Offene Drogenszene Platzspitz und Letten - Ein Rückblick auf die Entwicklungen der Suchthilfe in der Sozialen Arbeit seit der offenen Drogenszene ...
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Offene Drogenszene Platzspitz und Letten Ein Rückblick auf die Entwicklungen der Suchthilfe in der Sozialen Arbeit seit der offenen Drogenszene in Zürich Magdalena Suter, 07. Oktober 2020
Offene Drogenszene Platzspitz und Letten Ein Rückblick auf die Entwicklungen der Suchthilfe in der Sozialen Arbeit seit der offenen Drogenszene in Zürich Bachelorarbeit von: Magdalena Suter HS 20 An der: OST Ostschweizerische Fachhochschule Fachbereich Soziale Arbeit Studienrichtung Soziale Arbeit Begleitet von: Prof. Dr. Mathias Lindenau Leiter Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS Für den vorliegenden Inhalt ist ausschliesslich die Autorin verantwortlich Rickenbach ZH, 07. Oktober 2020
Inhaltsverzeichnis ABSTRACT ______________________________________________________________ 5 EINLEITUNG _____________________________________________________________ 9 1. BEGRIFFSDEFINITIONEN ______________________________________________ 11 1.1 SUCHT UND ABHÄNGIGKEIT ______________________________________________ 11 1.2 DROGEN ____________________________________________________________ 12 1.2.1 DEFINITION _________________________________________________________ 12 1.2.2 KLASSIFIZIERUNGEN __________________________________________________ 13 1.3 HEROIN _____________________________________________________________ 13 1.3.1 GESCHICHTE DES HEROINS _____________________________________________ 14 1.3.2 WIRKUNG __________________________________________________________ 15 1.3.3 RISIKEN ____________________________________________________________ 15 1.3.4 FOLGEN ___________________________________________________________ 16 1.3.5 HEROINABHÄNGIGKEIT UND ERKLÄRUNGSMODELL SUCHT-TRIAS _________________ 17 1.4 DROGENSZENE AM BEISPIEL DER HEROINSZENE _______________________________ 20 2. OFFENE DROGENSZENE ZÜRICH BIS ZUR VIER-SÄULEN-POLITIK ___________ 23 2.1 VORGESCHICHTE ______________________________________________________ 23 2.1.1 EINFLUSS DER ACHTUNDSECHZIGER-BEWEGUNG AUF DIE STADT ZÜRICH ___________ 23 2.1.2 ENTSTEHUNG DER OFFENEN DROGENSZENE VON 1980–1986 ___________________ 24 2.1.3 DAMALIGE ZÜRCHER DROGENPOLITIK _____________________________________ 25 2.2 DAS ELEND DER OFFENE DROGENSZENE 1986–1995 ___________________________ 26 2.2.1 PLATZSPITZ 1986–1992 _______________________________________________ 26 2.2.2 ZÜRCHER DROGENPOLITIK 1986–1992 ____________________________________ 27 2.2.3 LETTEN 1992–1995 __________________________________________________ 28 2.2.4 ZÜRCHER DROGENPOLITIK 1992–1995 ____________________________________ 28 2.2.5 AUFLÖSUNG DER OFFENEN DROGENSZENE _________________________________ 29 2.3 EINFÜHRUNG DER VIER-SÄULEN-POLITIK 1990–2008___________________________ 30 2.3.1 DIE ZEHN DROGENPOLITISCHEN GRUNDSÄTZE _______________________________ 31 2.3.2 GESETZLICHE VERANKERUNG DER VIER-SÄULEN-POLITIK ______________________ 32 2.4 VIER-SÄULEN-POLITIK __________________________________________________ 32 2.4.1 PRÄVENTION ________________________________________________________ 32
2.4.2 THERAPIE __________________________________________________________ 33 2.4.3 SCHADENSMINDERUNG ________________________________________________ 34 2.4.4 REPRESSION ________________________________________________________ 34 2.5 AUSBAU DER VIER-SÄULEN-POLITIK _______________________________________ 35 3. SOZIALE ARBEIT UND SUCHTHILFE _____________________________________ 38 3.1 SOZIALE ARBEIT: AUFTRAG UND GRUNDSÄTZE _______________________________ 38 3.2 SOZIALE ARBEIT IN DER SUCHTHILFE _______________________________________ 39 3.2.1 NIEDERSCHWELLIGE AMBULANTE SUCHTHILFE _______________________________ 40 3.2.2 KONZEPT DER NIEDERSCHWELLIGEN UND AKZEPTANZORIENTIERTEN SUCHTHILFE _____ 41 3.3 SUCHTHILFE VOR DER OFFENEN DROGENSZENE _______________________________ 42 3.4 SUCHTHILFE WÄHREND DER OFFENEN DROGENSZENE __________________________ 43 3.4.1 PLATZSPITZ _________________________________________________________ 43 3.4.2 LETTEN ____________________________________________________________ 45 3.4.3 ZUSAMMENARBEIT SUCHTHILFE UND POLIZEI ________________________________ 46 3.5 SUCHTHILFE HEUTE ____________________________________________________ 49 3.5.1 KONTAKT- UND ANLAUFSTELLEN _________________________________________ 49 3.5.2 METHADON- UND HEROINABGABE ________________________________________ 50 3.5.3 DRUG CHECKING _____________________________________________________ 52 3.5.4 KONZEPT DER ZIELOFFENEN SUCHTARBEIT _________________________________ 53 3.5.5 HERAUSFORDERUNGEN IN DER SUCHTHILFE_________________________________ 55 3.5.5.1 Alternde Drogenabhängige ___________________________________________ 55 3.5.5.2 Komplexe Drogenabhängigkeit ________________________________________ 56 3.6 BRAUCHT ES EIN UMDENKEN IN DER HEUTIGEN DROGENPOLITIK? __________________ 57 4. FAZIT _______________________________________________________________ 60 5. SCHLUSSWORT ______________________________________________________ 62 QUELLENVERZEICHNIS ___________________________________________________ 63 ABBILDUNGSVERZEICHNIS _______________________________________________ 74 EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG _________________________________________ 75
Abstract Titel: Offene Drogenszene Platzspitz und Letten. Ein Rückblick auf die Entwicklungen der Suchthilfe in der Sozialen Arbeit seit der offenen Drogenszene in Zürich. Kurzzusammenfassung: Diese Arbeit beschreibt die Ereignisse während der offenen Dro- genszene, am Platzspitz und Letten zwischen 1986 bis 1995. Der Fokus liegt auf den damaligen sozialarbeiterischen Hilfestel- lungen und den sich daraus entwickelten nachhaltigen Angebo- ten der Suchthilfe. Autorin: Magdalena Suter Referent/-in: Mathias Lindenau Publikationsformat: BATH MATH Semesterarbeit Forschungsbericht Anderes Veröffentlichung (Jahr): 2020 Sprache: deutsch Zitation: Suter, Magdalena (2020). Offene Drogenszene Platzspitz und Letten. Ein Rückblick auf die Entwicklungen der Suchthilfe in der Sozialen Arbeit seit der offenen Drogenszene in Zürich. OST Ostschweizer Fachhochschule, Fachbereich Soziale Arbeit. Schlagwörter (Tags): Offene Drogenszene Zürich, Soziale Arbeit, Suchthilfe
