Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Aargau
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Aargau – Solothurn – beider Basel Nr. 2 / 2021 Nachbarin Armut ist weiblich Seit 50 Jahren haben Frauen in der Schweiz politische Rechte. Gleichstellung ist jedoch noch nicht erreicht. Eine Folge: Frauen sind häufiger von Armut betroffen als Männer. Woran liegt das? Wie lässt sich das ändern?
Inhalt Inhalt 3 Editorial Kurz & bündig 4 News aus dem Caritas-Netz Bild: Zoe Tempest Schwerpunkt Die alleinerziehende Mutter Anika Vonow (Name 6 «Ich fühlte mich mutterseelenallein» geändert) ist auf Unterstützung angewiesen. Sie ist damit nicht allein: Frauen sind in der Schweiz häufiger von Armut betroffen als Männer. Schwerpunkt 10 Armut ist weiblich Schwerpunkt Schwerpunkt Armut ist weiblich 12 Interview: Erwerbsbiografien entscheiden In diesem Jahr feiern wir in der Schweiz 50 Jah- re Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Seither Ich will helfen wurde in Sachen Gleichstellung von Mann 13 «Ich schlage eine Brücke zwischen und Frau viel erreicht – und doch nicht ge- nug: Frauen sind in der Schweiz noch immer zwei Welten» häufiger von Armut betroffen und tragen ein höheres Armutsrisiko als Männer. An diesen Regional Umstand wollen wir mit der einmalig violetten Farbgebung und dem abgewandelten Titel des 14 Einblick in das Leben einer Kämpferin Eine Klientin der neuen Beratungsstelle im aktuellen «Nachbarn» erinnern. Wir zeigen auf, Baselbiet erzählt dass wirkliche Gleichstellung der Geschlech- ter auch für die Armutsbekämpfung in der Schweiz entscheidend ist. 16 Nähateliers für Frauen Lesen Sie im Schwerpunkt die Geschichte von Die neuen Treffpunkte sind nachhaltig, Anika Vonow (Name geändert). Schwanger- sozial und kreativ schaft, gesundheitliche Probleme, Kindsvater weg, Lehrabbruch: Für die alleinerziehende 18 «Co-Pilot hat mich stark gemacht» Mutter von zwei Mädchen geriet der Einstieg Begegnung mit einem erfolgreichen ins Berufsleben äusserst schwierig – mit weit- F rauentandem reichenden Folgen. Weshalb ist Anika kein Einzelfall? Was sind 20 Die weibliche Seite der Armut die Gründe dafür, dass Frauen in der Schweiz Erfahrungsbericht einer Sozialarbeiterin stärker von Armut betroffen sind als Männer? Welche Massnahmen braucht es gegen diesen 22 Immer wieder etwas Neues Missstand? Die neue Ausgabe des «Nachbarn» Franziska Hug feiert ihr 20-Jahr-Jubiläum liefert Antworten. bei Caritas Aargau Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Kolumne ab Seite 6 23 Das Schweigen der Frauen 2 Nachbarn 2 / 21
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser «Wir Frauen haben viel verändert, wir haben viel bewegt.» Diese Worte sprach Bundesrätin Simonetta Sommaru- ga am diesjährigen 1. August auf der Rütliwiese. Sie sagte aber auch: «Wir haben noch viel zu tun.» Auch wir nehmen das 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts zum Anlass, um den augenfälligen Zusammenhang von Bild: Schatzmann Frausein und Armut in der Schweiz zu beleuchten. Wir tun dies ausnahmsweise mit einer gestalterisch ange- passten Titelseite – zur Unterstreichung der andauern- Domenico Sposato den strukturellen Problematik. Geschäftsleiter Caritas beider Basel Fabienne Notter In der Schweiz ist Armut mehrheitlich weiblich. Das Geschäftsleiterin Caritas Aargau und zeigt die tägliche Arbeit von Caritas und ihre wissen- Caritas Solothurn schaftliche Beschäftigung mit dem Thema. In den re- gionalen Caritas-Organisationen engagieren wir uns «Nachbarn», das Magazin der regionalen deshalb in zweierlei Hinsicht. Zum einen mit vielfälti- Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich: im April und im Oktober. gen direkten Beratungs- und Unterstützungsangebo- ten für Frauen, zum anderen durch Sensibilisierungs- Gesamtauflage: 37 300 Ex. arbeit und sozialpolitisches Engagement. Auflage AG, BS/BL, SO: 6270 Ex. Damit ist Caritas eines der wenigen Hilfswerke, die in Redaktion: der Schweiz betroffene Frauen direkt unterstützen und Nathalie Philipp, Fabienne Notter, Domenico Sposato (regional) zugleich auf grundsätzliche Verbesserungen der gesell- Roland Schuler (national) schaftlichen und politischen Rahmenbedingungen hin- Gestaltung, Produktion und Druck: arbeiten. Beides braucht einen langen Atem, den wir auch Stämpfli AG, Bern dank Ihnen haben, geschätzte Leserinnen und Leser. Papier: Profibulk, FSC-zertifiziert Die Weiterentwicklung unseres Magazins gestalten wir Versandfolie: «I’m eco» ebenfalls im Zusammenspiel mit der Leserschaft. Als (aus recycelten Altfolien) Folge der Umfrage von 2020 haben wir eine umweltver- Caritas Aargau träglichere Verpackung für «Nachbarn» gesucht und www.caritas-aargau.ch CH23 0900 0000 5000 1484 7 gefunden. Zudem werden künftig die Kinderzeichnung und die Statements von Passantinnen und Passanten Caritas beider Basel www.caritas-beider-basel.ch durch zusätzliche und ausführlichere Berichte ersetzt. CH26 0900 0000 4000 4930 9 Wir danken Ihnen, dass Sie uns beim Helfen helfen Caritas Solothurn und wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen! www.caritas-solothurn.ch CH76 0900 0000 6053 8266 5 Fabienne Notter Domenico Sposato Nachbarn 2 / 21 3
Kurz & bündig Leserschaftsumfrage Wie das «Nachbarn» bei Ihnen ankommt Im vergangenen Jahr baten wir Sie um Ihre Meinung zum «Nachbarn». Mit dem Markt- und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich befragten wir die «Nachbarn»-Leserschaft online und mit einem Papierfragebogen. Gerne präsentieren wir Ihnen die wichtigsten Resultate und erste Änderungen. Eine starke Mehrheit der Befragten oder gekaufte Titel von ca. 30 Mi- nalen Inhalte (ab S. 14). Dies ge- (89%) bewertet das «Nachbarn» als nuten aus. Insgesamt kommt das schieht auf Kosten der Rubrik «gut bis sehr gut». Unser Maga- «Nachbarn» bei der Leserschaft sehr «Persönlich» mit der Passanten- zin erhält von der Leserschaft die gut an. Darüber freuen wir uns sehr! umfrage und der Kinderzeichnung. Note 4,3 auf einer Skala von 5. Ge- Zudem haben wir für die Versand- mäss gfs-zürich ist das ein sehr gu- Einige Änderungen folie die nachhaltige «I’m eco»- ter Wert. 78% der Leserinnen und Nicht alle Rubriken interessieren je- Variante gewählt, die einen hohen Leser lesen oder blättern zudem jede doch gleich stark. Aufgrund dieser Anteil an recycelten Altfolien ent- Ausgabe durch – auch das ein sehr Rückmeldungen nehmen wir bereits hält. Künftig streben wir auch guter Wert. Die durchschnittliche in dieser Nummer einige Änderun- eine bessere Verknüpfung des ge- Lesedauer beträgt rund 40 Minuten. gen vor: Wir stärken das Schwer- druckten «Nachbarn» mit online Zum Vergleich: Das Bundesamt für punktthema mit der Titelgeschichte publizierten Inhalten an und mit Statistik wies im Jahr 2018 einen (S. 6–9) und dem Expert/innen- gendergerechter Sprache werden Durchschnittswert für abonnierte Interview (S. 12) sowie die regio- wir uns weiter beschäftigen. Welche Rubriken des «Nachbarn» werden wie häufig gelesen? 100% 90% 88% 87% 80% 82% 78% 76% 70% 60% 64% 61% 58% 58% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Kurznachrichten: Titelgeschichte Fachlicher Artikel zu Caritas- Kommentar Gastkolumne Ich will helfen: Passanten- Kinderzeichnung Kurz & bündig Hintergrundartikel Angeboten zur Sozialpolitik Porträt umfrage Welche Themen interessieren Sie am meisten? Das «Nachbarn»… 60% … informiert … ist … berichtet über … ist gut über vertrauens- relevante qualitativ … weckt 50% 53% 53% Caritas würdig Themen hochstehend Emotionen 100% 40% 90% 39% 80% 89% 88% 37% 84% 30% 35% 79% 70% 71% 20% 60% 50% 10% 40% 30% 0% Sozialpolitik Persönliche Blick hinter Caritas- Familienarmut 20% Schicksale die Caritas- Angebote 10% Kulissen 0% 4 Nachbarn 2 / 21
