Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen behandlung mit wenig sichtbaren Therapiemitteln

 
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Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen behandlung mit wenig sichtbaren Therapiemitteln
Thomas Drechsler                                                                            KIEFERORTHOPÄDIE

Möglichkeiten und Grenzen der
kieferorthopädischen Erwachsenen­
behandlung mit wenig sichtbaren
Therapiemitteln

Indizes
Lingualtechnik, Aligner-Therapie, Miniplastschienen, Invisalign, kieferorthopädische
Erwachsenenbehandlung, wenig sichtbare Therapiemittel
                                                                                            Thomas Drechsler
                                                                                            Dr. med. dent.
Zusammenfassung                                                                             Wilhelmstraße 40
                                                                                            65183 Wiesbaden
Der Wunsch erwachsener Patienten, durch eine kieferorthopädische Korrektur gerade           E-Mail: dr.drechsler@kfo-wiesbaden.de
ausgerichtete Zähne zu erhalten, ist in aller Regel damit verbunden, dass während der
gesamten Behandlungszeit eine mehr oder weniger auffällige, gut sichtbare Multi­
bracketapparatur so lange getragen werden muss, bis das endgültige Ergebnis der
Therapie erreicht ist. Alternativ dazu konkurrieren etwa seit den letzten 20 Jahren zwei
unterschiedliche Behandlungskonzepte mit deutlich weniger wahrnehmbaren Therapie-
mitteln und jeweils spezifischer Indikationsstellung. So bietet einerseits die Anbringung
einer fest eingegliederten Apparatur auf der Zahnrückseite, die sogenannte Lingual­
therapie, grundsätzlich biomechanische Vorteile, während die kieferorthopädische
Korrektur mittels herausnehmbarer, sequenzieller Miniplastschienen, auch als Aligner
bezeichnet, für den Betroffenen oftmals einen Komfortgewinn bedeutet. Hier gilt es,
unter Berücksichtigung der Therapieaufgaben und der individuellen Bedürfnisse des
Patienten zwischen beiden Techniken im Kontext des aktuellen Entwicklungsstandes zu
differenzieren und diese ggf. sogar zu kombinieren.

Entwicklung der Lingualtechnik

Während beim Design herausnehmbarer oder festsit­
zender kieferorthopädischer Behandlungsapparaturen
für Kinder und Jugendliche Aspekte der Biomechanik,
der Effizienz, der Materialeigenschaften und nicht zu­
letzt der Wirtschaftlichkeit im Vordergrund stehen, sind
in der orthodontischen Erwachsenentherapie bei der
Auswahl der Behandlungsmittel häufig auch deren
angenehmerer Tragekomfort und die Unauffälligkeit
als weitere, nicht unwesentliche Parameter zu berück­
sichtigen. So ist bei immer mehr Erwachsenen zwar
zunehmend das Bedürfnis nach einer kieferorthopädi­
schen Korrektur der Zähne zu erkennen, aber diese

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KIEFERORTHOPÄDIE
   Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen­behandlung mit wenig sichtbaren
   Therapiemitteln

