OUT OF DAHLEM - IM DIENST VON MENSCH UND TIER MAGAZIN DES ASTA DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN NR. 10 / DEZEMBER 2009 - ASTA FU

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OUT OF
DAHLEM
Magazin des AStA der Freien Universität Berlin
Nr. 10 / Dezember 2009

Im Dienst
von Mensch
und Tier
AStA-Beratungen
                                       Bafög-Beratung                    Medienwerkstatt
Sofern nicht anders angegeben          Telefon: (030) 839 091-12         Telefon: (030) 839 091-11
finden alle Beratungen im AStA-
                                       Beratung für behinderte und       Rechtsberatung
Haus, Otto-von-Simson-Straße 23                                          Telefon: (030) 839 091-0
                                       chronisch kranke Studierende
(gegenüber der Mensa II, Silberlau-    Raum JK29/202, Silberlaube        Keine telefonische Beratung, keine
be) statt. Aktuelle Sprechzeiten auf   Telefon: (030) 838 56 203         Mieter_innen-Beratung. Vorherige
www.astafu.de oder beim Info-          E-Mail: astabehindertenberatung   Anmeldung im Info-Büro.
büro-Dienst.                                   @astafu.de
                                                                         Schwulen-, Bisexuellen-
                                       Fachschaftsreferat                und Transgender-Beratung
                                       E-Mail: fsref@astafu.de           Telefon: (030) 839-091-18
                                                                         Online: www.gaycampus.de/beratung
Infobüro im AStA-Haus                  Frauenreferat                     E-Mail: schwulenberatung
Montag—Freitag, 10.00—18.00 Uhr;       Telefon: (030) 839 091-23                 @gaycampus.de
außerhalb der Vorlesungszeit:          E-Mail: frauen@astafu.de
Montag—Donnerstag, 11.00—16.00 Uhr,                                      Semesterticketbüro
Freitag, 13.00—16.00 Uhr               Hochschulberatung                 Thielallee 36 (im Keller
Telefon: (030) 839 091-0               Telefon: (030) 839 091-12         des Capitol-Kinos)
Fax: (030) 831 45 36                   E-Mail: hochschule@astafu.de      Telefon: (030) 839 091-40
E-Mail: info@astafu.de                                                   Online: www.astafu.de/semtixbuero
                                       Lesbisch-feministische            E-Mail: semtixbuero@astafu.de
Ausländer_innen-Beratung               Information und Service (LIS)
Telefon: (030)839 091-17               Telefon: (030) 839 091-23         Sozialberatung
E-Mail: aref_fu@yahoo.de                                                 Telefon: (030) 839 091-12

            Wähle dein
          Studierendenparlament
            12.—14. Januar 2010
                                 Infos: web.fu-berlin.de/zwv
Impressum
     O UT OF
     DAHLEM

                                               Editorial
                                                     Liebe lesenden Menschen,
                                                     und liebe
OUT OF DAHLEM                                                 Schafe auf den Anwesenheitslisten,
Magazin des AStA                                              Käfer in der Borke,
der Freien Universität Berlin                                 Vögel in den Köpfen,
Ausgabe Nr. 10,                                               Pferde auf der Domäne Dahlem,
Wintersemester 2009/2010
                                                              Nachteulen im Hörsaal,
                                                              Ratten auf dem Schiff,
Herausgeber_in
                                                              Eichhörnchen im AStA-Garten!
AStA der Freien Universität Berlin
Otto-von-Simson-Straße 23
                                                     Diesmal gehts um
14195 Berlin,
Telefon: (030) 839 0910                                      Falken in Kolumbien,
Online: www.astafu.de                                        Bullen auf dem Campus,
                                                             Schweine im Versuchslabor,
Redaktion                                                    Würmer im Bildungssystem,
Öffentlichkeitsreferat AStA FU,                               Hummeln im Arsch oder
Peter Flüh, Falko Grothe, Harald Herbich,                    Fischköppe in Hamburg.
Frauke Liebertz, Kai Kampmann,                               Und noch mehr.
Felix Koch
Kontakt: oeffref@astafu.de                            Viel Spaß beim Überfliegen,
                                                     Kaffeeklecksen und Lesen,
Gestaltung/Illustrationen:                           die Redaktion
Kai Kampmann

Titelfoto:
Michael Schulz

Druck
AStA-Druckerei

Belichtung
Medienraum, RefRat
der Humboldt-Universität

Auflage 5000 Exemplare

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Mitglieder selbiger wider.

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                                                                           Bündnis für freien Bildung:
                                                                           www.freie-bildung-berlin.de
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                                            blogsport.astafu.de            gegen Studiengebühren:
                                            Kurzinfos:                     www.abs-bund.de
                                            twitter.com/astafu             Bündnis für Politik-
                                            Fachschaftsinitiativen:        und Meinungsfreiheit:
                                            fachschaftsinitiativen.de.vu   www.studis.de/pm
Inhalt

     6
  Die Axt im Walde
  Studi-Proteste in                           10
  Wien stören den                            Ich hab noch einen
                                             Koffer in Berlin.
  »Uni-Frieden«
                                             Oder Hamburg
                                             Dieter Lenzen auf
                                             dem Weg ins
                                             Abenteuerland

                      14
                     Wem gehört die
                     Uni? Von einem
                     Präsidenten-Port-
                     rait, das keines war
                                              22
                                            Kein Einzelfall
                                            Zum alltäglichen
                                            Rassismus
                                            an der FU

                      26
                     Überleben statt
                     schönes Leben
                     Ein Gespräch über
                                                 32
                                               Im Dienst von
                     Militär auf dem           Mensch und Tier
                     Campus und neo-           Die folgenreiche
                     liberale Reformen         Kooperation von
                     in Kolumbien              Boehringer
                                               Ingelheim und
                                               der Tierärztlichen
                                               Hochschule
                                               Hannover

Foto: Kai Kampmann
38
Und alle finden‘s gut
Anmerkungen zur
Welle von
Hörsaalbesetzungen
                                  41
                                Edi Bese Es gibt
                                kein richtiges Leben
                                im falschen
                                Bildungssystem

                42
              Streiken für
              veredelte
              Konkurrenz
              in Schule und
                                  45
                                Aneignen statt
              Hochschule
                                Enteignen
              Bildungsstreik
                                Besetzung der
              2009
                                Villa BEL an der
                                TU Berlin

                50
              Kafka in Dahlem
              Zu den Folgen
              der Proteste
              anlässlich der
              Immafeier 2008
Die Axt im Walde
Studierendenproteste in Österreich
stören den »universitären Frieden«
                                      Text: Markus Schauta

