Das andere Brandenburg - Antifa, weltoffene Orte, solidarische Alternativen Hendrik Sander - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ONLINE-PUBLIKATION Hendrik Sander Das andere Brandenburg Antifa, weltoffene Orte, solidarische Alternativen
HENDRIK SANDER ist Politikwissenschaftler und politischer Aktivist, Fellow am Institut für Gesellschafts analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet zu Fragen sozial-ökologischer Transformation. Er hat in Bremen und Oldenburg studiert und in Kassel zum Thema «grüner Kapitalismus» und deutsche Energiepolitik promoviert. Heute lebt er in Potsdam und tritt demnächst eine Stelle an der Bauhaus-Universität in Weimar an. IMPRESSUM ONLINE-Publikation 16/2021, korrigierte Fassung wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Dezember 2021 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT 1 Einleitung 4 2 Eine politische Geografie Brandenburgs 5 2.1 Politische Ökonomie 5 2.2 Klassen und Milieus 7 2.3 Einstellungen und Engagement der Brandenburger*innen 7 2.4 Wanderungen in der Mark Brandenburg 8 2.5 Infrastruktur im Umland und in der Peripherie 9 2.6 Umkämpfte Naturverhältnisse 11 2.7 Die radikale Rechte 11 2.8 Die Mosaiklinke 13 2.9 Exkurs: weltoffene Gemeinden 16 3 Porträts der Teilregionen 19 3.1 Der Westen: vom Hohen Fläming ins Havelland 19 3.1.1 Potsdam 20 3.1.2 Potsdam-Mittelmark 21 3.1.3 Brandenburg an der Havel 22 3.1.4 Havelland 23 3.1.5 Oberhavel (Berliner Umland) 24 3.2 Der Nordwesten: Prignitz und Ruppiner Land 24 3.2.1 Prignitz 25 3.2.2 Ostprignitz-Ruppin 26 3.3 Der Nordosten: von der Havel in die Uckermark 27 3.3.1 Oberhavel (Norden) 28 3.3.2 Uckermark 29 3.4 Der Osten: Barnim, Lebus, Oderland 29 3.4.1 Barnim 31 3.4.2 Märkisch-Oderland 32 3.4.3 Oder-Spree 33 3.4.4 Frankfurt (Oder) 35 3.5 Der Süden von Berlin: Teltow, Niederer Fläming, Dahmeland 36 3.5.1 Teltow-Fläming 37 3.5.2 Dahme-Spreewald (Berliner Umland) 37 3.6 Der tiefe Süden: die Lausitz und das Elbe-Elster-Land 38 3.6.1 Dahme-Spreewald (Süden) 41 3.6.2 Cottbus (Chóśebuz) 41 3.6.3 Spree-Neiße 42 3.6.4 Oberspreewald-Lausitz 43 3.6.5 Elbe-Elster 43 4 Strategischer Ausblick 44 Literatur 46
1 EINLEITUNG Der kirchliche Träger ESTAruppin, der sich in Neu kende. Die rechten Szenen haben sich zwar gewan ruppin für Geflüchtete einsetzt und den Rechtsradi delt, aber bestehen bis heute fort. Davon profitiert kalen die Stirn bietet; der Słubice-Frankfurt-Pride, gegenwärtig vor allem die AfD. Der brandenburgi der queere Begehren von beiden Seiten der Oder sche Landesverband ist vom rechtsradikalen «Flügel» auf die Straße bringt; der Falken-Jugendtreff KLAB dominiert. Darin drückt sich die Stärke der «Genera in Luckenwalde, der mit seiner emanzipatori tion Hoyerswerda» (Kleffner/Spangenberg 2016) aus, schen Bildungsarbeit an die rote Tradition der Stadt die heute fest im Alltag verankert ist. Die AfD-Wah anschließt – das sind nur vier Beispiele einer vielfälti lerfolge sind Ausdruck von menschen-, demokratie- gen und heterogenen Zivilgesellschaft, die es in fast und modernisierungsfeindlichen Einstellungen und allen Orten in Brandenburg gibt. Überall finden sich einem verbreiteten Gefühl der sozialräumlichen Mar Akteure, die sich für Weltoffenheit, für solidarische ginalisierung in Teilen der Bevölkerung. Alternativen und gegen gruppenbezogene Men Aber es gibt auch das andere Brandenburg: eine Viel schenfeindlichkeit engagieren. Nur ein Teil davon zahl von progressiven, weltoffenen und linken Kräf versteht sich explizit als links. Sie sind eher implizit ten, die zum Teil an sozialistische Traditionen in der als Mosaiklinke zu begreifen, deren unterschiedliche Region anknüpfen. Allerdings liegt ihre soziale Basis Puzzleteile ein bereicherndes Ganzes darstellen. heute weniger in den traditionellen Arbeitermilieus, Diese Perspektive auf Brandenburg ist nicht selbst sondern eher in moderneren alternativen und subkul verständlich. Verbreitet ist der Blick auf abgehängte turellen Milieus, die den Kern der Bürgerrechtsbewe ländliche Räume, auf politikverdrossene Bürger*in gung in der DDR bildeten. In den 1990er-Jahren stan nen und die Machenschaften der rechtsradikalen den Antifaschist*innen und Hausbesetzer*innen, die AfD. Die genannten Phänomene sind tatsächlich ein sich gegen die rechte Gewalt wehrten, politisch oft Problem. Das Berliner Umland und die peripheren noch allein auf weiter Flur. Doch die Szene wandelte Gegenden entwickeln sich zunehmend auseinan sich und neue Land- und Alternativprojekte entstan der. Zwar hat die Brandenburger Wirtschaft nach der den. Um die Jahrtausendwende bildeten sich in vielen krisenhaften Wendezeit in den letzten Jahren einen Orten auch zivilgesellschaftliche Gruppen: In lokalen Aufschwung und Aufholprozess erfahren. Doch die Bündnissen gegen rechts trafen sich kirchlich Aktive, Löhne sind weiterhin niedrig und die Tarifbindung ist Künstler*innen und Politiker*innen der PDS bzw. LIN gering. KEN. Neben dem Engagement gegen Rechtsradika Durch die Umbrüche der Wende hat sich der soziale lismus ist für sie die Arbeit mit Geflüchteten seit dem Raum der Klassenfraktionen und -milieus in sozia Sommer der Migration 2015 wichtiger geworden. ler und kultureller Hinsicht polarisiert. Das erklärt Die verschiedenen Generationen von Aktiven tragen auch, warum einige Brandenburger*innen optimis mit ihren jeweiligen Erfahrungen und Vorstellungen tisch auf ihr Leben und das Land blicken, während zur Lebendigkeit von Initiativen und Projekten bei. Da andere düstere Zukunftserwartungen haben. Ferner in den einzelnen Orten aber oft nur wenige engagiert ist Brandenburg von starken Wanderungsbewegun sind, liegt in der lokalen und überregionalen Vernet gen gekennzeichnet, wobei vor allem der suburbane zung eine große Herausforderung. Raum wächst, während die metropolenfernen Regi Im vorliegenden Beitrag werden diese Entwicklungen onen weiter schrumpfen. Wirtschaftliche und Wan und Phänomene im Sinne einer politischen Geogra derungsdynamiken stellen die ohnehin prekären fie Brandenburgs systematisch analysiert und darge Infrastrukturen der Mobilität, des Wohnens und der stellt (Kapitel 2). Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf sozialen Daseinsvorsorge vor Herausforderungen. Porträts einzelner Teilregionen des Landes (Kapitel 3). Umstritten sind zudem die gesellschaftlichen Natur Brandenburg wurde hierfür entlang der Landkreise verhältnisse – ob es um Großprojekte, die Zukunft der und kreisfreien Städte in sechs Regionen aufgeteilt. Braunkohle oder die Landwirtschaft geht. Es werden die jeweils sozialstrukturellen, ökono Das größte Problem in Brandenburg bleibt die radi mischen und politischen Besonderheiten skizziert. kale Rechte. Nach der Wende reaktivierte eine neue Sodann werden die gesellschaftlichen Bedingungen faschistische Bewegung Traditionslinien, die bis in die und politisch aktiven Akteure in den einzelnen Orten Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Nicht nur beschrieben. Dafür wurde nicht nur relevante Lite in den berüchtigten «Baseballschlägerjahren» terrori ratur gesichtet, sondern vor allem wurden 45 Inter sierten die Neonazis Migrant*innen und Andersden 4