6 Ausgangslage: Von 1986 bis 1995 befand sich in Zürich eine der grössten offenen Drogenszenen Europas. Zuerst im Platzspitz-Park, nur wenige Meter vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, später am stillgelegten Bahnhof Letten. Die Drogen hatten Zürich im Griff. Tausende von Menschen spritzten sich vor den Augen der Zürcher Bevölkerung und der Polizei in aller Öffentlichkeit Heroin. Der Zustand auf der offenen Drogenszene war nicht mehr tragbar. Sowohl für die He- roinabhängigen selbst als auch für die Zürcher Stadtbevölkerung. Die Zahl der drogenbeding- ten Todesfälle stieg kontinuierlich an. Die Politik musste handeln. Die schweizerische Drogen- politik änderte sich in dieser Zeit von Grund auf. In der Arbeit mit Heroinabhängigen wurde ein neuer Ansatz gewählt. Anstelle der bis dahin allein verfolgten Abstinenzstrategie wurde die Drogenabhängigkeit akzeptiert, und es wurden Massnahmen zur Überlebenshilfe und Scha- densminderung angeboten. Diese neue Strategie rettete vielen Drogenabhängigen das Leben und findet auch heute noch internationale Beachtung. Ziel: Ziel dieser Arbeit ist es, ein fundiertes Verständnis dafür zu gewinnen, was genau in Zürich zur Zeit der offenen Drogenszene geschah. Das Hauptinteresse dieser Arbeit liegt bei der Sozialen Arbeit im Bereich der Suchthilfe und deren Unterstützungsmassnahmen zu dieser Zeit. Zudem soll herausgearbeitet werden, welche nachhaltigen Angebote der Suchthilfe sich aus dieser Zeit entwickelt haben. Um die Problematik zu verstehen, ist es wichtig zunächst die Begriffe Abhängigkeit, insbesondere Heroinabhängigkeit, die Droge Heroin und die Szene bzw. offene Heroinszene näher zu beleuchten. Diese Definitionen dienen dann als Grundlage für die gesamte Arbeit. Um das Ziel dieser Arbeit zu erreichen, wurden die folgenden Frage- stellungen formuliert: Was geschah in der Zeit der offenen Drogenszene in Zürich, am Platzspitz und Letten von 1986 bis 1995? Wie haben die Hilfestellungen der sozialarbeiterischen Suchthilfe ausge- sehen und wie hat diese Zeit die heutige Drogenpolitik und das Angebot der Suchthilfe nachhaltig verändert? Vorgehen: Die Arbeit ist in drei Kapitel unterteilt. Der erste Teil befasst sich mit den theoretischen Grund- lagen. Die wichtigsten Begriffe, die für die Bearbeitung des Themas relevant sind, werden definiert und abgegrenzt. Die ersten Begriffe sind der Abhängigkeits- und der Suchtbegriff. Die Herkunft und Verwendung dieser Begriffe werden dargelegt. In einem nächsten Schritt werden die Begriffe Droge und insbesondere Heroin näher untersucht. Die Risiken, Wirkungen und Geschichte von Heroin werden thematisiert. Da sich diese Arbeit mit der offenen Drogenszene Offene Drogenszene Zürich
7 in Zürich befasst, wird es als wesentlich erachtet, den Begriff Szene zu verstehen und sich gezielt mit der Heroinszene auseinanderzusetzen. Das zweite Kapitel befasst sich mit der offenen Drogenszene Platzspitz und Letten. Die da- malige problematische Zeit in Zürich wird analysiert. Auch die Zeit vor der offenen Drogen- szene wird kurz beleuchtet, da dies ein Verständnis dafür vermittelt, wie sich die offene Dro- genszene in Zürich überhaupt entwickeln konnte. Nebst einer chronologischen Darstellung der offenen Drogenszene in Zürich wird auch die Entwicklung der schweizerischen Drogenpolitik beschrieben. Der letzte Teil des zweiten Kapitels befasst sich mit der aktuellen Drogenpolitik und deren Weiterentwicklung. Damit wird die Entwicklung der Drogenpolitik seit der Zeit vor der offenen Drogenszene bis heute deutlich. Das letzte Kapitel befasst sich mit dem zweiten Teil der oben erwähnten Fragestellung. Hier wird die offene Drogenszene aus der Perspektive der Sozialarbeit näher beleuchtet. Die offene Drogenszene wird chronologisch dargestellt, jedoch liegt der Schwerpunkt auf den Hilfsmass- nahmen der Suchthilfe. Des Weiteren wird die Suchthilfe und einige ihrer Angebote, die sich aus dieser Zeit entwickelt haben, dargestellt. Da sich der letzte Teil des dritten Kapitels auf die heutige Suchthilfe konzentriert, werden zwei Herausforderungen in der Arbeit mit Drogenkon- sumierenden näher beleuchtet. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Diskussionsunterkapitel bezüglich der heutigen Drogenpolitik. Im Fazit werden alle Ergebnisse noch einmal zusam- mengefasst und es wird versucht die Fragestellungen zu beantworten. Erkenntnisse: In der Schweiz gibt es heute keine grosse offene Drogenszene mehr. Drogenabhängige kön- nen ihre Drogen in staatlich zu Verfügung gestellten Räumen konsumieren, um sie und die Öffentlichkeit zu schützten. Für Menschen, die an einer Heroinabhängigkeit leiden, führt die Krankheit nicht mehr automatisch zu sozialer Ausgrenzung und Verelendung. Dieser erhebli- che Fortschritt ist auf die Etablierung des Vier-Säulen-Modells der Drogenpolitik zurückzufüh- ren. Angebote zur Schadensminderung wie Kontakt- und Anlaufstellen, Notunterkünfte, Drug Checking, niederschwellige Methadonabgabe und staatlich kontrollierte Heroinabgabe sind Angebote, die aufgrund dieser Situation in Zürich entwickelt und aufgebaut wurden. Die offene Drogenszene in Zürich brachte viel Leid mit sich. Polizei, medizinisches Personal, Fachleute der Suchthilfe, aber auch die Behörden stiessen im Kampf gegen die Drogenprob- lematik an ihre Grenzen. Nur durch den Zusammenschluss all dieser Institutionen und die gemeinsame Suche nach einer Lösung konnte Zürich aus der Drogenmisere befreit werden. Die Professionellen der Sozialen Arbeit haben in dieser Zeit Pionierarbeit geleistet. Psychoso- ziale Hilfe wurde durch aufsuchende Sozialarbeit oder in Kontakt- und Anlaufstellen erbracht. Durch die Einrichtung dezentraler Suchthilfestellen hat sich keine offene Drogenszene mehr Offene Drogenszene Zürich
8 gebildet. Die Zeit der offenen Drogenszene war der Dreh- und Angelpunkt für die Veränderun- gen im Suchthilfesystem und für einen neuen Ansatz in der Arbeit mit Drogenabhängigen. Dabei haben die Professionellen der Suchthilfe mit ihrem Engagement vor Ort, aber auch durch den Einsatz in der Politik viel dazu beigetragen. Heute konsumieren nicht mehr so viele Menschen Heroin. Die Droge hat nicht mehr den glei- chen Stellenwert wie vor 25 Jahren. Allerdings gibt es im Bereich der Suchthilfe neue Heraus- forderungen in der Arbeit mit Drogenkonsumierenden. Zum Beispiel in der Unterstützung von alternden Heroinkonsumentinnen und Heroinkonsumenten oder durch die zunehmende Kom- plexität von Abhängigkeitserkrankungen. Auch wenn die schweizerische Drogenpolitik im in- ternationalen Vergleich nach wie vor zu den fortschrittlichsten gehört, darf ihre Weiterentwick- lung nicht behindert werden. Sie muss sich den heutigen Herausforderungen stellen und neue Konzepte entwickeln, damit die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Suchthilfe ihren Kli- entinnen und Klienten die bestmögliche Unterstützung bieten können. Literaturquellen: Grob, Peter J. (2018). Zürcher „Needle-Park“. Ein Stück Drogengeschichte und -politik 1968– 2008 (3. Aufl.). Zürich: Chronos. Oertle, Daniela (2010). Räumliche Interventionen der Zürcher Stadtbehörden gegen die of- fene Drogenszene von 1989 bis 1995. Auflösung der Drogenszene und Überlagerung der städtischen Drogenpolitik mit der Asyldebatte (Lizenziatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich). Zürich: Universität Zürich Sting, Stephan & Blum, Cornelia (2003). Soziale Arbeit in der Suchtprävention. München: Ernst Reinhardt Verlag. Offene Drogenszene Zürich
