          tion, der Naturalisierung und der Technisie-                Wenn der Erfahrungsraum für all das steht,
  Hier ist zunächst der spanische Medizinhis-             rung. Gibt es im Horizont der Moderne eine                  was es gibt, was vorhanden und zuhanden
  toriker Pedro Lain Entralgo zu nennen, dem              Teilhabe des Todes am Leben? Zwar tragen                    ist, andererseits aber der Erwartungshori-
  wir die Formel von der „Heidelberger                    die Fortschritte in der medizinischen Diag-                 zont für all jenes, was wünschenswert ist
  Schule“ verdanken. Er führte sie 1950                   nostik und Therapie zur Verlängerung und                    oder angestrebt bzw. befürchtet wird,
  in seiner zum Klassiker gewordenen Schrift              Verbesserung des Lebens bei, doch sie ver-                  dann braucht es zur Beschreibung des
  Heilkunde in geschichtlicher Entscheidung               ändern damit nicht nur das Verhältnis von                   Lebens immer zwei Haltungen: eine analy-
  ein.3 Neben seinen wegweisenden Beiträ-                 Leben und Tod, sondern auch den gesell-                     tisch-deskriptive und eine normativ-
  gen zur Geschichte der Medizin wurde er                 schaftlichen Umgang mit Leben und Tod.                      präskriptive.
  für mich besonders wichtig, weil er meine               Doch trotz aller Marginalisierung des Todes
  Nominierung als Korrespondierendes Mit-                 bleibt die Frage nach dem Sinn des Todes.                   Besonders deutlich wird die Spannung,
  glied der Königlichen Spanischen Akademie               Offenbar gibt es ein unstillbares Bedürfnis                  mitunter auch der Widerspruch zwischen
  für Sprache unterstützte. Doch dann muss                des Menschen, nicht nur nach dem Sinn                       diesen beiden Haltungen angesichts von
  ich meinen Heidelberger Lehrer Paul Chris-              dessen zu fragen, was uns umgibt, also das                  Sterben und Tod. Weizsäckers Formel von
  tian erwähnen. Mit seiner Berufung auf den              Leben, sondern zugleich auch nach dem                       der „Teilhabe des Todes am Leben“ steht
  1958 erneut eingerichteten Lehrstuhl für                Sinn von dessen Verlust zu fragen – also                    für diesen spannungsvollen Widerspruch,
  Allgemeine Klinische Medizin trat er nicht              nach dem Sinn des Todes. Medizinische Wis-                  den es gleichwohl im Umgang mit dem
  nur intellektuell, sondern auch institutionell          senschaft und Technik können diese Frage                    kranken Menschen immer aufs Neue aufzu-
  in die Nachfolge Viktor von Weizsäckers.                nicht beantworten. Denn hier geht es um                     lösen gilt. Nicht selten stößt hierbei die
  Seit ich ihn bei meinem ersten Heidelberg-              die eigentümliche Mischung von lebensnot-                   narrative Konstitution des Humanen an die
  aufenthalt 1975 kennenlernte, profitierte                wendigen und zusätzlichen Bedürfnissen                      Grenze soziotechnischer Zielorientierun-
  ich bis zu seinem Tod von der geistigen                 (englisch: needs and wants) – erst beide                    gen. Denn eine Verwirklichung aller
  Aufgeschlossenheit, der beneidenswerten                 zusammen machen den Reichtum und das                        Ansprüche auf Kohärenz, Befriedigung und
  Geduld und großen Weisheit dieser unge-                 Geheimnis des Lebens aus.                                   Glück kann das Leben selbst gefährden.
  wöhnlichen Persönlichkeit. Ich verdanke                                                                             Erneut meldet sich das Bedürfnis nach dem
  ihm wertvolle Einsichten, die mein eigenes              Eine ärztliche Anthropologie muss daher                     Sinn des Todes, nach dem Sinn von Nicht-
  Denken bis heute prägen. Umso mehr                      nicht nur Natur und Kultur, sondern auch                    Verwirklichung und Verlust.
  freut es mich, dass nun seit einigen Jahren             Erfahrungen und Emotionen, gegenwärtige
  der von Wolfgang Eich und Rainer-M.E.                   Situation und zukünftige Möglichkeit ver-                   Und dennoch braucht es einen Erwar-
  Jacobi herausgegebene Band zur „Biperso-                binden. Es geht gleichsam um eine Ver-                      tungshorizont, aus dem heraus sich der
  nalität“ vorliegt, der einen tiefen Einblick in         schmelzung von Metis und Phronesis, von                     Erfahrungsraum bereichern lässt. Mein per-
  Leben und Werk Paul Christians gibt.4 Für               Fertigkeit und Klugheit.6 Ein Beispiel hierfür              sönlicher Erwartungshorizont beim Besuch
  mich ist er der Begründer einer Medizin als             ist Reinhart Koselleck, einer der originells-               dieser Tagung hat mit der Alexander von
  „dialogischer Handlungswissenschaft“.5                  ten Historiker Deutschlands. Wie mir Herr                   Humboldt Stiftung zu tun und der Erwar-
                                                          Jacobi erzählte, entwickelte er die                         tung einer Kooperation dieser Stiftung mit
  Viktor von Weizsäckers tiefsinnige Rede von             berühmte Unterscheidung von „Erfah-                         der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft –
  der „Teilhabe des Todes am Leben“, wie sie              rungsraum“ und „Erwartungshorizont“ -                       ganz im Sinne eines „Forums für die Wis-
  zum Thema dieser Tagung gemacht wurde,                  angeregt durch den Besuch der späten Vor-                   senschaften vom Menschen“. Nicht nur
  bringt sofort ein Grundproblem der                      lesungen Viktor von Weizsäckers in Heidel-                  meine Teilnahme an dieser Tagung wurde
                                                          berg - aus dem intensiven Studium seiner                    von der Alexander von Humboldt Stiftung
  3    Vgl. Pedro Lain Entralgo, Heilkunde in             Schriften.7 Hier kommt die Wirklichkeit des                 ermöglicht, sondern ich kenne als Hum-
       geschichtlicher Entscheidung. Einführung in                                                                    boldt-Alumni-Preisträger und ehemaliger
       die psychosomatische Pathologie. Otto Mül-
                                                                                                                      Stipendiat diese Stiftung als eine der groß-
       ler, Salzburg 1950.                                6    Vgl. weiterführend Rainer-M.E. Jacobi, Gegen-          zügigsten Stiftungen für Forschung und
  4    Wolfgang Eich, Rainer-M.E. Jacobi (Hrsg.),              seitigkeit und Normativität. Eine problemge-
                                                                                                                      Studium in Europa.8 Sie trägt dazu bei,
       Bipersonalität, Psychophysiologie und anthro-           schichtliche Skizze zu den Grundfragen der
       pologische Medizin. Beiträge zur Medizinischen          medizinischen Ethik, in: Gahl, K., Achilles, P.,       deutsche Kultur und Wissenschaft weltweit
       Anthropologie, Bd. 8. Königshausen & Neu-               Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.), Gegenseitigkeit. Grund-      bekannt zu machen. Eine Kooperation mit
       mann, Würzburg 2014.                                    fragen medizinischer Ethik, S. 461–492, hier           der Alexander von Humboldt Stiftung
  5    Fernando Lolas Stepke, Paul Christian – Medi-           bes. S. 481ff. Königshausen & Neumann, Würz-            könnte dazu verhelfen, das Anliegen der
       zin als dialogische Handlungswissenschaft,              burg 2008.