views mit Multiplikator*innen und Aktivist*innen in bieten. Zum anderen soll sie Aktiven und Interessier allen 18 Landkreisen und kreisfreien Städten geführt.1 ten konkrete Anknüpfungspunkte und Vernetzungs Herausgekommen ist ein politisches Mapping der potenziale aufzeigen. Nicht zuletzt soll sie zu einer aktiven Brandenburger Zivilgesellschaft.2 Die Analyse Umsetzung kritischer Landforschung in Deutschland soll zum einen eine Grundlage für eine analytisch fun beitragen (Maschke et al. 2020). dierte Strategiebildung linker Akteure in Brandenburg 2 EINE POLITISCHE GEOGRAFIE BRANDENBURGS Das Bundesland Brandenburg entstand in seinen renzierung und eine Vielfalt von Entwicklungspfaden heutigen Grenzen erst nach der Wende und durch festzustellen: Viele Dörfer prosperieren, während lief noch mehrere Kreisgebietsreformen.3 Heute ist andere verfallen. das Land durch eine klare Differenzierung und Pola Thomas Falkner und Horst Kahrs bringen die Dyna risierung zwischen dem Berliner Umland und den mik der Mark treffend auf den Punkt: «Brandenburg peripheren Räumen gekennzeichnet, die in Zukunft ist wie kaum ein anderes Bundesland ein Land unter noch zunehmen dürften.4 Die Hauptstadtregion ist schiedlicher Entwicklungslogiken und -geschwin durch die hochverdichtete Metropole Berlin und die digkeiten, ein Land geteilter Lebenswelten und Umlandsiedlungen einschließlich Potsdam geprägt Lebensentwürfe. Hier die hitzige, zum internationa (der axial gegliederte sogenannte Siedlungsstern). len Anziehungspunkt werdende Metropole Berlin in Der suburbane Raum umfasst nur zehn Prozent der ihrem Herzen – ein Großraum, der sich mittlerweile Fläche Brandenburgs. Dort leben aber mit knapp weit in das Land Brandenburg hinein erstreckt. Auf einer Million Menschen rund 40 Prozent der Branden der anderen Seite dünn besiedelte dörfliche Regionen burger Bevölkerung. Die Umlandgemeinden sind in mit Klein- und Mittelstädten ohne größere Ausstrah den letzten Jahren stark gewachsen und werden auch lung auf ihr Umland. Agrarische Strukturen umgeben in Zukunft weitere Wanderungsgewinne verzeichnen. frühere industrielle Inseln und Zentren der DDR-In Ein Großteil davon kommt aus dem Land Berlin, zu dustriepolitik, die sich nur äußerst langsam erholen dem weiterhin enge Pendelverflechtungen bestehen. und sich dabei neu erfinden müssen.» (Falkner/Kahrs Die Peripherie ist außer den drei Oberzentren Cott 2019: 20) bus, Brandenburg an der Havel und Frankfurt (Oder) von ländlichen Räumen gekennzeichnet. Dort wirken die Mittelzentren als soziale Anker.5 Auf 90 Prozent 2.1 POLITISCHE ÖKONOMIE der Landesfläche leben gut 1,5 Millionen Branden burger*innen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zur Zeit der DDR war die Wirtschaftsstruktur in Bran Einwohnerzahl gesunken und die Bevölkerung geal denburg neben den verschiedenen Dienstleistungs tert. Dieser allgemeine Trend dürfte sich in Zukunft branchen einerseits durch Braunkohlewirtschaft und fortsetzen. So haben Umland und Peripherie jeweils Schwerindustrie (v. a. Stahl) in ausgewählten indus ihre typischen Merkmale und Probleme. Gleichzei triellen Zentren und andererseits durch eine kollekti tig erfährt das Land eine starke Dynamik. So strahlt vierte Landwirtschaft in der Fläche geprägt. Nach der der Metropolenraum zunehmend auf die Peripherie Wende führten die schockartige Währungsunion, die aus. Nicht nur die «Städte der zweiten Reihe», die aus Übernahme von Altschulden aus der DDR und die Berlin in 60 Minuten mit dem Zug zu erreichen sind, Kahlschlagspolitik der Treuhand zu einer schweren wachsen. Sie bilden periphere Zentren. Darüber hin Wirtschaftskrise in Brandenburg. Die Volkseigenen aus sind auch auf dem Land eine starke Binnendiffe Betriebe (VEB) wurden liquidiert oder an westdeut 1 Einzelne der in der Studie genannten Akteure werden mit Videoporträts auf der informativen und anschaulichen Webseite «Brandenburg im Wandel» vorgestellt: https://brandenburg.imwandel.net/. 2 Der Fokus der Untersuchung liegt auf selbstorganisierten Grassroots-Akteuren, die vor allem vom ehrenamtlichen Engagement der Aktiven leben. In Brandenburg spielen auch etabliertere Akteure wie Wohlfahrtsverbände, Umweltverbände, Gewerkschaften und andere eine wichtige Rolle. Die Analyse konnte dieses Feld jedoch nicht abdecken. 3 Die historische Mark Brandenburg bildete zur Zeit der Hohenzollernherrschaft das Kernland Preußens. In der DDR war das Gebiet auf die drei Bezirke Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus aufgeteilt. 4 Im Folgenden wird die Einteilung in das «Berliner Umland» und den «weiteren Metropolenraum» nach Landesentwicklungsplan verwendet, vgl. https://gl.berlin-brandenburg.de/landesplanung/landesentwicklungsplaene/lep-hr/. 5 Dabei ist allerdings hervorzuheben, dass ein Großteil der Bevölkerung in Klein- und Mittelstädten wohnt. Nur rund 15 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Gemeinden. 5
sche bzw. ausländische Investoren verkauft. Viele viel damit zu tun, dass die Tarifbindung der Betriebe Arbeitsplätze gingen verloren (Intelmann 2020). im Land mit 22 Prozent niedriger als in Westdeutsch Zwar gewannen in den Folgejahren moderne Indus land (29 %) ist. Eine Angleichung hat in den letzten triezweige und Dienstleistungsbranchen langsam an Jahren nur deshalb stattgefunden, weil die Zahl im Bedeutung. Sie konnten jedoch in den ersten Jahr Westen deutlich schneller sank als im Osten (MWAE zehnten nicht die Beschäftigungsverluste in den alten 2020). Die vielen tariflich nicht gebundenen Unter Sektoren ausgleichen (IAB 2010). nehmen tragen wesentlich zu dem großen Nied Die Brandenburger Wirtschaftspolitik konzentriert riglohnsektor in Brandenburg bei. Auch öffentliche sich auf eine Reihe von Schwerpunktsektoren. 