»Akademie besetzt!« (20.10.2009) Aufge-        Bald darauf verlagert sich die Demonstration
brachte Studierende besetzen die Aula der      in die Uni. Weitere Student_innen schlie-
Akademie der bildenden Künste in Wien. Die     ßen sich dem Protestmarsch an. Das Ziel
Aktion richtet sich vor allem gegen die Ein-   steht rasch fest: Das Auditorium Maximum,
führung einer Bachelor/Master-Struktur an      größter Hörsaal der Uni Wien. Die dort statt-
der Akademie.                                  findende Biologie-Vorlesung wird unterbro-
                                               chen. Nach einer Abstimmung ist es klar: Das
»Wessen Uni? – Unsere Uni!« (22.10.2009)       Audimax ist besetzt!
Im Sigmund-Freud-Park vor der Universität
Wien versammeln sich gegen Mittag mehrere      »Die Uni brennt!« In den darauf folgenden
hundert Studierende. Mit ihrem Protest wol-    Tagen springt der Funke auf andere Unis
len sie auf die untragbaren Zustände an den    über: Student_innen in Graz, Klagenfurt,
Universitäten aufmerksam machen.               Salzburg, Innsbruck und Linz solidarisieren
                                               sich mit der Protestbewegung. Es werden
                                               weitere Hörsäle besetzt. Österreichweit sind
6 OUT OF DAHLEM                                derzeit acht Unis besetzt.
Seit drei Wochen wird in den Medien täglich    denen die Proteste unterstützt werden. Es
über die Protestbewegung berichtet. Da         tut sich was an den Unis und die Regierung
rauscht es auch ganz gehörig im Boulevard-     wird das auf Dauer nicht ignorieren können.
Blätterwald: Die Kronen Zeitung unter der
Knute des alten Hans (Dichand), berichtet in   Das Audimax – Aushängeschild
erwartet tendenziöser Manier. Als auflagen-     der Protestbewegung
stärkste Tageszeitung Österreichs schreibt
sie den Lesern täglich neue Klischees von      Die Österreichische Hochschüler_innen-
saufenden, randalierenden und arbeits-         schaft (ÖH) unterstützt die Proteste, hat
scheuen Student_innen ins Blatt.               diese aber nicht initiiert. Und das ist gut so.
                                               Denn damit ist die Gefahr, dass die Bewe-
Dazu passen Sager wie der vom ÖVP-Chef         gung von partei-politischen Überlegungen
und Finanzminister Pröll, er »werde nicht      gesteuert wird, erheblich vermindert. Dem
zulassen, dass lautstarke Gruppen versu-       Wissenschaftsminister Hahn und einigen
chen, die Politik, das Land und die Steuer-    Rektoren ist dies bewusst. Daher fordern sie
zahler in Geiselhaft zu nehmen.«               mit lauter Stimme die ÖH an die Verhand-
                                               lungstische. Die Studierenden verlangen
Die Regierung versucht die Schuld am Uni-      jedoch ein Ende der Phrasendrescherei und
Debakel auf die deutschen Student_innen        der Leersätze. Die Regierung soll ihre Ver-
zu schieben. Diese machen aber gerade mal      antwortung wahrnehmen und sich ernsthaft
7% der Studierenden in Österreich aus. Der     mit den Problemen im Bildungssektor ausei-
wahre Grund für die Misere ist das Versagen    nandersetzen. Als Gesprächspartner ist nicht
der Regierenden, die seit Jahren die sich      die ÖH, sondern das Plenum anzusehen.
ständig verschlechternden Zustände geflis-
sentlich ignorieren.                           Das Plenum entscheidet
                                               und das Plenum sind wir!
Diesem Negativbild, aufgebaut von Vertre-
ter_innen der Regierung und der Kronen         Im Audimax wird täglich ein Plenum abge-
Zeitung, wird von den Protestierenden ent-     halten. Dort wird über Anträge abgestimmt,
schieden widersprochen. Denn der Erfolg        die von Arbeitsgruppen oder Einzelpersonen
der Protest-Bewegung hängt nicht zuletzt       eingebracht werden. An den Plenarsitzungen
vom Meinungsbild der Bevölkerung ab. Zu-       kann jeder teilnehmen. Die Basisdemokratie
sätzlich zum üblichen Print-Material (darun-   verhindert, dass einige wenige sich zu Füh-
ter eine eigene Zeitung) wird vor allem der    rer_innen der Bewegung stilisieren.
virtuelle Raum zum Protest-Ort. Allabendlich
beteiligen sich mehrere tausend Personen       Im Audimax finden aber nicht nur Plenarsit-
über Livestream an der Besetzung des Audi-     zungen statt. Das Audimax ist auch Politbüh-
max. Mehr als 30 000 User tummeln sich auf     ne: Schriftsteller wie Klaus Werner-Lobo und
der Facebook-Seite der Protestbewegung.        Robert Menasse treten hinter das Redner_in-
Die Website unsereuni.at verzeichnet weit      nenpult und solidarisieren sich mit der Be-
über eine Million Aufrufe (eine Hack-Attacke   wegung. Die Viennale-Premiere des Doku-
ändert daran nichts). Die Protestierenden      mentarfilms über Ute Bock, Gründerin des
sind über Twitter (#unibrennt), Chat und       Vereins Flüchtlingsprojekt, wurde im Hörsaal
Skype miteinander vernetzt.                    ausgestrahlt.

Dass die Proteste auch außerhalb der Unis      Stermann und Grissemann wollen ihre Fern-
auf breite Zustimmung stoßen, zeigen die       sehshow aus dem besetzten Audimax über-
mehr als 5000 Solidaritätserklärungen. Lau-    tragen. Gustav und Anti-Flag unterstützten
fend langen Sach- und Geldspenden ein, mit     die Proteste mit ihrer Musik.

                                                                          OUT OF DAHLEM 7
Foto: Kai Kampmann

Werdet aktiv!                                 test-Zeitung. Diese informiert die Öffentlich-
                                              keit über die Anliegen der Bewegung. Andere
Bereits am zweiten Tag der Besetzung be-      Arbeitsgruppen kümmern sich um die not-
ginnen sich Arbeitsgruppen zu bilden. Dort    wendige Infrastruktur: Die Volksküche ver-
werden (bildungs-)politische Forderungen      pflegt täglich etwa 1500 Personen rund um
ausgearbeitet und dem Plenum vorgelegt.       die Uhr mit warmer Mahlzeit. Rechtshilfe
Auf Gleichberechtigungs-Defizite im uni-       und (psychologische) Erstversorgung stehen
versitären System aber auch innerhalb der     zur Verfügung. Die AG Müll (bei der letzt-
Bewegung, wird hingewiesen. Die AG Presse     endlich alle Studierenden mitmachen) sorgt
betreibt unermüdlich Öffentlichkeitsarbeit.    mit Putzmaschinen, Besen und Müllsäcken
                                              für Sauberkeit.
Auch kreativer Protest findet statt: So wer-
den Postkarten gedruckt, um diese den Zu-     Reaktionen aus der Politik
hause-Gebliebenen aus dem »Urlaub Audi-
max« zu schicken. Theatergruppen machen       Nachdem der Wissenschaftsminister die
durch Freeze-Aktionen in der Stadt auf die    Protestaktion zunächst ignoriert hat, zeigt
Anliegen der Studierenden aufmerksam.         er nun medienwirksam Einsatz für die Unis.
                                              35 Mio. Euro will er aus eine Reserve für
Als Gegengewicht zur Propaganda der Kro-      Ausnahmesituationen locker machen. Damit
nen Zeitung erscheint wöchentlich eine Pro-   soll »die Bewältigung dieser zu Semester-

8 OUT OF DAHLEM
beginn aufgetretenen Ausnahmesituation«         hoffen. In einem dringlichen Antrag wollen
ermöglicht werden. – Ein Hohn gegenüber         die Grünen mehr Geld für die Unis fordern.
jenen, die schon seit Jahren die Unterfinan-     Dadurch soll die langfristige Finanzierung
zierung der Unis anprangern! Darüber hinaus     der Universitäten sichergestellt werden.
viel zu wenig. Den Unis fehlen eine Milliarde   (Derzeit wird in Österreich nur 1,3% des
Euro pro Jahr. Nur so kann ökonomische          Bruttoinlandsprodukts den Hochschulen zur
Freiheit der Unis im Sinne von Freiheit von     Verfügung gestellt.)
der Wirtschaft gewährleistet werden. – Freie
Forschung und Lehre ohne Vorgaben durch         Zwischen den Besetzer_innen des Audimax
die Wirtschaft!                                 und dem Rektorat der Uni Wien gibt es im-
                                                mer noch keinen Gesprächstermin. In einem
Mittlerweile sind sich scheinbar viele Poli-    Brief an das Rektorat wurde mitgeteilt, dass
tiker_innen einig, dass etwas an den Unis       Verhandlungen nur in direkter Kommunikati-
ganz gewaltig schief läuft. Nachdem die Re-     on mit dem Plenum geführt werden würden.
gierenden die Unis jahrelang kaputt gespart
haben, sehen sie nun die einzige Lösung in      Was bleibt zu tun?
einer Verminderung der Studierendenzahlen.
Zugangsbeschränkungen und Aufnahmehür-          Nur wenn Vertreter_innen aller Bildungs-
den sollen aus dem öffentlichen Raum Uni         einrichtungen an einem Strang ziehen, kann
mehr und mehr einen Raum der Eliten, einen      etwas bewegt werden. Die Bildungsmisere
Raum für wenige, machen.                        betrifft nicht nur die Unis. Auch in den Kin-
                                                dergärten und Schulen herrscht Mangel an
Für den 25. November ruft der Wissen-           Betreuungspersonal und muss über besse-
schaftsminister Hahn zu einem Dialog Hoch-      re Strukturen nachgedacht werden! Diese
schulpartnerschaft. Bedenkt man aber, dass      Forderungen müssen nach außen getragen
Hahn bald seinen Job in Brüssel antreten        werden, damit die Bevölkerung versteht,
wird, erscheint das eher als eine Hinhalte-     dass es sich hierbei nicht nur um die überzo-
taktik als ein ernst gemeinter Dialog.          genen Ansprüche abgehobener Studieren-
                                                der handelt. Die aufgezeigten Probleme im
Ob die von den Grünen beantragte Natio-         Bildungssystem betreffen alle!
nalratssondersitzung zum Thema Notstand
an den Universitäten etwas bewirkt, bleibt zu   Solidarische Grüße aus Wien!

