Museumskurier - Louis Ferdinand Schönherr LebenundWirken S.14 - Sächsisches Industriemuseum
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39. Ausgabe ▪ Juni 2017 Museumskurier des Chemnitzer Industriemuseums und seines Fördervereins Louis Ferdinand Schönherr Leben und Wirken S. 14 Mode & Mobile - Depotgeschichten S. 08 Schutzgebühr 3,00 ¤ ISSN 1862-8605 Maschinenfabrik Hermann Michaelis S. 26 www.saechsisches-industriemuseum.de
3 39|2017 Museumskurier Editorial Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Industriemuseums Chemnitz, seit vielen Jahren erscheint regelmäßig der Museumskurier als Ge- meinschaftsausgabe des Industriemuseums und seines Förderver- eins. Seit mehr als 25 Jahren arbeiten Museum und Verein eng zu- sammen, um die Industriegeschichte der Region Chemnitz sichtbar und erlebbar zu gestalten. Die immense Leistung zur Sicherung von Zeitzeugnissen der Industriegeschichte wurde insbesondere in der Zeit des Umbruchs in den 1990er Jahren entwickelt, um drohende Verluste von Kulturgut zu vermeiden. Der Förderverein spielte dabei eine entscheidende Rolle. Inhalt Auch heute sind viele Mitglieder des Fördervereins aktiv in den ver- schiedensten Arbeitsgruppen tätig, um wertvolle Zeitzeugnisse zu 02 Aktuelle Hinweise sammeln, zu restaurieren und instand zu halten, zu katalogisieren 03 Editorial & Inhalt oder die Industriegeschichte der Region zu erforschen. Dabei wird es 04 Technisches Uhrenmuseum zunehmend schwieriger, Fachleute für die im Museum beheimatete Chemnitz e. V. Technik zu finden. Das Spektrum der Arbeiten ist entsprechend des 05 Die Gebrüder Becker und ihr unterschiedlichen Charakters und Alters der Ausrüstungen äußerst „Industriepalast" differenziert und spannend. 08 Mode & Mobile – Depotgeschichten Ich wende mich deshalb an dieser Stelle an Sie, einmal zu prüfen, ob 10 1842 – erste Gewerbeausstellung nicht auch Ihre Mitarbeit an Projekten des Museums für Sie selbst in Chemnitz oder Fachleute in Ihrem Bekanntenkreis interessant sein könnte? 12 Unternehmer einer neuen Vielleicht sind Sie oder Ihre Bekannten gerade in Rente gegangen Generation und suchen eine neue, interessante, sinnvolle und abwechslungs- 14 Louis Ferdinand Schönherr reiche Tätigkeit? (1817-1911) Wir treffen uns in unseren Arbeitsgruppen aller zwei Wochen, man- 19 Stahl aus dem Rennofen – Eisen che Arbeitsgruppen wöchentlich. Und auch für gemeinsame Veran- aus dem Hochofen staltungen wie Exkursionen und Feiern ist Raum. 22 Die Papierindustrie in der Zurzeit bereiten wir gemeinsam mit dem Museum eine Sonderaus- Region Chemnitz stellung für das 875jährige Jubiläum der Stadt Chemnitz vor. 24 Textile Zukunft gestalten Für die Erweiterung der Sammlung des Industriemuseums um Zeit- 26 Maschinenfabrik zeugnisse der Jahre ab 1990 suchen wir Fachleute der unterschied- Hermann Michaelis lichsten Gebiete: Rechen- und Steuerungstechnik, Maschinenbau, 28 Bündnis für Arbeit auf Aktien Gießereitechnik oder Textiltechnik. Ihre Mitarbeit kann auch auf 30 Buchempfehlung dem Gebiet der Erforschung der sächsischen Industriegeschichte „F. Louis Tuchscherer" erfolgen. Dabei ist nicht die Menge der eingesetzten Stunden das 30 Nachrufe Maß, sondern die Freude und das Erfolgserlebnis, an einer gemein- 31 Informationen des Fördervereins| schaftlichen Aufgabe mitzuwirken. Impressum Ich freue mich auf Ihre Meinung und Ihre Mitwirkung. Gern können Sie auch Ihre Ideen und Hinweise an den Förderverein des Industrie- museums richten. Ihr Eberhard Kühlfluck Museumskurier_Juni17.indd 3 14.06.2017 08:58:10
4 Museumskurier 39|2017 Technisches Uhrenmuseum Chemnitz e. V. Der Freundeskreis technikhistorische Museen stellt sich vor | Teil 11 Dirk Röder Der Verein Technisches Uhrenmu- seum Chemnitz e. V. wurde 2008 in Chemnitz gegründet. Erstes Domizil war das Schloss Lichtenwalde. Seit Oktober 2012 sind Verein und Mu- seum in Chemnitz an der Zwickauer Straße, gleich neben dem Straßen- bahnmuseum, ansässig. Die Ausstellung zeigt verschiedenste Zeitmesser der Vergangenheit. Sie werden von den 13 Mitgliedern des Vereins gepflegt, im Originalzustand erhalten und bei Bedarf aufwändig Schauwerkstatt restauriert. Beeindruckend ist die Sammlung von ca. 80 Turmuhren, 500 Jahren, unter ihnen auch eng- Für den Ausbau des Museums und von denen mehr als die Hälfte aus lische und französische, sind dank der Ausstellung ist der Verein auf der Region Chemnitz stammt. An- des handwerklichen Geschicks der Spenden angewiesen und benötigt hand dieser großen Exponate kön- Vereinsmitglieder fast alle funkti- dringend finanzielle Mittel. nen die Besucher erleben, welche onstüchtig und vorführbar. Ferner Spendenkonto: riesigen Uhrwerke die Zeiger in können die Besucher Spezialuhren IBAN: DE12870500003537005295 Gang setzen, die sich um die Außen- wie Chronometer, Flieger- und Ei- Kontoinhaber: Technisches Uhren- zifferblätter in exakter Ganggenau- senbahnuhren sowie ein Chrono- museum Chemnitz e. V. igkeit bewegen müssen. So ist bei skop für die Ultrakurzzeitmessung diesen Ausstellungsstücken optisch in Physik und Medizin betrachten. Für Ihre Fragen und Anregungen und akustisch alles gut für die Besu- stehen wir Ihnen jederzeit gern zur cher nachvollziehbar. Das Museum Der Verein freut sich über neue Verfügung. Wir freuen uns auf Ihr ist neben dem Turmuhrenmuseum Mitstreiter mit Interesse für histo- Interesse und einen Besuch! in Naunhof das zweite in Sachsen, rische Uhren als Zeitzeugnisse der welches den Besuchern das oft ver- Technikgeschichte. Gesucht werden Technisches Uhrenmuseum borgene Innenleben der meist rie- Vereinsmitglieder, die Freude und Chemnitz e. V. sigen mechanischen Turmuhrwerke Geschick an der Restaurierung der Zwickauer Straße 164a Fotos: Dirk Röder (l.), Sammlung Nitsche (r.o.), Privatbesitz (r.u.) nahe bringt. verschiedenen Zeitmesser sowie an 09116 Chemnitz einem regen Vereinsleben haben. Auch elektrisch gesteuerte Uhren Telefon: 0371 3342841 wie Haupt- und Signaluhren, Stem- E-Mail: info@uhrenmuseum- peluhren sowie viele Nebenuhren chemnitz.de gehören zur Sammlung. Früher URL: www.uhrenmuseum- zeigten sie in Werkhallen und auf chemnitz.de Bahnhöfen den Menschen die rich- tige Zeit an. Für viele Besucher ist es Öffnungszeiten: immer wieder interessant zu sehen, Mo - Fr nachmittags sowie nach wie genau es damals in den einzel- telefonischer Vereinbarung nen Firmen zuging. Auch Läuteein- richtungen für verschiedene Zwe- Eintritt: cke, z. B. ein Bahnläutewerk, sind Turmuhren-Zimmer 2 €/Erwachsener; 0,50 €/Kind zu sehen. Die Uhren aus den letzten Museumskurier_Juni17.indd 4 14.06.2017 08:58:15