       in: Eich, W., Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.), Biperso-   7    Vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“
       nalität, a.a.O., S. 115–123; ders., Paul Chris-         und „Erwartungshorizont“ – zwei historische            8      Bei der Förderung meines Heidelberger Stu-
       tian und die Heidelberger Schule. Persönliche           Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft.                    diums ist auch für die Unterstützung durch
       Darstellung eines Werdegangs. Fundamenta                Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, S. 349–                  den Deutschen Akademischen Austausch-
       Psychiatrica 4 (2001), S. 135–138.                      375. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1979.                             dienst (DAAD) zu danken.

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Viktor von Weizsäcker Gesellschaft auch in                        nur durch das Gelebte und Geschehene,                  die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann
Ländern und Sprachen bekannt zu                                   sondern auch und vielleicht sogar nachhal-             gewonnen werden. Sie hatte das Thema
machen, in denen dies bislang nicht mög-                          tiger durch die erhofften wie befürchteten              „Rhythmen und Rahmen individuellen und
lich war. Ich bin gern bereit eine solche                         aber nicht geschehenen Ereignisse. In                  kollektiven Erinnerns“ gewählt.
Kooperation zu unterstützen – hier liegt                          Anlehnung an den Historiker Reinhart
mein Erwartungshorizont: mein Ausblick,                           Koselleck könnte man von einer „Zukunft                Ich durfte – wie in den Jahren zuvor – die
der aus einem Rückblick erwächst.9                                der Vergangenheit“ sprechen, die noch                  Einführung und Moderation des Sympo-
                                                                  nicht Gegenwart geworden ist.11 Mit dieser             siums übernehmen. Ich wies darauf hin,
Satellitensymposium                                               Wende vom Gewesenen und Seienden zum                   dass die Psychosomatik einerseits bestrebt
                                                                  Nicht-Gewesenen und Noch-Ausstehenden                  sein sollte, sich als eigenständiges Spezial-
Fast scheint es, als ob die Institution des                       gewinnt die „biographische Methode“ eine               gebiet in der Medizin zu etablieren. Ande-
jetzt zum siebten Mal stattgefundenen                             kulturanthropologische Dimension, die es               rerseits ist sie aber – auch aus Sicht der
Satellitensymposiums beim Deutschen Kon-                          verdient, näher untersucht zu werden. Das              Gründungsväter der Psychosomatik, wozu
gress für Psychosomatische Medizin und                            jüngste Satellitensymposium war ein erster             Viktor von Weizsäcker zu zählen ist – eine
Psychotherapie in Berlin bereits vor Beginn                       Schritt in diese Richtung.                             Grundlagenwissenschaft        der   Medizin.
der Diskussion um eine Neuausrichtung                                                                                    Wenn sie den Dialog mit den Nachbardiszi-
unserer Gesellschaft zu deren sichtbarstem                        Bericht zum                                            plinen pflegt und sich insbesondere Anre-
Zeichen geworden ist. Denn es geht gerade                                                                                gungen auch aus den nicht-empirisch
nicht um ärztliche Fort- und Weiterbildung                        Satellitensymposium 2018                               forschenden Disziplinen holt, wird sie die
im engeren Sinn, sondern um den Versuch,                          Von Hans Stoffels                                       umfassende Sicht auf den Menschen nicht
etwas von den geistigen Grundlagen und                                                                                   aus den Augen verlieren. Im Mittelpunkt
dem kulturellen Horizont ärztlichen Tuns zu                       Die vor Jahren getroffene Entscheidung der              des diesjährigen Symposiums, so führte ich
vermitteln. Am Beispiel der Geschichtlich-                        beiden führenden deutschen psychosoma-                 weiter aus, steht die Frage nach der Bedeu-
keit menschlichen Krankseins wird dies                            tischen Fachgesellschaften (DKPM und                   tung von Erinnerung und Gedächtnis. Es
besonders deutlich. Es ist kein Zufall, dass                      DGPM), stets gemeinsam und stets in Ber-               stellen sich Fragen, die für jede Psychothe-
die moderne, biomolekular und gentech-                            lin im Frühjahr den „Deutschen Kongress                rapie von Relevanz sind. Es zeigt sich ein
nisch orientierte Medizin ein Kind der euro-                      für Psychosomatische Medizin und Psycho-               paradoxes Phänomen: auf der einen Seite –
päischen Neuzeit ist und von den geistigen                        therapie“ auszurichten, hat zu einer                    angestoßen durch die psychoanalytische
Grundlagen der klassischen Naturwissen-                           Erfolgsgeschichte geführt. Jedes Jahr kom-             Theorie der Verdrängung – wird Erinnerung
schaft bestimmt wird. Die eigentümliche                           men immer mehr Ärzte nach Berlin, um an                als der Königsweg der Therapie bezeichnet.