                                                                         OUT OF DAHLEM 9
Ich hab‘ noch einen Koffer
in Berlin. Oder Hamburg.
Dieter Lenzen auf dem Weg
ins Abenteuerland
                           Text Ronny Matthes

Er hat einen eigenen Fanclub, gute Freund_        ne« Freie Universität Berlin, die er auf keinen
innen in Wirtschaft, Presse und Politik, eine     Fall vorzeitig verlassen will. »Das wäre sonst
Kampagne versucht an seinem Stuhl zu sä-          ja, als hätte man ein Kind gezeugt und würde
gen und momentan weiß er selbst nicht, was        sich davonmachen.«3 Doch genau das könn-
er will: Dieter Lenzen, seit 2003 Präsident       te bald geschehen: Wie als erstes die taz am
der FU Berlin, macht viel von sich reden.         12.11.2009 vermeldete, könnte Lenzen die
Dennoch ist der Hochschulmanager des              Nachfolge für die als Raketen-Moni4 bekannte
Jahres1 2008 vielen Studierenden der FU ein       und mittlerweile abgesetzte Präsidentin der
Unbekannter. Wenn man doch die seltene            Uni Hamburg, Monika Auweter-Kurtz, antreten.
und fragwürdige Ehre hat, dem Präsidenten         Seine Wahl durch den Hamburger Hochschul-
auf dem Campus zu begegnen, fragt man             rat jedenfalls erfolgte am 20.11.2009 mit einer
sich, ob nicht ein Priester vor einer_m steht.    klaren Mehrheit. Lenzen dazu: »Ich werde
Selbst Die Zeit attestiert: »So ähnlich kleide-   entscheiden, ob ich die Wahl annehme, sobald
ten sich früher chinesische Volksführer.«2        die Verhandlungen abgeschlossen sind. Ich bin
                                                  optimistisch, dass diese positiv verlaufen.«5
Er scheut öffentliche Auftritte an der Uni und
war in diesem Jahr nicht einmal bereit, den       An der FU Berlin werden die Studierenden
Erstsemestern auf einer zentralen Imma-           derweil im Unklaren gelassen. Selbst auf der
trikulationsfeier eine Begrüßungsrede zu          Sitzung des Akademischen Senats (AS) am
gönnen. Grund genug, einmal näher hinzu-          18.11.2009, zwei Tage vor der Wahl Lenzens (!),
schauen, wer dieser Dieter Lenzen eigentlich      verkündete die erste Vizepräsidentin Lehm-
ist und für was er steht.                         kuhl, dass sie von einer Kandidatur Lenzens
                                                  für das Hamburger Präsidialamt nichts wüss-
Teile und herrsche                                te. Dass diejenige, die kommissarisch das Amt
                                                  übernähme, wenn Lenzen nach Hamburg
Jahrgang ‘47, gebürtiger Münsteraner, ver-        gehen sollte, den Anwesenden der AS-Sitzung
heiratet, drei Kinder. Eigentlich vier: »Sei-     glattweg ins Gesicht lügt, macht nicht viel
                                                  Hoffnung auf eine konstruktive Zusammenar-
                                                  beit.

                                                  Auch dass mit Lenzens möglichem Rück-
                                                  zug aus dem Präsidialamt der FU alle übrigen
                                                  Probleme verschwinden, ist nicht anzuneh-
                                                  men. Vielmehr ist es die starke Präsidiumspo-
                                                  sition, die der_dem jeweiligen Präsident_in
                                                  erlaubt, so autokratisch zu handeln, wie es
                                                  Lenzen tut. Treffend stellte er fest, dass »die
                                                  Verfassung der Freien Universität [...] von den
                                                  Gremien beschlossen worden [ist], und diese
                                                  Verfassung sagt sehr klar, dass das Präsidium
                                                  entscheidet.«6 Da die Gremien der akademi-
                                                  schen Selbstverwaltung auf Präsidiumslinie
                                                  getrimmt sind, nimmt es nicht Wunder, dass
                                                  die von Ihnen beschlossene FU-Verfassung ein
                                                  dermaßen starkes Präsidium vorsieht. Auch
                                                  auf Fachbereichsebene schickt sich Lenzen
                                                  an, durch sogenannte Zielvereinbarungen die
                                                  dortigen Prozesse zu beeinflussen. Nicht zu-

10 OUT OF DAHLEM
letzt die Mittelvergabe sorgt dort für erhebli-   bestimmen sollten, wer ihr Kunde werden darf
che Konkurrenz untereinander, die letztend-       und wer nicht.10 Woher Lenzens Sinneswandel
lich auch auf Kosten der Studierenden geht.       kommt, ist unklar. Soll letztenendes doch der
Ein Fachbereich mit hoher Abbruchquote            konsequente studentische Widerstand gegen
und wenig Absolvent_innen wird mit weniger        die neoliberale Umstrukturierung der Hoch-
Geld bedacht als ein »effizient« arbeitender        schule auch ihn überzeugt haben? Oder ist es
Fachbereich. Daher ist auch das Interesse der     – wohl wahrscheinlicher – das Eingestehen
dortigen Verantwortlichen groß, Langzeitstu-      eines Fehlers, den er in der Vergangenheit als
dis und in ihren Augen ineffizient studierende      Allheilmittel gepriesen hat? In welche Richtung
Menschen loszuwerden. Die FU bezeichnet           das vermeintliche Eingeständnis geht, lässt
die notwendigen Instrumentarien als »Prü-         sich an seinem Essay Eine neue Chance für die
fungs- und Abschlussberatungen«, unter den        Bildung?11 ablesen: Nicht eine Reduzierung
Studierenden als Zwangsberatungen bekannt.        von workload durch längere Studienzeiten ist
In ihnen werden Auflagen erteilt, in einer be-     das Ziel, sondern die noch effizientere Struk-
stimmten Zeit Leistungen zu erbringen. Tun sie    turierung des Studiums. Denn »[d]as deutsche
dies nicht, droht eine Zwangsexmatrikulation.     Bildungssystem geht verschwenderisch mit
Hier hätte das Präsidium die Handhabe, diese      Lern- und Arbeitszeiten um. Die Gesamtlernzeit
Regelung sofort auszusetzen, aber der (politi-    im internationalen Vergleich ist zu gering. Die
sche) Wille dazu fehlt.                           Lernzeit im Jahr, aber auch die Lernzeit an ei-
                                                  nem einzelnen Tag ist vergleichsweise kurz.«12
Leistung um jeden Preis                           Lenzen scheint – nicht nur in diesem Zusam-
                                                  menhang – aufklärungsresistent zu sein.
Lenzen ist Leistungs- und Bundesverdienst-
kreuzträger. Um die Welt und vor allem            Geht schon mal vor, ich warte
Deutschland in eine sonnige Zukunft zu füh-       in der Lobby
ren, engagiert sich der studierte Erziehungs-
wissenschaftler, Philosoph und Philologe in       Dieter Lenzens Seilschaften sind eng verstrickt
diversen Netzwerken, so auch der Initiative       mit seinem hochschulpolitischen Handeln.
Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Dieser       Ende August wurde bekannt, dass die Uni einen
neoliberale Thinktank, der unter anderem da-      auf 350 000 Euro festgesetzten Beratervertrag
durch berühmt wurden, für knapp 58 000 Euro       mit der Firma Scholz&Friends unterzeichnet
Dialoge in der ARD-Serie Marienhof gekauft        hat. Künftig berät S&F die FU in PR-Fragen, um
zu haben,7 tritt für mehr Eigenverantwortung      sie für die nächste Runde des Exzellenzwett-
der Bürger_innen und die Beschränkung des         bewerbs fit zu machen. Das Geld stammt aus
Staates auf seine ›Kernkompetenzen‹ ein,          Mitteln der Deutschen Forschungsgemein-
was im Klartext die Aufweichung sozialstaat-      schaft (DFG). Als wäre es nicht schon besorg-
licher Prinzipien, also die Aufkündigung des      niserregend genug, dass Mittel, die in anderen
Solidarprinzips bedeutet. Ganz im Sinne der       Bereichen der Universität dringend benötigt
INSM-Doktrin fordert Lenzen auch für das          werden, für Propagandazwecke verschwendet
Bildungssystem: »Gute Arbeit muss belohnt         statt für den Wissenschaftsbetrieb ausgegeben
werden, schlechte bestraft, darum geht es.«8      werden, stellt sich hier die Frage, inwieweit die
Die Übertragung unternehmerischer Prinzipi-       Auswahl gerade dieser Werbefirma auch von
en auf die (Hoch-)Schulen ist ein Steckenpferd    persönlichen Interessen Lenzens gelenkt war.
Lenzens. Dass Profitstreben und Konkurrenz         In seiner Funktion als Botschafter der INSM
im direkten Widerspruch zu wissenschaftli-        hat Lenzen zweifelsohne gute Erfahrungen mit
chem Arbeiten und Bildungsauftrag stehen,         Scholz&Friends gemacht. Politikwissenschaft-
kümmert ihn wenig. Das Präsidium hat großes       ler Rudolf Speth nennt S&F nicht umsonst das
Interesse an schnellen, erfolgreichen Studie-     ›Gehirn‹ der INSM. Auch AStA-Öffentlichkeits-
nabsolvent_innen – was sich nicht zuletzt gut     referent Falko Grothe stellte hierzu fest: »Dass
in der Statistik macht. Folgerichtig wurde die    Lenzen die öffentlichen Gelder [...] in sein ne-
Bologna-Reform an der FU auch überaus rigi-       oliberales Netzwerk fließen lässt, erweckt den
de umgesetzt: möglichst kurze Studienzeiten,      Eindruck der Begünstigung.«
Anwesenheitspflicht, unflexible Studienverläu-
fe, Bevormundungen allerorten.9 Die letzten       Auch zur Presse hat Lenzen beste Kontakte.
Äußerungen Lenzens hierzu widersprechen           Mit den Worten »My gratitude also to the daily
jedoch in weiten Teilen seiner bisherigen Ein-    newspaper Tagesspiegel, which has accompa-
stellung: So gibt er offen zu, starre Studien-     nied the series as our media partner«13 bedach-
zeiten seien nicht das Ziel, ein Bachelor müsse   te er zur Einstein Lecture 2005 die Tageszei-
auch in vier Jahren studiert werden können.       tung, die ihn an der »Spitze des Widerstands«
In der programmatischen Studie Bildung neu        gegen die von der Politik bedrohten Hochschu-
denken! (2005), für die Lenzen die Gesamtre-      len sieht.14
daktion führte, wird noch rigoros dagegenge-
halten. Dort fordert er unter anderem auch,       Den letzten großen Jubelartikel verdankt Len-
dass ›Bildungsunternehmen‹ zukünftig selbst       zen Martin Spiewak, Redakteur im Wissens-