sollte meist aus privaten oder beruflichen Gründen           Kunststoff­schie­nen meist nur für geringe, eher kip­
gemäß den heutigen Ansprüchen möglichst diskret,             pende Zahnbe­wegungen entweder zur Rezidiv- oder
schnell und wenig beeinträchtigend erfolgen. Auch            Finishing­behandlung.
wenn mancher Hersteller heutzutage seine „zahnfarbe­            1997 wurde von der Firma Align Technology zu­
nen, ästhetischen“ Keramikbrackets preist und in der         nächst auf dem amerikanischen Markt unter dem Mar­
Werbung von kaum im Mund auffallenden „Wohlfühl-             kennamen Invisalign ein System eingeführt, welches
Brackets“25 die Rede ist, fühlen sich viele erwachsene       erstmals auch umfangreichere dentoalveoläre Korrek­
Patienten dennoch mit sichtbaren, labial angebrachten        turen möglich machen sollte. Basierend auf einer pa­
Bracketsystemen gleich welcher Technik und Herstel­          tentrechtlich geschützten Behandlungssoftware, dem
lungsart nicht ganz so wohl (Abb. 1).                        sogenannten ClinCheck, konnte eine größere Anzahl
    Craven Kurz2 war in seiner Praxis in Beverly Hills,      von CAD/CAM-gefertigten Set-up-Modellen (Stereoli­
Kalifornien, ein Vorreiter, als er ab Mitte der 1970er       thographie) geplant werden, die sich zur Herstellung
Jahre bei seiner sicher etwas außergewöhnlichen              von sequenziellen, individuellen Miniplastschienen im
Klien­tel versuchte, zunächst bukkale Brackets „un­          Vakuumdruckverfahren eigneten. Mittlerweile wird
sichtbar“ auf den Lingualflächen der Zähne zu plat­          das 2001 auch in Europa eingeführte System14 welt­
zieren. 1976 kamen dann die ersten speziell für die          weit vermarktet. Obwohl anfänglich Schwierigkeiten
Lingualbehandlung vorgesehenen Brackets von der              bei der Akzeptanz zu verzeichnen waren und es in
Firma Ormco auf den Markt. Die Lingualtechnik revo­          Deutschland sogar 20 Jahre später immer noch nam­
lutioniert und wesentlich zu ihrer heutigen Verbreitung      hafte Hochschulen gibt, die diese Technologie schlicht­
besonders in Europa beigetragen hat ab 2003 das von          weg ignorieren, hat sich das System inzwischen neben
Dirk Wiechmann23 entwickelte Incognito-System (vor­          der konventionellen Multibrackettherapie als eine
mals Fa. TOP, jetzt Fa. 3M Unitek). Mittlerweile existiert   ernst zu nehmende, wissenschaftlich evaluierte Tech­
auf dem Markt neben konfektionierten Lingualbrackets         nik auch für komplexe Behandlungssituationen in der
(Fa. GAC, Fa. Forestadent, Fa. Ormco usw.) eine Viel­        Kieferorthopädie etabliert5.
zahl von voll individualisierten lingualen Bracketappa­
raturen (z. B. Fa. WIN, Fa. Harmony, Fa. SureSmile und       Differenzierung der Behandlungs­
Fa. eBrace).                                                 konzepte Lingualtechnik und Aligner-
                                                             Therapie
Entwicklung der Aligner-Therapie
                                                             Da der Autor dieses Beitrags den Standpunkt vertritt,
Unabhängig von der Evolution der festsitzenden               dass ein sichtbares, labial angebrachtes Bracket gleich
Lingual­technik entwickelte sich parallel eine ganz an­      welchen Materials und Designs niemals als wirklich
dere Methode der weitgehend unsichtbaren Zahn­               „ästhetisch“ bezeichnet werden kann (nur Kieferortho­
korrektur. Zurückreichend auf bereits im Jahr 1945 von       päden finden Brackets „schön“), stehen aus seiner
Kesling12 ge­   äußerte erste Ideen zur „Elastodontie“,      Sicht derzeit nur zwei effiziente Systeme zur Verfü­
entstanden durch die Verbesserung von Materialien und        gung, die es dem Kieferorthopäden erlauben, dem
Fer­ti­gungs­­techniken unimaxilläre Miniplastschienen,      Wunsch meist erwachsener Patienten nachzukommen,
Schienenpositioner oder auch als Aligner bezeichnete         mit möglichst wenig sichtbaren Apparaturen Zahn-
Kunststoffschienen aus nachgiebigem, transparentem           und Kieferfehlstellungen adäquat zu korrigieren. Laut
Polyurethan, deren weitere Verbreitung als kiefer­           Jost-Brinkmann und Müller-Hartwich10 sowie Scuzzo
ortho­pädische Behandlungsmittel von vielen Autoren          und Takemoto17 sind die Indikationen für die Lingual­
wie Douglas Toll20 und John J. Sheridan18 propagiert         technik genau die gleichen wie für konventionelle,
wurde. Geeignet waren diese im Labor nach einem              bukkal angebrachte Multibracketapparaturen. Dies gilt
Gipsmodell-Set-up manuell gefertigten, elastischen           – zumindest noch bisher – nicht vollumfänglich für die

