Das andere Brandenburg - Antifa, weltoffene Orte, solidarische Alternativen Hendrik Sander - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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ONLINE-PUBLIKATION

      Hendrik Sander

  Das andere
­Brandenburg
 Antifa, weltoffene Orte,
solidarische Alternativen
HENDRIK SANDER ist Politikwissenschaftler und politischer Aktivist, Fellow am Institut für Gesellschafts­
analyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und arbeitet zu Fragen sozial-ökologischer Transformation. Er hat in
Bremen und Oldenburg studiert und in Kassel zum Thema «grüner Kapitalismus» und deutsche Energiepolitik
promoviert. Heute lebt er in Potsdam und tritt demnächst eine Stelle an der Bauhaus-Universität in Weimar an.

IMPRESSUM
ONLINE-Publikation 16/2021, korrigierte Fassung
wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein
Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Dezember 2021
Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
INHALT

1 Einleitung                                                     4

2 Eine politische Geografie Brandenburgs                         5
2.1 Politische Ökonomie                                          5
2.2 Klassen und Milieus                                          7
2.3 Einstellungen und Engagement der Brandenburger*innen         7
2.4 Wanderungen in der Mark Brandenburg                          8
2.5 Infrastruktur im Umland und in der Peripherie                9
2.6 Umkämpfte Naturverhältnisse                                 11
2.7 Die radikale Rechte                                         11
2.8 Die Mosaiklinke                                             13
2.9 Exkurs: weltoffene Gemeinden                                16

3 Porträts der Teilregionen                                     19
3.1 Der Westen: vom Hohen Fläming ins Havelland                 19
3.1.1 Potsdam                                                   20
3.1.2 Potsdam-Mittelmark                                        21
3.1.3 Brandenburg an der Havel                                  22
3.1.4 Havelland                                                 23
3.1.5 Oberhavel (Berliner Umland)                               24
3.2 Der Nordwesten: Prignitz und Ruppiner Land                  24
3.2.1 Prignitz                                                  25
3.2.2 Ostprignitz-Ruppin                                        26
3.3 Der Nordosten: von der Havel in die Uckermark               27
3.3.1 Oberhavel (Norden)                                        28
3.3.2 Uckermark                                                 29
3.4 Der Osten: Barnim, Lebus, Oderland                          29
3.4.1 Barnim                                                    31
3.4.2 Märkisch-Oderland                                         32
3.4.3 Oder-Spree                                                33
3.4.4 Frankfurt (Oder)                                          35
3.5 Der Süden von Berlin: Teltow, Niederer Fläming, Dahmeland   36
3.5.1 Teltow-Fläming                                            37
3.5.2 Dahme-Spreewald (Berliner Umland)                         37
3.6 Der tiefe Süden: die Lausitz und das Elbe-Elster-Land       38
3.6.1 Dahme-Spreewald (Süden)                                   41
3.6.2 Cottbus (Chóśebuz)                                        41
3.6.3 Spree-Neiße                                               42
3.6.4 Oberspreewald-Lausitz                                     43
3.6.5 Elbe-Elster                                               43