Kurz & bündig Lernstube Zürich Altstetten NEWS Lernen in ungezwungener youngCaritas Aargau gestartet Atmosphäre «youngCaritas Aargau» ist der neue Jugendbereich von Caritas Aargau für Jugendliche und junge Erwachsene von 14 bis 30 Jahren. Im Juni ist bei «youngCaritas Aargau» das erste Team von zehn jungen Menschen gestartet, die gemeinsam ein eigenes Freiwilligen- projekt aufbauen werden. Das neue Projekt der jungen Leute soll im Herbst 2021 Form annehmen. www.caritas-aargau.ch/youngcaritas Bild: Egelmair Photography Neue Digi-Treffs bei Caritas Solothurn Wer nicht mit Laptop und Smartphone umgehen kann, verliert heute schnell den Anschluss in vielen Lebens- bereichen. Ab Anfang 2022 startet deshalb bei Caritas Solothurn ein neuer Digi-Treff. Ratsuchende können Erwachsene, die Lücken in den schulischen mit ihren Geräten den Digi-Treff besuchen und ihre Grundkompetenzen aufweisen, geraten Fragen stellen. Freiwillige sind vor Ort und beantwor- ten die Anliegen individuell. im Alltag häufig in schwierige Situationen. www.caritas-solothurn.ch/news In Zürich bietet ihnen die Lernstube Zürich Altstetten unkompliziert Zugang zu Lern- und Unterstützungsangeboten. Caritas Luzern: 20 Jahre Sterbebegleitungskurse Laut Studien haben rund 15 Prozent der erwachsenen Der Kurs «Begleitung in der letzten Lebensphase» von Bevölkerung in der Schweiz Schwierigkeiten mit Le- Caritas Luzern feiert sein 20-Jahre-Jubiläum. 2001 sen, Schreiben und Rechnen, obwohl die Betroffenen fand der erste Kurs statt, der bereits grossen An- die gesamte Volksschule absolviert haben. Das Feh- klang fand. Seither haben rund 1100 Interessierte an len dieser schulischen Grundkompetenzen erschwert den Kursen teilgenommen. Die Teilnehmenden lernen es ihnen oft, einen Computer oder ein Handy zu be- durch eine intensive und persönliche Reflexion mit dienen und schränkt sie in ihrem privaten und beruf- dem Thema Tod, Sterbende und deren Angehörige lichen Alltag stark ein. zu begleiten. www.caritas-luzern.ch/sterbebegleitung In Zürich erhalten diese Menschen mit dem Ange- bot der Lernstube dank kostenlosen und einfach zugänglichen Lern- und Unterstützungsangeboten eine Perspektive. Mitte August ist die Lernstube Caritas Thurgau: Notherberge sucht Unterstützung Zürich Altstetten, die Caritas Zürich im Auftrag des Die Kirchliche Notherberge Thurgau bietet seit Früh- Mittelschul- und Berufsbildungsamtes Kanton Zü- ling 2020 eine Unterkunft für Menschen in akuten rich betreibt, am neuen Standort im Stellwerk 500 in Notsituationen. Sie ist seit ihrer Eröffnung stark aus- Zürich Altstetten eingezogen. Nebst offenen Kursen, gelastet. Im November 2020 wurde als Trägerschaft um besser Lesen, Schreiben, Rechnen oder die Bedie- ein Verein gegründet, in dem Caritas Thurgau im Vor- nung von Computer und Handy zu lernen, bietet die stand vertreten ist. Die Notherberge sucht weitere Lernstube einen Schreibdienst zur Unterstützung Mitglieder und Spender/innen, um den Betrieb sicher- bei administrativen Themen sowie eine Bewerbungs- stellen zu können. werkstatt. Ergänzt werden die Angebote mit einer www.kirchliche-notherberge.ch kostenlosen Kinderbetreuung. www.caritas-zuerich.ch/lernstube Nachbarn 2 / 21 5
«Warum hast du nicht abgetrieben?» Diese Frage will Anika Vonow nie mehr hören, auch wenn sie heute auf Unterstützung angewiesen ist. Noch während der Lehre zur Systemgastronomin wurde die heute 24-Jährige schwanger. Sie musste die Ausbildung abbrechen – aber sie gibt nicht auf.
Schwerpunkt «Ich fühlte mich mutterseelenallein» Nichts wünscht sich die 24-jährige, alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen mehr, als endlich auf eigenen Füssen zu stehen, auszubrechen aus der Armut und Einsamkeit. Und nie mehr die Frage zu hören: «Warum hast du nicht abgetrieben?» Viele Frauen erleben Ähnliches in der Schweiz. Text: Lena Tobler Bilder: Zoe Tempest V on Armut betroffen? Ich? Wahrscheinlich an den Glücksmoment, als sie die kleine Ava* in den hätte Anika Vonow* gelacht, wenn ihr dies Armen hielt. «Ohne Unterstützung hätte ich es nicht jemand an ihrem 18. Geburtstag prophezeit geschafft», ist Anika überzeugt. hätte. Warum auch? Frisch verliebt blickte die angehende Systemgastronomiefachfrau zuver- sichtlich in die Zukunft. Bis ein paar Monate später ein Schwangerschaftstest ihre Befürchtungen bestä- «Wie soll ich als alleinstehende tigte: Sie erwartete ein Kind. Was nun? Ihre Eltern, Mutter in Ausbildung zwei geschockt von dem, was ihrer Ansicht nach nicht sein durfte, wandten sich von ihrer Tochter ab. Und der Va- Kinder ernähren?» ter des Kindes? Traurig winkt Anika ab. Zu schmerz- haft ist die Erinnerung an damals, als er einfach aus ihrem Leben verschwand. Trotz Verhütung wieder schwanger Anika fasste neuen Mut. Nun wollte sie ihren Lehr- Für Anika war klar: Sie würde das Kind zur Welt brin- abschluss nachholen. Nach unzähligen Bewerbungen gen. Doch die anspruchsvolle Ausbildung, Schwan- fand sie nach rund einem Jahr einen Lehrbetrieb, in gerschaftsbeschwerden und die wachsende Sorge um dem sie wieder ins zweite Lehrjahr einsteigen konnte. die Zukunft waren zu viel. «Auch meine Freundinnen Als sie sich kurz darauf erneut verliebte, schien ihre verabschiedeten sich sang- und klanglos von mir. Ich Welt in Ordnung. Doch die Geschichte wiederholte sich: fühlte mich mutterseelenallein und war plötzlich Trotz Verhütung wurde Anika bald darauf schwanger – völlig isoliert.» Das war für die werdende Mutter das und wieder liess sie der Kindsvater im Stich. Schlimmste. Die junge Frau wurde krank, verlor ihre Lehrstelle und wusste nicht mehr ein und aus. In ih- Alle rieten ihr abzutreiben. Und auch sie fragte sich: rer Not wandte sie sich an die Schweizerische Hilfe «Wie soll ich als alleinstehende Mutter in Ausbildung für Mutter und Kind (SHMK), wo sie ein offenes Ohr zwei Kinder ernähren?» Ihre Mutter stand zwar wieder für ihre Sorgen fand. Auf deren Anraten meldete sie zu ihr. Als IV-Rentnerin konnte sie ihre Tochter aber sich beim Sozialamt. Ihr wurde ein Platz vermittelt, höchstens moralisch unterstützen. So ganz auf sich al- an dem sie sich abseits vom Alltag erholen und auf die lein gestellt, sah sie keinen anderen Ausweg, als sich Geburt vorbereiten konnte. Noch gut erinnert sie sich von ihrem ungeborenen Kind zu trennen. Nachbarn 2 / 21 7