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Aligner-Therapie, auch wenn der Indikationsbereich
im Laufe der Entwicklung über zwei Dekaden eine
deutliche Erweiterung erfahren hat. Dennoch unter­
scheiden sich die spezifischen Indikationen der beiden
Systeme voneinander und sollten sorgfältig sowohl
auf die medizinischen und biomechanischen Gegeben­
heiten als auch auf die jeweiligen Lebensumstände
der einzelnen Patienten abgestimmt werden. Beide
Technologien verlangen dabei grundsätzlich nach er­
fahrenen und gut ausgebildeten Spezialisten, obwohl
die Werbung der Anbieter oft einen anderen Eindruck
vermittelt.
    Geht man danach, welche Behandlungsapparatur          Abb. 1 Klinische Situation bei einer erwachsenen Patientin
visuell am wenigsten wahrnehmbar ist, so gelten die       mit „Wohlfühl“-Keramikbrackets Clarity SL im Oberkiefer
                                                          und konventionellen Brackets im Unterkiefer
lingual angebrachten Brackets als die bislang unauf­
fälligste kieferorthopädische Therapieform. Wenn eher
transluzente Zähne vorliegen, kann es allerdings ins­
besondere bei silberfarbenen Bracketlegierungen zu
einer Verdunkelung bzw. verstärkten Opazität der
Frontzähne kommen. Das ist der Grund, warum gold­
farbenen Legierungen wie bei Incognito oder eBrace
hier der Vorzug gegeben werden könnte oder sogar
Lingualbrackets aus hellem Kunststoff angeboten
werden.
    Dem Vorteil der Unauffälligkeit von Lingualbrackets
steht allerdings eine mögliche, nur schwer vorher­
sagbare Artikulationsbeeinträchtigung des Patienten
gegenüber6,22. Die Sprachstörungen können dabei           Abb. 2b Gleiche Patientin wie in den Abbildungen 1 und 2a
mehr oder weniger stark ausgeprägt sein und hängen        ohne inserierte Aligner
von dem Bracketdesign, der phonetischen Kompetenz
sowie der Adaptationsfähigkeit der Betroffenen ab.
Aber auch deutliche Zungenirritationen und Gingiva­
reizungen sind anfänglich nicht ausgeschlossen7,8,19.
Bei professionellen Sprechern, Berufsmusikern, Künst­
lern, Personen im kommunikativem Bereich oder all­
gemein sprachsensiblen Patienten sollte dieser Aspekt
vor einer dauerhaften, immer mit größerem Aufwand
verbundenen Insertion ausreichend beachtet werden
und eine entsprechende Aufklärung erfolgen.
    Anders verhält es sich hingegen bei der Ver­
wendung von Alignern als Behandlungsmittel. Diese
scheinen zwar im Vergleich zu Lingualbrackets von
Dritten visuell etwas stärker wahrgenommen zu wer­        Abb. 2a Gleiche Patientin wie in Abbildung 1 mit inserierten
den (siehe Abbildung 2a: gleiche Patientin wie in         Alignern