5 39|2017 Museumskurier Die Gebrüder Becker und ihr „Industriepalast“ Eine Spurensuche Jürgen Nitsche Vor 87 Jahren (1930) verlegte die Firma Gebrüder Becker, die den Weltruf der sächsischen Stoffhand- schuhindustrie mit begründet hat- te, ihren Betrieb aus dem Grund- stück Annaberger Straße 77 in das Grundstück Crusiusstraße 4, Ecke Annaberger Straße. Auch die neue Fabrikationsstät- te lag im Industrieviertel in Alt- chemnitz, wo die Firmen Schubert & Salzer, Marschel Frank Sachs AG, Bachmann & Ladewig AG, die Gebrüder Sussmann AG und viele Die Firma in der Annaberger Straße 77, um 1925. andere bekannte Firmen seit Jah- ren ihren Sitz hatten. „Anlage und großes Ansehen genoss. So betonte brechern der sächsischen Hand- Ausstattung des neuen Betriebes der Oberbürgermeister in seiner An- schuh-Industrie, in bescheidenem machten dem Chemnitzer Archi- sprache, dass „der neue Industrie- Umfange gegründet. Der Firmensitz tekten Erich Basarke alle Ehre“, hieß palast der Stadt Chemnitz zur Zier- befand sich anfangs in der Berns- es in einem ausführlichen Bericht in de“ gereichen würde. Chemnitz, das bachstraße (heute Fritz-Reuter- der Berliner Textil-Zeitung. während der Weltwirtschaftskrise Straße) 12. Durch Fleiß und Tatkraft Die Einweihung der modernen Fa- besonders unter der wirtschaftli- gelang es den Gründern sehr bald, brikanlage fand am 4. Juni 1930 chen Not litt, wäre und bliebe „eine das Unternehmen auf eine breite- vor einem Kreis geladener Gäste Industriestadt“. Eine überlieferte re Basis zu stellen. In den Jahren aus Politik und Wirtschaft sowie Farbzeichnung zeigt noch heute, 1906/07 konnte ein neuer Fabrik- Vertretern der Israelitischen Religi- wieso Arlart das Gebäude mit einem bau in der Annaberger Straße 77 onsgemeinde statt. Im Verlauf der Industriepalast verglich. von den Architekten Wenzel Bürger eher schlichten Feier sprachen u. a. Zur Vorgeschichte: Das Unterneh- und Karl Johann Benirschke errich- Fabrikbesitzer Fritz Vogel für den men wurde am 1. Juli 1883 von den tet werden1. Die Firma nahm weiter Verband Sächsischer Industrieller, jüdischen Brüdern Eduard und Adolf eine günstige Entwicklung, so dass Oberbürgermeister Walter Arlart Becker, zwei verdienstvollen Bahn- auch diese Betriebsstätte bald zu für die Stadt, Otto Schlesinger für die Firma Marschel Frank Sachs AG, Stadtverordnetenvorsteher Carl Hermann Schiersand für die Stadt- verordneten, Hans Stickel für die Handelskammer, Syndikus Johannes Röthig für den Verband der Stoff- handschuhfabrikanten, Rabbiner Dr. Hugo Fuchs für die Israelitische Religionsgemeinde, Fabrikant Georg Mecklenburg für die Lieferanten sowie Justizrat Adolf Beutler als Freund des Hauses ihre Glückwün- sche aus. Die erschienenen Ehrengäste waren Die Firma in der Crusiusstraße 4, um 1930. Beweis dafür, dass die Firma damals Museumskurier_Juni17.indd 5 14.06.2017 08:58:18
6 Museumskurier 39|2017 klein wurde und zur Vergrößerung in die herrschaftliche Villa Parkstra- zwang. ße 22, die seit Juli 1915 im Besitz Der Hauptgrund für die Schaffung der Familie war. Karl Becker beauf- größerer und modernerer Räume tragte den Chemnitzer Architekten war vor allem die Steigerung der Erich Basarke, das Interieur der in Leistungsfähigkeit der Betriebe. Der den späten 1880er Jahren erbauten mit den neuesten Maschinen aus- Villa meisterhaft umzugestalten. gestattete Großbetrieb in der Cru- Arthur Becker wurde im Januar siusstraße umfasste 24.000 m�. In 1919 Teilhaber der Firma. Wenig hellen Räumen, die den höchsten später vermählte sich der damals Standards des damaligen Arbeits- knapp 30-jährige Unternehmer mit schutzes entsprachen, wurden ele- der aus Leipzig stammenden Char- gante Handschuhe hergestellt, die lotte Clara Frank. Die Eheleute zo- sowohl von zarten Damenhänden gen in das Haus Goetheplatz 3. Die als auch von der eleganten Her- Villa hatte sich bis 1925 im Besitz renwelt in vielen Ländern getragen des Fabrikanten Georg Hilscher be- wurden. Besonders die Handschuhe Karl Becker (1890-1939). funden. in Leder- und Wildleder-Imitationen Im August 1924 gründeten die Brü- wurden von den Kunden sehr ge- Karl und Arthur Becker, die Söh- der die OHG Eduard Becker Söhne schätzt. Die Firma stellte u. a. die ne von Eduard Becker, in die Firma als eine Absonderung der Firma Ge- bekannten BEDOWA-Fabrikate her. ein. Die Brüder führten das Unter- brüder Becker. Als Unternehmens- Erst unlängst wurden in dem Chem- nehmen in den 1920er Jahren zu gegenstand ließen sie Strumpfwa- nitzer Auktionshaus Bossard Da- neuem Aufschwung. Die Garne be- renfabrikation und Großhandel in men-Handschuhe der Marke BEDO- zogen sie weiterhin aus England, das Handelsregister eingetragen. WA Beckers Doppelware versteigert. der Schweiz und Italien. Neben um- Die gesamte Palette der Strumpf- Nach dem Tod der Begründer traten fangreicher Belieferung des Binnen- und Wirkwaren wurde in Jahnsdorf marktes wurde ein beträchtlicher (Erzgebirge) hergestellt, nachdem Export nach England und Amerika, die Brüder die dortige Firma H. F. Skandinavien und den meisten an- Mauersberger übernommen hatten. deren Kulturstaaten, wie es damals Verwaltung und Appretur befan- hieß, betrieben. Die Firma verfügte den sich weiterhin in der Becker- über eine vorbildlich ausgebaute straße 27-29. Beide Werke wurden Verkaufsorganisation und durch im Mai 1927 in die Eduard Becker einen großen Stab von Vertretern Söhne Aktiengesellschaft mit einem Handschuhe der Fa. Gebrüder Becker. und Reisenden hielt sie eine stetige Grundkapital von einer Million RM persönliche Fühlung mit der Kund- überführt. schaft aufrecht. Gute Passform, ein- Neben den Brüdern gehörte u. a. wandfreie Konfektion und vorteil- der Rechtsanwalt Dr. Arthur Weiner hafte Farbsortimente verhalfen den dem Aufsichtsrat an. Nach dessen Fotos: Archiv Industriemuseum (l.m.), Privatbesitz (l.o., l.u., r.) Fabrikaten zu ihrem Weltruf. Entführung und Ermordung in der Die Firma Gebrüder Becker war auch Nacht zum 11. April 1933 verlegten die erste, die in Chemnitz die Ma- Karl und Arthur Becker mit ihren ratti-Maschinen (Erfinder: S. A. Ma- Familien im September 1933 ihren ratti, Schweiz) in der Handschuh- Wohnsitz nach Holland. Der Rechts- industrie einführte. Sie unterhielt anwalt Dr. Willy Schumann, bisher auch das größte und bestsortierte Weiners Sozius, wurde neuer Auf- Lager an Handschuhen in Deutsch- sichtsratsvorsitzender. land. Ende 1934 wurde die Firma Gebrü- Bereits im Mai 1911 war Karl Becker der Becker ebenfalls in die Eduard Prokurist der Firma geworden. Im Becker Söhne AG überführt. Nach- November 1916 vermählte sich der dem der ehemalige Vorstands- Unternehmer mit Erna Lucie Bern- vorsitzende Fritz Kirsch sowie die Villa Karl Becker, Herrenzimmer. stein, der Tochter des Fabrikanten Prokuristen Otto Wolfsheimer und Julius Bernstein. Die Eheleute zogen Günther Nothmann, die jüdischer Museumskurier_Juni17.indd 6 14.06.2017 08:58:27