                                                                               OUT OF DAHLEM 11
Ressort der Zeit. Die Uni bin ich!15 heißt die sich      Lehrerinnen konfrontiert seien.«17 Grundlage für
betont kritisch-solidarisch gebende Lobhymne auf         solche Behauptungen ist das Jahresgutachten
Verkörperer des »neuen Typus des Hochschulma-            Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem«
nagers«.16 Interessant in diesem Zusammenhang            (Aktionsrat Bildung, 2009), das Lenzen mit her-
ist die Verleihung des Medienpreises 2006 des Akti-      ausgab und als wissenschaftlicher Koordinator
onsrats Bildung, in deren Laudatio Spiewaks Arbeit       betreute. Was auch immer eine »ausgereifte Ge-
im Ressort Wissen ausdrücklich erwähnt wurde.            schlechtsidentität« sein mag – das anachronisti-
Wer den Vositz des Aktionsrates innehat, braucht         sche Weltbild Lenzens zeigt sich hier abermals in
kaum noch hervorgehoben zu werden: Dieter Len-           Reinform.18 Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse
zen. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt...                werden verzerrt und ihrer ungeachtet von einer
                                                         Bevorteilung weiblicher Schüler_innen ge-
Seinen Fuß in der Tür der Staatsmedien sichert sich      schrieben. Grund für das schlechte Abschneiden
Lenzen übrigens als Mitglied im Rundfunkrat des          männlicher Schüler_innen sei der hohe Anteil
Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB).                      weiblichen Lehrpersonals, welches das positive
                                                         Erleben von Rollenvorbildern verhindere, da sich
Studentische Mitbestimmung? Fehl-                        Jungen nicht mit weiblichem Personal identi-
anzeige                                                  fizieren könnten. In Lenzens Welt der Zweige-
                                                         schlechtlichkeit (etwas anderes als ›Männer‹ und
»Wir diskutieren nicht mit Funktionären«, so Len-        ›Frauen‹, ›Mädchen‹ und ›Jungen‹ kennt sein
zen im Gespräch mit Studierenden. Dass diese             beschränkter Horizont nicht) tut es nichts zur
sogenannten ›Funktionäre‹ die gewählten studen-          Sache, wie sich real gelebte Kräfteverhältnisse
tischen Vertreter_innen sind, scheint für ihn kein       bemerkbar machen und dass männliche Domi-
Widerspruch zu sein. Auch in den Gremien ver-            nanz (nicht nur) in Schulen allgegenwärtig ist.
sucht das Präsidium, kritische Stimmen nicht zuzu-       Die Schlussfolgerung des Jahresberichts gibt
lassen: Durch politisches Kalkül wird seit Monaten       sich fatalistisch und hat mit jedweder Über-
die Nachbenennung der studentischen Vertreter_           windung von sexistischer Gesellschaftsstruktur
innen in der Kommission für Lehrangelegenheiten          abgeschlossen: »Da es offenbar nicht gelingt,
(KfL) verhindert. Dies wäre einer der wenigen Orte,      tief sitzende Geschlechtsstereotype, traditionel-
an dem konkrete Änderungen z.B. an der Durch-            le Familienmuster und mit beiden verbundene
führung der Bologna-Reform an der FU möglich             Differenzen hinsichtlich der Lebenschancen aus-
wären. Das Recht, die studentischen Vertreter_in-        zugleichen und der Benachteiligung der Jungen
nen der KfL zu bestimmen, liegt eigentlich allein        entgegenzuwirken, wird es eine der Hauptaufga-
bei den Studierenden selbst – Lenzen hat durch die       ben des Bildungssystems sein müssen, die Dispa-
gezielte Verschleppung die Kommission de facto           ritäten entlang der Linie ›Geschlechterdifferenz‹
arbeitsunfähig gemacht. Hier zeigt sich exempla-         zurückzunehmen und nicht – wie bislang – zu
risch die Bevormundung durch das Präsidium.              verstärken.«19

Ein offener Dialog zwischen Studis und Präsidi-           Dieter Lenzen – Not My President
um hat unter Dieter Lenzen nie stattgefunden und
wäre angesichts vergangener Vorfälle auch nicht          Die Kritik an der präsidialen Führungs(un)kultur
unbelastet möglich. So ließ der Präsident bei-           wird auf vielen Ebenen geübt. Die studentische
spielsweise das im Rahmen des Bildungsstreiks im         Kampagne Lenzen – not My President! versucht
Sommer besetzte Präsidium polizeilich räumen; Zi-        derzeit für eine Diskussion um die Person und
vilpolizei auf dem Campus – das zeigt nicht zuletzt      die Funktion eines Dieter Lenzen in der Studie-
der Herbst-Streik dieses Jahres – wird zum Nor-          rendenschaft zu sorgen. Die Initiator_innen der
malzustand. Die Streikenden fordern deshalb nicht        Kampagne stellen fest, dass »[d]ie demokrati-
zu Unrecht, auch an der FU nach dem griechischen         schen Mitbestimmungsrechte der Studierenden
Modell zu verfahren und Polizei auf dem Campus           [...] in den letzten Jahren unter Präsident Dieter
nicht zuzulassen. Zudem ist dem AStA FU bekannt          Lenzen massiv beschnitten [wurden].«20 Sie
geworden, dass das Präsidium im Rahmen der Hör-          wollen mit einer studentischen Urabstimmung
saalbesetzung in der Silberlaube zusätzlichen pri-       die Empfehlung aussprechen, den amtierenden
vaten Wachschutz der Firma Securitas eingestellt         Präsidenten abzusetzen. Von Seiten des AStA FU
hat. Diese seien, so die Sicherheitsleute selbst, »zur   wurde der Kampagne signalisiert, dass die Kritik
Deeskalation« anwesend.                                  an Lenzen, vor allem jedoch am Präsidialamt
                                                         selbst, geteilt wird. Allein an der Form der Um-
                                                         setzung studentischer Mitbestimmung scheiden
Let’s talk about... gender                               sich die Geister: So dient eine Urabstimmung
                                                         »der Meinungsbildung der Studierendenschaft«
Unter dem apokalyptisch anmutenden Aufmacher             und wird auf Verlangen von 10% der Studieren-
Dürfen Jungen nicht mehr Jungen sein? stellte der        den durchgeführt. Sie hat empfehlenden Cha-
Spiegel fest: »Jungen haben laut Lenzen oftmals          rakter an die Organe der Studierendenschaft.21
gar nicht die Chance, eine ausgereifte Geschlecht-       Das ergibt sich daraus, dass studentische Urab-
sidentität zu bilden, da sie im Kindergarten und         stimmungen in der Satzung der Studierenden-
in der Grundschule meist mit Erzieherinnen und           schaft geregelt sind, die sich notwendigerweise