4 Strategischer Ausblick                                        44

Literatur                                                       46
1 EINLEITUNG

Der kirchliche Träger ESTAruppin, der sich in Neu­          kende. Die rechten Szenen haben sich zwar gewan­
ruppin für Geflüchtete einsetzt und den Rechtsradi­         delt, aber bestehen bis heute fort. Davon profitiert
kalen die Stirn bietet; der Słubice-Frankfurt-Pride,        gegenwärtig vor allem die AfD. Der brandenburgi­
der queere Begehren von beiden Seiten der Oder              sche Landesverband ist vom rechtsradikalen «Flügel»
auf die Straße bringt; der Falken-Jugendtreff KLAB          dominiert. Darin drückt sich die Stärke der «Genera­
in Luckenwalde, der mit seiner emanzipatori­                tion Hoyerswerda» (Kleffner/Spangenberg 2016) aus,
schen Bildungsarbeit an die rote Tradition der Stadt        die heute fest im Alltag verankert ist. Die AfD-Wah­
anschließt – das sind nur vier Beispiele einer vielfälti­   lerfolge sind Ausdruck von menschen-, demokratie-
gen und heterogenen Zivilgesellschaft, die es in fast       und modernisierungsfeindlichen Einstellungen und
allen Orten in Brandenburg gibt. Überall finden sich        einem verbreiteten Gefühl der sozialräumlichen Mar­
Akteure, die sich für Weltoffenheit, für solidarische       ginalisierung in Teilen der Bevölkerung.
Alternativen und gegen gruppenbezogene Men­                 Aber es gibt auch das andere Brandenburg: eine Viel­
schenfeindlichkeit engagieren. Nur ein Teil davon           zahl von progressiven, weltoffenen und linken Kräf­
versteht sich explizit als links. Sie sind eher implizit    ten, die zum Teil an sozialistische Traditionen in der
als Mosaiklinke zu begreifen, deren unterschiedliche        Region anknüpfen. Allerdings liegt ihre soziale Basis
Puzzleteile ein bereicherndes Ganzes darstellen.            heute weniger in den traditionellen Arbeitermilieus,
Diese Perspektive auf Brandenburg ist nicht selbst­         sondern eher in moderneren alternativen und subkul­
verständlich. Verbreitet ist der Blick auf abgehängte       turellen Milieus, die den Kern der Bürgerrechtsbewe­
ländliche Räume, auf politikverdrossene Bürger*in­          gung in der DDR bildeten. In den 1990er-Jahren stan­
nen und die Machenschaften der rechtsradikalen              den Antifaschist*innen und Hausbesetzer*innen, die
AfD. Die genannten Phänomene sind tatsächlich ein           sich gegen die rechte Gewalt wehrten, politisch oft
Problem. Das Berliner Umland und die peripheren             noch allein auf weiter Flur. Doch die Szene wandelte
Gegenden entwickeln sich zunehmend auseinan­                sich und neue Land- und Alternativprojekte entstan­
der. Zwar hat die Brandenburger Wirtschaft nach der         den. Um die Jahrtausendwende bildeten sich in vielen
krisenhaften Wendezeit in den letzten Jahren einen          Orten auch zivilgesellschaftliche Gruppen: In lokalen
Aufschwung und Aufholprozess erfahren. Doch die             Bündnissen gegen rechts trafen sich kirchlich Aktive,
Löhne sind weiterhin niedrig und die Tarifbindung ist       Künstler*innen und Politiker*innen der PDS bzw. LIN­
gering.                                                     KEN. Neben dem Engagement gegen Rechtsradika­
Durch die Umbrüche der Wende hat sich der soziale           lismus ist für sie die Arbeit mit Geflüchteten seit dem
Raum der Klassenfraktionen und -milieus in sozia­           Sommer der Migration 2015 wichtiger geworden.
ler und kultureller Hinsicht polarisiert. Das erklärt       Die verschiedenen Generationen von Aktiven tragen
auch, warum einige Brandenburger*innen optimis­             mit ihren jeweiligen Erfahrungen und Vorstellungen
tisch auf ihr Leben und das Land blicken, während           zur Lebendigkeit von Initiativen und Projekten bei. Da
andere düstere Zukunftserwartungen haben. Ferner            in den einzelnen Orten aber oft nur wenige engagiert
ist Brandenburg von starken Wanderungsbewegun­              sind, liegt in der lokalen und überregionalen Vernet­
gen gekennzeichnet, wobei vor allem der suburbane           zung eine große Herausforderung.
Raum wächst, während die metropolenfernen Regi­             Im vorliegenden Beitrag werden diese Entwicklungen
onen weiter schrumpfen. Wirtschaftliche und Wan­            und Phänomene im Sinne einer politischen Geogra­
derungsdynamiken stellen die ohnehin prekären               fie Brandenburgs systematisch analysiert und darge­
Infrastrukturen der Mobilität, des Wohnens und der          stellt (Kapitel 2). Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf
sozialen Daseinsvorsorge vor Herausforderungen.             Porträts einzelner Teilregionen des Landes (Kapitel 3).
Umstritten sind zudem die gesellschaftlichen Natur­         Brandenburg wurde hierfür entlang der Landkreise
verhältnisse – ob es um Großprojekte, die Zukunft der       und kreisfreien Städte in sechs Regionen aufgeteilt.
Braunkohle oder die Landwirtschaft geht.                    Es werden die jeweils sozialstrukturellen, ökono­
Das größte Problem in Brandenburg bleibt die radi­          mischen und politischen Besonderheiten skizziert.
kale Rechte. Nach der Wende reaktivierte eine neue          Sodann werden die gesellschaftlichen Bedingungen
faschistische Bewegung Traditionslinien, die bis in die     und politisch aktiven Akteure in den einzelnen Orten
Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Nicht nur       beschrieben. Dafür wurde nicht nur relevante Lite­
in den berüchtigten «Baseballschlägerjahren» terrori­       ratur gesichtet, sondern vor allem wurden 45 Inter­
sierten die Neonazis Migrant*innen und Andersden­

4
views mit Multiplikator*innen und Aktivist*innen in                           bieten. Zum anderen soll sie Aktiven und Interessier­
allen 18 Landkreisen und kreisfreien Städten geführt.1                        ten konkrete Anknüpfungspunkte und Vernetzungs­
Herausgekommen ist ein politisches Mapping der                                potenziale aufzeigen. Nicht zuletzt soll sie zu einer
aktiven Brandenburger Zivilgesellschaft.2 Die Analyse                         Umsetzung kritischer Landforschung in Deutschland
soll zum einen eine Grundlage für eine analytisch fun­                        beitragen (Maschke et al. 2020).
dierte Strategiebildung linker Akteure in Brandenburg