8 Museumskurier 39|2017 Mode & Mobile – Depotgeschichten Einblicke in die Sammlung des Industriemuseums Chemnitz Gisela Strobel | Nicole Kling Wer wirft nicht gern einen Blick hinter die Kulissen, gleich ob im Theater, einer Firma oder im Indus- triemuseum? Im Depot des Indus- triemuseums lagern, wie in nahezu allen Museen, viele Exponate, die den Besuchern noch nie oder lange nicht gezeigt wurden. So entstand die Idee für in loser Folge gestaltete Präsentationen, die Einblicke in die Sammlung gewähren. „Mode & Mobile – Depotgeschich- ten“ ist der Auftakt dazu. Eher zu- fällig wird mit dieser Präsentation Blick in die Ausstellung ein Blick auf Alltag und Freizeit der Menschen mit ihren Träumen, Wün- Wie aber kam die Sammlung halten. Sonja Wahl, die viele Jahre schen und Ideen in den 1970er und König ins Industriemuseum? lang in einem Webereimuseum im 1980er Jahren gewährt. Es bleibt Im Sommer 2007 erhielt der Direk- Norden der USA tätig war, konnte bei einer exemplarischen Auswahl tor des Industriemuseums Chemnitz auf diesem Weg dem Industriemu- – eine umfassende Darstellung ist eine Information von einem Kollegen seum mehr als 90 Kleidungsstücke, weder geplant noch möglich. aus der Schweiz: in Freital bei Dres- den befände sich eine bemerkens- Im Mittelpunkt der Präsentation werte Sammlung außergewöhn- steht eine Kollektion extravaganter licher Kleidung, die eine begabte Modelle – Unikate, geschaffen von Schneiderin hinterlassen hätte. Der Ursula Hauptmann-König (1923- Schweizer Museumsleiter hatte die 2013), einer Schneidermeisterin aus Information wiederum von einer Freital. Sie kreierte in ganz eigenem Jugendfreundin der Schneiderin er- Stil für ihre Kundinnen, Freundinnen Foto: Archiv Industriemuseum (l.u.), G. Strobel (l.o., r.), H. Zschocke (l.m.) und sich selbst Garderobe. Zu ihren Kunden zählten auch Künstler, die sich Bühnengarderobe nähen ließen. Kreativität, beeindruckend hohes handwerkliches Können und Ele- ganz, gepaart mit einer gehörigen Portion Phantasie und Eigensinn Kleid aus Souvenirtüchern vom Bodensee zeichnete die Schneiderin aus. Ein Markenzeichen waren ihre kunst- dazu Arbeitsmittel und Dokumente vollen, genähten oder gestickten aus dem Leben von Ursula Haupt- Applikationen. Auch ihr Fernweh mann-König übergeben. Aus Freital und ihre Liebe zur Kunstgeschichte über die USA und die Schweiz nach lassen sich in ihren Modellen erken- Chemnitz! Diese Kuriosität passt nen. Wer außer ihr käme wohl auf zur Schneiderin „Ursi“, deren Leben die Idee, sich einen Mantel mit der wohl nicht besonders aufregend applizierten Freiheitsstatue zu nä- Ursula Hauptmann-König nähte sich einen war, umso mehr aber die Kleidung, hen, wenn sich Gäste aus den USA Mantel mit der Freiheitsstatue, als 1990 die sie mit einfachen Mitteln und Freunde aus den USA zu Besuch kamen. angemeldet haben? überreicher Phantasie schuf. Museumskurier_Juni17.indd 8 14.06.2017 08:58:31
9 39|2017 Museumskurier Trabant und Wartburg – ergänzt. Das legendäre Moped Schwalbe befindet sich in guter Gesellschaft mit MZ-Motorrädern und Diamant- Fahrrädern. Diese bestimmten maß- geblich das Straßenbild über viele Jahre, denn die verschiedenen Typen dieser Zweiräder wurden in hoher Auflage hergestellt. Bis zu 200.000 Fahrräder verließen jährlich das Diamant-Werk in Karl-Marx-Stadt. Die MZ TS 125 bzw. 150 gehören mit rund 326.000 Exemplaren zu den meistgebauten deutschen Mo- torrädern. Das Moped Schwalbe Blick in die Ausstellung wurde mehr als eine Million1 mal hergestellt. Diesen extravaganten Unikaten ge- hergestellte Kleidung kam von Zeit genüber steht Modernes für Alltag zu Zeit ins Museum, teils auch im Fahren wir eben zum Camping! Das und Freizeit. Zusammenhang mit anderen Aus- war die gängige Antwort Vieler auf In den Geschäften gibt es nicht ge- stellungen. Werbefotos, Zeitschrif- das lange Anstehen im Reisebü- nügend Kleidung für den modernen ten und Plakate aus den 1970er und ro nach einer ersehnten und dann Geschmack? Stoff, Muster, Schnitt 1980er Jahren ergänzen die Prä- doch nicht erhaltenen Ferienreise oder Preis gefallen nicht? Gehen wir sentation und erlauben einen ver- oder die im Sommer nie ausrei- doch ins Modeatelier! Oder nähen tiefenden Blick auf die schon fast chend vorhandenen Ferienplätze in wir selbst! Hobbyschneiderinnen vergessene Mode. den Betriebsferienheimen. Deshalb wendeten viel Zeit und Mühe für Der Zeitgeschmack bei der Wahl der gesellt sich zu den Fahrzeugen ein ihre Kleidung auf und brachten es Kleidung erscheint uns zuweilen Wohnwagen Typ Weferlingen. Be- auch später nicht übers Herz, die- schon wenige Jahre später seltsam. nannt sind diese mobilen Heime se wegzuwerfen, obwohl sie nicht Manches ist, vor allem für die Jün- nach dem Produktionsort bei Hal- mehr dem aktuellen Modetrend geren, kaum noch vorstellbar. densleben in Sachsen-Anhalt. Der entsprach. In die Sammlung des Weferlinger wurde mit einem Ge- Museums kam auf diese Weise Der zweite Schwerpunkt der Prä- wicht von nur 220 kg speziell für selbst Geschneidertes, das nun ge- sentation sind Mobile: Zweiradfahr- die zulässige Anhängerlast der PKW zeigt wird. Aber auch im Modeate- zeuge aus der Sammlung des Muse- Trabant ausgelegt und war in den lier genähte festliche und industriell ums werden durch Leihgaben – PKW 1970er und 1980er Jahren auf vie- len Campingplätzen zu finden. Auf nur 3,25 m� Grundfläche sammel- ten sich gut verstaut: ausziehbares Doppelbett, Sitzecke mit Klapptisch, Kleinküche mit Propangaskocher und Kleiderschrank. Mode & Mobile – Depotgeschichten 20.05. bis 30.07.2017 1 Schwalbe Gezwitscher – Das Magazin zum Wohnwagen Typ Weferlingen Jubiläum, Suhler Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2014, S. 6 Museumskurier_Juni17.indd 9 14.06.2017 08:58:35