12 OUT OF DAHLEM
auch nur auf die Organe der Studierenden-
schaft beziehen kann. Einen empfehlendem
Charakter an den Akademischen Senat zum
Beispiel, wie es die Kampagne suggeriert,
hätte eine solche Abstimmung nicht. Bleiben
also der Allgemeine Studierendenausschuss
und das Studierendenparlament als Adres-
sat_innen. Beide haben in der Vergangenheit
keinen Zweifel daran gelassen, den Rücktritt
Lenzens bewirken zu wollen. Eine Urabstim-
mung wäre demnach der ineffektivere Weg,
Dieter Lenzen abzusägen. Eine permanente
inhaltliche Auseinandersetzung mit der feu-
dalen Regierungsmacht des Präsidiums, eine
Abkehr von zu stark personalisierter Kritik
und ein konstanter, kämpferischer Protest,
scheinen vielversprechender zu sein.            hergehenden Satz fordert Lenzen, dass
                                                Schulen »wie Privatbetriebe geführt
Was bleibt                                      werden [sollten].«
                                                9 Will man jedoch dem Interview mit
Ob Dieter Lenzen nun geht oder nicht, das       Liane von Billerbeck (Deutschland-
Problem der überaus machtvollen Präsidi-        radio Kultur) vom 2.11.2009 Glauben
umsposition bleibt bestehen. Nicht nur die      schenken, würde Lenzen gern »flexib-
Person (ob sie nun Lenzen, Lehmkuhl22, Alt23    ler werden in Bezug auf die Zeiten. [...]
oder wie auch immer heißt), sondern auch        Also mehr Flexibilität und nicht so ein
und gerade die Struktur einer Quasi-Präsi-      starres Umgehen und Starren auf kurze
dialdiktatur erschwert studentische Mitbe-      Zeiten.« Dass es auch im Ermessens-
stimmung an der FU Berlin enorm. Solange        spielraum der Uni liegt, ob nun ein Ba-
dieses strukturelle Problem nicht beseitigt     chelor-Studium in drei oder vier Jahren
ist, kann prinzipiell kommen wer und was        erfolgt, erwähnt er nicht.
wolle – und solange werden auch die Stu-        10 Bildung neu denken!, S. 39
dierenden weiterhin gegen eine Top-down-        11 in: Aus Politik und Zeitgeschichte
Universität kämpfen.                            (APuZ 45/2009), www1.bpb.de/publika-
                                                tionen/T0BXBW,0,
                                                Eine_neue_Chance_f%FCr_die_Bil-
                                                dung_Essay.html (16.11.2009)
                                                12 ebd.
                                                13 aus der Rede zur zweiten Einstein-
                                                Lecture 2005
                                                14 Tagesspiegel, 02.08.2009
                                                15 Zeit, 17.09.2009
                                                16 ebd.
1 Die Auszeichnung wird von der Financial       17 Spiegel, 12.03.2009
Times Deutschland (FTD) und dem Cen-            18 Unvergessen auch sein Ta-
trum für Hochschulentwicklung (CHE), einer      gesspiegel-Kommentar
Gründung der Stiftung eines der größten         Die Religion kennt mehr als vernünftige
deutschen Medienkonzerne (Bertelsmann),         Gründe«, in dem Lenzen sich – die
verliehen.                                      christliche ProReli-Initiative verteidi-
2 ZEIT, 17.09.2009                              gend – in die Nähe des Neo-Kreationis-
3 Tagesspiegel, 2.8.2009                        mus rückte. (Tagesspiegel, 24.04.2009)
4 Auweter-Kurtz hatte als Raketenforscher_      19 vbw – Vereinigung der Bayerischen
in mit der Rüstungsindustrie zusammenge-        Wirtschaft (Hrsg.): Geschlechterdiffe-
arbeitet. Weiterhin erließ sie aufgrund eines   renzen im Bildungssystem, Wiesbaden
kritischen Fernsehberichtes eine Richtlinie,    2009.
laut der sich Lehrende nur in Rücksprache       20 http://lenzennotmypresident.word-
mit der Uni-Pressestelle in den Medien äu-      press.com/infos/ziele-der-initiative
ßern sollten.                                   (16.11.2009)
5 Hamburger Morgenpost, 23.11.2009              21 festgelegt in §13 Abs. 2 der Satzung
www.mopo.de/2009/20091123/hamburg/              der Studierendenschaft der Freien Uni-
politik/kritische_stimmen_sind_voellig_         versität Berlin
normal.html                                     22 Erste Vize-Präsidentin
6 Deutschlandradio Kultur, 2.11.2009            23 Prof. Dr. Peter-André Alt, glühender
7 die tageszeitung, 24.07.2009                  Lenzen-Bewunderer, wird als möglicher
8 Interview mit Die Zeit, 23.11.2007. Im vor-   Nachfolger Dieter Lenzens gehandelt.

                                                                    OUT OF DAHLEM 13
Wem gehört die Uni?
Von einem
Präsidenten-Portrait,
das keines war
                           Text: Ralf Hutter