2 EINE POLITISCHE GEOGRAFIE BRANDENBURGS

Das Bundesland Brandenburg entstand in seinen                                 renzierung und eine Vielfalt von Entwicklungspfaden
heutigen Grenzen erst nach der Wende und durch­                               festzustellen: Viele Dörfer prosperieren, während
lief noch mehrere Kreisgebietsreformen.3 Heute ist                            andere verfallen.
das Land durch eine klare Differenzierung und Pola­                           Thomas Falkner und Horst Kahrs bringen die Dyna­
risierung zwischen dem Berliner Umland und den                                mik der Mark treffend auf den Punkt: «Brandenburg
peripheren Räumen gekennzeichnet, die in Zukunft                              ist wie kaum ein anderes Bundesland ein Land unter­
noch zunehmen dürften.4 Die Hauptstadtregion ist                              schiedlicher Entwicklungslogiken und -geschwin­
durch die hochverdichtete Metropole Berlin und die                            digkeiten, ein Land geteilter Lebenswelten und
Umlandsiedlungen einschließlich Potsdam geprägt                               Lebensentwürfe. Hier die hitzige, zum internationa­
(der axial gegliederte sogenannte Siedlungsstern).                            len Anziehungspunkt werdende Metropole Berlin in
Der suburbane Raum umfasst nur zehn Prozent der                               ihrem Herzen – ein Großraum, der sich mittlerweile
Fläche Brandenburgs. Dort leben aber mit knapp                                weit in das Land Brandenburg hinein erstreckt. Auf
einer Million Menschen rund 40 Prozent der Branden­                           der anderen Seite dünn besiedelte dörfliche Regionen
burger Bevölkerung. Die Umlandgemeinden sind in                               mit Klein- und Mittelstädten ohne größere Ausstrah­
den letzten Jahren stark gewachsen und werden auch                            lung auf ihr Umland. Agrarische Strukturen umgeben
in Zukunft weitere Wanderungsgewinne verzeichnen.                             frühere industrielle Inseln und Zentren der DDR-In­
Ein Großteil davon kommt aus dem Land Berlin, zu                              dustriepolitik, die sich nur äußerst langsam erholen
dem weiterhin enge Pendelverflechtungen bestehen.                             und sich dabei neu erfinden müssen.» (Falkner/Kahrs
Die Peripherie ist außer den drei Oberzentren Cott­                           2019: 20)
bus, Brandenburg an der Havel und Frankfurt (Oder)
von ländlichen Räumen gekennzeichnet. Dort wirken
die Mittelzentren als soziale Anker.5 Auf 90 Prozent                          2.1 POLITISCHE ÖKONOMIE
der Landesfläche leben gut 1,5 Millionen Branden­
burger*innen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die                          Zur Zeit der DDR war die Wirtschaftsstruktur in Bran­
Einwohnerzahl gesunken und die Bevölkerung geal­                              denburg neben den verschiedenen Dienstleistungs­
tert. Dieser allgemeine Trend dürfte sich in Zukunft                          branchen einerseits durch Braunkohlewirtschaft und
fortsetzen. So haben Umland und Peripherie jeweils                            Schwerindustrie (v. a. Stahl) in ausgewählten indus­
ihre typischen Merkmale und Probleme. Gleichzei­                              triellen Zentren und andererseits durch eine kollekti­
tig erfährt das Land eine starke Dynamik. So strahlt                          vierte Landwirtschaft in der Fläche geprägt. Nach der
der Metropolenraum zunehmend auf die Peripherie                               Wende führten die schockartige Währungsunion, die
aus. Nicht nur die «Städte der zweiten Reihe», die aus                        Übernahme von Altschulden aus der DDR und die
Berlin in 60 Minuten mit dem Zug zu erreichen sind,                           Kahlschlagspolitik der Treuhand zu einer schweren
wachsen. Sie bilden periphere Zentren. Darüber hin­                           Wirtschaftskrise in Brandenburg. Die Volkseigenen
aus sind auch auf dem Land eine starke Binnendiffe­                           Betriebe (VEB) wurden liquidiert oder an westdeut­

1   Einzelne der in der Studie genannten Akteure werden mit Videoporträts auf der informativen und anschaulichen Webseite «Brandenburg im Wandel»
    vorgestellt: https://brandenburg.imwandel.net/.
2   Der Fokus der Untersuchung liegt auf selbstorganisierten Grassroots-Akteuren, die vor allem vom ehrenamtlichen Engagement der Aktiven leben.
    In Brandenburg spielen auch etabliertere Akteure wie Wohlfahrtsverbände, Umweltverbände, Gewerkschaften und andere eine wichtige Rolle. Die
    Analyse konnte dieses Feld jedoch nicht abdecken.
3   Die historische Mark Brandenburg bildete zur Zeit der Hohenzollernherrschaft das Kernland Preußens. In der DDR war das Gebiet auf die drei Bezirke
    Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus aufgeteilt.
4   Im Folgenden wird die Einteilung in das «Berliner Umland» und den «weiteren Metropolenraum» nach Landesentwicklungsplan verwendet, vgl.
    https://gl.berlin-brandenburg.de/landesplanung/landesentwicklungsplaene/lep-hr/.
5   Dabei ist allerdings hervorzuheben, dass ein Großteil der Bevölkerung in Klein- und Mittelstädten wohnt. Nur rund 15 Prozent der Bevölkerung leben in
    ländlichen Gemeinden.