9 Einleitung „Menschen lagen in ihrem eigenen Blut und Kot wie Gefallene. Wer noch gehen konnte, stieg einfach über sie hinweg“ (Binswagner, o. D.). So erzählt ein Polizist von den Ereignissen, die anfangs der 1990er Jahre auf dem Platzspitz stattgefunden haben, einem Park in Zürich, der nur einen Steinwurf vom „besseren“ Zürich entfernt ist. Es ist 25 Jahre her, dass die offene Drogenszene in Zürich und ihr Elend ein Ende fanden. Trotzdem erinnern sich diejenigen, die die offene Drogenszene miterlebt haben, noch genau an den Anblick und den Geruch von Verwesung und Erbrochenem (Binswagner, o. D.). Die offene Drogenszene auf dem Platzspitz begann 1986 und wurde 1992 von der Polizei geräumt (Oertle, 2010, S. 1). Täglich kamen 3‘000 bis 5‘000 Menschen auf den Platzspitz, um Heroin oder andere Drogen zu konsumieren. Polizei, medizinisches Personal und Sozialarbeitende der Suchthilfe leisteten erste Hilfe, indem sie zusammengebrochene Fixerinnen und Fixer wie- derbelebten. Die ganze Szene erinnerte an ein Schlachtfeld (Binswagner, o. D.). Auf dem Platzspitz duldeten die Behörden eine Zeit lang den Heroinkonsum, was den Park zu einem Ort des Exzesses werden liess (Oertle, 2010, S. 1). Die Vorgänge in Zürich machten damals weltweit Schlagzeilen (Grob, 2018, S. 9). Als der Platzspitz 1992 von der Polizei geräumt wurde, etablierte sich nur wenige Meter entfernt am stillgelegten Bahnhof Letten eine neue, noch grössere Drogenszene (Oertle, 2010, S. 1). Neun Jahre lang sah die Zürcher Stadtbe- völkerung zu, wie nur zu oft auf der offenen Drogenszene Drogenabhängige starben. Im Jahr 1995 wurde der Letten geräumt, was das Ende der offenen Drogenszene in Zürich bedeutete (Grob, 2018, S. 96). Diese Jahre haben Zürich viel Leid gebracht. Jedoch wird diese Zeit in der Gegenwart als richtungsweisend erachtet, damit überhaupt eine Veränderung in der Drogenpolitik geschehen konnte. Die offene Drogenszene in Zürich gilt als Wendepunkt in der Suchthilfe. In dieser Zeit hat sich ein anderer Ansatz in der Arbeit mit Drogenabhängigen herausgebildet, die nieder- schwellige Suchtarbeit. Zudem nahm damals auch die kooperative Zusammenarbeit zwischen Polizei und Sozialarbeit ihren Anfang. Aus diesem Grund wird es als wichtig erachtet, zu un- tersuchen, was genau in dieser Zeit geschehen ist, wobei ein besonderes Augenmerk auf die sozialarbeiterische Unterstützung in dieser Zeit gelegt wird. Deshalb werden in dieser Arbeit die folgenden Fragestellungen untersucht: Was geschah in der Zeit der offenen Drogenszene in Zürich, am Platzspitz und Letten von 1986 bis 1995? & Wie haben die Hilfestellungen der sozialarbeiterischen Suchthilfe ausgesehen und wie hat diese Zeit die heutige Drogenpolitik und das Angebot der Suchthilfe nachhaltig verändert? Offene Drogenszene Zürich
10 Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, ein fundiertes Verständnis dafür zu gewinnen, was in Zürich zur Zeit der offenen Drogenszene geschah und wie sich daraus die Vier-Säulen-Dro- genpolitik entwickelte. Das Hauptinteresse der Arbeit liegt jedoch auf der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und ihren Interventionen und Unterstützungen während der offenen Drogen- szene in Zürich wie auch auf der Frage, welche Angebote und Arbeitsweisen sich aus dieser Zeit heraus entwickelt haben. Um die Fragestellungen zu klären, ist diese Arbeit in drei Kapitel unterteilt. Im ersten Teil wer- den die wichtigsten Begriffe im Detail definiert und abgegrenzt. In einem weiteren Schritt wird die damalige offene Drogenszene in Zürich historisch analysiert und chronologisch dargestellt. Die chronologische Darstellung widerspiegelt auch die schrittweise Entwicklung der schwei- zerischen Drogenpolitik. Das letzte Kapitel befasst sich mit der Sozialen Arbeit und der Sucht- hilfe. Dieses Kapitel konzentriert sich insbesondere auf die niederschwellige Suchthilfe, da diese der wesentlichste Bereich der Suchthilfe im Kampf gegen das Drogenelend war. Dieses Kapitel wird chronologisch in Bezug auf die offene Drogenszene in Zürich aufgebaut, jedoch mit dem Schwerpunkt auf den sozialarbeiterischen Aktivitäten der Suchthilfe vor, während und nach der Zeit der offenen Drogenszene in Zürich. Im letzten Teil des dritten Kapitels werden die aktuellen Angebote und Interventionen sowie zwei Herausforderungen der heutigen Sucht- hilfe beschrieben. Die Arbeit endet mit einer Diskussion über die Aktualität der schweizeri- schen Drogenpolitik, bevor im Fazit versucht wird, die gestellten Fragestellungen zu beant- worten. Offene Drogenszene Zürich
11 1. Begriffsdefinitionen 1.1 Sucht und Abhängigkeit Der Begriff „Sucht" kommt im germanischen Sprachraum vor und bedeutet „krank sein“ (Vogt & Scheerer, 1989, S. 12). Der Suchtbegriff ist vor allem in historischer Betrachtung mit vielen negativen Assoziationen verbunden und wurde überwiegend metaphorisch verwendet. Dies hat dazu beigetragen, dass sich bis heute nur schwer ein klares Verständnis für den Suchtbe- griff finden lässt. Sting & Blum (2003) bezeichnen dies als eine „Begriffsverwirrung“ im Sucht- bereich (S. 27). Im Jahre 1950 versuchte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Sucht als eine spezifische Form von Krankheit zu definieren. Dies hat dazu geführt, dass die Suchtproblematik in die medizinische Zugehörigkeit fällt (Spode, 1993, 127 ff zitiert nach Sting & Blum, 2003, S. 27). Das Verständnis von Sucht als Krankheit hat eine ambivalente Wirkung. Positive Effekte sind zum einen, dass die Stigmatisierung von Drogenkonsumierenden durch die Bevölkerung ver- ringert wird, da die Sucht nicht mehr als selbst verschuldet gilt. Zudem wird die Gesundheits- versorgung finanziell abgesichert (Sting & Blum, 2003, S. 28). Ein negativer Aspekt ist, dass drogenkonsumierende Personen nicht mehr für ihr eigenes Handeln verantwortlich gemacht werden (Reinl, 2008, S. 209, zitiert nach Bauer, 2014, S. 13). Im Laufe der Zeit wurde der Suchtbegriff durch die WHO präzisiert und neu als psychische und physische Abhängigkeit definiert (Scheer 1995, S. 14 zitiert nach Sting & Blum, 2003, S. 28). Eine psychische Abhängigkeit lässt sich nur sehr schwer strikt von einer physischen Ab- hängigkeit trennen. Eine physische Abhängigkeit schliesst immer auch eine psychische Ab- hängigkeit mit ein (Hess, 1989, S. 149). Psychische oder auch seelische Abhängigkeit drückt sich in einem übermässigen Verlangen danach aus, ein Gefühl des Wohlbefindens zu erhal- ten. Abstinenz kann zu psychischen Entzugserscheinungen führen, die sich in Unruhe, Angst- zuständen oder Depressionen äussern können. Die Behandlung der psychischen Abhängig- keit ist ein langwieriger Prozess, der schwieriger zu bewältigen ist als eine körperliche Abhän- gigkeit (Safe Zone, o. D.). Bei physischer Abhängigkeit führt kontinuierlicher Konsum einer Substanz zu einer Anpassung des Körperstoffwechsels. Der Körper braucht die Substanz, um „normal“ oder ohne Entzugssymptome wie Krämpfe, Zittern, Verwirrung oder Schlafstörungen zu funktionieren (Safe Zone, o. D.). Der Suchtbegriff wird seit der Präzisierung durch die WHO vor allem in wissenschaftlichen Arbeiten nicht mehr verwendet (Stangl, 2019a). Jedoch gibt es bislang noch keine homogene Verwendung bei diesen Begriffen (Sting & Blum, 2003, S. 30). Es wird beispielweise immer noch von Suchthilfe und nicht von Abhängigkeitshilfe gesprochen. Aus diesem Grund wird in Offene Drogenszene Zürich
12 dieser Arbeit mehrheitlich der Begriff „Abhängigkeit“ verwendet, jedoch bezüglich Hilfsange- boten von „Suchthilfe“ gesprochen. Abhängigkeit bedeutet nicht unbedingt Abhängigkeit von einer Substanz. Eine Abhängigkeit kann sich auch auf ein wiederholtes impulsives unkontrolliertes Verhalten beziehen, das die Lebensführung eines Betroffenen kontrolliert. Diese Art der Abhängigkeit wird als substanzun- gebundene Abhängigkeit definiert (Stangl, 2019b). In dieser Arbeit ist aufgrund der Fragestel- lung bei der Verwendung des Abhängigkeitsbegriffes nur die substanzgebundene Abhängig- keit gemeint. 1.2 Drogen 1.2.1 Definition Die ursprüngliche Bedeutung des Drogenbegriffs stammt aus dem Altdeutschen und heisst übersetzt „trocken“. Dieser Begriff rührt daher, dass mit Drogen früher getrocknete Pflanzen- teile gemeint waren, die für Arzneimittel oder Gewürze verwendet wurden (Vogt & Scheerer, 1989, S. 5). Heute lassen sich dem Drogenbegriff unterschiedliche Definitionen zuordnen. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden unter Drogen meist nur gesetzlich verbotene Substanzen wie Heroin, Kokain oder Haschisch verstanden. Eine solche Verwendung des Begriffs führt jedoch automatisch zu einer negativen Bewertung, was zum Teil auf den Einfluss der Medien oder von staatlichen Stellen zurückzuführen ist, welche die verbotenen Substanzen in der Re- gel mit dem Begriff Droge kennzeichnen (Reinke & Hebold, 2004, S. 1; Vogt & Scheerer, 1989, S. 6). Die gesetzliche Regelung eines Stoffes sagt nichts über seine Gefährlichkeit für den menschlichen Organismus aus. Sie ist vielmehr ein Ergebnis der wirtschaftlichen und kulturel- len Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der Substanz (Vogt & Scheerer, 1989, S. 6–7). Die soziale Bewertung einer Droge variiert je nach Zeit oder Kultur und darf daher nie als unveränderlich gesehen werden (Vägler & von Welck, 1982 zitiert nach Vogt & Scheerer, 1989, S. 3). Eine Substanz wird erst durch eine bestimmte soziokulturelle Struktur als Droge definiert (Schad- bach, 2009, S. 13). Aus diesem Grund bezieht sich die Verwendung des Begriffs „Droge“ in dieser Arbeit auf die Definition von Vogt & Scheerer (1989), die den Vorteil hat, keiner morali- schen Bewertung zu unterliegen und die dennoch eingrenzend wirkt. Diese Definition lautet wie folgt: Drogen sind in diesem Sinne alle Stoffe, Mittel, Substanzen, die aufgrund ihrer chemischen Natur Strukturen oder Funktionen im lebenden Organismus verändern, wobei sich diese Veränderun- gen insbesondere in den Sinnesempfindungen, in der Stimmungslage, im Bewusstsein oder in anderen psychischen Bereichen oder im Verhalten bemerkbar machen (Vogt & Scheerer, 1989, S. 5–6). Offene Drogenszene Zürich
13 1.2.2 Klassifizierungen Drogen können auf verschiedene Weise klassifiziert werden, beispielsweise durch die Eintei- lung in „legale“ und „illegale“ oder „harte“ und „weiche“ Drogen. Die Einteilung in legale und illegale Drogen basiert auf ihrem rechtlichen Status (Reinke & Hebold, 2004, S. 1; Ulrich, 2000a, S. 42). Volksdrogen wie Koffein, Alkohol und Medikamente sind legal und werden des- halb im Allgemeinen nicht als Drogen bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen harten und weichen Drogen wird sowohl im juristischen als auch im medizinischen Bereich angewandt und bezieht sich in erster Linie auf die Stärke der Drogen, die potenzielle Abhängigkeit und die mit dem Konsum-Ende verbundenen Probleme (Reinke & Hebold, 2004, S. 1). Wie bereits erwähnt, kann Abhängigkeit in physischer und/oder psychischer Form auftreten. Wenn durch den regelmässigen Konsum einer Substanz nur eine psychische Abhängigkeit auftritt, wie beispielsweise bei Marihuana, spricht man in der Regel von einer weichen Droge. Heroin, Amphetamine und Kokain gehören zu den sogenannten harten Drogen, da ein länge- rer Konsum zu einer körperlichen Abhängigkeit führt, d.h. der oder die Betroffene muss die Substanz konsumieren, um nicht unter schweren Entzugserscheinungen zu leiden (Reinke & Hebold, 2004, S. 1). Die Klassifikation von Alkohol als weiche Droge durch das Europäische Parlament vom 29. November 1991 zeigt deutlich, dass politische, kulturelle und wirtschaftli- che Aspekte die Drogeneinteilung erheblich beeinflussen (Ulrich, 2000a, S. 42–43). Alkohol- abusus führt zu schwerer körperlicher und psychischer Abhängigkeit (Hasler, 2000, S. 44). Zudem sind die gesundheitlichen Folgen jahrelanger Alkoholabhängigkeit, wie Leberzirrhose, hirnorganische Schäden oder chronische Entzündungen der Magenschleimhaut, sehr schwer- wiegend (Hasler, 2000, S. 44). Die Unterscheidung zwischen harten und weichen Drogen ist nicht klar definiert und eher fliessend. Dies macht sich besonders bei Drogen wie LSD oder Ecstasy bemerkbar. Nach den oben genannten Kriterien sollten sie als weiche Drogen einge- stuft werden, da sie nur eine geringe psychische Abhängigkeit und keinerlei physische Abhän- gigkeit mit sich bringen. Dennoch kann ihr Konsum zu psychischen Problemen führen, die wiederum physische Krankheiten auslösen können (Reinke & Hebold, 2004, S. 1). 1.3 Heroin Im Jahr 1988 gab es in der Schweiz schätzungsweise 20‘000 Fixerinnen und Fixer. Davon verweilten 4‘000 bis 5‘000 in Zürich im sogenannten „Needle-Park“ oder Platzspitz (Grob, 2018, S. 26). Mit dem Begriff „Fixerin“ oder „Fixer“ werden diejenigen Personen bezeichnet, die sich Heroin intravenös injizieren (Wortbedeutung.info, o. D.). Obwohl damals auf dem Platzspitz und später auf dem Letten, einem stillgelegten Bahnhof in Zürich, verschiedene Substanzen konsumiert wurden, war Heroin die häufigste konsumierte Droge (Grob, 2018, S. Offene Drogenszene Zürich