6 Vergaben des Landes machen – anders als im Koa Vor allem fokussiert sie auf industrielle «Regionale litionsvertrag 2019 angekündigt – eine Tarifbindung Wachstumskerne» (MWAE o. J.), die auf ihr Umland nicht zur Auflage. ausstrahlen sollen. Sie liegen schwerpunktmäßig im Auch wenn der Fokus der Wirtschaftspolitik auf Berliner Umland, in der Lausitz und in ausgewählten Industrie und verarbeitendem Gewerbe liegt, domi Mittel- und Oberzentren. Trotzdem ist die industrielle nieren Dienstleistungstätigkeiten den Arbeitsmarkt Basis bzw. das verarbeitende Gewerbe in Branden in Brandenburg – wie insgesamt in der Bundesrepu burg weiterhin vergleichsweise schwach ausgeprägt. blik. Allein in den Care-Bereichen (Gesundheits- und Ferner sind dort eher nachgelagerte Produktions Sozialwesen, Bildung, Heime und persönliche Dienst standorte und Filialen von Konzernen, nicht aber leistungen) arbeiteten Ende 2019 rund 22 Prozent ihre Zentralen angesiedelt. Beide Phänomene füh der Beschäftigten. Wenn man die Bereiche Erholung ren dazu, dass die Betriebsgrößen im Durchschnitt und Freizeit (Gastgewerbe, Kunst, Unterhaltung) hin eher klein sind. So zählen 72 Prozent zu den Kleinst zunimmt, sind es sogar 26,5 Prozent. Damit liegt die betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten. Die Mark deutlich über dem Bundesdurchschnitt (24 %). existierenden Großbetriebe haben im Schnitt zudem In Verwaltungen, Sozialversicherungen und zivilge weniger Beschäftigte (pro Betrieb) als in anderen Bun sellschaftlichen Institutionen sind knapp zehn Prozent desländern (MWAE 2020). Auch die Wettbewerbsfä tätig; im Einzelhandel acht Prozent. In diesen Bran higkeit der brandenburgischen Wirtschaft gemessen chen sind die durchschnittlichen Vergütungen jedoch an der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität liegt gering: Insbesondere in den weiblich bestimmten nur bei 83,3 Prozent (Stand 2019). Bereichen wie Handel, Gastronomie, Unterhaltung Vor allem in der zurückliegenden Dekade entwickelte und Erholung werden deutlich niedrigere Löhne Brandenburg eine stärkere wirtschaftliche Dynamik gezahlt. Auch in der ambulanten und stationären und konnte in Bezug auf wichtige volkswirtschaftli Pflege arbeiten vor allem Frauen* in Teilzeit – in meist che Kennzahlen langsam aufholen. So wuchsen etwa prekären und belastenden Arbeitsverhältnissen zu die Arbeitsproduktivität und das Bruttoinlandspro schlechten Löhnen. Nicht zuletzt Künstler*innen und dukt pro Kopf schneller als in Westdeutschland. Vor Kulturschaffende leben unter schwierigen Bedingun allem die nominelle Arbeitslosenquote ist in den letz gen mit geringen Einkommen (Landtag Brandenburg ten Jahren erheblich gesunken: von 18,8 Prozent im 2019). Schließlich werden auch migrantische Arbeits Jahr 2003 auf 5,8 Prozent im Jahr 2019. Insbesondere kräfte, die vor allem aus Polen kommen, deutlich die Zahl sozialversicherungspflichtiger Teilzeitjobs ist schlechter bezahlt als ihre deutschen Kolleg*innen. deutlich gestiegen. Außerdem pendelt fast ein Drittel Darüber hinaus variiert die wirtschaftliche Entwick der Brandenburger Beschäftigten nach Berlin oder in lung massiv zwischen den verschiedenen Räumen ein anderes Bundesland. In vielen Branchen der Mark in Brandenburg. Während die Bruttowertschöpfung herrscht inzwischen Fachkräftemangel und zahlrei im Berliner Umland aufgrund verschiedener Stand che Ausbildungsplätze können nicht besetzt werden. ortvorteile zwischen 1996 und 2015 um 66,5 Prozent Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, gestiegen ist, legte sie in den ländlich-peripheren gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, um gutes Per Gebieten und den kreisfreien Städten (außer Pots sonal zu gewinnen. dam) nur um 15,8 Prozent zu (ebd.). Die Arbeitslosen Auch das Pro-Kopf-Einkommen bzw. das Lohnniveau quoten und das verfügbare Einkommen sind insge hat sich in den letzten Jahren dem westdeutschen samt im Berliner Umland und speziell im Südwesten Standard angenähert, lag jedoch 2019 weiterhin nur (Potsdam, Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming, bei 82 Prozent des bundesweiten Durchschnitts. Mit Dahme-Spreewald) eindeutig positiver als in den 40 Prozent sind mehr Niedriglohnbetriebe7 in Bran anderen Oberzentren und in ländlichen Kreisen wie denburg aktiv als in Westdeutschland (31 %). Das hat der Prignitz oder der Uckermark. In solchen Gegen 6 Folgende breit gefächerte Cluster werden als Zukunftssektoren gefördert: Ernährungs-, Land- und Forstwirtschaft; Energiewirtschaft; Metalle; Kunststoffe und Chemie; Verkehr, Mobilität und Logistik; Optik und Photonik; Informations- und Kommunikationstechnologien, Medien und Kreativwirtschaft; Gesundheitswirtschaft und -versorgung sowie Tourismus. 7 Mit durchschnittlichen Bruttolöhnen von weniger als 2.000 Euro. 6
den sind viele Kommunen verschuldet oder sogar in Opposition zum neuen System. Für sie bildete die dauerhafter Haushaltssicherung. PDS bzw. später DIE LINKE lange eine «Milieupartei». In den letzten Jahren ist also eine gewisse wirtschaft Ferner existierten am modernen Rand des sozialen liche Dynamik und ein Aufholprozess in Brandenburg Raums bereits in der DDR recht große alternative festzustellen. Der Preis ist allerdings eine weiterhin und subkulturelle Klassenmilieus, deren Angehörige bestehende Prekarisierung, eine zunehmende Polari zumeist die Nachfolgegenerationen der etablierte sierung sowie eine ökonomische Unterordnung unter ren Bildungsbürger- und Arbeitnehmermilieus dar die wirtschaftlichen Zentren in Berlin und in West stellten. Zwar waren auch sie – in unterschiedlichem deutschland. Maße – von den wirtschaftlichen Umbruchs- und Krisenprozessen betroffen. Sie profitierten allerdings besonders von der politischen und kulturellen Öff 2.2 KLASSEN UND MILIEUS nung und von den neuen Konsum-, Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die modernen Milieus Die politische Ökonomie Brandenburgs bildet die wuchsen an und entwickelten sich immer mehr in Basis für die märkischen Klassenverhältnisse und ihre Richtung der westlichen Klassenstruktur. Veränderungen. Eine Forschungsgruppe um Michael Auch wenn die Ostmilieus sich im Laufe der Jahr Vester hat in den 1990er-Jahren die Entwicklung der zehnte an ihre Westpendants angeglichen haben Klassenmilieus in Ostdeutschland nach 1989 mit und es dazu seit dem Jahr 2000 keine eigenständigen Pierre Bourdieus Ansatz8 analysiert und dafür eine empirischen Untersuchungen mehr gibt, haben sich umfangreiche Fallstudie zu Brandenburg an der Havel gewisse Besonderheiten bis heute fortgeschrieben. durchgeführt. Die Wissenschaftler*innen beschrie So sind die Ostdeutschen überdurchschnittlich in tra ben die spezifische Milieustruktur in der DDR und ihre ditionellen Lebenswelten des «östlichen Fordismus» Transformation in den ersten Jahren nach der Wende und in unteren sozialen Lagen vertreten. Die eta (Vester et al. 1995). blierte Mitte und die experimentierfreudigen, moder Vester und Co kamen zu dem Ergebnis, dass das nen Milieus sind hingegen schwächer. Die wider traditionelle Arbeitermilieu und das kleinbürgerliche sprüchliche Entwicklung der märkischen Ökonomie Milieu 1991 im Osten noch deutlich größer waren korreliert mit einer Differenzierung und Polarisierung als im Westen, was durch die spezifische Klassen- der ostdeutschen Sozialstruktur: «Der soziale Raum und Berufsstruktur in der DDR zu erklären ist. Ent wurde auseinandergesprengt. Es gibt größere soziale sprechend der geschilderten ökonomischen Brüche Unterschiede sowohl in der vertikalen (arm–reich) als erlebten die Angehörigen der genannten Klassenmi auch in der horizontalen (traditionell–modern) Dimen lieus nach der Wende auch in Brandenburg massive sion.» (Hofmann 