Struktur von Geschichtlichkeit, wie sie sich                      diesem Kongress teilzunehmen. Die Kon-                 Auf der anderen Seite sind Heilung und
in der gegenseitigen Verschränkung und                            gressleitung lud gleich zu Anfang die Viktor           Befreiung von seelischen Nöten, Ängsten
Verborgenheit von Vergangenheit, Gegen-                           von Weizsäcker Gesellschaft ein, im Rah-               und Zwängen nur möglich, wenn auch Ver-
wart und Zukunft zeigt, führt dann immer                          men dieses Kongresses ein Symposium                    gessen gelingt. Somit taucht die Frage auf,
wieder zu Täuschungen und Fehlurteilen bei                        auszurichten, dessen Thematik und Gestal-              in welchem Verhältnis die Unfähigkeit zu
der Beschreibung menschlichen Krankseins.                         tung die Weizsäcker-Gesellschaft selbst                erinnern und die Fähigkeit zu vergessen zuei-
                                                                  bestimmen kann. Die Einladung wurde                    nanderstehen, wenn es um Gesundheit
Eine Medizin, wie sie Viktor von Weizsäcker                       dankbar angenommen, und so hat sich                    und Krankheit geht.
vor Augen stand, wird auch ein Stück weit                         über die Jahre ein Satellitensymposium der
Kulturanthropologie sein müssen. So wie                           Weizsäcker-Gesellschaft beim Deutschen                 Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches
das Nachdenken über Gedächtnis und Erin-                          Kongress für Psychosomatische Medizin                  Unzeitgemäße Betrachtungen hatte Aleida
nerung in kulturellen und politischen                             und Psychotherapie etabliert, das zu einem             Assmann gemeinsam mit der Historikerin
Zusammenhängen immer eine therapeuti-                             eigenen Format weiterentwickelt wurde.                 Ute Frevert bereits 1999 auf Widersprüche
sche Dimension hat, mag es naheliegend                            Wobei das übergeordnete Thema erhalten                 im Umgang mit der geschichtlichen Vergan-
sein, in Weizsäckers therapeutischen Kon-                         blieb: „Die Psychosomatik und ihre Nach-               genheit hingewiesen. In ihrer Publikation
zept der „biographischen Methode“ glei-                           bardisziplinen“. Hielten anfangs mehrere               Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessen-
chermaßen einen kulturanthropologischen                           Referenten Kurzvorträge, so war das Sym-               heit ist die Rede von einem „verzehrenden
Ansatz zu erkennen. Eines der Postulate                           posium zuletzt geprägt vom Vortrag eines               historischen Fieber“, das Kreativität verküm-
dieser Methode ist die „Wirksamkeit des                           Referenten. Dies führte zu einer Vertiefung,           mern lasse und die Gestaltung der Zukunft
Ungelebten“.10 Vergangenheit wirkt nicht                          zu erhöhter Konzentration und Dichte. Für              verhindere. So würden sich gerade die Deut-
                                                                  das Symposium am 16. März 2018 konnte                  schen eines „Erinnerungsmarathons“ im Hin-
                                                                                                                         blick auf ihre jüngste Geschichte befleißigen.
9     Rainer-M.E. Jacobi danke ich für Anregungen
                                                                                                                         Umgekehrt aber sei evident, dass die Ver-
      und redaktionelle Hinweise.                                 11     Vgl. Rainer-M.E. Jacobi, Die Zukunft der Ver-
                                                                                                                         drängung von Vergangenheiten in der indivi-
10    Vgl. Viktor von Weizsäcker, Erinnerung an Ale-                     gangenheit. Geschichte und Therapie bei Vik-
                                                                                                                         duellen, aber auch in der gesellschaftlichen
      xander von Humboldt (1950). Ges. Schriften,                        tor von Weizsäcker und Reinhart Koselleck.
      Bd. 1, S. 451–456, hier S. 451f.; ders., Patho-                    Vortrag im Karl Jaspers-Haus Oldenburg am       Geschichte ein pathogener Faktor ist, der
      sophie (1956). Ges. Schriften, Bd. 10, S. 274ff.                    24. Juni 2016.                                  produktive Entwicklungen blockiert. Welche

Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77                                                                                 73
Verbandsmitteilungen                                                                                                                                                 Thieme

  Gesichtspunkte wird Aleida Assmann in den           alleine auf. Aleida Assmann zitierte Han-              anzuerkennen. Die hierzu erforderliche
  Vordergrund stellen, deren letzte Buchpubli-        nah Ahrendts Schrift Elemente und                      historische Forschung sei immer wieder
  kationen sich mit „Formen des Vergessens“           Ursprünge totaler Herrschaft: „Wir können              angewiesen auf Zeugen und Zeugenschaft.