Schwerpunkt Im Spital wurde Anika aber plötzlich klar: «Das ist Anika ist kein Einzelfall. In der Schweiz tragen Frauen mein Kind. Es lebt. Eine Abtreibung werde ich nie ver- ein höheres Armutsrisiko als Männer. Wie bei Anika kraften. Und wenn ich noch viel weiter unten durch sind das Mutterwerden und die fehlende Vereinbarkeit muss – ich behalte es.» Noch einmal wandte sie sich von Ausbildung oder Job mit der Familiensituation an ihre Betreuerin bei der SHMK. Diese kam sofort ins entscheidende Gründe für diesen Missstand. Armut Spital, regelte den Austritt und nahm Anika sogar für ist auch in der Schweiz zu einem grossen Teil weiblich eine Nacht zu sich nach Hause. «Ich stand völlig neben (siehe S. 10–12). mir», erinnert sie sich. Dass ein paar Monate später die Geburt mit dem letzten Schulblock vor dem Abschluss Highlights und Entlastung Inzwischen sind die Mädchen drei- und fünfjährig. Wenn Anika von ihren Mädchen erzählt, hat ihre Stim- «Ich bin so glücklich, me einen warmen Klang und ihre Augen strahlen. «Ich dass die beiden da sind.» bin so glücklich, dass die beiden da sind.» Wochentags werden die Mädchen von einer Tagesmutter betreut. Anika ist froh darüber, so kommen die beiden mit an- kollidierte, liest sich wie die Ironie des Schicksals. Sie deren Menschen zusammen. Glücklich ist die heute hatte doch alles gegeben. Obwohl bislang sehr ver- 24-jährige Mutter auch, dass Ava und Aliki über das ständnisvoll, sah sich ihr Lehrmeister ausser Stande, Caritas-Patenschaftsprojekt «mit mir» eine Patin und die Lehre um ein weiteres Jahr zu verlängern. Erneut zwei Paten gefunden haben. Die Patin von Ava geht mit stand Anika vor dem Nichts, diesmal aber mit der ihr in den Wald, zum Schwimmen und verbringt so viel zweijährigen Ava und der neugeborenen Aliki*. Zeit mit ihr. Die Paten von Aliki unternehmen meist mit Günstige Lebensmittel und Notwendiges für den Haushalt findet Anika regelmässig im Caritas-Markt. Das entlastet das Familienbudget merklich. 8 Nachbarn 2 / 21
Schwerpunkt beiden Mädchen schöne Ausflüge. Diese Ausflüge sind Highlights für die Kinder und entlasten den Alltag von Anika stark. Das Familienbudget wird zudem durch den Caritas-Markt geschont. Anika kann sich dort re- gelmässig mit günstigen Lebensmitteln für die Familie und verbilligten Haushaltprodukten versorgen. Endlich auf eigenen Füssen stehen Gesundheitlich erlebt Anika immer noch Auf und Abs. Dass sie trotzdem Teilzeit und im Stundenlohn bei einer Fast-Food-Kette arbeiten kann, gibt ihr Auf- trieb. «Hier kann ich zeigen, was ich kann.» Dass ihr Arbeitgeber nach einem kurzen Unterbruch auch während des Lockdowns geöffnet hatte, war für sie ein Glücksfall. Die phasenweise geschlossenen Schu- len und das damit verbundene Homeschooling waren jedoch eine zusätzliche Belastung im Alltag der Allein- erziehenden. Anika mag ihren Job. Doch der kleine Verdienst und die Alimente für Aliki reichen bei Weitem nicht zum Leben. Die Abhängigkeit vom Sozialamt macht der jungen Frau sehr zu schaffen. Ihr grösster Wunsch ist es, endlich einen Berufsabschluss zu schaffen und ihre Familie aus eigener Kraft unterhalten zu können. Der Versuch, nach der Geburt von Aliki die Handels- schule zu absolvieren, wurde gleich von zwei Abend- Lesen und Ruhe: So tankt die alleinerziehende Mutter in ihrer spärli- chen Freizeit Kraft. «Noch wissen die Mädchen nicht, was es heisst, arm zu sein.» zu sein und dass ihre Mutter jeden Franken zwei- oder gar dreimal umdrehen muss. Und warum sie ihnen den Wunsch nach einem Paar Finken mit dem Bild der Schneekönigin Elsa nicht erfüllen kann. Froh ist Ani- schulen im Keim erstickt. Der Berater bei der einen ka über die gut erhaltenen Kinderkleider, die sie von meinte: «Gehen Sie lieber arbeiten. Die Schule kön- ihrer Nachbarin erhält oder die Unterstützung durch nen Sie nachholen, wenn die Kinder grösser sind.» Bei Caritas. Trotzdem möchte sie mit all ihren Kräften aus der zweiten bekam sie zu hören: «Ein Handelsdiplom schafft man nicht nur mit dem Präsenzunterricht.» Solche gedankenlos dahingesagten Phrasen verletzen «Es tut weh, als Anika zutiefst. Genauso wie die Frage einer der spär- lichen Kolleginnen: «Wie kannst du dir mit dem Geld Sozialschmarotzerin vom Sozialamt einen Fernseher leisten?» Dass sie die- abgestempelt sen von ihrer Mutter erhalten hat, macht die Sache nicht besser. «Es tut weh, als Sozialschmarotzerin ab- zu werden.» gestempelt zu werden.» Ausbruch aus der Armutsfalle der Armutsfalle ausbrechen und sich gegen Ende des Entmutigen lässt sich die junge Mutter nicht: Sie Monats nicht immer fragen müssen, ob das Geld noch plant, nächstes Jahr ihre Lehre doch noch abzuschlies- für die Lebensmittel reicht. «Und vor allem will ich nie sen. Sie weiss, dass sie das kann, und hofft auf einen mehr mit der Frage konfrontiert werden: Warum hast Lehrbetrieb, der ihr eine Chance gibt. Sie will endlich du nicht abgetrieben?» auf eigenen Füssen stehen. Für sich und ihre beiden Mädchen. Noch wissen diese nicht, was es heisst, arm * Namen geändert Nachbarn 2 / 21 9
Schwerpunkt Armut ist weiblich 50 Jahre nach Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleiben in der Schweiz zentrale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bestehen. Diese führen dazu, dass Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind. Text: Dr. Bettina Fredrich, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) Illustration: Isabelle Bühler D ie Armutsquote von Frauen liegt bei 9,1 Pro- Frauen ist also alles andere als zufällig – sie ist syste- zent, diejenige von Männern bei 8,4 Prozent. matisch. Welches sind die Gründe dafür? Beschränkt man sich auf Schweizer Staatsan- gehörige, lag die Armutsquote von Frauen 2019 bei Auf dem Arbeitsmarkt schlechter gestellt 8,1 Prozent, jene der Männer bei 6,7 Prozent. Einige Frauen sind überdurchschnittlich oft von prekären mögen den Unterschied kleinreden. Seine Relevanz Lebenslagen betroffen. Sie bekommen fast doppelt so liegt jedoch in der Tatsache, dass Frauen seit Beginn häufig als Männer nur befristete Arbeitsverträge oder der Armutsmessung stets häufiger von Armut betrof- gehen mehreren Jobs gleichzeitig nach. Auch die Quote fen waren als Männer. Dies gilt auch für die Armuts- der Unterbeschäftigung ist bei Frauen viel höher. Das gefährdung, also das Risiko, in Armut abzurutschen. heisst, sie würden gerne mehr arbeiten, finden aber kei- Die stärkere Armutsbetroffenheit und -gefährdung von ne Stelle mit höherem Pensum. Bei den Aussteuerun- 10 Nachbarn 2 / 21