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   Therapiemitteln

Abbil­dung 1 mit inserierten Alignern, Abbildung 2b       nen die Mitarbeit, also das regelmäßige Tragen der
ohne inserierte Aligner), aber das Einsetzen und Ent­     Schienen Tag und Nacht, im Allgemeinen sehr gut ist.
nehmen der „Apparatur“ ist ein Prozess, den der           Das liegt zum einen daran, dass es den meisten Be­
Pa­tient mehrmals am Tag, beispielsweise vor der          troffenen durchaus zumutbar und sinnvoll erscheint,
Mahlzeiteneinnahme oder Zahnpflege, selbst durch­         Aligner einfach in ihren Alltag zu integrieren. Zum an­
führen kann. Auch aufgrund der sehr viel niedrigeren      deren ist die Motivation aufgrund des persönlichen
Materialstärke des Behandlungsmittels, welche z. B.       Leidensdrucks und der eigenverantwortlichen wirt­
bei Invisalign-Alignern zwischen 0,5 und 0,7 mm liegt,    schaftlichen Verpflichtung in der Regel recht hoch.
fällt eine potenzielle Sprachbeeinträchtigung hier
deutlich geringer aus. Zudem besteht der Vorteil, dass    Indikation: Lingualtechnik
es dem Patienten durchaus gestattet ist, in für ihn be­
sonders wichtigen Momenten die Schienen einfach           Obwohl für die Lingualtherapie grundsätzlich die glei­
herauszunehmen, so dass sich für ihn und seine Um­        che Indikationsstellung wie für eine labial angebrachte
gebung weder eine optische noch eine phonetische          Multibracketapparatur gilt, ergeben sich doch gewisse
Beeinträchtigung ausmachen lässt15. Dies bedeutet         Unterschiede insbesondere in der Biomechanik der
gleichzeitig, dass das Behandlungsgerät damit unsicht­    beiden Techniken. Wegen der auf den Palatinalflächen
bar wird, wenn man einmal davon absieht, dass die         der oberen Inzisivi angebrachten Lingualbrackets bil­
an einzelnen Zähnen meist im posterioren Bereich          den diese bei nicht zu großem Overjet gleichsam ein
verbleibenden, geklebten Attachments (Kunststoffauf­      integriertes Aufbissplateau, das bei Tiefbissen mit ent­
bauten zur Kraftübertragung) dezent erkennbar sind        sprechender interokkusaler Interferenz zu einer meist
(Abb. 2b).                                                schnellen initialen Bisshebung beiträgt. Eine im All­ge­
    Durch die Herausnehmbarkeit ergeben sich für die      meinen zu beobachtende spontanere Initialreaktion der
Aligner-Systeme weiterhin Vorteile sowohl hinsichtlich    Zahnbewegung lässt sich neben einer zum Teil näher
der Hygienefähigkeit als auch in Bezug auf die Ess­       am Widerstandszentrum liegenden Kraftübertragung
gewohnheiten, denn beides bleibt nahezu unverän­          insbesondere im Zusammenhang mit Drehmomenten
dert. Deutlich umfangreicher ist hingegen der dentale     durch die linguale Bracketpositionierung gegenüber
Pflegeaufwand bei einer fest inserierten Lingual­         der bukkalen erklären11, ist aber auch Folge eines ins­
apparatur, was sich bei unzureichender Durchführung       gesamt deutlich höheren Kraftniveaus des lingual ein­
klinisch in verstärkten Gingivairritationen oder White-   ligierten Bogens. Aufgrund der reduzierten Interbracket­
Spot-Läsionen zeigen kann13. Auch dadurch, dass im        distanz in einer Lingualapparatur beträgt die erzeugte
Rahmen der Aligner-Therapie zur Kraftapplikation nicht    Kraft etwa das Viereinhalbfache gegenüber der Kraft­
bei jedem Zahn eine Säure-Ätz-Verbindung notwendig        applikation des Bogens einer Labialapparatur1. Hier ist
ist (außer an einigen Zähnen zur Anbringung von           vor allem bei parodontal vorgeschädigten wie auch
Attach­ments), reduziert sich gerade beim häufig pro­     wurzelresorptionsgefährdeten Zähnen die Indikations­
thetisch vorbehandelten erwachsenen Patienten die         stellung besonders abzuwägen und bukkal angebrach­
Zahl möglicher Probleme mit dem Verbund der Ap­           ten oder herausnehmbaren Schienensystemen even­
paratur auf keramischen oder metallischen Kronen-         tuell der Vorzug zu geben.
bzw. Brückenoberflächen9, was zu einer geringeren             Während beim Einsatz von konfektionierten lingua­
Quote von außerplanmäßigen Terminen während der           len Bracketsystemen der früheren Generationen die
Behandlungszeit führen kann.                              ausreichende Größe der klinisch zur Klebung verfüg­
    Auf der anderen Seite hängt bei der kieferorthopä­    baren lingualen Zahnoberflächen die Indikation einer
dischen Schienentherapie der Behandlungserfolg auch       innen liegenden Apparatur noch eingeschränkt hat, stellt
wesentlich von der Compliance des Patienten ab. Die       das seit Entwicklung der individuellen „customized
Erfahrung zeigt allerdings, dass gerade bei Erwachse­     brackets“ durch Wiechmann24 (Fa. TOP) keine Limi­