2020) Abstiegsprozesse und Statusverluste. Die prekären, sozial wenig eingebetteten Milieus im unteren sozia len Raum wuchsen. Nur einem Teil gelang es, in 2.3 EINSTELLUNGEN UND ENGAGEMENT modernere Berufsfelder zu wechseln. Ein selbstbe DER BRANDENBURGER*INNEN wusstes Facharbeitermilieu in der Mitte des sozialen Raums konnte sich erst langsam wieder entwickeln So heterogen und polarisiert wie die Ökonomie und und profitiert heute vom partiellen Aufschwung in Klassengesellschaft sind auch die Einschätzungen Brandenburg. der Brandenburger*innen zur Gesellschaft und zum Die führenden Klassenmilieus der technischen und Leben (Policy Matters 2020; Landtag Brandenburg sozial-kulturellen Intelligenz sowie der politischen 2019). So waren in den letzten Jahren wachsende und Sicherheitsapparate bildeten in der DDR eine Mehrheiten von rund zwei Drittel mit der Entwick große Gruppe. Zwar erlebten die meisten Angehö lung des Bundeslands und ihrem eigenen Leben rigen dieser Milieus nach der Wende ebenfalls teils (einschließlich ihrer finanziellen Situation) zufrieden erhebliche Abstiege. Sie konnten sich aber über und blickten zuversichtlich in die Zukunft. Das trifft in wiegend gut reorientieren und neue Funktionen im besonderem Maße auf Menschen mit einem höheren modernen Dienstleistungssektor besetzen bzw. die Bildungsniveau und auf Bewohner*innen des Berliner neuen wirtschaftlichen Chancen für sich nutzen. Umlands zu, wo die Wirtschaft prosperiert. Aber auch Teile des DDR-Bildungsbürgertums hielten allerdings die Bevölkerung in den peripheren Räumen schätzt an ihren sozialistischen Idealen fest. Soziale Status mehrheitlich das Leben auf dem Land. Das wird vor verluste und politische Entfremdung brachten sie in allem mit einer hohen Wohnqualität, einem nachbar 8 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu analysierte die Bevölkerung im Hinblick auf die Ausstattung der Menschen mit ökonomischen, Beziehungs- und Bildungsressourcen und auf typische Habitusformen. Auf Basis dieser Analyse schloss er auf mehrere relativ stabile Milieus in einem zweidimensionalen sozialen Raum. 7
schaftlichen Zusammenhalt in den Gemeinden und der Tendenz). Die meisten jungen Menschen wollen der Naturnähe begründet. perspektivisch umziehen, die Hälfte davon innerhalb Auch die Bedingungen für ein zivilgesellschaftliches des Raums Berlin-Brandenburg. Von einem niedri Engagement in Brandenburg sind durchaus vorhan gen Niveau ausgehend sind ihr Interesse und ihre den. Größere Teile der Bevölkerung stimmen prinzi aktive Teilnahme am politischen Leben kontinuierlich piell Werten wie Geschlechtergerechtigkeit, Weltof gestiegen. Gleichzeitig schenken sie Politiker*innen fenheit und Solidarität mit schwächeren Gruppen zu. und Parteien kaum Vertrauen. Im langfristigen Trend Das Problembewusstsein für Rechtsradikalismus und lehnen zwar immer mehr junge Brandenburg*innen Rassismus ist in den letzten Jahren etwas gewach rechtsradikale Positionen ab. Aber immer noch über sen – insbesondere im Berliner Umland (Policy Mat 15 Prozent vertreten solche Einstellungen – Jungen* ters 2020). Die Anzahl der Brandenburger*innen, die doppelt so häufig wie Mädchen* (IFK 2018). sich im weitesten Sinne bürgerschaftlich engagieren, Auf der Ebene der Parteipolitik lässt sich feststellen, ist in den letzten Jahrzehnten größer geworden – dass insbesondere die Grünen überproportional von auch im ländlichen Raum. Die Menschen sind vor jungen Menschen, Frauen*, Höhergebildeten und allem in der Kirche, in Feuerwehren sowie in Kleingar Stadtrandbewohner*innen gewählt werden sowie ten-, Sport- und Kulturvereinen aktiv. Allerdings set von Bürger*innen, die besonders zufrieden mit der zen sich eher Höhergebildete und Erwerbstätige ein; Demokratie sind und daran glauben, dass sich die Arbeitslose und Menschen mit niedriger Bildung bzw. politischen Bedingungen zum Guten wenden lassen. geringen finanziellen Ressourcen deutlich weniger In Bezug auf die Wählerbasis bilden die Grünen damit (Landtag Brandenburg 2019). in jeder Hinsicht den Gegenpol zur AfD (siehe Kapi Wachsende Teile gerade dieser Bevölkerungsgrup tel 2.7). DIE LINKE leidet hingegen unter einer Erosion pen machen sich Sorgen um die soziale Gerechtigkeit ihrer ehemaligen regionalen und sozialen Hochbur und die wirtschaftliche Situation, um Löhne, soziale gen und ist aus Sicht vieler Wähler*innen zu wenig Sicherheit und die Zukunft ihrer Kinder. Als größtes politisch profiliert (Kahrs 2019). Das ist insofern para Problem empfinden die Bürger*innen die Arbeitslo dox, als Mitglieder der LINKEN in vielen lokalen Ini sigkeit – insbesondere in den ländlichen Räumen. Vor tiativen aktiv sind (siehe Kapitel 2.8). Mitglieder von diesem Hintergrund genießen nur Sicherheits- und Grünen und SPD sind durchaus auch in verschiede Rettungsdienste sowie die jeweils eigenen Kommu nen Bündnissen aktiv, aber nicht in dem Maße wie die nalverwaltungen das Vertrauen der Mehrheit. Dage der DIE LINKEN. gen vertrauen nur Minderheiten den politischen Insti tutionen auf Landesebene – allerdings mit steigender Tendenz. 2.4 WANDERUNGEN IN DER MARK Die Weltsichten und Subjektivitäten sind also zwi BRANDENBURG schen sozialen Gruppen und Räumen differenziert, mithin polarisiert. Abhängig von der Geschichte ein Seit jeher ist die brandenburgische Gesellschaft zelner Orte, den wirtschaftlichen und Lebensbedin durch starke Wanderungsbewegungen charakte gungen sowie den vorherrschenden Milieus entste risiert: Zu nennen wären etwa die Zuwanderung in hen spezifische lokale und regionale Alltagskulturen die entstehenden industriellen Zentren und Inseln und -wahrnehmungen, die sich teilweise auch zwi im 19. Jahrhundert; später die Ansiedlung von deut schen räumlich nahe gelegenen Gemeinden deutlich schen Geflüchteten aus den ehemaligen Ostgebieten unterscheiden. Aufstrebende Umlandgemeinden nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Wende sind oder abgeschiedene Dörfer, ehemalige Industrie viele junge Menschen aus den ländlichen Regio städtchen oder Tourismusorte sind durch ganz ver nen aufgrund der Arbeits- und Perspektivlosigkeit schiedene kollektive Stimmungen gekennzeichnet. fortgezogen. Insbesondere die äußeren Peripherien Die einen Orten sind von einem Klima der Offenheit entlang der Landesgrenzen hatten massive Einwoh und des Optimismus bestimmt, andere von Miss nerverluste zu verkraften. Dagegen konnten sich die trauen, innerer Emigration und düsteren Zukunfts Gemeinden des Berliner Umlands stabilisieren bzw. erwartungen. Solche Lokalkulturen können sich im sogar Bevölkerungszuwächse verbuchen. In den letz Laufe der Zeit wandeln: Konservative Orte öffnen ten Jahren ziehen wieder verstärkt Menschen nach sich langsam, eigentlich weltoffene Orte kippen nach Brandenburg; der Wanderungssaldo ist positiv. Von rechts (siehe Kapitel 2.7 und 2.8). der neuen Landlust profitiert bisher aber vor allem Ferner variieren die Wahrnehmungen auch zwischen der wirtschaftlich prosperierende Berliner Großraum. den Generationen. So ist die Mehrheit der Jugendli Nicht nur Zuwanderer*innen aus dem boomenden chen mit ihrem Leben und den Lebensbedingungen Berlin, sondern auch aus Westdeutschland lassen in ihrer Region zufrieden und blickt optimistisch in sich überwiegend im suburbanen Raum nieder. In die Zukunft. Allerdings berichten gut 40 Prozent von den acht sogenannten Sektoralkreisen, die wie Tor finanziellen Problemen in der Familie (mit abnehmen tenstücke um die Metropole liegen, ziehen die Men 8