14 93). Der damalige enorme Heroinkonsum verursachte viele gesundheitliche und soziale Prob- leme. Im Hinblick auf die Fragestellung scheint es wichtig, die am meisten konsumierte psychoaktive Substanz in der offenen Drogenszene in Zürich näher zu beschreiben sowie die Ursache einer Heroinabhängigkeit mit dem Sucht-Trias Erklärungsmodell zu beleuchten. Auf andere häufig konsumierte Substanzen, die oftmals mit Heroin kombiniert wurden, wie Kokain, Ketalgin, Methadon oder Rohypnol (Grob, 2018, S. 51; Schnyder, 1992, S. 25), kann nicht näher eingegangen werden, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Heroin gehört zur Substanzgruppe der Opiate und wird aus einer Schlafmohnpflanze extrahiert und chemisch zu einem Pulver verarbeitet. Dieses Pulver, auch „Sugar“ oder „H“ genannt, wirkt sowohl betäubend als auch euphorisierend (Deutsche Hauptstelle für Suchfragen e.V. [DHS], 2017; Schnyder, 1992, S. 25). Heroin wird als harte Droge eingestuft, weil es das Po- tenzial hat, sehr schnell eine psychische und physische Abhängigkeit zu verursachen. 1.3.1 Geschichte des Heroins 1806 gelang es dem Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner als erster, die Hauptwirkung des Opiums, Morphium, zu isolieren (DHS, 2017). Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 wurde Morphium bei verwundeten Soldaten eingesetzt, was dazu führte, dass viele Soldaten morphinabhängig wurden (DHS, 2017). Im Jahr 1874 wurde erstmals Heroin aus Morphium synthetisiert. Ziel war die Herstellung einer Droge, die eine ähnliche Wirkung wie Morphium haben sollte, jedoch mit einem geringeren Abhängigkeitspotenzial. Zu dieser Zeit wurde das neu gewonnene Heroin als Medikament für Husten, Herzerkrankungen, Narkose- und Ge- burtseinleitung, Lungenerkrankungen, als Ersatz für Morphiumabhängigkeit und für viele an- dere Zwecke verwendet (Drug scouts, 2018). Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass He- roin nicht nur eine viel stärkere Wirkung als Morphium hat, sondern auch ein höheres Abhän- gigkeitspotenzial besitzt (DHS, 2017). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man, den medizinischen Nutzen von Heroin in Frage zu stellen und seine Schädlichkeit zunehmend zu betonen. Im Jahr 1924 wurde Heroin schliesslich zum Betäubungsmittel erklärt und seine Herstellung, sein Handel und seine Ver- teilung unter staatliche Kontrolle gestellt. Im Jahr 1975 wurde auch der Konsum von Heroin verboten (Sucht Schweiz, 2019, S. 1). Trotz der gesetzlichen Regelungen entstanden in den 1980er Jahren in der Schweiz mehrere offene Drogenszenen, darunter der Platzspitz und spä- ter dann der Letten, in denen Heroin exzessiv konsumiert wurde (Sucht Schweiz, 2019, S. 1). Weshalb sich damals eine offene Heroinszene auf dem Platzspitz bildete, wird im zweiten Kapitel erörtert. Um die Folgen des damaligen Heroinkonsums zu minimieren, wurde ab 1994 versucht, Heroin in der Schweiz ärztlich zu verschreiben. Im Jahr 1999 wurde die heroingestützte Behandlung Offene Drogenszene Zürich
15 (HeGeBe) per Volksabstimmung angenommen und gesetzlich verankert (Sucht Schweiz, 2019, S. 1). Seither ist ein starker Rückgang der Zahl von neuen Heroinkonsumentinnen und Heroinkonsumenten zu beobachten. Im Jahr 1990 rechnete man im Kanton Zürich mit jährlich 850 Personen, die neu mit dem Heroinkonsum beginnen würden. 2002 zählte man dann nur noch 150 Neukonsumentinnen und Neukonsumenten (Grob, 2018, S. 111). 1.3.2 Wirkung Heroin kann geraucht, geschnupft oder intravenös injiziert werden. Häufig wechseln abhän- gige Heroinkonsumentinnen und Heroinkonsumenten zum Spritzen, da die anderen Konsum- arten eine verzögerte und weniger starke Wirkung haben (DHS, 2017). Die Wirkungsdauer liegt zwischen vier bis sechs Stunden, was bedeutet, dass Heroinkonsumierende täglich meh- rere Dosen einnehmen müssen, um Entzugserscheinungen zu vermeiden oder zu lindern (Scherbaum, 2016, S. 158). Muskel- und Knochenschmerzen, Durchfall und Erbrechen sowie Schlaflosigkeit werden als Entzugssymptome von Heroin beschrieben. Heroinabhängige be- zeichnen diesen Zustand im schweizerdeutschen auch als „auf den Aff kommen“ (Teesson, Degenhardt & Hall, 2008, S. 121). Heroin hat eine beruhigende, schmerzlindernde und be- wusstseinsmindernde Wirkung. Darüber hinaus dämpft es unangenehme Gefühle wie Angst und Unlust, so dass Alltagsprobleme nicht mehr als solche wahrgenommen werden (DHS, 2017). Zu den akuten Nebenwirkungen des Heroinkonsums können Pupillenverengung, Hy- potonie, Sedierung und Verstopfung gehören. Der Erstkonsum kann zu Übelkeit und Erbre- chen führen (Scherbaum, 2016, S. 158). 1.3.3 Risiken Die Gefahr des Heroinkonsums liegt vor allem in seiner starken Wirksamkeit. Zwischen Ver- träglichkeit und Toxizität besteht nur ein schmaler Grat (DHS, 2017). Das grösste Risiko des Heroinkonsums ist eine Überdosierung. Wenn Heroin geraucht oder intravenös injiziert wird, erreichen die Wirkstoffe sehr schnell das Gehirn und wirken auf das zentrale Nervensystem (Gesundheit.gv.at, 2020). Personen, die Heroin über einen längeren Zeitraum zu sich nehmen, bauen eine Toleranz auf, was automatisch bedeutet, dass mehr Heroin konsumiert werden muss, um einen stärkeren „Flash“ zu erreichen (Gesundheit.gv.at, 2020). Wenn über einen längeren Zeitraum kein Heroin mehr konsumiert wird, zum Beispiel aufgrund eines Entzugs- versuchs, wird die Toleranz wieder abgebaut. Wird dann wieder die gleiche Heroinmenge ge- spritzt oder geraucht wie vor der Konsumpause, besteht die Gefahr einer Überdosierung (Ge- sundheit.gv.at, 2020). Zudem wird Strassenheroin in der Regel mit anderen toxischen Sub- stanzen gestreckt, weshalb der prozentuale Anteil des Wirkstoffs Heroin stark variiert und nur sehr schwer abzuschätzen ist (DHS, 2017). Offene Drogenszene Zürich