10 Museumskurier 39|2017 1842 – erste Gewerbeausstellung in Chemnitz Enrico Hochmuth Die jüngste Beschäftigung mit dem Thema Industriekultur lässt auch im mitteldeutschen Raum die In- dustrie- und Gewerbeausstellungen wieder mehr in den Fokus zu rü- cken. So erinnern das Sächsische Wirtschaftsarchiv Leipzig oder das Stadt- und Bergbaumuseum Frei- berg dieses Jahr museal an Indus- Seidenbild der Halle der Chemnitzer Industrieausstellung 1867, nach einer Vorlage von G. Köhler, trie- und Gewerbeausstellungen. gewebt von A. Dittrich, J. Lippold im Jahr 1866. In Chemnitz begann die Geschich- te der Industrie- und Gewerbeaus- det und sollte übrigens nicht nur als bald alle „gangbaren“ Artikel prä- stellungen vor 175 Jahren mit der Chemnitzer Stadtverordneter, Ab- sentiert werden. Die Einschränkung Gewerbeausstellung 1842. Sie war geordneter des Sächsischen Land- der Ausstellungsexponate und die der Auftakt für weitere gleichartige tages und Zweiter Vizepräsident der wenig bekannten Anliegen und Veranstaltungen in der Stadt. Frankfurter Nationalversammlung Ziele der Ausstellungen hatten zu- Die Technische Deputation des 1829 von sich reden machen. Er setzte nächst für Zurückhaltung bei den gegründeten Handwerkervereins in sich für den Bau einer erzgebir- umworbenen Produzenten gesorgt. Chemnitz hatte bereits 1836 da- gischen Eisenbahn ein, wurde 1843 Erst mit der Vorlage und Umsetzung mit begonnen sich mit wöchent- Vorsitzender des in Leipzig gegrün- eines neuen Konzeptes im Jahr 1831 lichen Vorträgen für den Austausch deten Deutschen Industrievereins konnte Abhilfe geschaffen werden von Ideen und Erfahrungen auf und machte sich um die Einführung und die Teilnehmerzahlen stiegen. dem gesamten Gebiet des „tech- der Flachsspinnerei in Sachsen ver- Neben Handwerksprodukten wur- nischen Lebens“ einzusetzen. Wie dient. den nun zunehmend industriell ge- bereits Wolfgang Uhlmann in sei- Fortschrittliches und wirtschafts- fertigte Waren präsentiert. Hinter nen Forschungen zur Chemnitzer liberales Denken verbindet sich der Idee stand der 1828 gegründete Wirtschaftsgeschichte nachweisen auch mit dieser recht frühen Aus- Industrieverein für das Königreich konnte, ging die Initiative für eine stellungsinitiative des Chemnitzer Sachsen, der von nun an in die Or- Industrie- und Gewerbeausstel- Wirtschaftsbürgertums. Nach fran- ganisation der Veranstaltungen lung im Jahr 1842 von eben diesem zösischem Vorbild, aber auch mit einbezogen wurde. Ein erster säch- Handwerkerverein und nicht etwa Blick auf Preußen und England hatte sischer Höhepunkt war die deut- von dem im selben Jahr von Fabri- die sächsische Landesregierung ei- sche Nationalausstellung 1850 in kanten und Kaufleuten gegründe- nige Jahre vorher begonnen, Model- Leipzig. Zwar erfüllte diese (nach ten „Fabrik- und Handelsstand zu le und Ideen der Gewerbeförderung Mainz 1842 und Berlin 1844) dritte Chemnitz“ aus. Deren Interesse rich- auf ihre hiesige Praktikabilität zu Ausstellung der deutschen Staaten tete sich eher auf die überregionale überprüfen. Neben der Einrichtung die Erwartungen der Organisatoren Darstellung und die Exportmärkte. polytechnischer Bildungsanstalten nicht, trotzdem konnte sich das Kö- Der Handwerkerverein gründete im gerieten dabei die Industrie- und nigreich Sachsen überregional als Foto: Sammlung Industriemuseum (l.) März 1842 einen „Ausschuß für die Gewerbeausstellungen in den Fokus moderner Industriestaat darstellen. Gewerbausstellung zu Chemnitz“, der staatlichen „Landesökonomie-, Im „Ausstellungszeitalter“ nach der dem der Webereibesitzer Johann Manufaktur- und Kommerziende- Londoner Weltausstellung von 1851 Friedrich Waldau gemeinsam mit putation“. Von ihr wurde eine Reihe sollten auch in Sachsen die alleror- dem Mitbesitzer einer Kattundru- staatlicher Landesausstellungen ini- ten entstehenden und eng mit dem ckerei Jakob Bernhard Eisenstuck tiiert, die 1824 begannen und mit der Namen Friedrich List verknüpften vorstand. zwölften Ausstellung 1845 endeten. Gewerbevereine und Industrie- und Der liberale Eisenstuck hatte einst Nachdem anfänglich nur Luxuspro- Handelskammern Motoren der Aus- den Handwerkerverein mitbegrün- dukte ausgestellt wurden, konnten stellungen werden, die bald Volks- Museumskurier_Juni17.indd 10 14.06.2017 08:58:36
11 39|2017 Museumskurier festcharakter annahmen. alausstellungen“ veranstaltet hätten. nerei, der Kammwollweberei, der Nach bisherigen Erkenntnissen fand Auf die Werbung für das Ausstel- Tuchmacherei, der Spitzenfabrikati- 1830 in Zwickau die erste (nicht lungsvorhaben hin meldeten sich on, der Färberei, der Bleicherei und landesstaatliche) Ausstellung au- 170 Gewerbetreibende als Aussteller Appretur, der Papierfabrikation und ßerhalb der Landeshauptstadt statt. an. Eine Beteiligung, die, wenn man der Töpferei gewünscht. Damit begann sich in der west- bedenkt, dass die ersten Landesaus- Als die Ausstellung nach rund vier sächsischen Subregion ein frühes stellungen kaum mehr Teilnehmer Wochen am 18. August 1842 ihre Interesse an dieser neuartigen Ge- verzeichneten, für eine erste Regi- Pforten schloss, war sie von 7.000 werbeförderung zu regen. So prä- onalausstellung durchaus passabel Besuchern, darunter Prinz Johann sentierte sich bald das Vogtland auf ist. Schon kurze Zeit später öffneten von Sachsen und Angehörige könig- Ausstellungen 1839 und 1841 in sich am 16. Juli 1842 die Türen des licher Behörden, besichtigt worden. Plauen. Die Erzgebirgsregion sollte Chemnitzer Stadttheaters für das Besucherzahlen und Pressebericht- 1839 in Annaberg und schließlich Ausstellungspublikum. Im Saal des erstattung ließen ahnen, welche Öf- erstmals in größerem Umfang auf Hauses hatten die Aussteller unge- fentlichkeit man mit diesem neuar- der hier vorgestellten Chemnitzer fähr 2.000 Objekte arrangiert, die tigen Medium erreichen konnte. Für Ausstellung von 1842 präsentiert dem Besucher im 629 Nummern 290 Taler wurden Exponate verkauft, werden. Es folgten kleinere Aus- umfassenden Katalog des Stadtrats andere innerhalb der Ausstellungs- stellungen 1844 in Marienberg und Schink erläutert wurden. Wie an- lotterie verlost. Die Besucher konn- 1846 in Freiberg. Fast gleichzeitig gedacht, waren es zumeist Hand- ten Lose zu zehn Neugroschen das fanden 1835 in Bautzen und 1836 werksprodukte aus Strumpfwirkerei, Stück erwerben und trugen damit in Zittau erste Ausstellungen in Weberei, Kattundruckerei, Baum- zur Refinanzierung der Veranstal- Ostsachsen statt. 