schen vor allem in die berlinnahen Gemeinden (Ber sozialen Gruppen mit spezifischen Motiven geprägt. lin-Institut/Neuland21 2019; IFL 2019). So verlassen die meisten jungen Menschen nach Die Mehrheit der Gemeinden in den ländlich-periphe der Schule ihre Brandenburger Heimatorte in Rich ren Räumen ist hingegen trotz Nettozuzug weiterhin tung der größeren Städte, wo sie Hochschulen, geschrumpft. Viele ökonomisch wie kulturell schwä Arbeitsplätze und Kulturangebote finden. Das trifft cher aufgestellte Kleinstädte und Dörfer können der überdurchschnittlich auf Frauen* und Menschen mit Anziehungskraft der Großstädte kaum etwas entge einem höheren Bildungsabschluss zu. Das Ziel der gensetzen und verlieren stetig Einwohner*innen.9 jungen Leute sind nicht mehr wie in den 1990er-Jah Diese Regionen beheimaten überdurchschnittlich ren überwiegend die westdeutschen Bundeslän viele alte Menschen und werden wohl in Zukunft der, sondern verstärkt die ostdeutschen Groß- und eine weitere Überalterung erfahren. Entsprechend Universitätsstädte wie Potsdam, Jena, Berlin oder fehlen dort Menschen jüngeren Alters – insbeson Leipzig, aber auch kleinere Städte. Bei den Berufs dere Frauen*. Zwar sind die Geburtenraten in den wanderer*innen ist eine noch stärkere Bewegung in letzten Jahren wieder gestiegen. Diese reichen allein Richtung der urbanen Zentren zu beobachten, wo die aber nicht für eine demografische Trendwende aus. meisten hoch qualifizierten Jobs zu finden sind. Von Die räumlichen Bevölkerungsbewegungen dürften dieser Gruppe zieht allerdings auch ein wachsender die demografische Polarisierung in den nächsten Teil ins Berliner Umland. Jahrzehnten verstärken. So wird dem Umland ein Der Trend zum Landleben wiederum erfasst mehr weiterhin erhebliches Bevölkerungswachstum prog die Familiengründer*innen. Die Idylle von Dorf und nostiziert, während die Einwohnerzahl insbesondere Natur, mehr Platz und die Hoffnung auf ein eigenes im südlichen Brandenburg wohl noch einmal massiv Haus im Grünen motivieren viele junge Familien, schrumpfen wird (ebd.). aufs Land zu ziehen. Berlin ist dagegen in den letz Allerdings hat sich die Abwanderung aus den Peri ten Jahren immer voller und teurer geworden, sodass pherien in den letzten Jahren fast flächendeckend die Freiräume rapide geschrumpft sind. Doch auch abgeschwächt. Die negativsten Szenarien haben diese Gruppe der 30- bis 49-Jährigen lässt sich über sich nicht bewahrheitet. Zu dieser Stabilisierung trägt wiegend im suburbanen Raum nieder. Nur eine Min auch bei, dass die demografische Dynamik des Ber derheit von ihnen zieht in abgeschiedene Gemeinden. liner Großraums zunehmend in entlegenere Regio Die Zuziehenden können die demografischen Trends nen ausstrahlt. Ferner sind erhebliche kleinräumige dort bisher nur abmildern. Unterschiede in Brandenburg festzustellen. Nicht Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die neuen nur die Oberzentren und einige Mittelzentren sind Landbewohner*innen aus Lebenswelten kommen, Wachstumskerne. Auch einzelne Gemeinden und die in den ländlichen Regionen unterrepräsentiert Dörfer bleiben stabil oder wachsen sogar, auch wenn waren. Ein Teil von ihnen sind Angehörige der hippen, sie in schrumpfenden Räumen liegen (siehe Kapi kreativen und alternativen Milieus, die hohe Bildungs tel 2.9). abschlüsse haben und in Großstädten wie Berlin sozi Unter dem Strich ist Brandenburg von einer durch alisiert worden sind. Sie arbeiten im Bildungs- und aus starken Wanderungsdynamik gekennzeichnet. Sozialbereich oder in Wissens- und Kreativberufen Um das Jahr 2010 umfasste die Gruppe derjenigen, (Berlin-Institut/Neuland21 2019).10 Vor allem im Ber die nicht in Brandeburg geboren waren, ein Viertel liner Umland sind die Zuzügler*innen eher liberal und der Brandenburger Bevölkerung. Im Berliner Umland weltoffen orientiert. Und sie verfügen über höhere kam bereits die Mehrheit von anderswo. Dieser Trend Einkommen und Vermögen – allein schon, weil sich hat sich im vergangenen Jahrzehnt verstärkt (Falk nur noch Wohlhabende die rasant gestiegenen Immo ner/Kahrs 2019). Auch in den peripheren Regionen bilienpreise leisten können (siehe Kapitel 2.2 und 2.8). gehört durchschnittlich nur noch ein Drittel zu den jenigen, die schon immer in ihrer Gemeinde gelebt haben. Etwa ein Achtel sind Rückkehrer*innen. Gut 2.5 INFRASTRUKTUR IM UMLAND die Hälfte ist ganz zugezogen. Knapp jede*r Fünfte UND IN DER PERIPHERIE hat sich erst in den letzten zehn Jahren in ihrer bzw. seiner Gemeinde niedergelassen (Landtag Branden Mobilitätsangebote sowie technische und soziale burg 2019). Infrastrukturen sind zentrale Bereiche der Daseins Wanderungsbewegungen aus bestimmten Regio vorsorge und eine wichtige Voraussetzung für die nen in bestimmte Räume sind jeweils von typischen Lebensqualität auf dem Land. Sie bilden Anker, um 9 In der Peripherie sind Wanderungen durch Umzüge innerhalb von Brandenburg (v. a. in die Mittelzentren) oder aus angrenzenden Bundesländern geprägt. 10 Schließlich ziehen auch ältere Menschen bewusst in ländliche Gegenden, weil sie sich dort einen Ruhesitz für das Alter schaffen oder weil es dort bestimmte Pflegezentren oder Seniorenheime gibt. 9
die herum eine Gemeinde sich entwickeln, Einhei stationären wie ambulanten Gesundheitsversorgung mische halten und Zuzügler*innen gewinnen kann. fehlen Ärzt*innen und Pflegekräfte vor allem in peri Allerdings variiert die Ausstattung mit diesen Infra pheren Regionen und kleineren Gemeinden. Die strukturen erheblich zwischen Umland und Periphe Brandenburger*innen schätzen die Verfügbarkeit rie, zwischen großen und kleinen Gemeinden (Land der Notfallhilfe zwar überwiegend als gut ein, ihre tag Brandenburg 2019). Zwischen den Landkreisen, Kritik an der allgemeinen medizinischen Versorgung aber auch innerhalb der Kreise werden politische nimmt jedoch zu – auch wenn bislang alle Kranken Auseinandersetzungen darum ausgetragen, wie die hausstandorte erhalten oder wieder eröffnet werden Infrastrukturen ausgestaltet werden und wer welche konnten. Doch nur in wenigen Orten organisieren Angebote bekommt. Die politische Herausforderung sich Menschen wegen der mangelnden Gesundheits besteht nicht nur darin, den unterschiedlichen Bedar versorgung. In Potsdam, Frankfurt (Oder) und Bran fen in