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tierung mehr dar. Selbst wenn morphologisch sehr
ungünstige, kleine linguale Anlagerungsflächen wie in
dem in Abbildung 3a gezeigten Patientenbeispiel vor­
liegen, kann bei Anwendung von im Rapid-Prototyping-
Verfahren hergestellten Brackets (Fa. TOP/Fa. Incognito)
eine erfolgreiche „unsichtbare“ Lingualbehandlung
uneingeschränkt durchgeführt werden. Daher ist die
Lingualtechnik unter Beachtung der beschriebenen
Besonderheiten vor allem dann indiziert, wenn es gilt,
biomechanisch sehr anspruchsvolle Behandlungsauf­
gaben bei erwachsenen Patienten optisch möglichst
unauffällig zu lösen. Dazu zählen die Einordnung reti­
nierter und verlagerter Zähne (Abb. 3a bis c), die trans­
latorische, achsenparallele, körperliche Zahnbewegung        Abb. 3a Okklusale Oberkieferaufsicht zu Beginn der
über weitere Distanzen zum kieferorthopädischen              Behandlung mit eine Incognito-Apparatur bei geringer
Lücken­schluss vornehmlich in mesialer Bewegungs­            lingualer Klebefläche
richtung (Abb. 4b und c) sowie im Allgemeinen die
Extraktionstherapie. Für die Behandlung ausgeprägter
vertikaler Abweichungen, speziell skelettaler Tiefbiss­
konfigurationen, ist die linguale Bracketapparatur
ebenso gut geeignet wie für Bisslagekorrekturen in
anterior-posteriorer Richtung. Die erstmals 2005 von
Drechsler3 beschriebene Kombination eines Herbst-
Scharniers mit der Lingualapparatur erwies sich da-
bei als besonders effektives Behandlungsgerät für
Klasse-II-Malokklusionen24.

Indikation: Aligner-Therapie
                                                             Abb. 3b Incognito-Apparatur in situ bei multiplen retinierten
In der Aligner-Therapie hat sich das Indikationsspekt­       Zähnen zu Behandlungsbeginn (Frontalansicht)
rum nach anfänglichen Einschränkungen in den letzten
Jahren deutlich erweitert. Während es 2001 in einer
ersten Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für
Kieferorthopädie (DGKFO)16 noch hieß, Aligner eigne­
ten sich nur zur Behandlung geringgradiger Zahnfehl­
stellungen bei Erwachsenen aus kosmetischen Grün­
den, differenzierte die DGKFO in ihren aktualisierten
Stellungnahmen von 2004 und 20104 die empfohlene
Anwendung jeweils in einen Hauptindikations- und
einen bedingt geeigneten Einsatzbereich. Gemäß der
letzten offiziellen Stellungnahme sind Aligner zur
dento­alveolären Korrektur von moderaten frontalen
Engständen, zur Pro- und Retrusion der Front sowie           Abb. 3c Endsituation nach erfolgter Lingualbehandlung
zur geringen In- und Extrusion bei neutraler Inter­kus­pi­   (Frontalansicht)

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                                                            Aplasie der lateralen Inzisivi (Lateralansicht)