Schwerpunkt gen zeigt sich ein ähnliches Bild. Verlieren Frauen ihre Kommentar Arbeit, tragen sie ein grösseres Risiko, ausgesteuert zu werden und ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Armut und Frauen verdienen weniger Gleichstellung Hinzu kommen grosse Lohnunterschiede: Gemäss Bundesamt für Statistik lag 2018 der Medianlohn von zusammen angehen Frauen bei 6067 Franken, derjenige von Männern bei 6857 Franken. Fast die Hälfte dieses Unterschieds ist Prekäre Arbeitsverhältnisse in so- nicht erklärbar durch strukturelle Faktoren wie Bil- genannten Frauenberufen sowie dungsniveau, Arbeitserfahrung oder Führungsposi- fehlende Vereinbarkeit von Beruf tionen. Das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen und Familie sind entscheidende Frauenanteil liegt denn auch deutlich tiefer als das Ursachen von Frauenarmut. Was Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Männeranteil. ist zu verbessern? Frauen und Männer haben ein Recht Teilzeiterwerb durch Familiengründung auf eine existenzsichernde Arbeit. Der Entscheid zur Erwerbstätigkeit bei der Familien- Dass menschenzentrierte Tätigkei- gründung ist immer noch wesentlich vom Lohn und ten wie Pflege und Betreuung, so- somit vom Geschlecht abhängig. Während Frauen ihr genannte Care- oder Sorgearbeit, Erwerbspensum mehrheitlich reduzieren und einen viel schlechter abgegolten werden Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit als beispielsweise Tätigkeiten in der übernehmen, stocken Männer ihr Erwerbspensum in Finanzbranche, bedarf einer Kor- der gleichen Lebensphase auf. Dadurch tragen aber rektur. Wo nicht einmal Mindest- Frauen auch das Armutsrisiko. Bei einer Trennung löhne bezahlt werden, braucht es die oder Scheidung laufen sie Gefahr, ihren Lebensunter- Einführung eines gesetzlichen Min- halt nicht sichern zu können. Heute können nicht ein- destlohnes. Um die Vereinbarkeit mal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre von Familie und Beruf für alle zu er- Existenz alleine sichern. möglichen, muss das Angebot an fa- milienexterner und schulergänzen- Familie und Beruf schwer vereinbar der Kinderbetreuung die Nachfrage Dies hat auch mit der mangelhaften Vereinbarkeit von decken. Mindestens für armutsbe- Familie und Beruf in der Schweiz zu tun. Kita-Plätze troffene Familien müssen die Ange- sind nicht nur sehr teuer, es gibt auch noch zu wenige. bote kostenlos sein. Nur so können Viele Frauen verzichten deshalb – auch unfreiwillig – Frauen ihre Arbeitspensen erhöhen auf eine Erwerbsarbeit. Das wirkt sich jedoch später und das Armutsrisiko verringern. negativ aus, denn die Altersvorsorge ist an Erwerbsar- Die unbezahlte Sorgearbeit soll- beit gekoppelt. Weil Frauen aber während der Erwerbs- te zudem besser zwischen Frauen phase weniger verdienen, oft nur in Teilzeitpensen tä- und Männern verteilt werden. Die tig sind oder nach der Geburt eines Kindes ganz aus Wirtschaft muss entsprechende dem Erwerbsleben ausscheiden, sind sie auch im Alter Arbeitsmodelle fördern. Vorgesetz- öfter arm. Fast zwei Drittel der Beziehenden von Er- te sollen Väter- und Männerrol- gänzungsleistungen sind Frauen. len vorleben, die die Übernahme von Betreuungs- und Hausarbeit Wirft Corona die Frauen zurück? als etwas Selbstverständliches be- Neben den Einkommenseinbussen und Arbeitser- trachten. Unternehmen können eine schwernissen waren für viele Familien auch das Home- Vorreiterrolle übernehmen in der office und die Schulschliessungen belastend. Die ersten Einführung von Elternzeiten und Studien zeigen deutlich, dass Mütter durch das Home- tieferen Wochenarbeitszeiten, wenn office stärker beeinträchtigt waren als Männer, weil sie Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen gleichzeitig Kinder betreuen mussten. So erstaunt es Betreuungsaufgaben haben. So kön- wenig, dass vorab Mütter im ersten Lockdown im Früh- nen Gleichstellung und Armut zu- ling 2020 ihr Pensum im Homeoffice reduzierten. sammen angegangen werden. Die Gleichstellung lässt auf sich warten, mit gravie- renden Konsequenzen. Eine davon: stärkere Armuts- Marianne Hochuli, Mitglied der betroffenheit. Geschäftsleitung, Caritas Schweiz Nachbarn 2 / 21 11
Schwerpunkt ERWERBS- BIOGRAFIEN ENTSCHEIDEN Dr. Isabel Martínez Ihr aktueller Forschungs- schwerpunkt liegt bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie bei Bild: Florian Bachmann Steuerfragen. Sie ist Ein Interview mit Isabel Martínez, Mitautorin der KOF-Studie promovierte Ökonomin, Konjunktur- zu Corona und Ungleich- forschungsstelle (KOF), ETH Zürich heit in der Schweiz. Interview: Roland Schuler Frauen sind in der Schweiz noch immer einem Buben wird es noch oft leichter gemacht, einen gut be- höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer. zahlten Ingenieursjob zu wählen, wohingegen Mädchen die Weshalb ist das so ist? schlechter bezahlte Option Kindergärtnerin nahegelegt Scheidung und Alter sind statistisch gesehen die grössten Ar- wird. Da liegt noch ein Weg vor uns. mutsrisiken. Frauen sind in beiden Lebenslagen stärker be- troffen als Männer. Das hat in erster Linie mit den weiblichen Sie fanden in einer aktuellen Studie* heraus, Erwerbsbiografien zu tun. In unserer Gesellschaft sind diese dass die Corona-Krise bestehende Ungleichheit geprägt von der Geburt von Kindern. Es wird auch von der verschärfte. Wie zeigt sich das? «Mutterschaftsstrafe» gesprochen. Mütter kehren nicht mehr, Haushalte mit tiefen Einkommen haben in der Corona-Kri- in viel kleineren Pensen oder in Jobs mit geringerem Lohn zu- se höhere Einkommensausfälle als finanziell besser Ge- rück ins Erwerbsleben. Das führt zu höherem Armutsrisiko. stellte. Im Durchschnitt mehr als 20 Prozent gegenüber 8 Prozent bei besser Verdienenden. Sie mussten auch viel Wo sehen Sie Hebel, um dieses Risiko zu mindern? häufiger Erspartes auflösen. Viele verschuldeten sich gar. Ein grosser Hebel wäre eine kostenlose, flächendeckende Kinderbetreuung. Eine solche müsste eine Grundinfra- Zeigen sich Geschlechterunterschiede in der struktur sein – wie Schienen und Strassen. Heute stehen Betroffenheit durch die Krise? viele Paare vor der Entscheidung: Soll die Frau mehr arbei- In der Corona-Krise stieg bei Frauen besonders die Mehrbe- ten? Oder lohnt sich das aufgrund der Betreuungskosten, lastung durch Homeschooling und Betreuung stärker als bei die dadurch entstehen, nicht? Dabei zeigt die Forschung, Männern. Frauen reduzierten auch ihre bezahlte Arbeit stär- dass für Mütter der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben für ker als Männer. In Wirtschaftskrisen ist typischerweise die die ökonomische Absicherung sehr wichtig ist. Exportwirtschaft mit klassischen Männerberufen betroffen. Anders in dieser Krise: Die Binnenwirtschaft mit Branchen Bei der Kinderbetreuung wären auch die Väter in der Pflicht. mit hohem Frauenanteil wie Detailhandel oder Gastronomie Sicherlich. Hier wäre eine Vaterschaftszeit förderlich – und ist ebenfalls stark betroffen. Gemessen an den Arbeitslosen- zwar startend erst dann, wenn der Mutterschaftsurlaub en- zahlen sind Frauen jedoch nicht stärker betroffen als Männer. det. Das würde den beruflichen Wiedereinstieg von Müt- tern entscheidend fördern. Die Krise trifft die Ärmsten am stärksten. Mit Blick in die Zukunft: Was macht Ihnen da am meisten Sorgen? Welche Rolle spielt die Lohnungleichheit zwischen den Wer wenig verdient und in der Krise Erspartes aufbrau- Geschlechtern? chen musste, kann nicht auf Knopfdruck etwas ansparen. Bei einem Paar verdient die Frau meist weniger als der In der nächsten Wirtschaftskrise droht ein Polster zu feh- Mann. Das ist nach wie vor so. Es macht für viele Paare len. Und wir wissen: Eine nächste Wirtschaftskrise kommt daher ökonomisch Sinn, dass die Frau beruflich kürzertritt. mit Sicherheit. Auch aus gesamtökonomischer Sicht birgt fehlendes Polster ein Risiko: Wenn die Menschen genug Müsste nicht auch hier angesetzt werden? Geld haben, um die Binnennachfrage zu gewährleisten, Ganz klar. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sollte selbst- kann diese bei Krisen dämpfend wirken. verständlich sein, keine Diskussion. Es gibt bei den Einkom- mensunterschieden zwischen den Geschlechtern aber zu- * KOF-Studie zu Corona und Ungleichheit in der Schweiz: sätzlich strukturelle Ungleichheiten in der Sozialisierung: https://kof.ethz.ch > Suchbegriff «Corona und Ungleichheit» 12 Nachbarn 2 / 21
Ich will helfen «Ich schlage eine Brücke zwischen zwei Welten» Jeannine arbeitet als Freiwillige bei Caritas Luzern für das Patenschaftsprojekt «mit mir». Die Sekundarlehrerin begleitet als regionale Vermittlerin zurzeit neun Patenschaften und unterstützt die Patinnen und Paten, die Kinder und ihre Eltern beim Beziehungsaufbau. Text und Bild: Claudia Blaser «Bereits als Jugendliche habe ich erste Erfahrungen andere Menschen in ihrem Umfeld engagieren, ohne als Freiwillige gesammelt – in einem Konzertlokal da- Geld dafür zu erwarten. Es muss ja nicht unbedingt in heim in Sursee. Ich bin in einer sehr engagierten Fami- einem Projekt oder Verein sein. Man kann auch dem lie aufgewachsen. Bei uns gehörte freiwilliges Engage- Grosi beim Wocheneinkauf oder dem Nachbarn beim ment einfach dazu. In den letzten Jahren bin ich viel Pneuwechsel helfen. Wichtig ist einfach, dass wir den gereist. Besonders der Nahe Osten hat es mir angetan. Zusammenhalt nicht vergessen, dass wir alle zum so- Die enorme Gastfreundschaft, die ich auf meinen Rei- zialen Miteinander beitragen.» sen erleben durfte, hat in mir den Wunsch geweckt, mich zu Hause in der Schweiz für Migrantinnen und Migranten zu engagieren. Seit drei Jahren bin ich nun als regionale Vermittlerin im Caritas-Projekt «mit mir» tätig, das benachteiligte Kinder mit einer freiwilligen Bezugsperson zusam- menbringt. Ziel ist es, den Kindern etwas zu ermögli- chen, das ohne diese Hilfe nicht möglich wäre, und die Eltern zu entlasten. Zurzeit begleite ich neun Paten- schaften in der Zentralschweiz. Ich bin beim ersten Treffen dabei, kläre Wünsche und Erwartungen ab, führe regelmässig Gespräche mit allen Beteiligten und bin bei Fragen immer für sie da. Es ist immer wieder schön mitzuerleben, wie in wenigen Monaten eine nachhaltige Beziehung zwischen den Patinnen und Pa- ten und ihrem Patenkind entsteht. Für mich ist es eine grosse Bereicherung, dass ich eine Brücke zwischen zwei Welten schlagen und Personen zusammenführen kann, die sich sonst nie getroffen hätten. Es imponiert mir, wie viel Vertrauen die Kinder und ihre Eltern der für sie zunächst fremden Person ent- STECKBRIEF gegenbringen. Um sich auf Unbekanntes einzulassen, Jeannine Ambühl (32) ist in Sursee aufgewachsen und braucht es ja meistens etwas Überwindung. Die Offen- wohnt heute in Luzern. Sie absolvierte zunächst eine KV- heit und Neugier, die dieses Projekt erfordert, finde ich Lehre, bevor sie sich zur Lehrerin ausbilden liess. In der sehr inspirierend. Das bekräftigt mich immer wieder Freizeit singt die Sekundarlehrerin in einem Chor und ist in meinem Engagement. Kraft gibt mir auch der Aus- gerne in der Natur unterwegs. Sie ist viel gereist und be- tausch mit anderen Freiwilligen. Es motiviert mich zu sonders fasziniert von der arabischen Kultur. sehen, dass ich nicht allein bin, dass sich auch viele Nachbarn 2 / 21 13
Caritas beider Basel Bild: Domenico Sposato Kornelia Zeller kommt schon ihr ganzes Leben zur Silberpappel oberhalb ihres Wohnortes, um nachzudenken und Kraft zu schöpfen. Einblick in das Leben einer Kämpferin Ein Engagement der Basellandschaftlichen Kantonalbank ermöglicht es Caritas beider Basel, im Baselbiet neue Beratungsstandorte zu betreiben. Eine Klientin lädt uns unter ihren Lieblingsbaum ein und erzählt. Text: Cyril Haldemann K ornelia Zeller ist stark. Sie nicht mehr weitersieht, nicht mehr lia Zeller schmerzen sie auch. Denn ist stark, weil sie nach vorne weiterkann. Oft reagiert ihr Umfeld für sie stimmt etwas ganz und gar schaut, egal, welche Steine darauf mit Irritation, wenn sie auf nicht, wenn minderjährige, schutz- ihr das Schicksal mal wie- einmal nicht mehr die starke Koni bedürftige Kinder das Gefühl ha- der in den Weg gelegt hat. Und sie ist. Mal nicht die optimistische Koni, ben, die Mutter finanziell unter- ist stark, weil sie mit offenen Kar- die anpackt und hilft, wo es nur geht. stützen zu müssen. ten spielt, ihre gesundheitlichen und finanziellen Probleme unum- Zuerst kommen die Kinder Damit die Kinder den Vater unkom- wunden ausspricht. Das erspart ihr Kornelia Zellers Sohn ist im ersten pliziert sehen können, zog Kornelia wenigstens den Druck, eine künst- Lehrjahr, die Tochter hat noch ein Zeller mit ihnen nach der Trennung liche Fassade aufrechtzuerhalten. paar Jahre Schule vor sich. Die bei- in eine Wohnung im selben Dorf. den versuchen, ihr Mami zu unter- Sie will die Scheidung, «einen kla- Kornelia Zeller ist stark – aber nicht stützen. Für Einkäufe gaben sie ihr ren Schnitt» nennt sie es. Doch die immer. Die Jahre des Kämpfens ha- sogar schon Geld, das sie bekom- Kinder und deren Beziehung zum ben an ihren Kräften gezehrt, immer men oder sich verdient hatten. So Vater sollen so wenig wie möglich wieder gibt es Phasen, in denen sie rührend solche Gesten sind, Korne- belastet werden. Deshalb sucht sie 14 Nachbarn 2 / 21
Caritas beider Basel auch weiterhin nach einer einver- gegenüber seiner Frau geleitet von Rückhalt, um wieder stark zu sein, nehmlichen Lösung und verzichtet heftigen negativen Gefühlen. Des- wie sie es von sich gewohnt ist. auf juristische Schritte, welche die halb zahlt er auch nur das Mini- Sache beschleunigen könnten. mum an Unterhalt. Kornelia Zeller Caritas-Beratung in der Bank ist nicht nachtragend und akzep- Bis vor etwa einem halben Jahr hätte Alleine in der Ehe tiert, dass vieles im Leben anders Caritas beider Basel nicht die Mittel 2016 hatte Kornelia Zeller ihre verläuft als gewünscht. Darum gehabt, um Frau Zeller und viele an- zweite Rückenoperation infolge ei- will sie die Dinge weiterhin «mit dere in diesem Umfang zu unterstüt- nes Unfalls zwei Jahre zuvor. Dass gesundem Menschenverstand und zen. Möglich machte dies die BLKB sie sich in dieser Phase und nach in Frieden» regeln, was aber nicht (Basellandschaftliche Kantonalbank) 20 Ehejahren trennte, lag daran, geht, wenn sich die andere Seite mit ihrem Angebot an Caritas