Am 17. September veröffentlichte die Wo-
chenzeitung Die Zeit unter dem Titel »Die        Tatsächlich aber ist Lenzens inner- wie au-
Uni bin ich« eine Darstellung des Präsiden-      ßeruniversitäres politisches Wirken, quasi
ten der FU, Dieter Lenzen, die auf Grund ih-     das Projekt, an dessen Spitze er sich setzt,
rer impliziten Maßstäbe, Oberflächlichkeiten      sehr wohl von Interesse für die Öffentlich-
und Auslassungen nicht unwidersprochen           keit, und sollte eigentlich in einem Artikel
bleiben darf. Von einem ›Porträt‹, wie es        von der Länge des hier kritisierten ausführ-
zumindest im Untertitel der Online-Version       lich gewürdigt werden. Es stellt nämlich mit-
heißt, kann daher nicht die Rede sein. Viel-     tlerweile einen der größten Einflüsse bei der
mehr wurde schlicht gezeigt, dass Lenzen         Umgestaltung des Schul- und Uni-Systems
gewisse Anforderungen an ›Uni-Manager‹           gemäß kapitalistischen Zwängen dar.
erfüllt, bisweilen sogar übererfüllt. Zeit-Re-
dakteur Martin Spiewak erzählt im Endeffekt       Was lässt sich nun über die öffentliche Per-
eine kleine Erfolgsgeschichte, die Personalie    son Dieter Lenzen sagen? Zum ersten Mal
Lenzen wird zu einem Glücksfall für die FU,      einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde
Berlin und Deutschland.                          er wohl 2003, als Hauptverantwortlicher
                                                 einer im Auftrag der Vereinigung der Baye-
Die Uni bin ich – unter diesem Titel könnte      rischen Wirtschaft (VBW) erstellten Groß-
prinzipiell auch ein kritisches Porträt eines,   studie, die unter dem heutzutage typisch
sagen wir, diktatorischen Selbstdarstellers      pseudo-revolutionären Titel Bildung neu
stehen. Doch wer den Artikel von Spiewak         denken! erschien. In den Folgejahren konnte
bis zum Ende liest, merkt, dass die in dem       er die dort erarbeiteten Vorschläge zur Um-
Titel angesprochene Anmaßung (übrigens           krempelung des Bildungssystems vielerorts
kein Lenzen-Zitat) nur am Rande – und eher       präsentieren. Bildung neu denken! soll der
pro forma, dem journalistischen Ethos der        Name eines umfassenden Programms sein,
Ausgewogenheit Minimal-Tribut zollend            dessen Umsetzung bis 2020 für nötig ge-
– kritisiert wird. In dem Text wird vielmehr     halten wird. Dieses »Zukunftsprojekt« will
überwiegend gerade das vermeintlich Posi-        die mit dem deutschen Ausbildungssystem
tive solcher Führungsanmaßungen hervor-          (einschließlich des Hochschulsektors) ver-
gehoben, wie schon der Untertitel andeutet.      bundenen Rechte und Pflichten, Möglichkei-
Die Berliner Tageszeitung Tagesspiegel über-     ten und Zwänge gemäß den vermeintlichen
schrieb im Februar 2007 in gleicher Manier       Herausforderungen unserer Zeit neu defi-
einen Artikel mit »Lokomotive Lenzen«.           nieren. Ziel: »Erhalt des Wirtschaftsstand-
                                                 orts Deutschland auf einem angemessenen
Nun steht diese Lokomotive selbstredend          Niveau«. Die dabei konkret nötigen Maßnah-
nicht für irgendeinen Zug zur Verfügung.         men wurden bereits in Büchern vorgestellt:
Trotzdem hat in der Berichterstattung oft        2004 bzw. 2005 erschienen Bildung neu
ihre bloße Geschwindigkeit, ihre Zugkraft        denken! Das Finanzkonzept und Bildung neu
Priorität, und nicht das, was sie eigentlich     denken! Das juristische Konzept. Lenzen war
genau hinter sich herzieht. Allzu oft wird       nicht nur in beiden Fällen verantwortlicher
den inneruniversitären Rangierarbeiten nicht     Redakteur. Er ist auch Vorsitzender des 2006
viel Wichtigkeit beigemessen, wenn nur die       von der VBW ins Leben gerufenen Aktions-
Lokomotive besonders gut für Vorstöße in         rat Bildung, der unter anderem überwachen
Neuland geeignet erscheint. Und sei es eine      soll, dass eine etwaige Umsetzung des Pro-
Fahrt ins Ungewisse.                             gramms nicht verwässert wird.

14 OUT OF DAHLEM
OUT OF DAHLEM 15
»besonders Begabte« schulische »Zusatz-
Bei den Programminhalten findet sich zu-
                                                angebote« bis hin zu eigenen Einrichtungen
nächst viel Bekanntes aus dem Milieu des
                                                gefordert.
Marktfetischismus: Mehr Deregulierung,
mehr Privatisierungen, mehr Eigenverant-
                                                Was für die Welt der Lohnarbeit von inter-
wortung, Förderung von »Wettbewerbsbe-
                                                essierter Seite ständig als unbedingt nötig
reitschaft« bei allen Involvierten, Zulassen
                                                dargestellt wird – mehr Wochenstunden,
eines Marktes für Bildung (unter Abwe-
                                                längere Lebensarbeitszeit, höhere Arbeits-
senheit des Staates im ›Weiterbildungs-
                                                verdichtung, Bereitschaft zu regelmäßi-
markt‹), »Kostenbeteiligung der Nutzer
                                                ger Weiterbildung – wird in »Bildung neu
von Bildungseinrichtungen«, Erleichterung
                                                denken!« v.a. für die Jugendzeit weiterge-
der Gründung von Privatschulen, »Umge-
                                                sponnen: So sollen »Schulferien und andere
staltung« der Hochschulen zu »Bildungs-
                                                lernfreie Zeiten für zusätzlichen Unterricht
unternehmen« (mit »Kundenorientierung«
                                                verwendet werden können« und außerdem
und »leistungs- und belastungsorientierter
                                                auf die Urlaubsdauer von Auszubildenden
Bezahlung«), Ersetzung der »obrigkeitsstaat-
                                                verkürzt werden – dementsprechend wird
lichen« Bildungsaufsicht durch »Manage-
                                                eine Umbenennung in »Schulurlaub« vorge-
mentmodelle« usw.
                                                schlagen.

Auf der pädagogischen Ebene lauten einige
                                                Das frühe Intervenieren in die Prägung jun-
der zentralen Forderungen: »mehr Standar-
                                                ger Menschen dient einer sehr weit gehen-
disierung«; »kontinuierliche Leistungsdiag-
                                                den Menschenformung, der Schaffung eines
nostik« der Lernenden durch »permanente
                                                neuen Typs: Das »Individuum der Zukunft«
Kreditierung« (also die ständige, Vergleich-
                                                solle »selbstverantwortlicher und in Be-
barkeit ermöglichende Quantifizierung
                                                zug auf sein Leben ›unternehmerisch‹ tätig
verschiedener Leistungen vermittels eines
                                                sein«. Der dazugehörige »sparsame Umgang
einheitlichen Systems von ›Kreditpunk-
                                                mit Lebenszeit« soll institutionell ermöglicht
ten‹) statt hin und wieder ein Zeugnis mit
                                                werden (z.B. Einschulung eventuell schon
Noten; ›Schulleistungsscreenings‹ aller
                                                mit vier Jahren, dafür Schulpflicht nur bis
4- bis 6-Jährigen, um individuell unter-
                                                14). Konsequenterweise soll von einer »strik-
schiedliche Eintrittsalter in die Schule zu
                                                ten« Trennung von Arbeit und Freizeit nicht
ermöglichen; und die Möglichkeit, dass Un-
                                                mehr ausgegangen werden.
ternehmen »inhaltliche Erwartungen an das
Schulsystem umsetzen«, also Einfluss auf
                                                Dass systematisch fremd gesteuertes lebens-
Lehrpläne nehmen können.
                                                langes Lernen da eine große Rolle spielt, ver-
                                                steht sich von selbst. Da »Bildung neu den-
Permanente, standardisierte Leistungserfas-
                                                ken!« ein umfassendes System denkt, in dem
sung und die Aufhebung von Jahrgangsklas-
                                                (sehr) Jung und (sehr) Alt gleichermaßen
sen dienen einer ›Ausdifferenzierung‹ der
                                                auf ständige Passfähigkeit am Arbeitsmarkt
Lernenden, wie so etwas heutzutage heißt;
anders gesagt: der Etablierung von folgen-
reicher Ungleichheit. Die Einteilung nach
bestimmten, als für die Beurteilung von Per-

                                                     Oft wird den
sonen zentral angesehenen Leistungen spielt
eine Hauptrolle in dem Konzept. Die Studie
warnt vor einer »Nivellierung nach unten
durch leistungsunabhängige ›Gleichheit‹«.
Eine soziale Verantwortung der Eliten gibt
es nicht mehr – logisch in einem System, in
dem die Selbstverantwortung in den Vorder-
                                                     inneruniversitären
grund gestellt wird. Die angedachten Hilfen
für Benachteiligte firmieren unter der Maß-
gabe, dass in der Bevölkerung »Bildungsres-
                                                     Rangierarbeiten
erven« versteckt sind, die es wie Schätze zu
heben gilt, dass also das Verwertungspoten-
tial so weit nur irgend möglich ausgeschöpft
                                                     nicht viel Wichtigkeit
werden muss. Schließlich soll kein kluger
Kopf nur wegen einer finanziell ungünstigen
Herkunft nicht zum Bruttosozialprodukt bei-
                                                     beigemessen,
tragen können. Auslese soll es nach ›unten‹
wie nach ›oben‹ geben. Während, wie immer
bei solchen Ansätzen, nicht weiter ausge-
führt wird, was mit den in diesem System
Überflüssigen letztendlich (also bei langfris-
tigem Misserfolg) geschehen soll, werden für

16 OUT OF DAHLEM
Kostenfaktoren gelten, die »Weiterbildung«
                                                         der früher industrielle Reservearmee Ge-
                                                         nannten eine Lösung sein könnte!