16 Heroinüberdosierungen zeigen sich durch Atemdepression, Bewusstlosigkeit und Kreislauf- versagen. Der Tod durch Überdosierung wird gewöhnlich auf eine Atemdepression zurückge- führt. Es besteht ein Erstickungsrisiko durch Erbrechen bei Bewusstlosigkeit und das Risiko einer Lungenembolie, die infolge einer intravenösen Injektion auftreten kann (DHS, 2017). Im Jahr 1995 wurden in der Schweiz 376 drogenbedingte Todesfälle gemeldet, von denen mehr als drei Viertel der Betroffenen zwischen 20 und 34 Jahre alt waren (Suchtmonitoring Schweiz, o. D.). Diese hohe Mortalitätsrate kann allenfalls auf die Unreinheit von Strassenheroin und die Schwierigkeit, die Dosis abzuschätzen, zurückzuführen sein (Teesson, Degenhardt & Hall, 2008, S. 15). 1.3.4 Folgen Aus medizinischer Sicht ist der Konsum von reinem Heroin nicht organschädigend, so dass der langfristige Heroinkonsum im Grunde nicht lebensbedrohlich ist (Weber & Raschke, 1994, S. 72). Die häufigsten schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen werden durch den Ge- brauch von unsterilen Spritzen bzw. durch das Teilen von Spritzenbesteck („needle sharing“) verursacht (Gesundheit.gv.at., 2020). An Injektionsstellen können sich Infektionen bilden, Ve- nenschädigungen können auftreten, die zu Herzentzündungen führen können, und es können Krankheiten übertragen werden wie Hepatitis oder HIV (Gesundheit.gv.at, 2020; Weber & Raschke, 1994, S. 74–75). Neben psychischen Folgen wie Depressionen und Angstzuständen verursacht zumeist der langfristige Heroinkonsum auch soziale Probleme (Janczak & Wendelmuth, 1994, S. 109; Ver- thein, 1994, S. 87). Soziale Probleme wie Armut, Obdachlosigkeit oder Arbeitslosigkeit entste- hen vor allem durch die Beschaffungskriminalität. Der Beschaffungsdruck bei Heroinabhän- gigkeit ist sehr hoch und mit enormen Kosten verbunden. Um die Abhängigkeit finanzieren zu können, verschiebt sich die Beschaffung von Geld oft von legal zu illegal. Dies führt dazu, dass Heroinabhängige mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Psychische Abhängigkeit führt in einigen Fällen zu sozialer Isolation. Dies äussert sich oft in der Abgrenzung von Familie und Freunden, wodurch häufig nur noch Kontakt zu anderen Betroffenen besteht (Janczak & Wendelmuth, 1994, S. 109). Offene Drogenszene Zürich
17 1.3.5 Heroinabhängigkeit und Erklärungsmodell Sucht-Trias Wie bereits erwähnt, birgt der Heroinkonsum ein hohes Potenzial für eine psychische und physische Abhängigkeit in sich. Bereits nach zwei Wochen regelmässigen Konsums kann eine körperliche Heroinabhängigkeit auftreten (Drogen.net, o. D.). Die WHO hat internatio- nale statistische Klassifikationen der Krankheitsfaktoren und verwandter Gesundheitsprob- leme im ICD 10 erstellt, die wie folgt lauten (Krause, 2012, S. 13–14): 1. Ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen 2. Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren 3. Anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen 4. Vorrang des Substanzgebrauchs gegenüber anderen Aktivitäten und Verpflichtungen 5. Toleranzerhöhung 6. Körperliche Entzugssymptome Wenn drei dieser sechs Kriterien innerhalb der letzten 12 Monate erfüllt sind, spricht man von einer Heroinabhängigkeit (Krause, 2012, S. 13–14). Eine Heroinabhängigkeit kann verschiedene Ursachen haben, die oft nicht so spektakulär er- scheinen und sich als gewöhnliche Motive herausstellen (Scheerer, 1989, S. 292). Nach Scheerer (1989, S. 292) können die Verfügbarkeit von Heroin, die Neugierde, etwas Unbe- kanntes auszuprobieren, der Wunsch nach angenehmen Gefühlen und Vorbildern oder Freunde, die Heroin konsumieren, oder mit anderen Worten „Lernen am Modell“ Motive und Faktoren sein, die eine Drogenkarriere begünstigen. Es ist erkennbar, dass die Motive unter- schiedlich begründet sind und dass es nicht nur eine Ursache für die Heroinabhängigkeit gibt. Aus diesem Grund wird im folgenden Abschnitt die Heroinabhängigkeit mit einem spezifischen Erklärungsmodell untersucht, das verschiedene Faktoren im Leben eines Menschen beleuch- tet, um die Gründe und Ursachen der Heroinabhängigkeit zu identifizieren. Insbesondere für Professionelle, die mit drogenkonsumierenden Menschen arbeiten, hilft die Perspektive des Erklärungsmodells, um einen Einblick in die individuelle Lebenswelt der Drogenabhängigen zu gewinnen, was wiederum bessere Interventionen ermöglicht. Seit Anbeginn der Menschheit gab es immer schon den Konsum psychoaktiver Substanzen zur Bewusstseinserweiterung oder zur Beeinflussung des Gefühlszustandes (Vogt & Schee- rer, 1989, S. 3). Nun stellt sich die Frage, warum es Menschen gibt, bei denen es bei einem einmaligen Gebrauch von psychoaktiven Substanzen bleibt und sich bei anderen eine Abhän- gigkeit entwickelt. Für die Frage nach der Ursache einer Abhängigkeit gibt es viele unter- schiedliche Erklärungsmodelle. Jede Abhängigkeit gilt es in ihrem Einzelfall zu analysieren, und es müssen verschiedene Bedingungsfaktoren berücksichtigt werden (Sting & Blum, 2003, S. 33). Eine Heroinabhängigkeit entsteht nicht nur durch eine einzige Ursache. Es spielen Offene Drogenszene Zürich
18 mehrere Faktoren eine Rolle, die zu einer Abhängigkeit führen oder, wie Sting & Blum (2003, S. 34) es nennen: „Sucht ist […] ein multifaktorielles Geschehen.“ Aus diesem Grund unter- sucht die vorliegende Arbeit in diesem Teil mit Hilfe des bio-psycho-sozialen Modells, in die- sem Kontext auch Sucht-Trias genannt (siehe Abb. 1), die Faktoren, die eine Heroinabhängig- keit fördern. Dieses Erklärungsmodell berücksichtigt die psychischen, sozialen und biologi- schen Bedingungen einer Person (Sucht Schweiz, 2013, S. 3). Abb. 1: Trias der Suchtursache. Anmerkung. Sting & Blum, 2013 S. 35. Der erste Teil dieses Modells befasst sich mit der drogenabhängigen Person selbst. Auf dieser Ebene wird geklärt, ob die Person eine genetische Veranlagung der Neurotransmitter-Produk- tion im Zentralnervensystem hat, welche eine Substanzabhängigkeit begünstigt (Netter, 2000 zitiert nach Sting & Blum, 2003, S. 33). Die genetische Disposition allein muss jedoch nicht zu einer Abhängigkeit führen. Auch die Persönlichkeitsmerkmale spielen eine wichtige Rolle. Ul- rich (2000b, S. 93) nennt Merkmale wie Introvertiertheit, geringes Selbstwertgefühl, Instabilität, Lust- und Spielgewohnheiten sowie eine geringe Frustrationstoleranz, die das Risiko einer möglichen Abhängigkeitsentwicklung begünstigen. Heroinabhängige beschreiben aber auch die Neugierde und Anziehungskraft des Verbotenen, das Infragestellen und die veränderte Sinneswahrnehmung als Ursache ihres Heroinkonsums (Schnyder, 1992, S. 12). Reis (2016, S. 25) erwähnt die Begriffe „Vulnerabilität“ und „Resilienz“ im Zusammenhang mit den Persönlichkeitsmerkmalen. Damit ist die Konstellation bestimmter Faktoren gemeint, die Offene Drogenszene Zürich