den verschiedenen Regionen gerecht zu wer denburg an der Havel existieren zum Beispiel Kran den, sondern auch darin, die Planung von einem stark kenhausbündnisse bzw. aktive Betriebsräte. schrumpfenden auf ein in Teilen dynamisch wach Auf der einen Seite steigt die Zahl der Pflegebedürf sendes Land umzustellen. Angesichts der vielen Pro tigen in Brandenburg kontinuierlich. Insbesondere bleme und Ungleichheiten gibt es nur überraschend im Norden des Landes leben viele pflegebedürftige wenige Initiativen, die sich für eine bessere Daseins Senior*innen. Auf der anderen Seite ist die Anzahl der vorsorge einsetzen (siehe Kapitel 2.8). Beschäftigten in ambulanten und stationären Pflege Öffentliche Mobilität im ländlichen Raum und Anbin einrichtungen zwar deutlich gestiegen. Wegen der dung an den Berliner Ballungsraum sind zentral für schlechten Arbeitsbedingungen kann der steigende Mobilitätsgerechtigkeit und die Entwicklungsper Bedarf jedoch nicht gedeckt werden, sodass ein spektive ganzer Regionen. Doch gerade in diesem erheblicher Teil der Pflege von Angehörigen geleistet Bereich besteht ein besonderer Handlungsbedarf. werden muss (siehe Kapitel 2.1). Immer mehr Brandenburger*innen sind mit dem Mit Einkaufsläden, Poststellen und Banken sind die Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs meisten Bewohner*innen des ländlichen Raums (ÖPNV) unzufrieden. So wurden bis 2006 circa zufrieden. Der Einzelhandel konzentriert sich aber 660 Bahnkilometer abbestellt. Seit 2009 wurden immer mehr auf große Einkaufszentren, während einzelne Strecken zwar reaktiviert und mit dem Pro kleine Läden aus den Dörfern verschwinden. Auch jekt Plus-Bus wurde ein überregionales Bussystem die Dichte von kulturellen Angeboten, etwa Biblio geschaffen. Der ÖPNV kann jedoch die zunehmen theken, variiert sehr stark zwischen den Regionen. den Pendlerströme vor allem nach Berlin kaum noch Deshalb schätzen immer mehr Brandenburger*in bewältigen. Viele Züge sind überfüllt und unzuverläs nen das Kulturangebot als sehr ungenügend ein. Mit sig. Kleine Bahnhöfe haben eine geringe Taktdichte. fehlenden Dorfläden, Bibliotheken und Kulturstätten Für lokale Bus- und Straßenbahnlinien sind die Land mangelt es an Begegnungsorten und Treffpunkten für kreise zuständig: Mangelhafte Angebote führen dort soziale Aktivitäten, die von vielen vermisst werden. zu rückläufigen Fahrgastzahlen und sinkenden Ein Einige Bürgerinitiativen und Projekte reagieren auf nahmen, sodass einige Dörfer gar nicht mehr ange diesen Mangel, indem sie eigene, selbstorganisierte fahren werden – ein Teufelskreis. Rufbusse werden Räume schaffen. noch zu selten eingesetzt. Ein Teil des Problems sind Schließlich wird auch das Wohnen zum wachsenden Verwaltungen, die gangbare Lösungen blockieren.11 Problem. In den letzten Jahren sind Mieten sowie In einer Reihe von Orten und Regionen sind Initiativen Immobilien- und Baulandpreise im Berliner Umland aktiv, die sich für eine Verbesserung des ÖPNV einset massiv gestiegen. Trotzdem reduzierte die Landes zen, etwa für die Wiederinbetriebnahme stillgelegter regierung Anfang 2021 die Kommunen, die unter Bahnverbindungen. Mehrere Verbände haben eine die Mietpreisbremse fallen, von 31 auf 19, damit die Volksinitiative zu dem Thema gestartet.12 Immobilienwirtschaft in Zukunft noch höhere Rendi Die meisten Bewohner*innen des ländlichen Bran ten erzielen kann. Ferner gibt es im suburbanen Raum denburgs bewerten die Versorgung mit Kinderta große Unterschiede. Das hängt mithin davon ab, wie geseinrichtungen und Schulen zwar als gut. Doch in Kommunalpolitik und öffentliche Wohnungsgesell abgeschiedenen Regionen sind die Kitas wegen des schaften agieren. Der Preisdruck strahlt in konzentri mangelhaften ÖPNV oft schlecht zu erreichen. Auf schen Kreisen auch immer stärker auf die berlinfernen grund sinkender Schülerzahlen in schrumpfenden Regionen aus. Insbesondere entlang der Siedlungs Gegenden müssen Schulen teilweise schließen – achsen bzw. der Bahnlinien steigen die Preise (von insbesondere weiterführende Schulen. Auch in der einem ursprünglich niedrigen Niveau aus). In begehr 11 Auch die Versorgung mit Breitbandinternet ist im ländlichen Raum besonders ungenügend und führt bei den Betroffenen zu wachsender Unzufriedenheit. Das Problem ist, dass der Ausbau für die privaten Unternehmen dort nicht profitabel genug ist. 12 Weitere Informationen unter: https://verkehrswende-brandenburg.vcd.org/startseite/. 10
ten Lagen der Ober- und Mittelzentren sind teilweise Region Milliarden für den Strukturwandel bekommt, Gentrifizierungsprozesse wie in Berlin festzustellen. fürchten viele Lausitzer*innen um ihre Zukunft (siehe Sogar in manchen peripheren Städten werden so Kapitel 3.6). Gleichzeitig erlebt Brandenburg einen viele Häuser gekauft bzw. gebaut, dass kaum noch rasanten Ausbau erneuerbarer Energien. Dadurch Leerstand und freies Bauland vorhanden sind. entstehen neue Konfliktkonstellationen und neue Dazu kommt, dass es in vielen Gemeinden zu wenige Akteure werden aktiv: (dezentrale) Betreiber von oder für die Bedarfe unpassende Mietwohnungen Anlagen, aber auch Protestinitiativen gegen Strom gibt. Vor allem für Familien fehlen große Wohnungen. netze sowie gegen Wind-, Fotovoltaik- und Biogas Akteure des Immobilienbooms sind neben privaten anlagen. Viele Initiativen haben einen rechten Hin Hausbauer*innen, Genossenschaften und kommu tergrund, manche einen progressiven (Becker et al. nalen Wohnungsbauunternehmen sowie klassischen 2013). Projektierern zunehmend finanzmarktgetriebene Mindestens ebenso umkämpft ist die Landwirtschaft Investoren. Anders als in Berlin ist aber in Branden in Brandenburg. Auf der einen Seite ist sie geprägt burg bisher kaum eine Bewegung um dieses Thema von teilweise rechten Wählergruppen aus bäuerli entstanden. In Potsdam, Brandenburg an der Havel, chen Kreisen sowie von konventionellen Bewirtschaf Cottbus oder Eberswalde gibt es durchaus politische tungsmethoden. Die Landwirtschaft wird von großen Kämpfe um das Wohnen und ein Recht auf Stadt. In Agrarunternehmen dominiert. In den letzten Jahren ländlichen Gemeinden finden sich jedoch nur ein sind außerdem Finanzmarktakteure hinzugekom zelne Beispiele von Mieterinitiativen. men, die in großem Stil Flächen aufkaufen. Durch die ses Landgrabbing steigen Bodenpreise und die Flä chen für andere Landwirt*innen werden knapp. Auf 2.6 UMKÄMPFTE NATURVERHÄLTNISSE der anderen Seite protestieren progressive Initiativen zum Teil erfolgreich gegen die ökologischen Folgen Schließlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse von Großmastanlagen, Monokultur und massenhaf zur Natur Gegenstand vielfältiger Konflikte, die auch tem Pestizideinsatz. Im Jahr 2016 nahm die Landes Fragen ländlicher Umweltgerechtigkeit aufwer regierung etwa ein Volksbegehren gegen die Mas fen. Zum Beispiel schaffen große Industriebetriebe sentierhaltung in