1847 vereinbarten wollspinnerei, Spielwarenfabrikation tung und zum Kassenüberschuss von dort die Gewerbevereine Bautzen, oder Eisenfabrikation, die den Besu- 174 Talern bei. Ausstellungslotterien Zittau und Kamenz abwechselnd chern näher gebracht wurden. Der sollten übrigens eines der beliebtes- Präsentationen von Industrie und Klein- und Hausindustrie machte ten PR- und Finanzinstrumente des Gewerbe der Oberlausitz durchfüh- nicht nur der Konkurrenzdruck der 19. Jahrhunderts werden. ren zu wollen. entstehenden Großindustrie son- Dieses insgesamt positive Fazit mag Am 14. Mai 1842 veröffentlichte dern auch der durch immer bessere neben der erfolgreichen Teilnahme der Chemnitzer Handwerkerverein Infrastrukturen und liberalere Wirt- Chemnitzer Unternehmen auf der eine „Aufforderung und Bitte“ im schaftsbedingungen vereinfachte Nationalausstellung 1850 in Leipzig Chemnitzer Anzeiger. Darin wird Import zu schaffen. Auch das Berg- auch Ansporn für den Handwerker- das Ausstellungsvorhaben der Öf- und Hüttenwesen und der Maschi- verein gewesen sein, sich der Or- fentlichkeit vorgestellt. Ausdrück- nenbau durften bei ihrer Bedeutung ganisation weiterer Ausstellungen lich wünscht man sich für den „Ge- für den Chemnitzer Raum auf der in den Jahren 1852 und 1867 zu werbsmann“ das „Bekanntwerden Ausstellung nicht fehlen. So zeigte widmen. mit den Leistungen der Berufsge- der ehemalige Chemnitzer Gewer- nossen […]“, einen vergleichenden belehrer Carl August Rabenstein, der Jahr Aussteller Besucher Gewinn/Verlust „Ueberblick über Alles, was über- im gleichen Jahr mit der Produktion 1842 170 7.000 174 Taler haupt in der betreffenden Provinz von Dampfkesseln begonnen hatte, gewerblich geleistet wird […]“, einen Lokomotivkolben. Constan- 1852 500 35.136 1.615 Taler möchte aber auch das „consumiren- tin Pfaff stellte mit seinem 1835 in 1867 1.223 183.875 Defizit unbek. de Publicum“ über die Angebote der Chemnitz gegründeten Unterneh- Region informieren. Im Hinblick auf men einen „neuen englischen Fein- Industrie- und Gewerbeausstellungen die Landesausstellungen in Dresden flyer für Baum- und Kammwolle" Chemnitz im Vergleich wird bemerkt, dass sie „ausschließ- sowie einen „Krempelspeiseapparat, lich der Beförderung der Fabrikindu- mit Tombour-Reinigungstrommel Die Industrie- und Gewerbeaus- strie gelten, auch für einen großen für Baumwolle" dem Publikum vor. stellungen sind nicht nur als un- Theil des betheiligten Publicums der Wie zeitgenössische Quellen an- terhaltsame und Identität stiftende Entfernung wegen nicht zugänglich merken, hätten sich die Organisa- Volksfeste im kollektiven Gedächtnis sind […]“. Es wird auch argumen- toren aber für einen umfassenderen haften geblieben. Sie trugen auch tiert, dass „[…] mehrere inländische Überblick über die westsächsische dazu bei, das kulturelle und wirt- Gewerbsvereine, durchdrungen von Produktionslandschaft eine stär- schaftliche Image von Produktions- der Wichtigkeit der vorgenannten kere Beteiligung der erzgebirgischen regionen auf vielfältige Weise nach- Vortheile […]“ mit Erfolg „Provinzi- Bandfabrikation, der Wollgarnspin- haltig zu prägen. Museumskurier_Juni17.indd 11 14.06.2017 08:58:36
12 Museumskurier 39|2017 Unternehmer einer neuen Generation Zum 175. Geburtstag von Gustav Hartmann Cynthia Kempe-Schönfeld „Und zwar reise ich morgen früh für einige Tage nach Oberschlesien; am 24. cr habe ich eine Sitzung in Ber- lin, am 25. cr eine solche in Köln am Rh., und am 2. März reise ich noch- mals nach Berlin, um am 3., 4. und 5. März daselbst Abschlußsitzungen von 3 Gesellschaften, bei denen ich im Aufsichtsrat bin, dabeizuwoh- nen.“1 Was sich hier wie der Auszug aus dem Terminkalender eines vielbe- schäftigten Managers unserer Tage liest, stammt aus dem Jahr 1910. Inhaber des Kalenders war Gustav Hartmann, der trotz seiner fast 70 Porträt Gustav Hartmann, Lebensjahre noch immer ein beacht- unten rechts signiert Dietrich u. Witte Chemnitz, liches Arbeitspensum absolvierte. um 1890 Aus heutiger Sicht ist er durchaus als Manager zu bezeichnen, ver- stand er es doch hervorragend, stav Hartmann eine kaufmännische halten bezeugen ein systematisches, Unternehmen und Banken durch Ausbildung in Hamburg, Liverpool in sich abgestimmtes Ausbildungs- Kapitalfluss und Wissenstransfer und Manchester, die durch weitere programm. Das erworbene Wissen strategisch miteinander zu verbin- Stationen in Belgien, Frankreich um nationale und internationale den, Netzwerke aufzubauen und und Russland ergänzt wurde. 1868 Abläufe in Produktion, Verwaltung, Kompetenzen zu bündeln. Gustav ernannte Richard Hartmann seine Buchhaltung und Vertrieb ließen ihn Hartmann verkörperte die Weiter- Söhne Richard jun. und Gustav so- Verständnis für die Mechanismen entwicklung des Unternehmers von wie seinen Schwiegersohn Eduard und das Zusammenspiel der einzel- den Wurzeln handwerklicher Tradi- Keller zu Teilhabern seiner Fabrik. nen Geschäftsfelder innerhalb eines tion hin zu einem Netzwerk-Mana- Mit der Übertragung der Teilha- Unternehmens gewinnen. Darüber ger. Sein Leben und Wirken zeugen berschaft, die die stetig wachsen- hinaus erhielt er wertvolle Einblicke von diesem Wandel. de Arbeitslast des prosperierenden in die Industrie vor allem der Staa- Werkes auf mehrere Personen auf- ten, denen die Industrialisierung Gustav Hartmann wurde am 10. Juni teilte, endete die beinahe zehnjähri- einen Entwicklungsvorsprung ver- 1842 als zweiter Sohn des Fabrikan- ge Vorbereitung Gustav Hartmanns schafft hatte. Die in diesen Jahren ten Richard Hartmann in Chemnitz auf eine Führungsposition im Fa- geknüpften Kontakte im In- und geboren. Der Vater, ein gelernter milienunternehmen. Zwar gehörte Ausland und die vorgenannten Fak- Zeugschmied aus dem elsässischen er noch nicht der Unternehmer- toren bildeten die Basis für seine Fotos: Sammlung Industriemuseum Barr, war während seiner Gesellen- generation mit universitärer Aus- spätere Arbeit. wanderung 1832 nach Chemnitz bildung an, doch durchlief er eine gekommen, wo er innerhalb weniger umfassende und vorausschauend Den Kern dieser Arbeit stellte sein Jahrzehnte eine der bedeutendsten geplante Lehrzeit. Der Wechsel vom Wirken im Familienunternehmen Maschinenfabriken in Sachsen auf- Erlernen theoretischer Grundlagen dar. 1870 wurde es in eine Aktien- baute. über praxisbezogene Erfahrungen gesellschaft umgewandelt, die den Nach seiner Schulzeit in Chem- hin zu repräsentativen Aufgaben Namen „Sächsische Maschinen- nitz und Annaberg durchlief Gu- und zahlreichen Auslandsaufent- fabrik zu Chemnitz“ trug. Richard Museumskurier_Juni17.indd 12 14.06.2017 08:58:38