19 ein Abhängigkeitsrisiko fördern (Vulnerabilität) oder verringern (Resilienz) (Reis, 2016, S. 25). Auch prägende frühkindliche Erfahrungen haben einen grossen Einfluss auf die Entwicklung einer Abhängigkeit (Sting & Blum, 2003, S. 34). Ein Mensch durchläuft in seinem Leben ver- schiedene Entwicklungsphasen. Bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben zeigen Menschen eine besondere Vulnerabilität. Nach Reis (2016, S. 29) zeigt sich, dass Menschen, die unter einer Abhängigkeit leiden, in ihrer Biografie oft unbewältigte Entwicklungsphasen aufweisen. Frühkindlich geprägte Lebenserfahrungen nennt Sting & Blum (2003, S. 34) ebenso als einen wichtigen Faktor, welcher Einfluss auf das Abhängigkeitspotenzial haben kann. Der zweite Bereich des Modells befasst sich mit der Droge bzw. dem Heroin. Auf dieser Ebene wird die Verfügbarkeit von Heroin sowie der Substanzgruppe, zu der es gehört, untersucht (Sting & Blum, 2003, S. 33). Zwischen 1990 und 2000 wurden in der Schweiz jedes Jahr 186– 372 kg Heroin beschlagnahmt (Grob, 2018, S. 111). Daraus lässt sich schliessen, dass es eine enorme Verfügbarkeit der Substanz gab. Berücksichtigt werden im Modell auch die Dosis, die Art des Konsums und die Wirkung von Heroin (Sting & Blum, 2003, S. 33). Die soziale Umwelt einer Person bildet den dritten Bereich im Modell der Sucht-Trias. Dieser wird in das „soziale Umfeld“ und die „Gesellschaft“ unterteilt. Im sozialen Umfeld spielt die familiäre Situation eine grosse Rolle. Es werden Fragen untersucht wie: „Gibt es bereits eine Abhängigkeitsbelastung in der Familie?“ oder „Gibt es eine prekäre familiäre Situation auf- grund von Tod oder Krankheit?“ (Sting & Blum, 2003, S. 34). Die Familie ist aber nicht der einzige entscheidende Faktor. Peer-Groups haben einen grossen Einfluss auf eine Person, vor allem in der Adoleszenz. Drogenkonsum innerhalb einer Gruppe kann den Zusammenhalt stärken, indem man sich von den Erwachsenen abgrenzt (Ulrich, 2000b, S. 92). Fehlende soziale Ressourcen oder Stress in der Schule, Ausbildung, Beruf oder in Beziehungen können ebenfalls zu einem erhöhten Abhängigkeitsrisiko beitragen (Sting & Blum, 2003, S. 34). Beim zweiten Element des Bereichs „soziale Umwelt“, der Gesellschaft, geht es in erster Linie um die Werte und Normen einer Gesellschaft, die dazu beitragen, ob eine psychoaktive Sub- stanz akzeptiert oder abgelehnt wird, was anhand der vorherrschenden Drogenpolitik ersicht- lich wird. Wettbewerbs- und leistungsorientierte Gesellschaften können das Risiko einer Ab- hängigkeit erhöhen (Sting & Blum, 2003, S. 34). Offene Drogenszene Zürich
20 1.4 Drogenszene am Beispiel der Heroinszene „Beim Letten versammelte sich die grösste Drogenszene Europas“ (Hebel, 2019). Dies war eine Schlagzeile im „Tagblatt Zürich“, die sich auf die damalige Heroinszene in Zürich in den Jahren 1992 bis 1995 bezog (Hebel, 2019). In Anbetracht der Fragestellung wird in diesem Unterkapitel beschrieben, was unter einer Drogenszene zu verstehen ist und welche Merk- male sie aufweist. Zudem wird im spezifischeren noch darauf eingegangen, was genau unter einer Heroinszene verstanden wird und welche Risiken sie in sich birgt. Auf die Entwicklung, die Erfahrungen und die Auflösung der damals offenen Drogenszene in Zürich wird erst im zweiten Kapitel näher eingegangen. Ziel dieses Unterkapitels ist es, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was genau mit dem Begriff Drogen- bzw. Heroinszene gemeint ist und welche Folgen die Zugehörigkeit zu einer Heroinszene haben kann. Um verstehen zu können, was eine Drogenszene ist, muss zunächst der Begriff „Szene“ defi- niert werden. Nach Jungblut (2004, S. 213) ist eine Szene ein sozialer Kontext, der durch eine bestimmte Mode oder Lebensweise geprägt ist. Es handelt sich um eine Form eines Netz- werks mit einer unbestimmten Anzahl von Beteiligten, die sich vergemeinschaften (Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 15). Demnach ist eine Drogenszene eine soziale Gruppierung, die durch ihre Lebensweise geprägt ist und durch legale und/oder illegale Drogen strukturiert ist (Jungblut, 2004, S. 213). Kreuzer (1998, S. 194) definiert die Drogenszene als eine Subkultur, in der bestimmte Verhaltensmuster, Weltanschauungen und Einstellungen erlernt werden kön- nen. Eine Subkultur wird als Teil der Hauptkultur gesehen, die durch Verhaltensmuster, Werte, Sprache oder deren Aufenthaltsort abgegrenzt ist. Es wird unter drei verschiedenen Subkultu- ren unterschieden. Die kriminelle Subkultur, die Konfliktsubkultur und die Subkultur des Rück- zugs, wobei der letzteren die Drogensubkultur zugeordnet wird (Bohle, 1984, S. 4 zitiert nach Jungblut, 2004, S. 214). Die Subkultur des Rückzugs unterscheidet sich von den beiden an- deren Subkulturen dadurch, dass sie die legitimen oder illegitimen Mittel ablehnt, die zur Er- reichung gesellschaftlicher Gratifikationen notwendig sind (Bohle, 1984, S. 4 zitiert nach Jung- blut, 2004, S. 214). Nach Scheerer (1989, S. 286) ist die Begriffsgleichsetzung von Drogen- szene und Drogensubkultur nicht ganz korrekt. Der Unterschied liegt in der strikten Zugehö- rigkeit. Während sich eine Subkultur klar von anderen Kulturen abgrenzt und man nur dazu- gehören oder nicht dazugehören kann, hat die Zugehörigkeit zu einer Drogenszene ver- schwommene Grenzen. In einer Drogenszene kann man manchmal mehr und weniger teil- nehmen (Scheerer, 1989, S. 286). Ein Merkmal einer (Drogen-) Szene ist daher der problem- lose Ein- und Ausstieg. Ein weiteres Merkmal einer Drogenszene ist die Droge selbst, auf welche sich das Interesse der Szenenmitglieder und ihre Aktivitäten richtet (Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 16–17). Man wird nicht in eine Szene hineingeboren oder in sie hineinsozialisiert. Man entscheidet sich Offene Drogenszene Zürich
21 für die Teilnahme an einer Szene aufgrund gemeinsamer Interessen (Hitzler & Niederbacher, 2010, S. 17). Nach Scheerer (1989, S. 286) lassen sich Szenen in Freizeitszenen und Lebens- stilszenen unterteilen. Eine Freizeitszene dient dazu, vom stressigen Alltag abzulenken, indem man gemeinsam Vergnügen organisiert. Lebensstilszenen hingegen nehmen einen grossen Teil der Zeit der Angehörigen in Anspruch und können Weltdeutungen und Lebensentwürfe gestalten, die mit jenen der Hauptgesellschaft konkurrieren. Nach Scheerer (1989, S. 286) wird die Heroinszene einer Lebensstilszene zugeordnet. Von einer offenen Drogenszene spricht man dann, wenn sich eine grosse Zahl von Drogen- konsumentinnen und Drogenkonsumenten im innerstädtischen Bereich aufhalten und der Handel und Konsum illegaler Drogen in der Öffentlichkeit stattfindet (Weber, 2011, S. 10; Suchtmittel.de, o. D.). Die damalige Drogenszene auf dem Platzspitz und später auf dem Let- ten kann demnach als offene Drogenszene klassifiziert werden, da sich der Platzspitz-Park und der Letten in der Nähe des Zürcher Bahnhofs