  und mit dem „neuen Unbehagen an der                 es uns nicht mehr leisten, nur das Gute in
  Erinnerungskultur“ auseinandersetzen?               der Vergangenheit auszuwählen und als                  Die Diskussion des Vortrags von Aleida Ass-
                                                      unser Erbe anzunehmen, während wir das                 mann war lebhaft. Sie drehte sich um die
  In ihrem Vortrag führte Aleida Assmann              Schlechte einfach ignorieren und es als                Frage, wie der Funktionalisierung der Erin-
  anhand historischer Beispielen aus, dass            totes Gewicht ansehen, das die Zeit von                nerung für gegenwärtige Interessen zu
  Erinnerung für sich nicht in Anspruch neh-          selbst im allgemeinen Vergessen begra-                 begegnen ist, sei es im gesellschaftlichen
  men kann, stets das Gute zu repräsentie-            ben wird. (. . .) Und deshalb sind alle                Zusammenhang oder in der Psychothera-
  ren. So hätten die Nationalsozialisten              Anstrengungen umsonst, sich aus der bit-               pie – zum Beispiel bei Patienten, die sich
  immer wieder an den Versailler Vertrag              teren Gegenwart in die Nostalgie einer                 nicht von belastenden Erinnerungen
  erinnert und die damit verknüpfte Demüti-           noch intakten Vergangenheit zu stürzen                 befreien können oder wollen.
  gung, um Gefühle von Revanche zu                    oder in das Vergessen in Hoffnung auf
  wecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg                  eine bessere Zukunft.“13                               Kein Zweifel, auch der Kampf um die Etab-
  waren die Reaktionen auf das Jahrhundert-                                                                  lierung einer selbstkritischen und dialog-
  verbrechen höchst unterschiedlich bei Poli-         In den 70er Jahren nahmen sich die deut-               ischen Erinnerungskultur hat bereits eine
  tikern, Historikern und auch in der                 schen Medien, insbesondere das Fernse-                 Geschichte. Zu dieser Geschichte gehört,
  allgemeinen Bevölkerung. Eine Erinne-               hen, des Themas „Holocaust“ an in einer                dass Aleida Assmann ein halbes Jahr später
  rungskultur konnte sich nicht entwickeln,           Serie, die Millionen von Menschen sahen.               in der Paulskirche in Frankfurt gemeinsam
  vielen erschien das Schweigen und Ver-              Über die Vergangenheit, die nicht verge-               mit ihrem Mann den Friedenspreis des
  schweigen, das Vergessen als die bessere            hen will, kam es in den 80er Jahren zu                 Deutschen Buchhandels erhielt.
  Option. Aleida Assmann wies auf Winston             einem Streit unter Historikern und zu
  Churchill hin, der im September 1946 in             einer Kritik an der „Schlussstrich-Mentali-            Karl Jaspers-Haus Oldenburg
  Zürich eine bemerkenswerte Rede hielt.              tät“. Am 08.05.1985 hielt der damalige
  Ihm ging es um den Bau des neu zu gründ-            Bundespräsident Richard von Weizsäcker                 Die Karl-Jaspers-Gastprofessur, die unser
  enden Hauses Europa und er forderte ein             seine berühmte Rede, in der er das Ende                Mitglied Martin Sack (München) im Som-
  „Ende der Abrechnungen“: „Wir alle müs-             des Zweiten Weltkrieges nicht als Nieder-              mersemester 2016 in Oldenburg innehatte,
  sen den Gräueln der Vergangenheit den               lage sondern als Befreiung zu verstehen                wurde zum Anlass für ein kleines Sympo-
  Rücken zuwenden. Wir müssen in die                  suchte. Nach der Wende 1989 stand                      sium zu Werk und Wirkung Viktor von Weiz-
  Zukunft schauen. Wir können es uns nicht            erneut die Erinnerungskultur auf dem                   säckers im Oldenburger Karl Jaspers-Haus.
  leisten, in die kommenden Jahre den Hass            Prüfstand. Wann darf ein Schlussstrich                 Im Rückblick auf diese Veranstaltung, die
  und die Rache hineinzuziehen, die aus den           gezogen werden?                                        unserem Gründungsvorsitzenden Dieter
  Wunden der Vergangenheit entstanden                                                                        Janz Gelegenheit zu einer letzten großen
  sind. Wenn Europa vor endlosem Unheil               Aleida Assmann erörterte den Begriff des                Präsentation seiner Bemühungen um die
  und endgültigem Untergang gerettet wer-             „kollektiven Gedächtnisses“, das einen                 Briefe Viktor von Weizsäckers gab, lag es
  den soll, müssen wir es auf einen Akt des           Rahmen brauche. Es organisiere sich in                 nahe, über mögliche Fortsetzungen dieses
  Glaubens an die europäische Familie                 der Narration, im Erzählen und in der                  Formats nachzudenken.14 Vor allem ist es
  und einen Akt des Vergessens aller                  Gemeinschaft. Auch in der Narration                    die enge Zusammenarbeit der Heisenberg-
  Verbrechen und Irrtümer der Vergangen-              wähle das Gedächtnis aus. Erinnert wird                Professur für Vergleichende Ideenge-
  heit gründen.“12                                    zumeist das, was die Identität stärkt, wäh-            schichte an der Carl von Ossietzky Universi-
                                                      rend Schuld- und Schamgefühle, worauf                  tät mit der Oldenburger Karl Jaspers-Klinik,
  Dem stellte Aleida Assmann die Forde-               Nietzsche schon hinwies, Gedächtnisin-                 die zur European Medical School gehört,
  rung von Hannah Arendt nach einer                   halte ausgrenzen oder verfälschen. Das                 wodurch es bei medizinisch-anthropologi-
  neuen     ethischen      Erinnerungskultur          nationale Gedächtnis tendiert zum Mono-                schen Themen im Karl Jaspers-Haus zu einer
  gegenüber, da sich im Totalitarismus „ein           logischen. Der monologischen Gedächt-                  erfreulichen Mischung zwischen akademi-
  absolutes Böses“ offenbart habe, das                 niskonstruktion müsse eine dialogische                 schen Fachpublikum und einer interessier-
  nicht mit den Kategorien verständlicher             Gedächtnisentwicklung entgegengestellt                 ten Öffentlichkeit kommt.