                                                                                                                                                        5
sche bzw. ausländische Investoren verkauft. Viele                             viel damit zu tun, dass die Tarifbindung der Betriebe
Arbeitsplätze gingen verloren (Intelmann 2020).                               im Land mit 22 Prozent niedriger als in Westdeutsch­
Zwar gewannen in den Folgejahren moderne Indus­                               land (29 %) ist. Eine Angleichung hat in den letzten
triezweige und Dienstleistungsbranchen langsam an                             Jahren nur deshalb stattgefunden, weil die Zahl im
Bedeutung. Sie konnten jedoch in den ersten Jahr­                             Westen deutlich schneller sank als im Osten (MWAE
zehnten nicht die Beschäftigungsverluste in den alten                         2020). Die vielen tariflich nicht gebundenen Unter­
Sektoren ausgleichen (IAB 2010).                                              nehmen tragen wesentlich zu dem großen Nied­
Die Brandenburger Wirtschaftspolitik konzentriert                             riglohnsektor in Brandenburg bei. Auch öffentliche
sich auf eine Reihe von Schwerpunktsektoren. 6                                Vergaben des Landes machen – anders als im Koa­
Vor allem fokussiert sie auf industrielle «Regionale                          litionsvertrag 2019 angekündigt – eine Tarifbindung
Wachstumskerne» (MWAE o. J.), die auf ihr Umland                              nicht zur Auflage.
ausstrahlen sollen. Sie liegen schwerpunktmäßig im                            Auch wenn der Fokus der Wirtschaftspolitik auf
Berliner Umland, in der Lausitz und in ausgewählten                           Industrie und verarbeitendem Gewerbe liegt, domi­
Mittel- und Oberzentren. Trotzdem ist die industrielle                        nieren Dienstleistungstätigkeiten den Arbeitsmarkt
Basis bzw. das verarbeitende Gewerbe in Branden­                              in Brandenburg – wie insgesamt in der Bundesrepu­
burg weiterhin vergleichsweise schwach ausgeprägt.                            blik. Allein in den Care-Bereichen (Gesundheits- und
Ferner sind dort eher nachgelagerte Produktions­                              Sozialwesen, Bildung, Heime und persönliche Dienst­
standorte und Filialen von Konzernen, nicht aber                              leistungen) arbeiteten Ende 2019 rund 22 Prozent
ihre Zentralen angesiedelt. Beide Phänomene füh­                              der Beschäftigten. Wenn man die Bereiche Erholung
ren dazu, dass die Betriebsgrößen im Durchschnitt                             und Freizeit (Gastgewerbe, Kunst, Unterhaltung) hin­
eher klein sind. So zählen 72 Prozent zu den Kleinst­                         zunimmt, sind es sogar 26,5 Prozent. Damit liegt die
betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten. Die                             Mark deutlich über dem Bundesdurchschnitt (24 %).
existierenden Großbetriebe haben im Schnitt zudem                             In Verwaltungen, Sozialversicherungen und zivilge­
weniger Beschäftigte (pro Betrieb) als in anderen Bun­                        sellschaftlichen Institutionen sind knapp zehn Prozent
desländern (MWAE 2020). Auch die Wettbewerbsfä­                               tätig; im Einzelhandel acht Prozent. In diesen Bran­
higkeit der brandenburgischen Wirtschaft gemessen                             chen sind die durchschnittlichen Vergütungen jedoch
an der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität liegt                          gering: Insbesondere in den weiblich bestimmten
nur bei 83,3 Prozent (Stand 2019).                                            Bereichen wie Handel, Gastronomie, Unterhaltung
Vor allem in der zurückliegenden Dekade entwickelte                           und Erholung werden deutlich niedrigere Löhne
Brandenburg eine stärkere wirtschaftliche Dynamik                             gezahlt. Auch in der ambulanten und stationären
und konnte in Bezug auf wichtige volkswirtschaftli­                           Pflege arbeiten vor allem Frauen* in Teilzeit – in meist
che Kennzahlen langsam aufholen. So wuchsen etwa                              prekären und belastenden Arbeitsverhältnissen zu
die Arbeitsproduktivität und das Bruttoinlandspro­                            schlechten Löhnen. Nicht zuletzt Künstler*innen und
dukt pro Kopf schneller als in Westdeutschland. Vor                           Kulturschaffende leben unter schwierigen Bedingun­
allem die nominelle Arbeitslosenquote ist in den letz­                        gen mit geringen Einkommen (Landtag Brandenburg
ten Jahren erheblich gesunken: von 18,8 Prozent im                            2019). Schließlich werden auch migrantische Arbeits­
Jahr 2003 auf 5,8 Prozent im Jahr 2019. Insbesondere                          kräfte, die vor allem aus Polen kommen, deutlich
die Zahl sozialversicherungspflichtiger Teilzeitjobs ist                      schlechter bezahlt als ihre deutschen Kolleg*innen.
deutlich gestiegen. Außerdem pendelt fast ein Drittel                         Darüber hinaus variiert die wirtschaftliche Entwick­
der Brandenburger Beschäftigten nach Berlin oder in                           lung massiv zwischen den verschiedenen Räumen
ein anderes Bundesland. In vielen Branchen der Mark                           in Brandenburg. Während die Bruttowertschöpfung
herrscht inzwischen Fachkräftemangel und zahlrei­                             im Berliner Umland aufgrund verschiedener Stand­
che Ausbildungsplätze können nicht besetzt werden.                            ortvorteile zwischen 1996 und 2015 um 66,5 Prozent
Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung,                               gestiegen ist, legte sie in den ländlich-peripheren
gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, um gutes Per­                            Gebieten und den kreisfreien Städten (außer Pots­
sonal zu gewinnen.                                                            dam) nur um 15,8 Prozent zu (ebd.). Die Arbeitslosen­
Auch das Pro-Kopf-Einkommen bzw. das Lohnniveau                               quoten und das verfügbare Einkommen sind insge­
hat sich in den letzten Jahren dem westdeutschen                              samt im Berliner Umland und speziell im Südwesten
Standard angenähert, lag jedoch 2019 weiterhin nur                            (Potsdam, Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming,
bei 82 Prozent des bundesweiten Durchschnitts. Mit                            Dahme-Spreewald) eindeutig positiver als in den
40 Prozent sind mehr Niedriglohnbetriebe7 in Bran­                            anderen Oberzentren und in ländlichen Kreisen wie
denburg aktiv als in Westdeutschland (31 %). Das hat                          der Prignitz oder der Uckermark. In solchen Gegen­

6   Folgende breit gefächerte Cluster werden als Zukunftssektoren gefördert: Ernährungs-, Land- und Forstwirtschaft; Energiewirtschaft; Metalle;
    Kunststoffe und Chemie; Verkehr, Mobilität und Logistik; Optik und Photonik; Informations- und Kommunikationstechnologien, Medien und
    Kreativwirtschaft; Gesundheitswirtschaft und -versorgung sowie Tourismus.
7   Mit durchschnittlichen Bruttolöhnen von weniger als 2.000 Euro.