befinden und damals offen Heroin und an- dere psychoaktive Substanzen konsumiert wurden. Die Heroinszene zeichnet sich insbesondere durch das gemeinsame Interesse der Angehöri- gen der Szene am Heroinkonsum aus. Sie nimmt einen Grossteil des Lebens der Angehörigen in Anspruch und stellt für viele von ihnen ein Zuhause dar. Auch ein ehemaliger Heroinabhän- giger beschrieb im „Tagblatt Zürich“ die offene Drogenszenen auf dem Letten als Heimat (He- bel, 2019). Dies stünde im Einklang mit der Aussage von Niederbacher & Zimmermann (2011, S. 146), wonach die Teilnahme an einer Szene ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit hervorrufen kann. Heroinszenen entstanden vor allem in den 1970er Jahre in Städten. Ursprünglich war Canna- bis die Hauptsubstanz, die in Drogenszenen konsumiert wurde. Sie war ein Ausdruck des jugendpolitischen Protests. Die Jugendlichen fanden sich in Gruppen zusammen, um einen alternativen Lebensstil zu praktizieren. Sie suchten die Werte des kurzfristigen Hedonismus und der Expressivität (Jungblut, 2004, S. 222). Dies deckt sich mit der Aussage von Doehle- mann (2013): Oft ist diese Zeit eine Zeit der Unruhe, inneren Spannungen und Widersprüchlichkeiten. Zwischen Revolte und Abhängigkeit, zwischen unbändigen Freiheitsgefühlen und ängstlichem Rückzug, zwischen Empfindungen auswegloserer Leere und freudiger Erfülltheit schwanken viele Jugend- liche bei der Suche nach einem eigenen Leben, nach Lebenssinn und Lebensstil, hin und her (S. 113). Offene Drogenszene Zürich
22 Als Cannabis immer weniger und Heroin immer mehr auf dem Markt verfügbar wurde, sind einige Cannabiskonsumentinnen und Cannabiskonsumenten auf die neue, harte Droge Heroin umgestiegen. Viele distanzierten sich aber auch von der Szene (Jungblut, 2004, S. 224). Die Heroinabhängigen, die in der Szene blieben, zahlten den Preis dafür. Viele von ihnen litten unter gesundheitlicher wie sozialer Verelendung und glitten in eine kriminelle Karriere ab, um ihre Drogenabhängigkeit zu finanzieren. Der Charakter der Heroinszene veränderte sich. Sie wurde zu einem Ort der sozialen Isolation und Gewalt (Jungblut, 2004, S. 225). Einige Fixe- rinnen und Fixer in der Heroinszene berichten jedoch paradoxerweise, dass sie das Leben in der Szene als befriedigend erlebt haben und es nicht missen wollten. Der Fixeralltag ist ge- prägt von einer Fülle von Aktivitäten, die soziale Fähigkeiten erfordern. Unter Prohibitionsbe- dingungen ist die Droge schwer zu erlangen, weshalb sich die Fixerinnen und Fixer im Alltag auf verschiedene Beschaffungswege konzentrieren müssen, die mit einem hektischen Le- bensrhythmus verbunden sind (Bossong et al., 1983, zitiert nach Scheerer, 1989, S. 298). Die Angehörigen einer Heroinszene sind in ihrer Teilhabe an anderen Sozialisationskontexten wie Schule, Arbeit oder Ausbildung oft durch ihre von der Gesellschaft zugewiesene Rolle als Junkie eingeschränkt (Scheerer, 1989, S. 298). Hinzu kommt, dass Heroinkonsumierende in der Regel unter ständigem Beschaffungsdruck leiden und ihnen daher die zeitlichen Ressour- cen fehlen, um neue soziale Kontakte zu schliessen (Jungblut, 2004, S. 228–229). Die Fixe- rinnen und Fixer sind von der Gesellschaft ausgeschlossen und werden durch soziale Kontrol- len eingepfercht und kontrolliert (Noller, 1989, S. 75 zitiert nach Jungblut, 2004, S. 229). Die ständige Angst vor Verfolgung aufgrund der Kriminalisierung ihres Konsums wirkt sich negativ auf ihren psychosozialen Zustand aus (Jungblut, 2004, S. 238). Der Zustand der Verelendung der Heroinszenenangehörigen wird vor allem seit den 1990er Jahren von den Professionellen der Suchthilfe mit dem Konzept der „Niederschwelligkeit“ zu verringern versucht (Jungblut, 2004, S. 225). Dieses Konzept wird im Unterkapitel 3.2.2 näher beschrieben. Offene Drogenszene Zürich
23 2. Offene Drogenszene Zürich bis zur Vier-Säulen-Politik Wenn man Platzspitz oder Letten sagt, denkt man sofort an Drogen. „Fixerparadies“ oder „Spritzenhölle“ wurden als Synonyme für den Platzspitz verwendet (Schnyder, 1992, S. 19). Aber wie konnte es passieren, dass in Zürich, im einst friedlichen Park im Herzen der Stadt und nur wenige Schritte von der Bahnhofstrasse entfernt, ein solches Elend stattfinden konnte? Um diese Frage zu beantworten, bietet dieses Kapitel eine chronologische Beschrei- bung der historischen Ereignisse der offenen Drogenszene. Um den Ursprung der offenen Drogenszene am Platzspitz und später am Letten nachvollziehen zu können, beginnt dieses Kapitel mit der Achtundsechziger-Bewegung und mit deren Einfluss auf die Schweiz und endet mit der Schliessung des Letten und der Einführung der Vier-Säulen-Politik. 2.1 Vorgeschichte Die Achtundsechziger-Bewegung und ihr Einfluss auf die Schweiz wird in verschiedenen Quel- len als Ursprung der späteren Drogenmisere in Zürich beschrieben. Die damalige Drogenepi- demie interpretieren viele als Folge einer verfehlten Drogenpolitik (Grob, 2018, S. 9). Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich die offene Drogenszene entwickelt hat, ist es erfor- derlich, einen Blick auf die Achtundsechziger-Bewegung zu werfen. Die historische Entwick- lung dieser Bewegung und ihr Einfluss auf die Schweiz bzw. auf Zürich wird nur kurz themati- siert. 2.1.1 Einfluss der Achtundsechziger-Bewegung auf die Stadt Zürich Die Achtundsechziger-Bewegung war global und wurde vor allem von der Jugend geprägt, die sich von der „alten Gesellschaft“ lösen und neue Wege finden wollte, um die Welt zu verbes- sern (Grob, 2018, S. 13). Die Hippie-Bewegung war eine der vielen Achtundsechziger-Bewe- gungen. Sie verherrlichte den Konsum von Drogen, insbesondere von LSD und später auch von Heroin und Kokain, als Zeichen der Auflehnung gegen das System (ebd.). In Zürich gab es die Achtundsechziger-Bewegung auch, die sich aus verschiedenen autonomen Jugend-, Studenten- und Künstlergruppen zusammensetzte (ebd. S. 15). Die Gruppen kämpften gegen die herrschende, als autoritär und repressiv empfundene Politik und forderten mehr Raum für ihre Veranstaltungen und Begegnungen, was jedoch von der Stadt Zürich abgelehnt wurde (Grob, 2018, S. 15; Schmid, 2001, S. 353). Die Jugend- und Studentengruppen reagierten auf die Ablehnung mit Demonstrationen. Im Jahr 1968 gab es die sogenannte Globuskrawalle, die mehrere Tage dauerten und zu mehreren Verletzten und 169 Verhaftungen führte (Grob, 2018, S. 16). Die Stadt Zürich reagierte schliesslich auf die Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten und stimmte dem Umbau eines Hauses in ein Autonomes Jugendzentrum Offene Drogenszene Zürich
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