13 39|2017 Museumskurier Hartmann übernahm bis zu seinem sen in andere Firmen. Er wurde zu die Förderung des Maschinenbaus Tod 1878 den Vorsitz des Aufsichts- einem profunden Kenner der säch- die Würde eines Doktor-Ingenieur rates; Gustav Hartmann, Eduard sischen und deutschen Wirtschaft Ehrenhalber. Keller sowie zwei Stellvertreter ge- und einem führenden Netzwerkspe- hörten dem ersten Direktorium an. zialisten. Seine Kenntnisse und Fä- Am 20. Oktober 1910 starb Gustav Zum 1. Januar 1880 wechselte Gu- higkeiten waren stark nachgefragt, Hartmann im Sanatorium Ebenhau- stav an die Spitze des Aufsichtsrates so dass er in verschiedene Gremien, sen bei München. Nachrufe in groß- und leitete diesen bis zu seinem Vereine und Aufsichtsräte – 1906 en Zeitungen sowie Traueranzeigen Tod 1910. Damit bestimmte er 40 hielt er 13 Aufsichtsratsmandate – zahlreicher Unternehmen, mit de- Jahre die Geschicke des Unterneh- berufen wurde, nicht ohne dass die- nen er verbunden war, würdigten mens und führte es durch stetiges ser Einfluss wieder der Sächsischen sein Andenken und beklagten den Wachstum zu weiteren Erfolgen. Es Maschinenfabrik AG zugutekam. schweren Verlust für die deutsche wurde die auf Jahre größte Maschi- Industrie. 7.000 Menschen sollen nenbauanstalt Sachsens, gemessen Belege für dieses Engagement sind Gustav Hartmann am 24. Oktober an Beschäftigtenzahlen, Produktivi- u. a. sein Wirken in der Mitteldeut- das letzte Geleit durch die Chem- tät und Fläche. Beispielhaft für das schen Gruppe des Vereins Deutscher nitzer Innenstadt bis zum Neuen Wachstum in allen Bereichen waren Eisen- und Stahlindustrieller, seine Friedhof gegeben haben, wo er im die Vergrößerung der Produktions- Rolle bei der Sanierung der Lauch- Familiengrab beigesetzt wurde. stätten und –anlagen, die Erschlie- hammer AG, seine Tätigkeit als Auf- ßung neuer Absatzmärkte durch sichtsrat und Direktor der Dresdner Entsendung von Vertretern oder ei- Bank sowie die Mitgründung der gene Reisen Gustav Hartmanns und Russischen Gesellschaft der Ma- die Fortsetzung der Sozialfürsorge schinenbaubetriebe Hartmann in für die Arbeiterschaft. Lugansk. Eine besondere Bedeutung kommt Sein Wirken blieb jedoch nicht auf der Verbindung Gustav Hartmanns die eigene Stellung innerhalb des mit der Familie und Firma Krupp Familienunternehmens begrenzt. in Essen zu. Zuerst nur geschäft- Gustav Hartmann investierte neben lich miteinander verbunden, ent- Kapital auch Arbeitskraft und Wis- wickelten sich zwischen ihm und Friedrich Alfred Krupp, Sohn des Firmengründers Alfred Krupp, freundschaftliche und später ver- wandtschaftliche Beziehungen. Eine wichtige Aufgabe fiel ihm mit dem frühen Tod Krupps 1902 zu. Dieser hatte testamentarisch fest- gelegt, dass nach seinem Ableben die Firma in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln sei. Gustav wurde zu einem von zwei Testamentsvollstre- ckern bestellt. Von 1903 bis 1909 stand er zudem an der Spitze des Aufsichtsrates der Fried. Krupp AG. Für seine Verdienste auf dem Wirt- schafts- und Finanzsektor wurde Gustav Hartmann vielfach geehrt. So erhielt er 1903 den Titel eines Königlich-Sächsischen Geheimen Kommerzienrates und 1909 verlieh ihm die Königlich-Sächsische Tech- Pokal, Russische Gesellschaft der Maschinen- nische Hochschule zu Dresden in 1 Familienarchiv Hügel 4 C 276, Bl. 24-25 baubetriebe Hartmann in Lugansk, 1898 Anerkennung seiner Verdienste um Museumskurier_Juni17.indd 13 14.06.2017 08:58:38
14 Museumskurier 39|2017 Louis Ferdinand Schönherr (1817-1911) Louis F. Schönherr gründete eine der bedeutendsten Textilmaschinenfabriken in Chemnitz und lieferte tau- sende Webstühle nach Sachsen, Deutschland und Europa. Sein Werk wurde unter der Leitung seiner Söhne Max und Paul als Aktiengesellschaft fortgeführt und gehörte auch von 1945 bis 1990 als VEB Webstuhlbau zum festen Bestandteil des Textilmaschinenbaus der Stadt Chemnitz. Heute erinnern vor allem seine immer noch funktionsfähigen Webstühle, die Schönherr Weba GmbH auf dem Gelände seiner ehemaligen Fabrik und nach ihm benannte Straßen in Chemnitz und Plauen an den Textilmaschinenbauer von Weltruf. Karin Meisel Die Kindheit in Plauen Louis F. Schönherr wurde am 22. Februar 1817 in Plauen als jüngstes von acht Kindern in eine Weberfamilie hineingeboren. In seinem Geburtsjahr standen die deutschen Weber vor großen He- rausforderungen; durch den Fall der Kontinentalsperre strömten eng- lische Waren ungehindert ins Land. Der Vater Christian Wilhelm Schön- herr war Meister der Zeug-, Lei- nen- und Wollweberei. Er verkaufte mit einem kleinen Hundefuhrwerk seine Waren im Umland und bis ins angrenzende Böhmen. Die Mutter Johanne Magdalene Riedel ent- Porträt Louis stammte einer Müllerfamilie. Schönherr, Gemälde von Hugo Die Familie lebte in bescheidenen Schimmel, um 1900 Verhältnissen. Louis F. Schönherr war kaum ein Jahr Rolle bei der Ausbildung von Louis Die Ausbildung und erste alt, als sein Vater für die Familie ein einnehmen. Er hatte nach Abschluss Schritte in die Selbständigkeit kleines zweigeschossiges Wohnhaus seiner Lehre auf Wanderschaft und mit Gärtchen vor den Toren von Reisen nach Österreich, Italien, in Als Zwölfjähriger folgte Louis Fer- Plauen erwerben konnte. Der Web- die Schweiz, nach Frankreich und dinand seinem Bruder Christian stuhl der Eltern stand in der oberen England umfangreiche Erfahrungen Wilhelm nach Chemnitz und ar- Etage. In zwei Räumen im Erdge- gesammelt, die sich in seinen Ideen beitete zunächst in der Werkstatt schoss befand sich eine Werkstatt. und Arbeiten niederschlugen. Louis von Friedrich Georg Wieck. 1829 Die finanziellen Mittel der Familie musste schon als Neunjähriger zum wurde Louis F. Lehrjunge in der reichten nur für die einfachste Aus- Lebensunterhalt der Familie beitra- Maschinenfabrik von Carl Gottlieb stattung der kleinen Arbeitsstätte, in gen, er war Hütejunge und ging spä- Haubold, einem der Pioniere des der sich sowohl der Vater als auch ter seinen Brüdern mit Hilfsarbeiten Chemnitzer Maschinenbaus. 1832 die beiden älteren Brüder Christian in der Werkstatt zur Hand. Vermut- wechselte Christian Wilhelm eben- Fotos: Archiv Indusrriemuseum Wilhelm und Friedrich August mit lich wurden hier die Grundlagen für falls in das Unternehmen von Carl Verbesserungen an den Webstühlen seine weitere Entwicklung gelegt. Gottlieb Haubold, auf dessen Ge- beschäftigten. Wahrscheinlich för- Die Eltern starben beide in Plauen. lände sollte Jahre später die eigene derten gerade diese Bedingungen Die Mutter wurde 74 Jahre alt. Der Fabrik Louis Ferdinand Schönherrs die Kreativität der Schönherr-Brüder. Vater verstarb im Alter von 86 Jah- entstehen. In der Hauboldschen Vor allem der 15 Jahre ältere Chri- ren, er erlebte noch den Beginn der Fabrik und der Sächsischen Ma- stian Wilhelm sollte eine besondere Erfolgsgeschichte seines Sohnes mit. schinenbau-Compagnie begannen Museumskurier_Juni17.indd 14 14.06.2017 08:58:39