Abb. 4b Okklusale Oberkieferaufsicht    Abb. 4c Okklusale Oberkieferaufsicht    Abb. 4d Gleichzeitige Behandlung im
bei Beginn der Behandlung mit einer     mit Lingualapparatur während der        Unterkiefer mit Alignern (Ansicht von
Lingualapparatur                        Behandlung                              okklusal)

Abb. 4e Lateralansicht der Hybridtechnik im Behandlungs-    Abb. 4f Lateralansicht des Endergebnisses nach protheti-
verlauf                                                     scher Versorgung (durch Sabine Baron)

dation uneingeschränkt indiziert. Unter Zuhilfenahme        nen formuliert werden können4. So lässt sich, wie das
von Attachments, Knöpfen und der Kombination von            in den Abbildungen 4a bis f gezeigte Patientenbeispiel
Teilmultibandapparaturen ist der Indikationsbereich         veranschaulicht, durch die Kombination von Lingual-
erweiterbar hin zur Behandlung von ausgeprägten             und Alignertechnik mit späterer prothetischer Versor­
Extrusionen, zur Derotation von Eckzähnen und Prä­          gung (Implantate Regio 12 und 22) eine ausgeprägte
molaren sowie zum Lückenschluss nach Prämolaren­            dentale Klasse-III-Konfiguration erfolgreich behandeln.
extraktion, so dass grundsätzlich keine Kontraindikatio­    Dabei wurden mit der Incognito-Lingualapparatur die

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Abb. 5 Kombination Invisalign-Behandlung mit
Bene-Slider zur Mesialisation der Oberkiefermolaren
(Ansicht von okklusal)

für die Schienentherapie nach wie vor schwierigen             Neben einem Multilayer-Alignermaterial wurden in
translatorischen Bewegungen der oberen Frontzähne         letzter Zeit u. a. spezielle voraktivierte Attachments
und der mesiale Lückenschluss der linken oberen           („SmartForce“) zur Bewegungsoptimierung eingeführt.
Mola­ren vorgenommen (Abb. 4b und c), während die         Dadurch sind auch systema­tische Prämolaren­extrak­
Therapie des frontalen Engstandes und die Intrusion       tionen mit anschließendem Lückenschluss möglich,
der Schneidezähne im Unterkiefer mit Alignern erfolg­     wobei unabhängige klinische Studien zur Wirksamkeit
ten (Abb. 4d), was für den Patienten einen erheblichen    mit größeren Fallzahlen noch ausstehen. Variable pa­
Komfortgewinn bedeutete. Aber auch innerhalb eines        latinale Aufbisse („virtual bite ramps“) sollen die Be­
Kiefers lassen sich die beiden Systeme zu einer           handlung des Tiefbisses erleichtern, aber es fehlen
Hybrid­behandlung kombinieren, indem die Invisalign-      auch hier noch valide klinische Studien, die dies bestä­
Aligner beispielsweise durch einen Bene-Slider21 (Fa.     tigen. Vor allem beim Vorliegen einer ausgeprägten
Benefit) zur Mesialisierung der Mola­   ren unterstützt   skelettal-horizontalen Gesichtskonfiguration in Kombi­
werden (Abb. 5).                                          nation mit einer Bruxismusanamnese dürfte es nach
    Doch gerade in den letzten 8 Jahren haben zahl­       wie vor schwieriger als in der Lingualtherapie sein,
reiche Innovationen der Firma Align Technology den        den gewünschten bissöffnen­     den Behandlungseffekt
bisher eingeschränkten Indikationsbereich nochmals        zu erreichen. Weitere Modifikationen zur Verbesserung
deutlich erweitert, so dass heutzutage bereits auf die    der Korrektur in sagittaler und transversaler Richtung
Kombination mit festsitzenden Apparaturen immer           sind von Align Technology geplant.
mehr verzichtet werden kann. Es lassen sich mittler­          Seit Mitte 2015 steht zudem mit dem „ClinCheck Pro“
weile auch komplexe Behandlungen mit ausgeprägten         eine internetbasierte kieferorthopädische Behandlungs­
Zahn­fehlstellungen ohne Zusatzmaßnahmen vorher­          software zur Verfügung, die eine individuelle, interaktive
sagbar therapieren. Bei dem in den Abbildungen 6a         Behandlungsplanung und -simulation in bisher nicht
bis d gezeigten Patientenbeispiel handelt es sich um      bekannter Weise dreidimensional bereits vor Therapie­
die Behandlung eines ausgeprägten Engstandes mit          beginn ermöglicht (vgl. Abb. 6c). Dabei können die
40 Alignerpaaren (Abb. 6a und b), welche ohne             Ziele exakt nach Angaben des Fachzahnarztes virtuell
Nachkorrekturen oder weitere Hilfsmittel exakt der vir­   bestimmt sowie modifiziert werden und sind nicht in
tuellen Planung des ClinChecks (Abb. 6c) entsprach        dem Sinne wie beispielsweise bei manchen lingualen
(Abb. 6d).                                                Labor-Set-ups determiniert.