6
den sind viele Kommunen verschuldet oder sogar in                             Opposition zum neuen System. Für sie bildete die
dauerhafter Haushaltssicherung.                                               PDS bzw. später DIE LINKE lange eine «Milieupartei».
In den letzten Jahren ist also eine gewisse wirtschaft­                       Ferner existierten am modernen Rand des sozialen
liche Dynamik und ein Aufholprozess in Brandenburg                            Raums bereits in der DDR recht große alternative
festzustellen. Der Preis ist allerdings eine weiterhin                        und subkulturelle Klassenmilieus, deren Angehörige
bestehende Prekarisierung, eine zunehmende Polari­                            zumeist die Nachfolgegenerationen der etablierte­
sierung sowie eine ökonomische Unterordnung unter                             ren Bildungsbürger- und Arbeitnehmermilieus dar­
die wirtschaftlichen Zentren in Berlin und in West­                           stellten. Zwar waren auch sie – in unterschiedlichem
deutschland.                                                                  Maße – von den wirtschaftlichen Umbruchs- und
                                                                              Krisenprozessen betroffen. Sie profitierten allerdings
                                                                              besonders von der politischen und kulturellen Öff­
2.2 KLASSEN UND MILIEUS                                                       nung und von den neuen Konsum-, Bildungs- und
                                                                              Entfaltungsmöglichkeiten. Die modernen Milieus
Die politische Ökonomie Brandenburgs bildet die                               wuchsen an und entwickelten sich immer mehr in
Basis für die märkischen Klassenverhältnisse und ihre                         Richtung der westlichen Klassenstruktur.
Veränderungen. Eine Forschungsgruppe um Michael                               Auch wenn die Ostmilieus sich im Laufe der Jahr­
Vester hat in den 1990er-Jahren die Entwicklung der                           zehnte an ihre Westpendants angeglichen haben
Klassenmilieus in Ostdeutschland nach 1989 mit                                und es dazu seit dem Jahr 2000 keine eigenständigen
Pierre Bourdieus Ansatz8 analysiert und dafür eine                            empirischen Untersuchungen mehr gibt, haben sich
umfangreiche Fallstudie zu Brandenburg an der Havel                           gewisse Besonderheiten bis heute fortgeschrieben.
durchgeführt. Die Wissenschaftler*innen beschrie­                             So sind die Ostdeutschen überdurchschnittlich in tra­
ben die spezifische Milieustruktur in der DDR und ihre                        ditionellen Lebenswelten des «östlichen Fordismus»
Transformation in den ersten Jahren nach der Wende                            und in unteren sozialen Lagen vertreten. Die eta­
(Vester et al. 1995).                                                         blier­te Mitte und die experimentierfreudigen, moder­
Vester und Co kamen zu dem Ergebnis, dass das                                 nen Milieus sind hingegen schwächer. Die wider­
traditionelle Arbeitermilieu und das kleinbürgerliche                         sprüchliche Entwicklung der märkischen Ökonomie
Milieu 1991 im Osten noch deutlich größer waren                               korreliert mit einer Differenzierung und Polarisierung
als im Westen, was durch die spezifische Klassen-                             der ostdeutschen Sozialstruktur: «Der soziale Raum
und Berufsstruktur in der DDR zu erklären ist. Ent­                           wurde auseinandergesprengt. Es gibt größere soziale
sprechend der geschilderten ökonomischen Brüche                               Unterschiede sowohl in der vertikalen (arm–reich) als
erlebten die Angehörigen der genannten Klassenmi­                             auch in der horizontalen (traditionell–modern) Dimen­
lieus nach der Wende auch in Brandenburg massive                              sion.» (Hofmann 2020)
Abstiegsprozesse und Statusverluste. Die prekären,
sozial wenig eingebetteten Milieus im unteren so­zia­
len Raum wuchsen. Nur einem Teil gelang es, in                                2.3 EINSTELLUNGEN UND ENGAGEMENT
modernere Berufsfelder zu wechseln. Ein selbstbe­                             DER BRANDENBURGER*INNEN
wusstes Facharbeitermilieu in der Mitte des sozialen
Raums konnte sich erst langsam wieder entwickeln                              So heterogen und polarisiert wie die Ökonomie und
und profitiert heute vom partiellen Aufschwung in                             Klassengesellschaft sind auch die Einschätzungen
Brandenburg.                                                                  der Brandenburger*innen zur Gesellschaft und zum
Die führenden Klassenmilieus der technischen und                              Leben (Policy Matters 2020; Landtag Brandenburg
sozial-kulturellen Intelligenz sowie der politischen                          2019). So waren in den letzten Jahren wachsende
und Sicherheitsapparate bildeten in der DDR eine                              Mehrheiten von rund zwei Drittel mit der Entwick­
große Gruppe. Zwar erlebten die meisten Angehö­                               lung des Bundeslands und ihrem eigenen Leben
rigen dieser Milieus nach der Wende ebenfalls teils                           (einschließlich ihrer finanziellen Situation) zufrieden
erhebliche Abstiege. Sie konnten sich aber über­                              und blickten zuversichtlich in die Zukunft. Das trifft in
wiegend gut reorientieren und neue Funktionen im                              besonderem Maße auf Menschen mit einem höheren
modernen Dienstleistungssektor besetzen bzw. die                              Bildungsniveau und auf Bewohner*innen des Berliner
neuen wirtschaftlichen Chancen für sich nutzen.                               Umlands zu, wo die Wirtschaft prosperiert. Aber auch
Teile des DDR-Bildungsbürgertums hielten allerdings                           die Bevölkerung in den peripheren Räumen schätzt
an ihren sozialistischen Idealen fest. Soziale Status­                        mehrheitlich das Leben auf dem Land. Das wird vor
verluste und politische Entfremdung brachten sie in                           allem mit einer hohen Wohnqualität, einem nachbar­

8   Der französische Soziologe Pierre Bourdieu analysierte die Bevölkerung im Hinblick auf die Ausstattung der Menschen mit ökonomischen,
    Beziehungs- und Bildungsressourcen und auf typische Habitusformen. Auf Basis dieser Analyse schloss er auf mehrere relativ stabile Milieus in einem
    zweidimensionalen sozialen Raum.