  Motive zu erklären sei. In der neuen Erin-          werden. Am Ende betonte Assmann, dass
  nerungskultur    müsse       sowohl    das          die Schlussstrich-Mentalität nach 1945 die             Auf Matthias Bormuth, dem Inhaber der
  Schlechte als auch das Gute benannt wer-            Täter geschützt und den Opfern gescha-                 Heisenberg-Professur und Leiter des Karl
  den. Die Vergangenheit löst sich nicht von          det habe. Sie forderte daher, auch die                 Jaspers-Hauses, geht der Vorschlag zurück,
                                                      schwerwiegenden Verbrechen in der eige-                den seinerzeit von Martin Sack vorges-
                                                      nen nationalen Geschichte im Rahmen                    tellten Begriff des „Pathischen“ sowohl
  12   Zitiert nach Aleida Assmann, Das neue Unbe-
                                                      einer selbstkritischen Erinnerungskultur
       hagen an der Erinnerungskultur. Eine Inter-
       vention, S. 185. C.H. Beck, München 2013, 2.                                                          14     Vgl. Mitteilungen Nr. 35 (2017), Fortschr.
       Aufl. 2016.                                     13   Zitiert nach ebd., S. 188.                               Neurol. Psychiatr. 2017; 85, S. 641.

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werkgenetisch als auch ideengeschichtlich                         Begriffen aus dem realen Umgang mit                   Dietrich Ritschl
näher zu verfolgen.15 In Absprache mit                            lebendigen, unsicheren, erfahrungsoffenen
der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft                            Menschen in der pathischen Situation“ –              17. Januar 1929 – 11. Januar
waren zwei Vortragsveranstaltungen für                            also in Situationen der Krise, der Entschei-
den 14. und 15. Mai 2018 vorgesehen.                              dung und Wandlung.                                   2018
Zunächst versuchte der Berliner Philosoph                                                                              Der besondere Charakter der Viktor von
und Publizist Sebastian Kleinschmidt von                          Am darauffolgenden Abend sollte der Würz-             Weizsäcker Gesellschaft hat nicht zum
Weizsäckers Spätwerk Pathosophie her, die                         burger Literarhistoriker Wolfgang Riedel am          wenigsten mit den Geschichten und Vorge-
Grundzüge des Menschenbildes der anth-                            Beispiel des Pathischen der ideengeschichtli-        schichten von deren Gründung zu tun.
ropologischen Medizin zu entfalten.                               chen Konstellation zwischen Viktor und Carl          Diese erfolgte dank der Gastgeberschaft
                                                                  Friedrich von Weizsäcker nachgehen, zumal            von Friedhelm Lamprecht am 11. Dezember
Den Ausgangspunkt bildete das „Schlüssel-                         es eine Vielzahl von literarischen Spuren            1994 in Hannover. Schon hier flossen zwei
ereignis im Entstehen der anthropologi-                           gibt, die der von seinem Onkel Viktor                Vorgeschichten zusammen. Einmal die mit
schen Medizin“ – nämlich die Einführung des                       geprägte Begriff des Pathischen in den                einem Gestaltkreis-Kolloquium an der For-
Subjekts. Es gilt Abschied zu nehmen von                          Schriften des Physikers und Naturphiloso-            schungsstätte der Evangelischen Studienge-
den Erwartungen und Gewissheiten der                              phen hinterlassen hat. Obgleich eine längere         meinschaft (FEST) im Jahr 1973 ausgelöste
Objektivität. Der Mensch und seine Lebens-                        Erkrankung die Vorbereitung dieses Vortra-           Arbeit an den „Gesammelten Schriften“ Vik-
wirklichkeit erschließen sich keinem positi-                      ges verhinderte, stellte sich Wolfgang Riedel        tor von Weizsäckers, die unter der Leitung
ven Wissen von dem, was ist. Vielmehr sind                        für ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der            von Dieter Janz stand, und zum anderen die
es die Widerfahrnisse des Nicht-Seins, des                        Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, dem              von Rudolf Prinz zur Lippe begründeten
Verlustes und des Mangels, in denen sich                          Bonner Wissenschaftsphilosophen Rainer-M.            „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der
etwas vom „Menschlichen im Menschen“                              E. Jacobi zur Verfügung, das von Matthias            Zeit“, die ihrerseits zur organisatorischen
zeigt. Daher ist es auch nicht die vermeintli-                    Bormuth moderiert wurde. Hier ging es vor            und geistigen Vorbereitung jener Gründung
che Normalität der Gesundheit, sondern die                        allem um die Frage nach den literarischen            verhalfen.17 Doch es gibt noch eine weitere
Vielfalt der Negativitäten des Lebens und                         Formen, die eine Rede vom Pathischen erfor-          Vorgeschichte, die bislang eher wenig
der Umgang mit ihnen, aus dem das Men-                            dert. Die dem Weizsäckerschen Werk häufig             bekannt war. Sie hat mit dem ökumeni-
schenbild der anthropologischen Medizin                           nachgesagte mangelhafte Klarheit und Sys-            schen Theologen, Psychotherapeuten und
erwächst. Beispiele hierfür sind die „Verlo-                      tematik könnte sich als eine den Erfahrungen         Medizinethiker Dietrich Ritschl zu tun.
genheit des Lebens“, die „pathischen Kate-                        des Pathischen angemessene Darstellungs-
gorien“ und das geschichtsphilosophisch-                          form erweisen. Es spräche einiges dafür,             Nach dem Studium der Physik, Philosophie
therapeutische Konzept von der „Wirksam-                          Weizsäckers Werk in eine Epochenverwandt-            und Theologie, intensiver Gemeindearbeit in
keit des Ungelebten“ – alles Formen pathi-                        schaft mit der Zeit um 1800 zu stellen. Die          Schottland und im Süden der USA, begleitete
scher Existenz, mit denen sich bisherige                          Kontroverse zwischen dem Systemanspruch              er Professuren für patristische und
Anthropologien noch kaum beschäftigt                              der transzendentalen Subjektphilosophie              systematische Theologie in Austin/Texas,
haben. Es ist eine Rede vom Menschen, die                         und der Poetik des Fragmentarischen in der           Pittsburgh und schließlich am berühmten
in einen „philosophischen Schwebezustand“                         Frühromantik würde vermutlich Ansätze für            Union Theological Seminary in New York.