veränderter Form an. Gleichzeitig und Infrastrukturprojekte wie Tesla, der Flughafen setzen viele Höfe auf die Produktion von Biolebens BER oder auch das (verhinderte) Bombodrom im mitteln. Oder sie experimentieren mit alternativen Landkreis Ostprignitz-Ruppin Arbeitsplätze und Formen wie der solidarischen Landwirtschaft. In eini Steuereinnahmen. Sie belasten aber die regiona gen Regionen haben sich Ernährungsräte gegründet len Ökosysteme und Anwohner*innen durch Lärm (siehe Kapitel 2.8).13 (BER, Bombodrom) oder durch die Zerstörung von Wäldern und Wasserkreisläufen (Tesla). Und sie ent werten dadurch die Immobilien der Betroffenen. Fer 2.7 DIE RADIKALE RECHTE ner haben sie oft gravierende globale Auswirkungen auf den Frieden (Bombodrom), lokale Communities Um die Bedeutung der radikalen Rechten in Bran (Tesla) oder das Klima (BER). Aber auch ohne die denburg zu verstehen, muss man bis in die Zeit Infrastrukturprojekte ist Brandenburg im Vergleich zu der Weimarer Republik zurückgehen. Anfang der anderen Bundesländern besonders stark von der Kli 1930er-Jahre entwickelte sich vor allem der länd makrise betroffen: In Zukunft werden Hitze, sommer lich-periphere Osten des heutigen Brandenburg (die liche Trockenheit, Wasserknappheit und Extremereig Gebiete an der Oder entlang) zu einer Hochburg der nisse wie Waldbrände zunehmen (DWD 2019). Vor Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei diesem Hintergrund hat die Klimabewegung in den (NSDAP). In der DDR, so argumentieren Falkner und letzten Jahren auch in der Mark einen Aufschwung Kahrs, war die «nationalsozialistische Prägung […] erfahren – allen voran Fridays for Future (siehe Kapi nur unter die Oberfläche verbannt, wo sie sich offen tel 2.8). sichtlich auch reproduzieren konnte und nach dem Ein Brennpunkt der Auseinandersetzung ist die Wegfall der disziplinierenden Aspekte der DDR-Struk Braunkohlewirtschaft in der Lausitz: Die Region ist tief turen allmählich wieder aufbrach» (Falkner/Kahrs gespalten zwischen Kohlegegner*innen und -befür 2019: 29). Gleichzeitig wurden diese latenten Ein worter*innen. Obwohl die meisten Kraftwerke nach stellungsmuster von Teilen der Wendegeneration auf Beschlusslage der ehemaligen Bundesregierung der Suche nach neuen ideologischen Orientierungen noch bis 2038 weiterbetrieben werden sollen und die wiederbelebt. Die Renaissance rechtsradikaler Ten 13 Schließlich ist auch der Naturschutz ein umstrittenes Feld. Die zahlreichen und großen Schutzgebiete in Brandenburg sind Gegenstand konkurrierender Nutzungs- und Gestaltungsinteressen. 11
denzen muss vor dem Hintergrund der spezifischen 23,5 Prozent in den Brandenburger Landtag einzog. Bedingungen im Systemumbruch betrachtet werden. Der vom «Flügel» dominierte Landesverband weist Die Rechte seit der Wende: So gab es im Osten enge Bezüge zu Neonazis auf. Rechtsradikale und bereits in den 1980er-Jahren eine wachsende rechte rechtspopulistische Szenen mischen sich zuneh Skinheadszene. Aber als gut organisierte Bewe mend. Die Brandenburger AfD hat aber auch neue gung formierte sie sich erst nach der Wende. In den Kreise von Rechten aktiviert, die mitunter enge Ver «Baseballschlägerjahren» terrorisierten rechte Grup bindungen zu Teilen von CDU und rechten freien pen in zahlreichen Orten Migrant*innen, Linke und Wählergruppen haben. Die AfD trägt durch ihre Prä Andersdenkende. Seit 1990 haben Neonazis über senz im Alltag zu einer Diskursverschiebung bzw. 20 Menschen in Brandenburg ermordet (Opferpers einer Normalisierung rechter Positionen bei. Sie ver pektive o. J.). Wichtige rechte Organisationen der ers ändert durch den Zugewinn von Mandaten und finan ten Jahre waren die Nationalistische Front, die United ziellen Ressourcen die politischen Bedingungen in Skins und Blood & Honor. Regionale Schwerpunkte den Kommunen massiv und bedroht alternative und bildeten nicht nur Frankfurt (Oder), Cottbus und die zivilgesellschaftliche Projekte durch Anträge, Anfra Lausitz – die früher von linken Bastionen bestimmt gen und Ähnliches. Dennoch bleibt auch die AfD war – sowie viele Kleinstädte im ländlichen Raum. hinter dem politischen Potenzial zurück, das ihr aus Insbesondere im Berliner Umland lagen die opera der breiten Wählerbasis erwächst. Die Gründe liegen tiven Zentren der Rechten: in Oranienburg, Velten, darin, dass ihr bisher noch eine breite Kaderschicht Kremmen und Nauen, in der Gegend um Königs fehlt, sie in manchen Kreisen und Kommunen unterei Wusterhausen, auch in Potsdam (Kleffner/Spangen nander zerstritten ist und die Partei bundesweit durch berg 2016). ihren Richtungsstreit in Schwierigkeiten geraten ist. Durch zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen Die soziale Basis – Generation Hoyerswerda: Aktive Protest, durch staatliche Repression und interne Zer Nazis waren auch in den 1990er-Jahren nur eine Min würfnisse erlitt die Rechte Rückschläge, wandelte derheit. Aber sie beförderten durch die Alltagspraxis sich aber immer wieder und organisierte sich neu in ihren Orten die Entstehung eines eigenen politi (Botsch/Schulze 2021). So gab es unterschiedliche schen Milieus – die «Generation Hoyerswerda», die Wellen rechtsradikaler Aktivität und Gewalt in ver die Erfahrung gemacht hat, durch kollektiven Terror schiedenen Regionen. Über diese Bewegungszyklen auf der Straße politische Siege erringen zu können hinweg blieben viele faschistische Kader aktiv. Einige (Kleffner/Spangenberg 2016). Die AfD bekommt in Orte sind seit Jahrzehnten durch eine rechte Domi Brandenburg zwar Stimmen aus allen Schichten nanz geprägt. Nazis nehmen nicht nur haupt- und und Altersgruppen. Doch ihre Wahlerfolge sind ehrenamtliche Funktionen in ihren Gemeinden wahr, nicht zuletzt auf die nachhaltige rechte Prägung der sondern schlagen auch immer wieder zu. Sie haben genannten Generation zurückzuführen. Vor allem Einfluss in der Türsteher-, Kampfsport- und Hooligan viele Männer* der mittleren Jahrgänge, die heute im szene, in örtlichen Trinkerkreisen und in der organi Berufsleben stehen und oft in ihren Gemeinden sozial sierten Kriminalität. So bleiben sie im Alltag präsent verankert sind, wählen seit den 1990er-Jahren stabil und haben dazu beigetragen, dass sich rassistische faschistische Parteien. Dieser harte rechtsradikale und patriarchale Einstellungen etablieren konnten. Kern bildet zusammen mit neu hinzugewonnenen In den letzten Jahren haben zudem völkische Sied rechtsbürgerlich-konservativen Kreisen die Stamm ler*innen, Reichsbürger*innen und zuletzt Coro wählerschaft der Brandenburger AfD. So wählen na-Leugner*innen an Bedeutung gewonnen, unter nicht nur Männer* fast doppelt so häufig wie Frauen* die sich vielerorts auch ein esoterisch-anthroposo die Rechtsaußenpartei, sondern sie schneidet auch phisches Spektrum mischt. Nichtsdestotrotz machen bei allen Geschlechtern in den Altersgruppen von 35 aktive Antifaschist*innen in manchen