                                                                                                                                                      7
schaftlichen Zusammenhalt in den Gemeinden und           der Tendenz). Die meisten jungen Menschen wollen
der Naturnähe begründet.                                 perspektivisch umziehen, die Hälfte davon innerhalb
Auch die Bedingungen für ein zivilgesellschaftliches     des Raums Berlin-Brandenburg. Von einem niedri­
Engagement in Brandenburg sind durchaus vorhan­          gen Niveau ausgehend sind ihr Interesse und ihre
den. Größere Teile der Bevölkerung stimmen prinzi­       aktive Teilnahme am politischen Leben kontinuierlich
piell Werten wie Geschlechtergerechtigkeit, Weltof­      gestiegen. Gleichzeitig schenken sie Politiker*innen
fenheit und Solidarität mit schwächeren Gruppen zu.      und Parteien kaum Vertrauen. Im langfristigen Trend
Das Problembewusstsein für Rechtsradikalismus und        lehnen zwar immer mehr junge Brandenburg*innen
Rassismus ist in den letzten Jahren etwas gewach­        rechtsradikale Positionen ab. Aber immer noch über
sen – insbesondere im Berliner Umland (Policy Mat­       15 Prozent vertreten solche Einstellungen – Jungen*
ters 2020). Die Anzahl der Brandenburger*innen, die      doppelt so häufig wie Mädchen* (IFK 2018).
sich im weitesten Sinne bürgerschaftlich engagieren,     Auf der Ebene der Parteipolitik lässt sich feststellen,
ist in den letzten Jahrzehnten größer geworden –         dass insbesondere die Grünen überproportional von
auch im ländlichen Raum. Die Menschen sind vor           jungen Menschen, Frauen*, Höhergebildeten und
allem in der Kirche, in Feuerwehren sowie in Kleingar­   Stadtrandbewohner*innen gewählt werden sowie
ten-, Sport- und Kulturvereinen aktiv. Allerdings set­   von Bürger*innen, die besonders zufrieden mit der
zen sich eher Höhergebildete und Erwerbstätige ein;      Demokratie sind und daran glauben, dass sich die
Arbeitslose und Menschen mit niedriger Bildung bzw.      politischen Bedingungen zum Guten wenden lassen.
geringen finanziellen Ressourcen deutlich weniger        In Bezug auf die Wählerbasis bilden die Grünen damit
(Landtag Brandenburg 2019).                              in jeder Hinsicht den Gegenpol zur AfD (siehe Kapi­
Wachsende Teile gerade dieser Bevölkerungsgrup­          tel 2.7). DIE LINKE leidet hingegen unter einer Erosion
pen machen sich Sorgen um die soziale Gerechtigkeit      ihrer ehemaligen regionalen und sozialen Hochbur­
und die wirtschaftliche Situation, um Löhne, soziale     gen und ist aus Sicht vieler Wähler*innen zu wenig
Sicherheit und die Zukunft ihrer Kinder. Als größtes     politisch profiliert (Kahrs 2019). Das ist insofern para­
Problem empfinden die Bürger*innen die Arbeitslo­        dox, als Mitglieder der LINKEN in vielen lokalen Ini­
sigkeit – insbesondere in den ländlichen Räumen. Vor     tiativen aktiv sind (siehe Kapitel 2.8). Mitglieder von
diesem Hintergrund genießen nur Sicherheits- und         Grünen und SPD sind durchaus auch in verschiede­
Rettungsdienste sowie die jeweils eigenen Kommu­         nen Bündnissen aktiv, aber nicht in dem Maße wie die
nalverwaltungen das Vertrauen der Mehrheit. Dage­        der DIE LINKEN.
gen vertrauen nur Minderheiten den politischen Insti­
tutionen auf Landesebene – allerdings mit steigender
Tendenz.                                                 2.4 WANDERUNGEN IN DER MARK
Die Weltsichten und Subjektivitäten sind also zwi­       BRANDENBURG
schen sozialen Gruppen und Räumen differenziert,
mithin polarisiert. Abhängig von der Geschichte ein­     Seit jeher ist die brandenburgische Gesellschaft
zelner Orte, den wirtschaftlichen und Lebensbedin­       durch starke Wanderungsbewegungen charakte­
gungen sowie den vorherrschenden Milieus entste­         risiert: Zu nennen wären etwa die Zuwanderung in
hen spezifische lokale und regionale Alltagskulturen     die entstehenden industriellen Zentren und Inseln
und -wahrnehmungen, die sich teilweise auch zwi­         im 19. Jahrhundert; später die Ansiedlung von deut­
schen räumlich nahe gelegenen Gemeinden deutlich         schen Geflüchteten aus den ehemaligen Ostgebieten
unterscheiden. Aufstrebende Umlandgemeinden              nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Wende sind
oder abgeschiedene Dörfer, ehemalige Industrie­          viele junge Menschen aus den ländlichen Re­gio­
städtchen oder Tourismusorte sind durch ganz ver­        nen aufgrund der Arbeits- und Perspektivlosigkeit
schiedene kollektive Stimmungen gekennzeichnet.          fortgezogen. Insbesondere die äußeren Peripherien
Die einen Orten sind von einem Klima der Offenheit       entlang der Landesgrenzen hatten massive Einwoh­
und des Optimismus bestimmt, andere von Miss­            nerverluste zu verkraften. Dagegen konnten sich die
trauen, innerer Emigration und düsteren Zukunfts­        Gemeinden des Berliner Umlands stabilisieren bzw.
erwartungen. Solche Lokalkulturen können sich im         sogar Bevölkerungszuwächse verbuchen. In den letz­
Laufe der Zeit wandeln: Konservative Orte öffnen         ten Jahren ziehen wieder verstärkt Menschen nach
sich langsam, eigentlich weltoffene Orte kippen nach     Brandenburg; der Wanderungssaldo ist positiv. Von
rechts (siehe Kapitel 2.7 und 2.8).                      der neuen Landlust profitiert bisher aber vor allem
Ferner variieren die Wahrnehmungen auch zwischen         der wirtschaftlich prosperierende Berliner Großraum.
den Generationen. So ist die Mehrheit der Jugendli­      Nicht nur Zuwanderer*innen aus dem boomenden
chen mit ihrem Leben und den Lebensbedingungen           Berlin, sondern auch aus Westdeutschland lassen
in ihrer Region zufrieden und blickt optimistisch in     sich überwiegend im suburbanen Raum nieder. In
die Zukunft. Allerdings berichten gut 40 Prozent von     den acht sogenannten Sektoralkreisen, die wie Tor­
finanziellen Problemen in der Familie (mit abnehmen­     tenstücke um die Metropole liegen, ziehen die Men­