führt. Herausforderung und Fragwürdigkeit                         neue Lektüren nicht nur des Weizsäcker-              Doch sein akademischer Weg führte ihn
des Weizsäckerschen Denkens liegen hier                           schen, sondern auch anderer Werke des frü-           dann über Mainz nach Heidelberg, der wohl
eng beieinander. Um Reichtum und Tiefe                            hen 20. Jahrhunderts bieten.16                       wichtigsten und längsten Station. Hier lehrte
des Menschenbildes der anthropologischen                                                                               er ökumenische und systematische Theolo-
Medizin zu erfassen, braucht es das                               Der große Publikumszuspruch und die                  gie, aber auch medizinische Ethik und
„Hineingehen in die Gegenseitigkeit einer                         Qualität der Diskussion lässt es angeraten           betreibt seinen „zweiten Beruf“ als analyti-
konkreten Erfahrung und das Gewinnen von                          sein, über geeignete Formen der Fortset-             scher Psychotherapeut. Zusätzlich wird er
                                                                  zung nachzudenken. Das kleinere Format               Direktor des Ökumenischen Instituts und
                                                                  solcher Tages-Veranstaltungen scheint der            Gründungsdirektor des Internationalen Wis-
15    Hier ist auf eine leider noch wenig beachtete               Bekanntmachung und Weiterverbreitung                 senschaftsforums der Universität Heidelberg.
      grundlegende Studie zu verweisen: Hartwig
                                                                  des Denkens Viktor von Weizsäckers nicht
      Wiedebach, Pathische Urteilskraft. Alber,
      Freiburg/München 2014; vgl. die Bespre-                     abträglich zu sein.                                  17   Vgl. hierzu Rainer-M.E. Jacobi, 20 Jahre Viktor
      chungen von Helmut Holzhey, Pathische                                                                                 von Weizsäcker Gesellschaft, Mitteilungen
      Urteilskraft. Gedanken zum Leiden im                        16     Vgl. Rainer-M.E. Jacobi, Vom System zum            Nr. 32 (2014), Fortschr. Neurol. Psychiatr.
      Anschluss an ein Buch von Hartwig Wiede-                           Fragment. Anmerkungen zur Denkform der             2014; 82, S. 721–724; sowie Rudolf zur
      bach, Information Philosophie 43 (2015),                           Medizinischen Anthropologie Viktor von             Lippe, Aufbruch ins Unzeitgemäße. Erinne-
      Heft 4, S. 44–53 und von Rainer-M.E. Jacobi,                       Weizsäckers, in: Wiedebach, H. (Hrsg.), Die        rung an die Vorgeschichte einer Gründung,
      psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie,                         Denkfigur des Systems im Ausgang von Franz          in: Jacobi, R.-M.E., Janz, D. (Hrsg.), Zur Aktua-
      Philosophie und Kultur, Bd. 11 (2016), S.                          Rosenzweigs „Stern der Erlösung“, S. 199–          lität Viktor von Weizsäckers, S. 287–298.
      238–255.                                                           212. Duncker & Humblot, Berlin 2013.               Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.

Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77                                                                                      75
Verbandsmitteilungen                                                                                                                                                       Thieme

  Diese beiden Institutionen wurden zu den               „neue Theologie“, sondern um eine andere                  es die Grundhaltung einer „therapeuti-
  ersten Wirkungsstätten der Viktor von                  Art und Weise des theologischen Fragens                   schen Ethik“, in deren Horizont sich Theo-
  Weizsäcker Gesellschaft. Im Ökumenischen               und Argumentierens im Rückblick auf die                   logie und Medizin auch und gerade
  Institut versammelte sich unter der Leitung            biblische Tradition, im Dialog mit den                    angesichts aktueller Herausforderungen
  von Dietrich Ritschl eine interdisziplinäre            Humanwissenschaften und in Verantwortung                  gegenseitig unterstützen und bereichern
  Arbeitsgruppe zu den „Dimensionen der                  gegenüber der konkreten Situation der Welt.               können.22
  Heilung“, der auch prominente Mitglieder               Theologie versteht sich dann weniger als
  unserer Gesellschaft angehörten: Peter                 Wissenschaft als dass sie hindrängt „auf die              Klaus Michael Meyer-Abich
  Hahn, Jürgen Hübner, Ernst Petzold und Rei-            Weisheit liebevollen, therapeutischen Han-
  ner Wiehl. Zu eben jener Zeit fanden dort              delns mit Menschen, um sie auf allen Ebenen               8. April 1936–19. April 2018
  intensive Lektüre-Seminare zu klassischen              spüren zu lassen, dass sie Menschen bleiben               Der zaghafte Hinweis auf die einge-
  Texten der Medizinischen Anthropologie                 sollen, und auf die Weisheit der Doxologie,               schränkte Gesundheit des Jubilars, wie er
  statt. Es ging um Autoren wie Wolfgang                 die Gott zuruft, dass er unser Gott ist.“20               sich im redaktionellen Vorspann zur Würdi-
  Blankenburg, Paul Christian, Fritz Hartmann,                                                                     gung aus Anlass seines 80. Geburtstages
  Viktor von Weizsäcker und Dieter Wyss. So              Im Hintergrund steht ein Verständnis vom                  findet, hat nun seinen ganzen Ernst entfal-
  ergab es sich fast von selbst, dass unsere             Menschen, wie es der Medizinischen Anth-                  tet: Klaus Michael Meyer-Abich ist nach lan-
  neugegründete Gesellschaft mit ihren ers-              ropologie Viktor von Weizsäckers zu ent-                  ger schwerer Krankheit im Frühjahr des
  ten Jahrestagungen Gast des Internationa-              sprechen scheint. So ist es kein Zufall,                  vergangenen Jahres in seiner häuslichen
  len Wissenschaftsforums sein durfte. Aber              wenn sich Dietrich Ritschl in der soeben                  Umgebung verstorben. Enge Wegbegleiter
  auch für die frühe Öffentlichkeitsarbeit                zitierten Heidelberger Antrittsvorlesung                  und profunde Kenner seines Werkes hatten
  ebnete Dietrich Ritschl die Wege. Neben der            für sein „Jerusalemer-Modell“ auf Wolf-                   seinerzeit einen Eindruck vom Spektrum
  ersten öffentlichen Nachricht zur Gründung              gang Jacob bezieht: „Hier ist der kranke                  seines Denkens und Wirkens gegeben.