15 39|2017 Museumskurier Maschinenfabrik Schönherr & Seidler in Chemnitz, um 1856 neben Schönherr auch andere, spä- wurden die Webstühle in England, Webstuhlbau ein und beauftragte ter sehr erfolgreiche Chemnitzer Frankreich, Österreich, Sachsen und Christian Wilhelm mit deren Aufbau Maschinenbauunternehmer wie weiteren deutschen Staaten paten- und Leitung. Er übertrug hier er- Richard Hartmann, Constantin Pfaff tiert. Musterstühle zur Ansicht und folgreich die Konstruktion der Web- und Johann Zimmermann ihr Wir- Probenutzung in Chemnitz halfen, stühle auf Tuchwebstühle. Er erhielt ken. Im Anschluss an die vierjährige Vorurteile den neuen Webstühlen dafür viel Lob, leider ohne die ent- Lehrzeit erhielt Louis ab 1833 durch gegenüber abzubauen und den Ver- sprechenden Verkaufserfolge. Nach die Vermittlung von Bruder Wilhelm trieb weiter zu fördern. Die Gewer- drei Jahren schieden die Brüder ein Stipendium des sächsischen beausstellung 1840 in Dresden prä- wieder aus dem Unternehmen aus Staates für ein zweijähriges Studi- sentierte die auf den Webstühlen und ihre Lebenswege trennten sich. um an der Technischen Bildungsan- hergestellten Stoffe. Man lobte die stalt in Dresden. Webstühle für ihren ruhigen Gang, Louis F. wechselte 1844 ins Eisen- die Leichtigkeit in der Bewegung, werk Erla bei Schwarzenberg. Auch Am 6. März 1837 erhielten Chri- das „hübsche“ Äußere und auch den in diesem Unternehmen baute er stian Wilhelm und seine beiden Bau ganz aus Eisen. Im Gewerbe- drei Jahre lang Webstühle. Vor Brüder eine Konzession zur Ein- blatt für Sachsen erfolgte eine aus- allem entwickelte er den Tuch- richtung einer Weberei und Ma- führliche Darstellung. webstuhl weiter. Leider blieb der schinenfabrik in der Rittergutmühle wirtschaftliche Erfolg noch immer von Niederschlema. Dort tüftelten In dieser Zeit unternahm Louis F. aus. In der deutschen Öffentlichkeit die Schönherr-Brüder weiter an eine zweijährige Reise nach Eng- allerdings erlangte der junge Kon- der Verbesserung der Webstühle. land, um in Leeds und Manchester strukteur Aufmerksamkeit. In Erla Durch Einsatz von Eisenguss ver- 40 dieser Webstühle aufzubauen. reifte der Plan, 1848 in Dresden loren die neuen Webstühle zwar Er sammelte dabei Kenntnisse über eine neue Fabrik zu gründen. Durch ihre Tauglichkeit für die Hausindu- Geschäftsabläufe in englischen Un- die revolutionären Unruhen1848/49 strie, jedoch wurden dadurch die ternehmen und Erfahrungen über zogen sich jedoch Finanziers zu- Voraussetzungen für den Einsatz die Arbeitsweise der bis zu dieser rück. Völlig mittellos ging Louis F. in Fabriken geschaffen. Noch wa- Zeit weltbesten Webmaschinen. Bei ins Elternhaus nach Plauen zurück ren die Webstühle relativ klein und seiner Rückkehr war der Betrieb in und wurde für seine Verdienste als sollen deshalb von den Engländern Niederschlema fast zum Erliegen Plauener Stadtverordneter gewählt. als „Nürnberger Spielzeug“ bezeich- gekommen. Die Brüder Wilhelm und net worden sein. Durch Verkäufe an Louis kehrten deshalb 1841 zurück Schon 1849 zog es Louis F. wieder Unternehmen in Sachsen, im Rhein- nach Chemnitz und fanden Anstel- nach Chemnitz. Er nahm eine An- land, in Schlesien und in Russland lung in der Sächsischen Maschinen- stellung bei Richard Hartmann als stellten sich endlich erste beschei- bau-Compagnie. Das Unternehmen Akkordmeister im Webstuhlbau an dene finanzielle Erfolge ein. Zudem richtete eine Abteilung für den und brachte hier die wichtigsten Museumskurier_Juni17.indd 15 14.06.2017 08:58:39
16 Museumskurier 39|2017 Areal bereits acht Hauptgebäude, verschiedene Nebengebäude und auch die ehemalige Hauboldsche Gießerei. Bereits 1857 schied Ernst Seidler mit einer Abfindung von 30.000 Ta- lern als anteiligem Gewinn aus der Firma aus. Louis F. Schönherr führte das Unternehmen von nun an unter der Bezeichnung „Webstuhlfabrik Louis Schönherr“ allein weiter. Die Geschäfte liefen sehr gut, der Ab- satz der Webstühle erhöhte sich und die Beschäftigtenzahlen stiegen. Das Produktportfolio wurde um Buckskin-Webstühle erweitert, so konnten auch die gefragten gemu- Schönherr in Thossfell sterten Stoffe hergestellt werden. Die ersten beiden Buckskin-Web- Verbesserungen am Tuchwebstuhl Jahres an Unternehmen in Chem- stühle lieferte Schönherr Anfang zum Abschluss. Die Konstruktion nitz und der Region geliefert und 1862 aus. Im gleichen Jahr kaufte wurde in einem Patent vom 19. Juni bereits nach neun weiteren Mona- er das Fabrikgelände und begann 1850 auf fünf Jahre für Sachsen ten konnte der 100. Webstuhl ge- mit umfangreichen Um- und Neu- geschützt. Richard Hartmann durf- liefert werden. Untersuchungen der bauten. Die Energie wurde nun- te die von Schönherr entwickelten Eintragungen im Webstuhlregister mehr nicht nur durch Wasserkraft, Webstühle laut Vertrag nachbau- zeigen u. a., dass ein Großteil der sondern auch mittels Dampfkraft en. Louis F. Schönherr erhielt dafür Webstühle in das heutige Nordr- erzeugt. Vorhanden waren 463 eine Patentprämie pro Webstuhl. hein-Westfalen (39 %) und ins Aus- Arbeitsmaschinen zum Schleifen Offenbar nach Patentstreitigkeiten land (32 %) geliefert wurde. Unter- und Schmirgeln, Fräsen und Ho- entschied sich Schönherr Ende 1851 nehmer aus England gehörten nicht beln, Drehen und Bohren, dazu 32 zur Gründung einer eigenen Fabrik. zu den Käufern. In Sachsen verblie- Schmiedefeuer. ben nur reichlich 14 % der Erzeug- Das eigene Unternehmen nisse, ein Drittel davon in Chemnitz. 1869 machte die als Sächsischer Es zeigte sich, dass die Unternehmer Eisenbahnkrieg in die Geschichte Gemeinsam mit Ernst Seidler, dem im Ruhrgebiet und im Ausland die eingegangene Auseinandersetzung Prokuristen aus der Fabrik von teuren Tuchwebstühle beim Kauf mit Richard Hartmann Schlagzeilen. Richard Hartmann, gründete Louis bevorzugten. Die preiswerten Zeug- Richard Hartmann hatte 1847 mit F. Schönherr am 2. November 1851 webstühle wurden überwiegend in dem Bau von Lokomotiven begon- die Maschinenfabrik Schönherr & der Region verkauft. nen, obwohl Chemnitz noch über Seidler. Sie bezogen gemietete Räu- keinen eigenen Eisenbahnanschluss me der früheren Kühnschen Fabrik Bei den steigenden Produktions- verfügte. Bei der Eröffnung der er- in Altchemnitz und erhielten die zahlen wurden die Räume in der sten Eisenbahnlinie 1852 war die Konzession zum Betrieb einer Ma- Kühnschen Fabrik nach zwei Jahren Innenstadt in Richtung Bahnhof be- schinenbauwerkstatt, einer Eisen- zu klein und die beiden Geschäfts- reits so dicht bebaut, dass keine di- gießerei mit drei Kupolöfen sowie führer suchten nach größeren rekte Anbindung vom Werksgelände die Erlaubnis zur Angliederung einer Räumlichkeiten. Sie mieteten einen Hartmanns an die neu entstandenen Fotos: Archiv Industriemuseum Maschinenweberei. Diese diente ne- Teil des Geländes der ehemaligen Bahnlinien möglich war. Hartmann ben der praktischen Erprobung der Sächsischen Maschinenbau-Com- musste seine Lokomotiven mit Pfer- Webstühle auch zur Ausstellung der pagnie. Dieses hatte 1852 der Kauf- defuhrwerken zum Bahnhof trans- hergestellten Erzeugnisse für poten- mann Louis Benndorf für 50.000 portieren. Dies bedeutete einen zielle Kunden. Sie starteten mit zu- Taler erworben und den ersten immensen finanziellen und logisti- nächst 20 Arbeitern. Die ersten drei Gewerbepark in Chemnitz einge- schen Aufwand. Er strebte deshalb Webstühle wurden innerhalb eines richtet. Zu dieser Zeit umfasste das einen Eisenbahnanschluss in Rich- Museumskurier_Juni17.indd 16 14.06.2017 08:58:41