beider dass sie emotional nicht mehr konn- querstellt. Bei ihren Bemühungen Basel, gemeinsam «etwas ganz Sinn- te und für ein weiteres Zusammen- um Unterstützung von staatlichen haftes, etwas Echtes» für die Bevöl- sein keine Grundlage mehr sah. Stellen wäre manches einfacher, kerung des Baselbiets zu tun. wenn sie bereits geschieden wäre. Auch wegen seines Berufes als Last- Etwa 180 Mitarbeitende der BLKB wagenfahrer war ihr Mann kaum Mit Covid-19 kam der nächste spendeten teilweise grosse Beträge. zu Hause. Er zeigte wenig Interesse Rückschlag: Erwerbsausfall bei der Was dabei zusammenkam, wurde an der Familie. So blieben Korne- ohnehin schlecht bezahlten Arbeit von der Bank verdoppelt. Zudem lia Zellers Hilferufe über Jahre wir- in der Gastronomie. Während sie stellt die BLKB Besprechungsräu- kungslos. Das Asperger-Syndrom des hörte, wie andere klagten, nicht me zur Verfügung. So kann Caritas Sohnes, seine damit verbundenen mehr shoppen zu können, wurde beider Basel an zwei Standorten im Aggressionen und die ständigen Kornelia Zeller von Existenzängs- Kanton professionelle Beratung Gänge von Arzt zu Arzt überforder- ten geplagt. Sie schaffte es dennoch, anbieten und finanzielle Engpässe ten und erschöpften sie zunehmend. eine Festanstellung als Service- überbrücken. Dazu kamen ihre Aushilfsjobs in der kraft zu ergattern. Dann wieder ein Gastronomie und die dauernden Rü- Sturz, dieses Mal das Knie. Und Dieses Engagement, getragen von der ckenprobleme. Dass sie und damit keine Versicherung wollte zahlen. Belegschaft und der Führung eines auch Familie und Haushalt dennoch grossen Players der Wirtschaft, ist irgendwie funktionierten, wurde als Auf Empfehlung von Bekannten weit wertvoller als die bereitgestellte Selbstverständlichkeit gesehen. wandte sich Kornelia Zeller an Ca- Geldsumme. Denn es zeigt auch, wie ritas. Sie erhielt Finanzhilfe für das schnell und wie viel gesellschaftli- Aufbruch mit Hindernissen Dringendste, dazu Orientierung und cher Mehrwert entstehen kann, wenn Als es dann zur Trennung kam, Tipps, welche Unterstützungsleis- Partner aus unterschiedlichen Bran- brach für den Mann eine Welt zu- tungen ihr zustehen und wie sie chen ihre jeweiligen Stärken ganz in sammen. Seither ist sein Verhalten diese beantragen kann. Das gab ihr den Dienst der Sache stellen. Die neue Caritas-Beratung im Kanton Basel-Landschaft Termine und Informationen: www.caritas-beratung.ch Unternehmen, die einen Beitrag für sozial benachteiligte Menschen leis- ten wollen, werden von Caritas bei- der Basel dabei unterstützt, indem wir die jeweilige Hilfe wirkungsvoll an Bedürftige weiterleiten. Hierbei ist die Initiative der BLKB ein Hö- Bild: Michael Waser hepunkt und hoffentlich Inspiration für weitere Entscheidungsträgerin- nen und Entscheidungsträger. Caritas-Beratung in einem Besprechungsraum der Basellandschaftlichen Kantonalbank. Nachbarn 2 / 21 15
Caritas Aargau Nähateliers für Frauen Frauen nähen, ändern oder flicken gemeinsam ihre Kleider und tauschen sich aus. Zusammen mit Kirchgemeinden in den Regionen baut Caritas Aargau aktuell Nähateliers für Frauen auf. Text und Bilder: Nathalie Philipp F reitagmorgen im ökumenischen Zentrum in Baden-Dättwil. Im Erdgeschoss des modernen Gebäudes stehen auf grossen Tischen Nähma- schinen für die Besucherinnen bereit. Schon der helle Raum mit der Kaffeemaschine in der Ecke lädt zum Werken und Kreativsein ein. Alles ist vorbe- reitet, damit hier in den nächsten Stunden gemeinsam gearbeitet werden kann. Die Nähateliers sind ein junges Projekt von Caritas Aargau, die im Aargau zusammen mit Kirchgemein- den vor Ort mehrere Nähateliers aufbaut. Frauen, die keine eigene Nähmaschine besitzen, sollen hier die Möglichkeit bekommen, gemeinsam ihre mitgebrachten Kleider zu flicken, neue Kleidungsstücke oder Acces- Claudia Beccaro engagiert sich im Nähatelier Baden-Dättwil. soires zu nähen und dabei mit anderen Frauen ins Ge- spräch kommen. Nähmaschinen und Bügeleisen, Stoffe, Fäden, Knöpfe und Bänder werden zur Verfügung ge- «Für Frauen, die nicht viele stellt. Besucherinnen, die die KulturLegi besitzen, kön- nen gratis dabei sein, alle anderen bezahlen den kleinen Kontakte haben und eher isoliert Beitrag von zehn Franken sowie das Material. leben, könnte sich hier die eine oder andere Tür öffnen.» Kompetente Freiwillige mit Herz Geführt werden die Nähateliers von begeisterten freiwil- ligen Fachfrauen, die den Besucherinnen bei Fragen rund stehen, indem sie ihnen bei Bedarf hilft, sozial Anschluss ums Nähen und Flicken mit Rat und Tat zur Seite stehen. zu finden. «Ich kenne sehr viele Leute, und vernetzt zu Eine der Freiwilligen am heutigen Morgen ist Claudia sein, ist so wichtig. Für Frauen, die nicht viele Kontakte Beccaro. Als ausgebildete Couture- und Damenschnei- haben und eher isoliert leben, könnte sich hier die eine derin hat sie jahrelang in verschiedenen Mode- und oder andere Tür öffnen.» Vorhangateliers gearbeitet und schon etliche exklusive Kleider nach Mass genäht, von Kleidern und Kostümen Beatrice Hollenstein, die zweite Freiwillige an diesem bis hin zu ganzen Brautkleidern. Hier im Nähatelier Vormittag, nickt bestätigend und sieht noch einen wei- möchte sie ihr Wissen weitergeben. «Eines darf ich wirk- teren Aspekt: «Ich bin besonders gespannt auf den krea lich von mir sagen – ich bin Profi im Ändern von Klei- tiven Austausch mit den Besucherinnen. Manche kom- dungsstücken. Wenn es ums Kürzen von Jeans, Flicken men vielleicht aus anderen Ländern und Kulturen und und ums Wiefeln oder Stopfen geht, habe ich viele Tricks bringen ganz andere Techniken, Ideen oder modische auf Lager, die ich auch sehr gerne weitergebe. Auch beim Impulse ein. Die Alltagsmode bei uns finde ich oft sehr Ändern kann man sehr kreativ sein!» eintönig und wenig abwechslungsreich. Ich würde mich freuen, von anderen Frauen auch modisch inspiriert zu Zudem freut sie sich auf die Begegnungen mit neuen werden. Zudem möchte ich einfach die Freude am Nä- Menschen. Sie möchte den Teilnehmerinnen nach Mög- hen teilen. Denn das schönste Geräusch ist für mich das lichkeit auch mit ihren weiteren Ressourcen zur Seite Surren der Nähmaschine!» 16 Nachbarn 2 / 21