  der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft                 und kaputte Mensch, der Leidende und                      Hierzu gehörten der Theologe Christian
  erschienen auch Tagungsberichte und                    Unverwirklichte, der geliebte, der wahre                  Link (Bochum), der Philosoph Stephan
  Rezensionen in der Zeitschrift „Ethik in der           Mensch, der Träger der Menschenwürde.                     Grätzel (Mainz) und der Kunsthistoriker
  Medizin“.18 Als Organ der 1986 gegründe-               Aber nach diesem Modell – das leidende                    Frank Fehrenbach (Hamburg).23
  ten „Akademie für Ethik in der Medizin“                Israel bis zu den Juden unseres Jahrhun-
  wurde sie lange Jahre in ihrer Schriftleitung          derts, sowie der Mensch Jesus stehen ja                   Die eindrückliche und von großer Wert-
  von Dietrich Ritschl und dann später auch              gerade nicht im Zeichen der Selbstver-                    schätzung getragene Ansprache von Pastor
  von Klaus Gahl maßgeblich geprägt.                     wirklichung und Anpassung – nach diesem                   Klaus-Georg Poehls bei der Trauerfeier in
                                                         Modell aber gehen wir nicht mit unseren                   der Blankeneser Marktkirche ließ etwas von
  Aber was war es eigentlich, das Dietrich               leidenden Mitmenschen, mit Patienten                      der religiösen Grundhaltung erahnen, die
  Ritschl zum frühen und nachhaltigen Förde-             und mit unseren Kindern um. Nur im Not-                   den naturphilosophischen Ansatz von
  rer der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft             fall suchen wir Zuflucht beim Jerusalemer-                 Meyer-Abich wohl immer begleitet hat,
  werden ließ? Es hat mit der Vielfalt seiner            Modell; krass gesagt: Wenn das Athener-                   ohne dass dies zureichend thematisiert
  beruflichen Orientierungen als Prediger,                Modell von Normalität uns missrät, dann                   worden wäre. Im Rückblick mag es den
  theologischer Lehrer und Therapeut zu tun -            ziehen wir uns fromm zum Jerusalemer-                     Unwillen verständlich machen, mit dem er
  genauer wohl mit seiner Bemühung, diese                Modell zurück.“21 Für Dietrich Ritschl ist                kritischen Einlassungen begegnete, sofern
  Vielfalt zu einer Einheit werden zu lassen.                                                                      diese seinem „holistischen Physiozentris-
  Hierzu finden sich in seinem umfangreichen                                                                        mus“ nicht zu folgen vermochten.24
                                                              München 1984, 2. Aufl. 1988; ders., Jones,
  Werk bemerkenswerte Ansätze, sei es die
                                                              Hugh O., „Story“ als Rohmaterial der Theolo-
  „Hermeneutik der Ökumene“, das „Story-                      gie. Chr. Kaiser, München 1976; ders., Kon-
  Konzept“ oder seine Formel von den „implizi-                zepte.      Ökumene,     Medizin,      Ethik.               medizinisch-philosophischen           Aufbau      des
                                                                                                                          Weizsäckerschen Werkes.
  ten Axiomen“.19 Es ging ihm nicht um eine                   Gesammelte Aufsätze. Chr. Kaiser, München
                                                              1986; Wolfgang Huber, Ernst Petzold, Theo            22     Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, a.a.
                                                              Sundermeier (Hrsg.), Implizite Axiome. Tie-                 O., S. 326f.
  18   Unter der Rubrik „Informationen“ erschien in           fenstrukturen des Denkens und Handelns.              23     Mitteilungen Nr. 34 (2016), Fortschr. Neurol.
       Ethik in der Medizin 8 (1996), Heft 1, S. 43–          Chr. Kaiser, München 1990.                                  Psychiatr. 2016; 84, S. 775–779.
       44 die Nachricht zur Gründung der Viktor          20   Dietrich Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit.        24     Vgl. hierzu Klaus Michael Meyer-Abich, Natur
       von Weizsäcker Gesellschaft. Wie es der                Die Steuerung von Denken und Handeln                        und Freiheit. Goethe, Alexander von Hum-
       Zufall wollte, enthielt dieses Heft einen ein-         durch implizite Axiome (Antrittsvorlesung in                boldt und Viktor von Weizsäcker als Wegwei-
       drucksvollen Text des Wiener Theologen und             Heidelberg am 6. Juni 1984), Heidelberger                   ser einer gesundheitsorientierten Medizin, in:
       Medizinethikers Ulrich H.J. Körtner zu                 Jahrbücher 29 (1985), S. 35–49, hier S. 35.                 Gahl, K., Achilles, P., Jacobi, R.-M. E. (Hrsg.),
       „Dimensionen von Heil und Heilung“, der           21   Ebd., S. 45. Vgl. Wolfgang Jacob, Kranksein                 Gegenseitigkeit. Grundfragen medizinischer
       auch Bezug auf Weizsäcker nahm (ebd.,                  und Krankheit. Anthropologische Grundlagen                  Ethik, S. 65–85. Königshausen & Neumann,
       S. 27–42).                                             einer Theorie der Medizin. Fischer, Heidel-                 Würzburg 2008; weiterführend ders., Prakti-
  19   Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie.        berg 1978. Bei dieser Schrift des Sozialpatho-              sche Naturphilosophie. Erinnerung an einen
       Kurze Darstellung der Zusammenhänge                    logen Jacob handelt es sich um eine der                     vergessenen Traum. C.H. Beck, München
       theologischer Grundgedanken. Chr. Kaiser,              frühesten     Annäherungen         an      den              1997.