17 39|2017 Museumskurier tung Glösa an. Louis F. Schönherr verweigerte jedoch den Gleisbau auf seinen Grundstücken und konnte auch deren Enteignung verhindern. Gründe für diese Entscheidung wa- ren die gerade fertiggestellten Um- bauten auf seinem Fabrikgelände, aber auch die Erinnerung an sein in Unfrieden von statten gegangenes Ausscheiden aus dem Unternehmen von Hartmann. Dieser scheiterte mit seinem Ansinnen und musste seine Lokomotiven bis zu seinem Lebens- ende mit Pferd und Wagen zum Bahnhof transportieren. Das Unternehmen zwischen 1872 und 1945 Zeugwebstuhl, Baujahr 1902, Sammlung Industriemuseum 1872 schied Louis F. Schönherr aus der aktiven Geschäftsführung aus. Turbulenzen, Aufschwünge und Kri- Das Unternehmen ab 1945 Seine Söhne Max Louis und Paul sen mit sich. Man reagierte in der bis heute führten sein Lebenswerk fort. Un- Weltwirtschaftskrise auf die ver- ter der Leitung von Max Louis er- änderte wirtschaftliche Situation Die Zerstörungen auf dem Werks- folgte 1872 die Umwandlung des durch verstärkte Zusammenarbeit gelände im 2. Weltkrieg fielen im Unternehmens in eine Aktiengesell- mit anderen Firmen gleicher Sparte. Vergleich zu anderen Chemnitzer schaft mit einem Stammkapital von Fabriken moderat aus. Nach der 1.000.000 Talern. Sie firmierte unter Am 22. Juni 1932 unterzeichneten vollständigen Demontage der Fir- dem Namen „Sächsische Webstuhl- Bevollmächtigte der Textilmaschi- ma begann mit 70 Beschäftigen fabrik AG zu Chemnitz (vormals nenbauunternehmen Sächs. Textil- der Wiederaufbau. Bereits 1948 Louis Schönherr)“. maschinenfabrik AG (vorm R. Hart- war die Beschäftigtenzahl auf 450 mann) Chemnitz, Carl Hamel AG, angewachsen und die Weiterent- Louis F. Schönherr übernahm den Schönau, Sächs. Webstuhlfabrik AG wicklungen an den Webmaschinen Vorsitz des Aufsichtsrates. Sohn (vorm L. Schönherr) Chemnitz und hatten begonnen. Der erste kom- Max Louis gehörte dem Vorstand Textilmaschinenfabrik und Eisen- plett neue Webstuhl verließ 1950 bis 1930 an. Paul trat 1893 als Kon- gießerei Kettling & Braun, Crimmit- den Betrieb. Seit 1. Januar 1952 strukteur in das Unternehmen ein. schau einen Vertrag über die Bil- gehörte der VEB Webstuhlbau zur Später war er Prokurist und ab 1902 dung einer Interessengemeinschaft Vereinigung Volkseigener Betriebe Vorstandsmitglied. der Textil-Maschinen-Compagnie Textima, später zum VEB Kombinat (TeMaCo). Textima. Mit der Verstaatlichung 1880 wurde die Produktion von 1952 schieden die letzten Familien- Webstühlen zur Herstellung von Wieder veränderte sich das Pro- mitglieder aus den Leitungsgremien Teppichen und Möbelstoffen auf- duktionsprofil in der Sächsischen des Unternehmens aus. genommen. Im Jahr 1912 stellte Webstuhlfabrik AG: ab 1932 lieferte das Unternehmen 84 verschiedene die Firma zweischützig arbeitende Nach 1990 wurde der VEB zur Webstühle her, die weltweiten Doppelteppichwebstühle aus, deren Chemnitzer Webmaschinen GmbH Absatz fanden. Die Beschäftig- Konstrukteur Paul Schönherr war. umgewandelt. Die Beschäftigten- tenzahlen stiegen weiter auf etwa Im Zweiten Weltkrieg wurden im zahl wurde von etwa 1.600 auf 1.400. Im Jahr 1902 erhielt die Unternehmen auch Kriegsprodukte, etwa 800 reduziert. 1992 kaufte Firma einen direkten Eisenbahnan- wie Granaten, Rohre für Panzerab- zunächst ein Schweizer Unter- schluss. wehrraketen, Minenstühle u. a. her- nehmen das Werk, welches 1994 Die Jahrzehnte zwischen Erstem gestellt. von der österreichischen Ventana Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und Gruppe übernommen wurde, die Zweitem Weltkrieg brachte viele mit Umstrukturierungen begann. Es Museumskurier_Juni17.indd 17 14.06.2017 08:58:41
18 Museumskurier 39|2017 Familie Schönherr - Louis Schönherr, seine erste Ehefrau Johanne Christiane und ihre 12 Kinder: hinten stehend v. r. Woldemar, Lydia, Max, Bertha, Robert, Fanny, Willie, vorn sitzend v. r. Curt, Rudolf, Louis Schönherr, Paul, Hans, Frau Christiane, ganz vorn Johanna, um 1866 wurden drei Tochterunternehmen für kurze Zeit nach Dresden. Aus gegründet: die Schönherr Metall- dieser Ehe gingen zwei Kinder her- verarbeitung GmbH (Gießerei), die vor. Mit 64 Jahren wurde er Vater Schönherr Webstuhlbau GmbH und einer unehelichen Tochter. Nach die Schönherr Teilefertigung GmbH. Informationen der heute noch le- 1998 setzte die Umnutzung und benden Nachfahren arbeitete deren Entwicklung des Gewerbestand- Mutter als Hauslehrerin in der Heil- ortes Webstuhlbau ein, unterstützt anstalt Oberwaid bei Sankt Gallen. durch Fördermittel des URBAN-Pro- Im Sommer 1885 hatte Louis F. grammes und Eigenmitteln der Stadt Schönherr seinen Wohnsitz in das Chemnitz. Seither entstand auf dem nordöstlich von Plauen gelegene ehemaligen Schönherrschen Areal Rittergut Thoßfell verlegt. Es wur- der Gewerbepark Schönherr Weba de sein Alterssitz und gleichzeitig GmbH mit derzeit etwa 120 Mietern Rückzugsort für seine ganze Fami- bzw. Firmen und 1.400 Mitarbei- lie. Der rechte Flügel des Gutes be- tern, dessen neunter Bauabschnitt herbergte eine Maschinenbauwerk- 2017 zum Abschluss gebracht wird. statt, so dass er bis ins hohe Alter an der weiteren Verbesserung an Meisel, Karin; Schaller, Barbara: Fotos: Günter Schaefer (r.), Archiv Industriemuseum (l.) Louis F. Schönherrs Familie Webstühlen arbeiten konnte. We- Louis Ferdinand Schönherr – 1817- nige Tage vor Vollendung seines 1911 : Textilmaschinenbauer von Louis F. Schönherr heiratete 1842 94. Lebensjahres verstarb Louis F. Weltruf. – Chemnitz : Verlag Hei- die erst 16jährige Tochter eines Schönherr am 8. Januar 1911 auf matland Sachsen, 2017. – 63 Seiten : Fleischermeisters und Schankwirts, seinem Gut in Thoßfell. Die Beiset- Illustrationen Johanne Christiane Wendler. Bis zu zung des Hochgeehrten fand unter Chemnitzer Lebensbilder; 13 ihrem Tod im Februar 1869 brachte großer Anteilnahme im Erbbegräb- ISBN: 978-3-910186-96-5 sie dreizehn Kinder zur Welt, zwölf nis auf dem Chemnitzer Schloß- Preis: 12,95 Euro davon erreichten das Erwachsenen- friedhof statt. alter. Einige Jahre nach dem Tod sei- ner ersten Frau heiratete Louis F. Schönherr ein zweites Mal und zog Quellennachweise liegen der Redaktion vor. Museumskurier_Juni17.indd 18 14.06.2017 08:58:42
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