8
schen vor allem in die berlinnahen Gemeinden (Ber­                             sozialen Gruppen mit spezifischen Motiven geprägt.
lin-Institut/Neuland21 2019; IFL 2019).                                        So verlassen die meisten jungen Menschen nach
Die Mehrheit der Gemeinden in den ländlich-periphe­                            der Schule ihre Brandenburger Heimatorte in Rich­
ren Räumen ist hingegen trotz Nettozuzug weiterhin                             tung der größeren Städte, wo sie Hochschulen,
geschrumpft. Viele ökonomisch wie kulturell schwä­                             Arbeitsplätze und Kulturangebote finden. Das trifft
cher aufgestellte Kleinstädte und Dörfer können der                            überdurchschnittlich auf Frauen* und Menschen mit
Anziehungskraft der Großstädte kaum etwas entge­                               einem höheren Bildungsabschluss zu. Das Ziel der
gensetzen und verlieren stetig Einwohner*innen.9                               jungen Leute sind nicht mehr wie in den 1990er-Jah­
Diese Regionen beheimaten überdurchschnittlich                                 ren überwiegend die westdeutschen Bundeslän­
viele alte Menschen und werden wohl in Zukunft                                 der, sondern verstärkt die ostdeutschen Groß- und
eine weitere Überalterung erfahren. Entsprechend                               Universitätsstädte wie Potsdam, Jena, Berlin oder
fehlen dort Menschen jüngeren Alters – insbeson­                               Leipzig, aber auch kleinere Städte. Bei den Berufs­
dere Frauen*. Zwar sind die Geburtenraten in den                               wanderer*innen ist eine noch stärkere Bewegung in
letzten Jahren wieder gestiegen. Diese reichen allein                          Richtung der urbanen Zentren zu beobachten, wo die
aber nicht für eine demografische Trendwende aus.                              meisten hoch qualifizierten Jobs zu finden sind. Von
Die räumlichen Bevölkerungsbewegungen dürften                                  dieser Gruppe zieht allerdings auch ein wachsender
die demografische Polarisierung in den nächsten                                Teil ins Berliner Umland.
Jahrzehnten verstärken. So wird dem Umland ein                                 Der Trend zum Landleben wiederum erfasst mehr
weiterhin erhebliches Bevölkerungswachstum prog­                               die Familiengründer*innen. Die Idylle von Dorf und
nostiziert, während die Einwohnerzahl insbesondere                             Natur, mehr Platz und die Hoffnung auf ein eigenes
im südlichen Brandenburg wohl noch einmal massiv                               Haus im Grünen motivieren viele junge Familien,
schrumpfen wird (ebd.).                                                        aufs Land zu ziehen. Berlin ist dagegen in den letz­
Allerdings hat sich die Abwanderung aus den Peri­                              ten Jahren immer voller und teurer geworden, sodass
pherien in den letzten Jahren fast flächendeckend                              die Freiräume rapide geschrumpft sind. Doch auch
abgeschwächt. Die negativsten Szenarien haben                                  diese Gruppe der 30- bis 49-Jährigen lässt sich über­
sich nicht bewahrheitet. Zu dieser Stabilisierung trägt                        wiegend im suburbanen Raum nieder. Nur eine Min­
auch bei, dass die demografische Dynamik des Ber­                              derheit von ihnen zieht in abgeschiedene Gemeinden.
liner Großraums zunehmend in entlegenere Regio­                                Die Zuziehenden können die demografischen Trends
nen ausstrahlt. Ferner sind erhebliche kleinräumige                            dort bisher nur abmildern.
Unterschiede in Brandenburg festzustellen. Nicht                               Von besonderer Bedeutung ist auch, dass die neuen
nur die Oberzentren und einige Mittelzentren sind                              Landbewohner*innen aus Lebenswelten kommen,
Wachstumskerne. Auch einzelne Gemeinden und                                    die in den ländlichen Regionen unterrepräsentiert
Dörfer bleiben stabil oder wachsen sogar, auch wenn                            waren. Ein Teil von ihnen sind Angehörige der hippen,
sie in schrumpfenden Räumen liegen (siehe Kapi­                                kreativen und alternativen Milieus, die hohe Bildungs­
tel 2.9).                                                                      abschlüsse haben und in Großstädten wie Berlin sozi­
Unter dem Strich ist Brandenburg von einer durch­                              alisiert worden sind. Sie arbeiten im Bildungs- und
aus starken Wanderungsdynamik gekennzeichnet.                                  Sozialbereich oder in Wissens- und Kreativberufen
Um das Jahr 2010 umfasste die Gruppe derjenigen,                               (Berlin-Institut/Neuland21 2019).10 Vor allem im Ber­
die nicht in Brandeburg geboren waren, ein Viertel                             liner Umland sind die Zuzügler*innen eher liberal und
der Brandenburger Bevölkerung. Im Berliner Umland                              weltoffen orientiert. Und sie verfügen über höhere
kam bereits die Mehrheit von anderswo. Dieser Trend                            Einkommen und Vermögen – allein schon, weil sich
hat sich im vergangenen Jahrzehnt verstärkt (Falk­                             nur noch Wohlhabende die rasant gestiegenen Immo­
ner/Kahrs 2019). Auch in den peripheren Regionen                               bilienpreise leisten können (siehe Kapitel 2.2 und 2.8).
gehört durchschnittlich nur noch ein Drittel zu den­
jenigen, die schon immer in ihrer Gemeinde gelebt
haben. Etwa ein Achtel sind Rückkehrer*innen. Gut                              2.5 INFRASTRUKTUR IM UMLAND
die Hälfte ist ganz zugezogen. Knapp jede*r Fünfte                             UND IN DER PERIPHERIE
hat sich erst in den letzten zehn Jahren in ihrer bzw.
seiner Gemeinde niedergelassen (Landtag Branden­                               Mobilitätsangebote sowie technische und soziale
burg 2019).                                                                    Infrastrukturen sind zentrale Bereiche der Daseins­
Wanderungsbewegungen aus bestimmten Regio­                                     vorsorge und eine wichtige Voraussetzung für die
nen in bestimmte Räume sind jeweils von typischen                              Lebensqualität auf dem Land. Sie bilden Anker, um

9  In der Peripherie sind Wanderungen durch Umzüge innerhalb von Brandenburg (v. a. in die Mittelzentren) oder aus angrenzenden Bundesländern
   geprägt.
10 Schließlich ziehen auch ältere Menschen bewusst in ländliche Gegenden, weil sie sich dort einen Ruhesitz für das Alter schaffen oder weil es dort
   bestimmte Pflegezentren oder Seniorenheime gibt.