  76                                                                                          Mitteilungen der Viktor … Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77
Wie ein aus dem Nachlass veröffentlichter                            sen, „dass es letztlich das Ganze der Natur    Ein bemerkenswertes Gegenstück zu die-
kleiner Text zeigt, verstand sich dieser                            ist, das uns aus unserer natürlichen Mitwelt   sem Unternehmen findet sich in jener bis
naturphilosophische Ansatz als eine „per-                           den erkennenden Blick zurückgibt, wenn         heute kaum ernsthaft rezipierten naturphi-
sönliche Konfession“ in der Gestalt eines                           auch wir uns zu erkennen geben.“ Insofern      losophischen Vorlesung, mit der sich Viktor
lebensgeschichtlich gewachsenen christli-                           bedarf es einer religiösen Unbefangenheit,     von Weizsäcker nach dem Ende des Ersten
chen Pantheismus.25 Die leitende Frage war,                         um „das unsichtbare Wesen, das als das         Weltkrieges in der Heidelberger Universität
wie es möglich sei, „sich aus der Natur als                         Ganze der Natur aus allen Dingen und Lebe-     an Hörer aller Fakultäten wandte. Den Aus-
man selbst angesehen zu fühlen“? Und                                wesen blickt, als göttlich zu empfinden.“       gang boten ihm nicht die Evangelien, son-
genau dieser Frage sollte eine größere                              Auf diesem Weg sei ihm erst in den letzten     dern die biblische Urgeschichte von der
Schrift gewidmet sein, an der er buchstäb-                          Jahren klar geworden, „dass die Evangelien     Schöpfung. Es spricht viel dafür, in diesem
lich bis zum Moment der Erkrankung gear-                            des Neuen Testaments selbst pantheistisch      Text eine religionsphilosophische Grundle-
beitet hatte. Hier würde natürlich vor allem                        zu verstehen sind.“ Sein Wunsch war es         gung seiner Medizinischen Anthropologie
zur Sprache kommen, „was uns unter den                              wohl, sich durch eine von den Evangelien       zu sehen.26
heutigen Lebensverhältnissen meistens                               gestützte „religiöse Wiederentdeckung der
davon abhält, den aus der Natur auf uns                             Natur“ von den etablierten theologischen
gerichteten Blick überhaupt wahrzuneh-                              Interpretationen zu befreien.
men.“ Wichtig war ihm der Gedanke gewe-                                                                            26   Viktor von Weizsäcker, Am Anfang schuf Gott
                                                                                                                        Himmel und Erde. Grundfragen der Naturphi-
                                                                                                                        losophie (1919/20). Ges. Schriften, Bd. 2, S.
                                                                                                                        263–349. Im Nachwort wird darauf verwie-
25     Dieser Text erschien unter dem Titel „Eine                                                                       sen, dass ein Teil dieser Vorlesung „durch
       persönliche Konfession“ in: Scheidewege 48                                                                       Kriegseinwirkung verlorengegangen“ sei.
       (2018/19), S. 5–7. Alle folgenden Zitate sind                                                                    Im Nachlass Viktor von Weizsäckers, der sich
       diesem Text entnommen.                                                                                           im Deutschen Literaturarchiv Marbach befin-
                                                                                                                        det, konnte eine unvollständige Abschrift des
                                                                                                                        bislang unveröffentlichten Teils gefunden
                                                                                                                        werden, so dass angesichts des bevorstehen-
                                                                                                                        den Jubiläums dieser Vorlesung eine ergänzte
                                                                                                                        Edition zu erwägen ist.

Nachrichten

Auf Einladung des Dekans der Theologi-                              Akademische Festvortrag von Rudolf von
schen Fakultät der Universität Heidelberg                           Sinner (Sáo Leopoldo) zu „Dietrich Ritschl –
findet am Freitag, dem 18. Januar 2019,                              Theologie im Dialog mit den Neuen Wel-
um 19.30 Uhr in der Aula der Alten Univer-                          ten.“ Sodann ein Grußwort des Vorstandes
sität eine Akademische Gedenkfeier für                              der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft
Prof. Dr. h.c. mult. Dietrich Ritschl, PhD.,                        (Rainer-M.E. Jacobi) und ein Dankwort der
D.D. statt. Nach der Einführung durch den                           Direktorin des Ökumenischen Institutes
Dekan Christoph Strohm folgt der                                    (Friederike Nüssel).

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Peter Henningsen, München                                            Rainer-M.E. Jacobi, Bonn                      Dr. phil. Rainer-M.E. Jacobi
                                                                                                                   Medizinhistorisches Institut
                                                                                                                   der Universität Bonn
                                                                                                                   Sigmund-Freud-Str. 25
                                                                                                                   53105 Bonn
                                                                                                                   Tel.: +49 228 287 1500
                                                                                                                   Fax: +49 228 287 1506
                                                                                                                   E-Mail: rme.jacobi@vvwg.de

Mitteilungen der Viktor ... Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 2019; 87: 71–77                                                                            77
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