                                                         Als paradigmatisch für Bildung neu denken!
                                                         mag folgender Satz gelten: »In allgemei-

... solange die                                          ner und arbeitsorientierter Bildung müssen
                                                         unternehmerische Qualifikationen vermittelt
                                                         werden, weil die Zukunft nicht durch den

Lokomotive für                                           Versorgungsstaat, sondern durch internati-
                                                         onalen Wettbewerb geprägt sein wird.« Kri-
                                                         tikbedürfnis gleich null, Hinterfragen scheint

Vorstöße in Neuland
                                                         bei solchen Themen nicht opportun. Wir
                                                         werden uns zukünftig nun mal alle global
                                                         und auf unternehmerische Weise bekämp-

geeignet scheint.
                                                         fen. In der Sozialwissenschaft gilt mehr als
                                                         anderswo: Wer schweigt, stimmt zu.

Und sei es eine Fahrt
                                                         Lenzen war früher in der so genannten
                                                         ›Hochbegabtenförderung‹ aktiv und vertrat
                                                         noch im Februar 2004 bei einer Veranstal-
                                                         tung der Berliner FDP-Fraktion die entspre-

ins Ungewisse.                                           chende Position, wonach die gemeinsame
                                                         Beschulung von Kindern, die »nicht alle
                                                         gleich viel leisten können« unproduktiv für
                                                         Volk und Vaterland und eine »Belastung«
                                                         für Klasse wie Lehrkraft sei. Nun ist ja gegen
                                                         individuelle Förderung und die besondere
         achten müssen, wird in der Studie mehrfach      Belohnung außergewöhnlicher Leistungen
         an die eigene Verantwortung für die persön-     nichts einzuwenden. Eine andere Frage ist
         liche »Bildungsbiografie« gemahnt. Zur Un-       aber, was genau den Privilegierten dann zu-
         terstützung soll ein System von »Bildungsbi-    kommt, und was hingegen eventuellen Ab-
         ografieberatungen« nebst entsprechendem          gewerteten blüht. Zumindest, was ersteren
         Berufszweig.geschaffen werden. Ein Extrem        Punkt betrifft, ist klar, wohin die Reise geht:
         in besagter Ausbildungs-Fremdsteuerung          Für Lenzen hat Elite offensichtlich irgendwie
         stellt die Forderung nach einem »Dokumen-       mit kapitalistischen Unternehmen zu tun.
         tationssystem für Bildungsbiografien zur         Deren Nähe ist zu suchen, ob im Falle von
         individuellen Weiterbildungssteuerung« dar.     Kindern, oder von Universitäten.
         Wer sich vergegenwärtigt, welchen Ent-
         rechtungen und Pflichten Lohnarbeitslose         Er selbst macht es schon vor: Lenzen ist
         heutzutage ausgeliefert sind, kann sich die     Gründungsmitglied des Fördervereins der
         Verknüpfung eines derartigen Dokumentati-       Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einer
         onssystems mit den Repressionsbefugnissen       von Großunternehmen finanzierten Lob-
         etwa einer Agentur für Arbeit gut vorstellen.   byorganisation, und wurde im November
         »Individuelle Weiterbildungssteuerung« wird     2008 von der Financial Times Deutschland
         so zu einer Drohung.                            und dem kapitalfreundlichen Lobbyinstitut
                                                         Centrum für Hochschulentwicklung (CHE)
         Tatsächlich enthält die Studie schon einen      zum Hochschulmanager des Jahres gewählt.
         Vorschlag in dieser Richtung: Gefordert wird    2006 schon war die FU vom Wirtschafts-
         eine »Weiterbildungspflicht für Arbeitslose      magazin karriere und dem Wirtschaftsfor-
         und Sozialhilfeempfänger mit dem Ziel der       schungsinstitut Prognos (das übrigens auch
         Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit«.        die Studie Bildung neu denken! mit erstell-
         Der ideologische Charakter von Lenzens          te) zur unternehmerischsten Hochschule
         Papier wird hier auch in gesellschaftsdiag-     Deutschlands gekürt worden. In diese Zeit
         nostischer Hinsicht deutlich. Wieder ein-       dürfte auch der Start des Forum Hochschul-
         mal sind die »Arbeitslosen« schuld an der       marketing der FU fallen, einer Konferenz-
         sozialen Misere – sie sind, obwohl vielleicht   reihe u.a. mit hohen Funktionären aus dem
         Jahre lang in Diensten eines Unternehmens       Unternehmenssektor, deren ersten beiden
         stehend, erwerbsunfähig! Als ob in einem        Tagungen »Die Universität als Dienstleister«
         System, wo seit Jahrzehnten alleine schon       und »Unternehmen Universität« hießen.
         die technologische Entwicklung immer mehr
         Menschen in Arbeitsprozessen überflüssig         Auch der Anlass, der Zeit-Redakteur Spie-
         (und somit »erwerbsunfähig«) macht, und         wak kürzlich an die FU und somit zu Lenzen
         wo die Menschen am Arbeitsplatz primär als      führte, passt in dieses Bild. Am 11. Sep-

                                                                                  OUT OF DAHLEM 17
tember wurde die Deutsche Universität für
Weiterbildung (DUW), »eine kommerzielle
FU-Tochter«, feierlich eröffnet. Wenn die FU
die Mutter dieser »ersten privaten staatlich
anerkannten Weiterbildungsuniversität in
Deutschland«(Selbstdarstellung) ist, dann

                                                     Dubai? Eine Uni, die
muss als Vater die Klett-Unternehmensgrup-
pe gelten, laut Wikipedia »der führende pri-
vate Anbieter von Bildungs- und Weiterbil-
dungsdienstleistungen«. Die Beiden sind zu
gleichen Teilen die Gesellschafter der DUW.
                                                     mit Freiheit als Leit-
Öffentlich vorgestellt wurde dieses Projekt
bereits 2006. Aufsehen an der FU erregte
es dann Anfang 2007, als die FU-Ethnologie
äußerst kurzfristig ihr Institutsgebäude an
                                                     wert aufmacht, ehrt
die DUW verlor. Gleich nach Vorlesungsende
Mitte Februar sollte das Gebäude mitsamt
der eigenen Bibliothek geräumt werden,
                                                     den Regenten von
die Order dazu hatte das Institut aber erst
im Dezember erreicht. Mitsprachemög-
lichkeiten gab es keine. Laut Georg Pfeffer,
                                                     Dubai?
damals noch auf einer der beiden besetz-
ten Ethnologie-Professuren (die dritte war
lange unbesetzt), waren im neuen, kleine-
ren Institutsgebäude sofort verschiedene        Politikwissenschaftler Albert Scharenberg
Renovierungsarbeiten nötig, die sich über       trotz einstimmiger Voten der Fachgremien
ca. zwei Semester zogen und wegen des           auf eine befristete Juniorprofessur zu beru-
damit verbundenen Lärms und zusätzlichen        fen.
Platzmangels »erhebliche Belästigungen«
darstellten. Auch heute fänden längst nicht     Doch was soll dieser verklärende Begriff? Ein
alle Angestellten im Institutsgebäude Platz,    »Wir« entsteht, weil Angehörige verschie-
die Lehrveranstaltungen sowieso gar nicht,      dener Fächer sich zum gleichen Zeitpunkt
was zu »Reibungs- und Identitätsverlusten«      um Gelder aus dem gleichen Programm
führe. Das dürfte noch von der Tatsache         bewerben? Gefördert werden mit dem Geld
verstärkt werden, dass die Bibliothek damals    der Bundesregierung schließlich Einzelpro-
in der neu zusammen gesetzten Fachbe-           jekte, wobei zusätzlich die Hochschulleitung
reichsbibliothek aufging, die fast einen        ein fördernswertes Gesamtkonzept für das
halben Kilometer entfernt ist. Prof. Pfeffer     zukünftige ›Profil‹ der Uni einreichen muss.
will jedenfalls ein allgemeines Nachlassen      Bekanntlich mussten überall in Deutschland
der »Lesegewohnheiten« festgestellt haben,      enorm viele Überstunden bei der Erstel-
was dem Studium schade. Auch die stu-           lung der Anträge geleistet werden. Letzte-
dentische Hilfskraft Carla Dietzel sieht ihre   re finden sich mittlerweile sogar in vielen
Arbeit erschwert durch den weiten Weg zur       persönlichen Publikationslisten aufgeführt,
Bibliothek. Auf die Frage nach Verständnis      wohl um den Mangel anderer Publikationen
für die Umzugsmaßnahme, die ja eventuell        in dem Zeitraum zu erklären. Ist es eine zu
dem Wohl der gesamten Uni diente, winkt         materialistische Analyse für einen Zeit-Re-
Pfeffer ab: »Die Universität will aus bekann-    dakteur, diese viele Arbeit zum Beispiel in
ten Gründen ›Einkommen generieren‹. Sie         Konkurrenzdruck, Streben nach Prestige,
reduziert deshalb die Präsenz jener Fächer,     oder einfach Druck von Möchtegern-Pro-
die für ein solches Unterfangen unerheblich     jektleitern begründet zu sehen, und statt
sind.«                                          dessen auf derart mystische Kausalitäten wie
                                                die Kraft eines vom Präsidenten vermittelten
Das ist schon einmal kein Beispiel für das      Uni-Patriotismus zu verzichten?
»Wir-Gefühl«, das Lenzen laut Martin Spie-
wak im so genannten Exzellenzwettbe-            Doch derartige Identitätsstiftungen hat Spie-
werb »einem großen Teil der FU-Angehöri-        wak gerne, worin er sich mit Lenzen trifft.
gen« einzuimpfen vermochte. Und solcher         Er übernimmt auch dessen Darstellung der
Fälle von, sagen wir, düpierten Instituten      FU-Geschichte, ein Surfen auf der Grenze
oder Arbeitsbereichen gibt es mehrere seit      zwischen Propaganda und Geschichtsverfäl-
Lenzens Amtsantritt. Bundesweites Aufse-        schung. Lenzen hat seit Beginn seiner Prä-
hen erregte seine politisch motivierte, und     sidentschaft keinen Zweifel daran gelassen,
bislang erfolgreiche Weigerung, den der         dass er die sozialreformerischen Impulse,
Rosa-Luxemburg-Stiftung nahe stehenden          die seit den 60ern von der FU ausgingen,