Caritas Aargau Nähatelier in Aarau. Im Juni haben bereits die ersten Frauen das Nähatelier Wer weiss, vielleicht findet sie durch das Nähatelier den in Baden besucht. Wer wollte, konnte zunächst kleine Zugang zu einer entsprechenden Verdienstmöglichkeit. Täschli oder Hygienemasken schneidern – die Schnitt- muster und Stoffe haben die beiden Freiwilligen vorbe- Die neuen Nähateliers sind also nachhaltig, sozial reitet. Die Grundidee der Nähateliers ist jedoch, dass und kreativ zugleich und bringen Vorteile in vieler die Frauen ihre eigenen Kleider mitbringen und diese Hinsicht: Alte Kleider werden aufgefrischt statt weg- ändern oder flicken können. geworfen, die Frauen erweitern ihre Kompetenzen im Nähen, pflegen den Austausch, vernetzen und inspirie- Keine eigene Nähmaschine zu Hause ren sich. Daraus können sich Chancen für alle Beteilig- Auch in Aarau finden seit Juli im Gemeindehaus der ten ergeben. Und nicht zuletzt macht das Nähen und Pauluskirche der Evangelisch-methodistischen Kirche Kreativsein einfach Freude. regelmässig Nähateliers statt. «Wir hatten inzwischen schon einige Besucherinnen bei uns», freut sich Tug- ba Duygu, eine der beiden freiwilligen Leiterinnen des Nähateliers von Caritas Aargau – weitere in Planung Nähateliers Aarau. «Die Plätze an den Nähmaschinen waren bereits beim ersten Treffen alle besetzt.» Auch Nähatelier in Aarau hier in Aarau haben die Frauen rasch damit begonnen, Gemeindehaus Pauluskirche, EMK aus den zur Verfügung gestellten Stoffen etwas zu nä- Montags von 8.30–11.30 Uhr hen. «Die meisten der Frauen, die bisher dabei waren, können schon gut nähen, besitzen aber keine eigene Nähatelier in Baden-Dättwil Nähmaschine», erzählt Tugba. «Sie sind deshalb froh, Ökumenischen Zentrum Dättwil Freitags von 9.00–11.30 Uhr dass sie hier ihre Näharbeiten machen und sich dabei mit anderen Frauen treffen können!» Nähatelier in Wohlen KOFFF, Toolbox Freiamt Eine andere Teilnehmerin bringt ebenfalls schon viel Montags von 8.30–11.30 Uhr, mit Kinderhütedienst Erfahrung mit: «Ich war früher in der Türkei Haus- Keine Anmeldung nötig, Platzzahl begrenzt. wirtschaftslehrerin. Ich komme hier in den Kurs, um den anderen beim Nähen zu helfen», erzählt sie. «Aus- Kontakt: Isabelle Odermatt serdem möchte ich hier mein Deutsch verbessern und Telefon: 062 837 06 10, E-Mail: io@caritas-aargau.ch ein paar Wörter lernen. Es wäre toll, wenn ich irgend- www.caritas-aargau.ch/naehatelier wann mit dem Nähen etwas Geld verdienen könnte.» Nachbarn 2 / 21 17
Caritas Aargau – Caritas Solothurn «Co-Pilot hat mich stark gemacht» Acht Jahre nach ihrer Flucht aus Syrien hat Amina ihre Ausbildung zur Detailhandelsassistentin als Kantonsbeste abgeschlossen. Während der Lehrzeit wurde sie im R ahmen des Projekts «Co-Pilot» von Caritas Solothurn von der Freiwilligen Siv begleitet. Aus dem Tandem ist inzwischen eine Freundschaft entstanden. Text und Bilder: Claudia Blaser «‹Wunder neh›. Das war der erste Ausdruck, den ich gann. «Die Kundschaft sprach natürlich Dialekt mit auf Schweizerdeutsch gelernt habe», erinnert sich mir. Am Anfang hatte ich grosse Verständnisschwie- Amina. Eine passende Redewendung für die neugieri- rigkeiten und getraute mich nicht nachzufragen», ge Syrerin, die heute problemlos Mundart versteht und erzählt Amina. Ihr wurde klar, dass sie Schweizer- fliessend Hochdeutsch spricht. Doch der Weg hierhin deutsch lernen musste, um im Berufsalltag mithalten war nicht einfach. Als die 32-Jährige mit ihrer Familie zu können. Also wandte sie sich an die Oltner Integ- vor acht Jahren in der Schweiz Zuflucht fand, kannte rationsfachstelle, wo sie vom Mentoringprojekt «Co- sie niemanden und verstand kein Wort. Dank einem Pilot» bei Caritas Solothurn erfuhr. Deutschkurs lernte die zweifache Mutter zwar schnell die Grundlagen der deutschen Sprache. Doch im Erfolgreich durch den Schweizer Alltag steuern Schweizer Alltag verstand sie trotzdem oft nur Bahn- Im Projekt «Co-Pilot» begleiten Freiwillige Flüchtlinge hof. Besonders bewusst wurde ihr das, als sie vor zwei durch den Schweizer Alltag, stehen ihnen mit Rat und Jahren die Ausbildung zur Detailhandelsassistentin Tat zur Seite, helfen bei der Wohnungssuche, bei der in einer Autobahnraststätte ausserhalb von Olten be- Freizeitgestaltung oder – wie im Fall von Amina – bei Pilotin Amina und Co-Pilotin Siv auf einem Spaziergang in Olten. 18 Nachbarn 2 / 21
Caritas Aargau – Caritas Solothurn der Verbesserung der Sprachkenntnisse. Nach der An- meldung füllte Amina einen Fragebogen aus, damit ihr die Projektleiterin Annette Lüthi aufgrund verschiede- ner Kriterien wie Alter, Wohnort und Interessen eine passende Freiwillige zuteilen konnte. So lernte Amina die Co-Pilotin Siv kennen. «Unser Matching war ein richtiger Glücksfall», freut sich Siv. «Wir haben uns von Anfang an bestens verstanden. Wichtig war sicher, dass wir stets offen und ehrlich miteinander waren und unsere Erwartungen klar kommunizierten.» Multimedial Mundart lernen Nach dem ersten Treffen, das gemeinsam mit der Seit über zwei Jahren treffen sich die beiden regelmässig Projektleiterin stattfand, traf sich Siv einmal in der zum Schweizerdeutschlernen. Woche mit Amina, um mithilfe eines multimedialen Lehrmittels intensiv Schweizerdeutsch mit ihr zu ler- nen. Bereits vor diesem Projekt sammelte die 67-Jäh- sich Amina, die in ihrem Heimatland Englische Lite- rige vielseitige Erfahrungen in der Freiwilligenarbeit ratur studiert hatte. Obwohl sich die Syrerin unermüd- und im Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache. lich bewarb, folgte Absage auf Absage. Mal wurde das «Nach meiner Pensionierung habe ich mir statt einer Alter, mal die Kinder, mal die mangelnden Deutsch- Kreuzfahrt eine Ausbildung als Erwachsenenbildnerin kenntnisse als Absagegrund genannt. «Nur mein jet- geleistet», erzählt die Oltnerin lachend. Seither gibt sie ziger Chef gab mir eine Chance», so Amina. Er unter- in einem Quartierzentrum ehrenamtlich Deutschkurse stützte sie von Anfang an und zeigte viel Verständnis für Migrantinnen und Migranten und hat schon meh- für ihre Situation. «Trotzdem war es nicht einfach, al- les unter einen Hut zu bringen. Manchmal fühlte ich mich überfordert», gibt Amina zu. Siv fügt verständ- «Dank dem Projekt nisvoll an: «Das muss man sich mal vorstellen: eine ‹Co-Pilot› habe ich neues Ausbildung in einer fremden Sprache, zwei kleine Kin- der, der Haushalt ... das war eine Riesenbelastung!» Selbstbewusstsein gewonnen.» Umso dankbarer ist Amina für die Unterstützung von Siv und Caritas: «‹Co-Pilot› hat mich stark gemacht. rere Flüchtlinge während ihrer Ausbildung oder ihres Dank diesem Projekt habe ich neues Selbstbewusst- Integrationsprozesses begleitet. «Doch mit Amina ist sein gewonnen.» Der Einsatz der beiden hat sich mehr es anders als bisher, viel persönlicher.» als gelohnt: Diesen Sommer hat Amina ihre Lehre als Kantonsbeste abgeschlossen. Nun arbeitet sie in ei- Schweizerdeutsch schafft Perspektiven nem reduzierten Pensum weiter und freut sich, dass Seit dem ersten Treffen sind zwei Jahre vergangen und sie wieder mehr Zeit für ihre Familie hat. «Allein hätte die Pilotin und die Co-Pilotin sind Freundinnen gewor- ich das nicht geschafft», sagt Amina abschliessend. Siv den. Die beiden haben viel zusammen unternommen hingegen betont: «Alles, was Amina erreicht hat, hat und voneinander gelernt. Doch im Fokus stand immer sie sich selbst erarbeitet.» das Schweizerdeutsch. «Da ich meine Ausbildung in Sy- rien nicht abschliessen konnte, war es mir wichtig, in der Schweiz einen Abschluss nachzuholen, um auf eigenen Freiwillige Co-Pilotinnen und Co-Piloten gesucht! Füssen zu stehen und mein eigenes Geld zu verdienen», erklärt Amina. «Schnell merkte ich, dass es eine berufli- Möchten Sie geflüchteten Menschen mit Ihren Erfahrun- che Barriere darstellt, wenn man kein ‹Schwyzerdütsch› gen helfen und sie durch den Schweizer Alltag begleiten? versteht. Siv hat mir die Angst vor der Mundart genom- Die Projektleiterinnen von Caritas Aargau und Caritas men und mich während der zweijährigen Ausbildung Solothurn geben Ihnen gerne Auskunft: immer unterstützt und motiviert.» Siv ergänzt: «Mir lag viel daran, Amina zu helfen, die Lehre erfolgreich abzu- Annette Lüthi, Caritas Solothurn, schliessen und beruflich selbstständig zu werden.» Tel. 032 623 01 57, a.luethi@caritas-solothurn.ch Isabelle Odermatt, Caritas Aargau, Lehrabschluss mit Auszeichnung Tel. 062 837 06 10, io@caritas-aargau.ch Der Einstieg ins Berufsleben war nicht ohne Hürden. «Es war schwierig, eine Lehrstelle zu finden», erinnert Nachbarn 2 / 21 19