Landkreisen die bis 60 weit überdurchschnittlich ab. Ferner erhält die Erfahrung, dass auch die Nazis älter werden und sich AfD von Menschen mit einem mittleren Bildungs tendenziell ins Private zurückziehen, weniger aktiv abschluss, der zu einem Fachlehrberuf qualifiziert, sind und in vielen Orten eine geringere Alltagspräsenz besonders viele Stimmen (Falkner/Kahrs 2019). haben. Mit dem Sommer der Migration 2015 kam es Mehrere wissenschaftliche Analysen zeigen zudem, in vielen Orten von Brandenburg allerdings zu einer dass sich Menschen mit bestimmten menschen- und neuen Welle von Gewalt und Demonstrationen gegen demokratiefeindlichen Positionen in der Brandenbur Unterkünfte für Geflüchtete, an denen sich auch «nor ger AfD-Wählerschaft konzentrieren, während sie in male» Bürger*innen beteiligten. Dort zeigte sich, dass der sozialen Basis anderer Parteien nur Minderheiten die Anhänger*innen der Rechten nie aus Branden bilden. Die Stimmanteile der AfD können deshalb burg verschwunden sind, sondern sich leicht reakti auch ein Indiz für die Verbreitung solcher Einstel vieren lassen. lungsmuster in der Bevölkerung sein. «In bestimmten Mittelfristig konnte von dem rechten Bewegungs Milieus über Generationen modifiziert erhaltene Habi zyklus vor allem die AfD profitieren, die 2019 mit tus- und Mentalitätsmuster prägen die Deutungen, 12
die wiederum den Rohstoff für politische Mobilisie 2.8 DIE MOSAIKLINKE rung bilden.» (Kahrs 2019: 15) Diese grundlegenden Weltanschauungen bestehen in einer konservativ-au Es wäre jedoch falsch, aus der Stärke der radikalen toritären Gesellschaftsvorstellung, der Orientierung Rechten zu schlussfolgern, dass sie allein die politi an einem völkischen Kollektiv, das Vorrang vor den sche Landschaft in Brandenburg dominieren kann. Fremden haben müsse, sowie in einer Betonung Genauso wie es in der Weimarer Republik lokale und von Leistung und harter Arbeit, die allein zu sozialer regionale Hochburgen der Rechten gab, so hatte Teilhabe berechtige. Dazu kommt ein patriarchales auch die Linke an zahlreichen Orten eine starke Basis: Männerbild, das auf Stärke, Gewalt und traditionellen in Industriestädten wie Rathenow, Brandenburg an Geschlechterrollen basiert. der Havel, Nowawes (heute Potsdam-Babelsberg), Vor diesem Hintergrund sammeln sich bei der AfD vor Luckenwalde und vor allem in Cottbus und den umlie allem diejenigen Brandenburger*innen, die neolibera genden Arbeiterstädten der Lausitz. Während der len und emanzipatorischen Modernisierungsprozes gesamten Dauer des faschistischen Regimes setzten sen skeptisch gegenüberstehen. Weniger ein Gefühl zudem sozialdemokratische und kommunistische der Marginalisierung erklärt dann die Stimmen für Zellen in vielen Orten den antifaschistischen Kampf die AfD, sondern eher eines, die als erstrebenswert aus dem Untergrund fort (Sandvoß 2019). empfundene traditionelle Lebensweise gegen Ver Auch heute gibt es vielfältige linke, progressive und änderungen verteidigen zu müssen. Diese Deutung demokratische Akteure in Brandenburg. Allerdings befördert die Konstruktion einer kollektiven Identität: verstehen sich viele dieser Gruppen nicht als expli Ein speziell im Osten verankertes «Volk» versucht, zit links, sondern als Punks, engagierte Christ*innen sich aggressiv gegen die Zumutungen der modernen oder einfach Antifaschist*innen. Ferner sind deutliche Welt abzuschotten. Konsequenterweise ist das ver regionale Unterschiede festzustellen: Während die bindende Moment der Rechten der Rassismus gegen gesellschaftlichen Bedingungen für zivilgesellschaft Migrant*innen, Geflüchtete und Muslim*innen. Der liches Engagement im Berliner Umland zunächst Sommer der Migration war in Brandenburg nur der günstiger sind, sind die Strukturen in vielen peri Anlass, durch den diese Einstellungen mobilisiert pheren Gegenden relativ dünn. Es ist aber auch der wurden. Gepaart ist die Fremdenfeindlichkeit mit gegenteilige Trend zu beobachten, dass sich einige einem tiefen Misstrauen gegenüber den etablierten suburbane Gemeinden zu eher inaktiven Schlaforten demokratischen Institutionen, gegen die die Deut entwickeln und in manchen peripheren Zentren eine schen aufbegehren müssten. lebendige Zivilgesellschaft entsteht. Schließlich gibt Die AfD-Anhänger*innen in Brandenburg blicken es ein relativ klares Nord-Süd-Gefälle des Engage zwar überdurchschnittlich pessimistisch auf die wirt ments: Insgesamt findet sich in der nördlichen Hälfte schaftliche Lage im Land. Trotzdem scheinen soziale des Landes ein dichteres Netz von Gruppen und Ini Themen bei ihnen eher eine untergeordnete Rolle zu tiativen, wohingegen die Zivilgesellschaft Richtung spielen – ebenso Interessen als deprivilegierte Ost Süden und insbesondere in der Lausitz am prekärsten deutsche. Über die sozialräumliche Polarisierung aufgestellt ist. tritt die soziale Frage jedoch in den Mittelpunkt der Die soziale Basis der progressiven Kräfte: In der DDR rechten Weltsicht. Die regionalen Hochburgen der wurden Sozialismus und Antifaschismus zur autori AfD fast im gesamten Süden und Osten des Landes tären Staatsdoktrin und die zuvor linken Klassenmili sind nicht allein durch historische Kontinuitäten zu eus veränderten sich tiefgreifend. So waren nicht die erklären, sondern auch damit, «dass die regionalen traditionellen Arbeitermilieus, sondern die moderne Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten, ein zuneh ren alternativen und subkulturellen Milieus die Träger mendes Auseinanderdriften der sozialräumlichen All der Wende: «Die Akteure der friedlichen Revolution tagswelten in den ostdeutschen Ländern selbst, ent von 1989/90 kommen im Wesentlichen aus diesen scheidend sind für die Herausbildung eines Gefühls blockierten, neuen sozialen Milieus, die sich in den für den sozialen Raum, in dem man lebt» (ebd.). letzten 20 Jahren der DDR herausgebildet hatten.» Gefühle der kulturellen Überforderung und düstere (Hofmann 2020) Erst in den Monaten der Revolution Zukunftserwartungen bestimmen vor allem solche ergriff der Umbruch breitere Kreise der etablierten Regionen, die durch starke Abwanderung und einen Arbeiter- und Angestelltenmilieus. Solche politischen demografischen Überhang von Alten und Männern* Veränderungen lassen sich zum Beispiel auch in Pots gekennzeichnet sind, in denen Infrastrukturen massiv dam (Warnecke 2019) und Brandenburg an der Havel abgebaut wurden, die unter geringer Wirtschaftskraft (Segert 1995; Zierke 1995) nachzeichnen. und sozialer Prekarisierung leiden (siehe Kapitel 2.1 Die Initiativen der Bürgerrechtsbewegung und ihre und 2.4). AfD und Co können diese Räume oft mit soziale Basis gruppierten sich lokal jeweils unter ihren Deutungen füllen und zu rechten Bastionen aus schiedlich. Es lassen sich aber einige typische bauen (vgl. auch Candeias 2018). Akteure und Szenen unterscheiden: 13
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