18 OUT OF DAHLEM
als Makel und Hypothek betrachtet. Er wollte      nicht ganz verständlich, nach.
und will der Welt eine ganz andere FU prä-        Mit »akademische Verwahrlosung« ist wohl
sentieren. Das ist ihm nicht nur durch seine      nicht die autokratische FU-Führung der
Amtsführung gelungen – im kürzlich erstellen      60er gemeint, die ab 1965 u.a. durch so-
elfminütigen Werbefilm zu Geschichte und           wohl allgemeine, als auch konkrete (gegen
Gegenwart der FU wird der studentische Auf-       Erich Kuby) Verbote politischer Diskussi-
bruch der späten 60er in nur ca. 15 Sekunden      onsveranstaltungen sowie den versuchten
thematisiert.                                     Rausschmiss eines politisch unliebsamen
                                                  Assistenten den studentischen Aufstand mit
Spiewak bringt an mehreren Stellen des Arti-      provozierte. Meint Spiewak vielleicht die Tat-
kels ähnlich verkürzte Darstellungen. Im drit-    sache, dass zwischen 1969 und 1976 mit Rolf
ten Satz der folgenden Passage befindet sich       Kreibich erstmals – und wohl auch letztmals
übrigens ein Zeitfehler, bitte Vorsicht beim      in Deutschland – ein Assistent Uni-Präsident
Stolpern!                                         war? Derartige Auswüchse der Reformbe-
                                                  mühungen gab es ja öfter an der FU, weshalb
»Anfang der neunziger Jahre freilich dachten      sie vielen Menschen als enorm wichtige
viele, das Ende der FU stünde kurz bevor. Alles   Institution in Erinnerung geblieben ist. Selbst
sprach für Humboldt – der Name, die Lage,         der FU-Propagandafilm kommt nicht umhin,
die Geschichte. Die Freie Universität dagegen,    in besagten 15 Sekunden widersinnigerweise
nach dem Krieg gegründet von den Amerika-         (da Lenzen eher an die Rektoren von damals
nern, in den sechziger Jahren das Epizentrum      erinnert) festzustellen, welche gesellschaft-
der Studentenbewegung, wurde zum Inbe-            liche Wichtigkeit die studentischen Mobi-
griff akademischer Verwahrlosung und linker        lisierungen in puncto Gleichberechtigung
Leistungsverweigerung. Streiks lähmten den        und Demokratisierung hatten. Auch das eine
Betrieb, die Gebäude gammelten vor sich           »Leistung« im engeren Sinne?
hin. Lenzen selbst erinnert sich noch gut an
sein erstes Seminar, als er, aus dem biederen     Für Spiewak zählt all das aber nicht bei der
Münster kommend, eine Lektüreliste mit fran-      Charakterisierung der FU und ihrer Vergan-
zösischen Titeln verteilte.«                      genheit. Von seinem Rundgang vorbei an
                                                  »schmucken Gebäuden« berichtend, legt
Bieder scheint vor allem der Autor zu sein. Er    er nach: »Selbst die Rostlaube, einst archi-
verschweigt, dass besagter »Inbegriff« nur         tektonische Metapher für den Niedergang
für seinesgleichen existiert(e). Wie in Len-      der Universität, glänzt in anderem Licht. Im
zens besprochener Studie wird auch hier eine      Innern findet sich kaum ein Schnipsel Papier
einheitliche Leistungsskala vorausgesetzt, auf    auf dem roten Teppich.« Die großspurige
der nach einem bestimmten Maßstab alle Uni-       Ausdrucksweise Spiewaks ist – auch in jour-
Angehörigen und deren Leistungen platziert        nalistischer Hinsicht – widerlich. Hier wer-
werden können. Die zahlreichen, im In- und        den gleich zwei vermeintliche Allgemein-
Ausland geschätzten FU-Profs verschiedens-        plätze präsentiert – doch leider erfahren wir
ter sozialwissenschaftlicher Fächer, die über     wiederum nicht, in welchen Kreisen sowohl
Jahrzehnte hinweg inner- oder außeruniver-        der nicht näher spezifizierte »Niedergang«,
sitär einflussreiche Schriften veröffentlichten,    als auch dessen zufällige Spiegelung in
dabei aber vielleicht als einen Haupteinfluss      der Architektur Gesprächsgegenstand und
die Marx’sche Gesellschaftskritik aufwiesen,      Konsens waren. Nachdem Spiewak sich
gehören aus Spiewaks Sicht bestimmt nicht         an einen Präsidenten anbiedert, der einen
zu den Leistungsträgern. Oder diejenigen, die     selbst für sein Amt überdurchschnittlichen
kritische Denkschriften zur Lage des eigenen      Autoritarismus an den Tag legt und die ihm
Fachs verfassten und sich zeitintensiv für eine   anvertrauten Menschen möglichst effizi-
Demokratisierung der Uni einsetzten. Leis-        ent der Humankapitalverwertung zuführen
tungsverweigerung, zumal »linke«, ist es nach     will; nachdem er diesen Machtmenschen als
diesem Verständnis vielleicht auch, lieber        Erneuerer und Retter einer sich gerade aus
ein paar Seminare weniger zu besuchen, und        der Asche ihrer unrühmlichen Vergangen-
dafür in einer Fachschaftsinitiative oder einer   heit erhebenden Uni darstellt, kann er nicht
sonstigen studentischen Gruppe Institutspo-       umhin, auch noch den völlig irrelevanten
litik zu betreiben, sich quasi um die inneruni-   Hinweis auf saubere Teppiche in seiner Lob-
versitäre Kultur zu kümmern. Streiks sind laut    rede unterzubringen! Autoritätsgläubigkeit
Spiewak an sich schon abzulehnen, denn sie        (an anderer Stelle lobt Spiewak die heute
»lähmen den Betrieb« (wer mal einen mit-          »hierarchischere Universitätsverfassung«)
gemacht hat, weiß hingegen, dass sie im Ge-       verbunden mit deplatziertem Reinlichkeits-
genteil ganz schön Bewegung in den univer-        bedürfnis – autoritärer Charakter ick hör dir
sitären Alltag, und manchmal sogar in einige      trapsen! Worüber wir nichts lesen ist, dass
Regularien bringen). Und von der Ablehnung        in besagtem sauberen Hauptgebäude für
französischer Lektüren erzählt Lenzen heute       Studierende kaum noch eine Möglichkeit be-
noch – und Spiewak erzählt es schlecht, weil      steht, legal (und kostenfrei) Annoncen oder

                                                                           OUT OF DAHLEM 19
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