Caritas Aargau Lydia Weiss im Gespräch mit Kursteilnehmenden. Die weibliche Seite der Armut Lydia Weiss ist seit 20 Jahren in der Sozialarbeit und in der Erwachsenenbildung im Bereich Integration tätig. In diesem Beitrag reflektiert sie ihre Erfahrungen mit armutsbetroffenen Frauen und fragt nach Zusammenhängen. Text: Lydia Weiss, Nathalie Philipp Bild: Nathalie Philipp I m Laufe der zwei Jahrzehnte meiner Berufstätig- Baubranche gefunden hatte, in den Aargau. Das Paar keit als Sozialarbeiterin sind mir viele Frauen be- hatte ein Baby. Beide sprachen kaum Deutsch. Sie war gegnet, die in schwierige Lebenssituationen oder in bildungsgewohnt und hätte wohl relativ schnell Deutsch Not geraten sind und jemanden suchten, der ihnen lernen können, hatte jedoch keine verfügbaren Finanzen zuhörte und sie praktisch unterstützte. Frauen sind zur Bezahlung von Deutschkursen, da das Einkommen in der Schweiz etwas stärker von Armut betroffen als ihres Mannes nur für das Nötigste ausreichte. Männer, das zeigen Erhebungen unter anderem vom Bundesamt für Statistik. Doch von welchen Erlebnis- Das Drama begann, als er erkrankte und es mit den sen erzählen die betroffenen Frauen? Welche Faktoren Zahlungen der Krankentaggeldversicherung bzw. des lassen sie in Armut geraten? Lohnes durch den Arbeitgeber haperte. Das Paar geriet innert weniger Monate in die Schulden- und Armuts- Eine jener Geschichten ist die einer ausgebildeten Kran- spirale. Der Wocheneinkauf wurde zum Stressfaktor, kenschwester aus Brasilien. Sie folgte ihrem portugie- der Gang zum Briefkasten zum Horror. Die psychische sischen Partner, der eine Stelle als Hilfsarbeiter in der und körperliche Situation der beiden Erwachsenen ver- 20 Nachbarn 2 / 21
Caritas Aargau schlechterte sich zusehends. Was folgte, war ein Spiess- Die Begründung lautet dann etwa so: «Männer sind rutenlauf zu Ärzten, Ämtern und Beratungsstellen, ein es gewohnt, aus dem Haus zu gehen. Für Frauen sind Kampf mit den Papieren und Stress in der Partnerschaft Onlinekurse besser, sie brauchen dann die Anfahrt, die bis hin zur Gewalttätigkeit gegenüber der Frau. Kinderbetreuung und die Mahlzeiten nicht zu organi- sieren.» Wie soll da eine Frau in der Schweiz beruflich Gefangen in patriarchalen Rollenmustern ankommen, wenn schon das Verlassen des Hauses zum Was mir als begleitende Sozialarbeiterin an dieser Hürdenlauf wird? durchaus typischen Frauengeschichte besonders na- heging: Das Paar hätte aus der Armut herauskommen Strukturelle und rollenspezifische Hindernisse können, wäre es nicht gefangen gewesen in patriar- Solche und ähnliche Berichte von sozialem Abstieg höre chalen Rollenmustern, die ihr die Kinderbetreuung ich häufig. Armut trifft nicht nur Migrantinnen, sondern zuschrieben, und Schweizer Gesetzen, die eine Weiter- ebenso Schweizerinnen, für die die Vereinbarkeit von Be- entwicklung der Frau zusätzlich erschwerten: Denn ruf und Familie schwierig ist, die deshalb nicht Vollzeit wer sollte einen Deutschkurs und die Kinderbetreuung arbeiten können und dadurch sozial schlecht abgesi- für eine Frau finanzieren, die Sozialhilfe bezieht? Aus- chert sind. Solche Schicksale mitzuerleben, ist nerven- serdem tickte die Uhr, denn Sozialhilfeabhängigkeit aufreibend. Natürlich sind Menschen manchmal auch in mit Status B kann dazu führen, dass man die Schweiz sich selbst gefangen und brauchen Zeit, um einen per- verlassen muss. Welcher Sozialdienst will da noch in sönlichen Weg zu finden. Doch wenn Frauen eigentlich Integrationsmassnahmen investieren? Der Traum einen Ausweg hätten, diesen aber nicht beschreiten, weil vom Leben in der Schweiz wurde aufgrund der Erkran- die rollenspezifischen und strukturellen Aspekte sie da- kung des «Ernährers» der Familie und aufgrund der ran hindern, dann ist dies besonders bitter. verunmöglichten Berufsintegration zum Albtraum. Ein Hohn, denn Fachpersonal in der Pflege fehlt. In meiner anderen Tätigkeit, der Bildungsarbeit in den «Sie versuchen alles unter Integrationskursen für anerkannte Flüchtlinge, erlebe einen Hut zu bringen, und wenn ich andere weibliche Armutsgeschichten. Hier begeg- nen mir Frauen, die beruflich in der Schweiz ganz am es nicht gelingt, nehmen sie Anfang stehen. Entweder aufgrund von fehlender Aus- sich als Gescheiterte wahr.» bildung im Heimatland oder weil ihre Ausbildung in der Schweiz nicht anerkannt wird. Von Armut betroffene Frauen kommen mir manchmal Für viele Frauen sind das Lernen der Sprache, die so vor wie ein Insekt im Spinnennetz. Das Netz sind die ziale und insbesondere die berufliche Integration be- strukturellen und rollenspezifischen Hindernisse, die sonders schwierig, weil oft die Kinderbetreuung voll Frauen aus individueller Kraft überwinden müssen, und ganz in ihrer Verantwortung liegt. Denn wo wird um aus ihrer Situation herauszukommen. Nur man- das Kind während einer Weiterbildung, zum Beispiel chen gelingt es allein. Verrückterweise ist den Frauen dem SRK-Pflegehelferinnen-Kurs, oder einem Studium selbst die Situation oft gar nicht bewusst. Sie nehmen untergebracht? Manche Gemeinden finanzieren eine ihre Rollen an, versuchen alles unter einen Hut zu Betreuung in der Krippe, aber nicht alle. Wohin also bringen, und wenn es nicht gelingt, nehmen sie sich mit dem Kind, wenn Mama nochmals die Schulbank als Gescheiterte wahr. Umso wichtiger sind die Tätig- drücken muss oder während eines Praktikums unre- keiten von Caritas: Beratung, Bildung, Projekte und gelmässige Arbeitszeiten hat? sozialpolitisches Engagement. Sie alle helfen, damit sich betroffene Frauen nicht allein aus dem Netz he- So beobachte ich auch, dass Frauen häufiger als Män- rausstrampeln müssen und ermächtigen die Frauen, ner Onlinekurse dem Präsenzunterricht vorziehen. selbst ins Handeln zu kommen. Mit Ihrer Spende können Sie die Arbeit von Caritas direkt in Ihrer Region mit unterstützen. Herzlichen Dank! Caritas Aargau Caritas beider Basel Caritas Solothurn CH23 0900 0000 5000 1484 7 CH26 0900 0000 4000 4930 9 CH76 0900 0000 6053 8266 5 www.caritas-aargau.ch www.caritas-beider-basel.ch www.caritas-solothurn.ch Nachbarn 2 / 21 21
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