Quintessenz 2017;68(5):515–523                                                                                521
Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen behandlung mit wenig sichtbaren Therapiemitteln
KIEFERORTHOPÄDIE
   Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen­behandlung mit wenig sichtbaren
   Therapiemitteln

Abb. 6a Ausgangsbefund: ausgeprägter Engstand mit   Abb. 6b Ansicht des lächelnden Patienten mit Alignern
transversaler Kompression (Frontalansicht)          während der Invisalign-Behandlung

                                                    Abb. 6c ClinCheck-Planung – definiertes Behandlungsziel
                                                    mit 40 „stages“ (Frontalansicht)

                                                    Abb. 6d Klinisches Endergebnis nach dem Einsatz von 40
                                                    Alignern pro Kiefer (mit Bleaching und Kompositversorgung
                                                    durch Stefan Paul)

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Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen behandlung mit wenig sichtbaren Therapiemitteln
KIEFERORTHOPÄDIE
   Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen­behandlung mit wenig sichtbaren
                                                                                  Therapiemitteln

Fazit                                                                          kann man spekulieren, dass sowohl die bukkalen als
                                                                               auch die lingualen, fest mit den Zähnen verbundenen
Während die Möglichkeiten der kieferorthopädischen Er­                         Behandlungsapparaturen in Zukunft zunehmend durch
wachsenenbehandlung mit wenig sichtbaren Therapie­                             herausnehmbare, transparente Kunststoffschienen sub­
mitteln bei der Lingualtechnik bereits heute weitgehend                        stituiert werden könnten. Schon jetzt stellt die Aligner-
denen der herkömmlichen festsitzenden Apparaturen                              Therapie die zurzeit am wenigsten invasive und
entsprechen, ist es das erklärte Ziel der Aligner-Herstel­                     zudem diskreteste kieferorthopädische Behandlungs­
ler, die bisherigen Indikationsgrenzen der Behandlung                          option bei Erwachsenen dar, zumal sich die transpa­
mit Miniplastschienen kontinuierlich so zu verschieben,                        renten Schienen im Bedarfsfall auch einfach heraus­
dass sich eines Tages unter Umständen fast sämtliche                           nehmen lassen. Die Auswahl des zur Korrektur der
Malokklusionen ausschließlich mit Hilfe von Alignern                           jeweiligen Dysgnathie am besten geeignetenTherapie­
behandeln lassen. Angesichts der in den letzten Jahren                         mittels bzw. die Kombination verschiedener Techniken
erfolgten, zunächst nicht erwarteten deutlichen Erweite­                       obliegt jedoch immer dem geschulten Fachzahnarzt,
rung des Indikationsspektrums und des noch bestehen­                           der auf das gesamte Portfolio kieferorthopädischer
den Entwicklungspotenzials in der Aligner-Therapie                             Behandlungsapparaturen zugreifen kann.

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Quintessenz 2017;68(5):515–523                                                                                                                    523
Möglichkeiten und Grenzen der kieferorthopädischen Erwachsenen behandlung mit wenig sichtbaren Therapiemitteln
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