                                                                                                                                                       9
die herum eine Gemeinde sich entwickeln, Einhei­                          stationären wie ambulanten Gesundheitsversorgung
mische halten und Zuzügler*innen gewinnen kann.                           fehlen Ärzt*innen und Pflegekräfte vor allem in peri­
Allerdings variiert die Ausstattung mit diesen Infra­                     pheren Regionen und kleineren Gemeinden. Die
strukturen erheblich zwischen Umland und Periphe­                         Brandenburger*innen schätzen die Verfügbarkeit
rie, zwischen großen und kleinen Gemeinden (Land­                         der Notfallhilfe zwar überwiegend als gut ein, ihre
tag Brandenburg 2019). Zwischen den Landkreisen,                          Kritik an der allgemeinen medizinischen Versorgung
aber auch innerhalb der Kreise werden politische                          nimmt jedoch zu – auch wenn bislang alle Kranken­
Auseinandersetzungen darum ausgetragen, wie die                           hausstandorte erhalten oder wieder eröffnet werden
Infrastrukturen ausgestaltet werden und wer welche                        konnten. Doch nur in wenigen Orten organisieren
Angebote bekommt. Die politische Herausforderung                          sich Menschen wegen der mangelnden Gesundheits­
besteht nicht nur darin, den unterschiedlichen Bedar­                     versorgung. In Potsdam, Frankfurt (Oder) und Bran­
fen in den verschiedenen Regionen gerecht zu wer­                         denburg an der Havel existieren zum Beispiel Kran­
den, sondern auch darin, die Planung von einem stark                      kenhausbündnisse bzw. aktive Betriebsräte.
schrumpfenden auf ein in Teilen dynamisch wach­                           Auf der einen Seite steigt die Zahl der Pflegebedürf­
sendes Land umzustellen. Angesichts der vielen Pro­                       tigen in Brandenburg kontinuierlich. Insbesondere
bleme und Ungleichheiten gibt es nur überraschend                         im Norden des Landes leben viele pflegebedürftige
wenige Initiativen, die sich für eine bessere Daseins­                    Senior*innen. Auf der anderen Seite ist die Anzahl der
vorsorge einsetzen (siehe Kapitel 2.8).                                   Beschäftigten in ambulanten und stationären Pflege­
Öffentliche Mobilität im ländlichen Raum und Anbin­                       einrichtungen zwar deutlich gestiegen. Wegen der
dung an den Berliner Ballungsraum sind zentral für                        schlechten Arbeitsbedingungen kann der steigende
Mobilitätsgerechtigkeit und die Entwicklungsper­                          Bedarf jedoch nicht gedeckt werden, sodass ein
spektive ganzer Regionen. Doch gerade in diesem                           erheblicher Teil der Pflege von Angehörigen geleistet
Bereich besteht ein besonderer Handlungsbedarf.                           werden muss (siehe Kapitel 2.1).
Immer mehr Brandenburger*innen sind mit dem                               Mit Einkaufsläden, Poststellen und Banken sind die
Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs                              meisten Bewohner*innen des ländlichen Raums
(ÖPNV) unzufrieden. So wurden bis 2006 circa                              zufrieden. Der Einzelhandel konzentriert sich aber
660 Bahnkilometer abbestellt. Seit 2009 wurden                            immer mehr auf große Einkaufszentren, während
einzelne Strecken zwar reaktiviert und mit dem Pro­                       kleine Läden aus den Dörfern verschwinden. Auch
jekt Plus-Bus wurde ein überregionales Bussystem                          die Dichte von kulturellen Angeboten, etwa Biblio­
geschaffen. Der ÖPNV kann jedoch die zunehmen­                            theken, variiert sehr stark zwischen den Regionen.
den Pendlerströme vor allem nach Berlin kaum noch                         Deshalb schätzen immer mehr Brandenburger*in­
bewältigen. Viele Züge sind überfüllt und unzuverläs­                     nen das Kulturangebot als sehr ungenügend ein. Mit
sig. Kleine Bahnhöfe haben eine geringe Taktdichte.                       fehlenden Dorfläden, Bibliotheken und Kulturstätten
Für lokale Bus- und Straßenbahnlinien sind die Land­                      mangelt es an Begegnungsorten und Treffpunkten für
kreise zuständig: Mangelhafte Angebote führen dort                        soziale Aktivitäten, die von vielen vermisst werden.
zu rückläufigen Fahrgastzahlen und sinkenden Ein­                         Einige Bürgerinitiativen und Projekte reagieren auf
nahmen, sodass einige Dörfer gar nicht mehr ange­                         diesen Mangel, indem sie eigene, selbstorganisierte
fahren werden – ein Teufelskreis. Rufbusse werden                         Räume schaffen.
noch zu selten eingesetzt. Ein Teil des Problems sind                     Schließlich wird auch das Wohnen zum wachsenden
Verwaltungen, die gangbare Lösungen blockieren.11                         Problem. In den letzten Jahren sind Mieten sowie
In einer Reihe von Orten und Regionen sind Initiativen                    Immobilien- und Baulandpreise im Berliner Umland
aktiv, die sich für eine Verbesserung des ÖPNV einset­                    massiv gestiegen. Trotzdem reduzierte die Landes­
zen, etwa für die Wiederinbetriebnahme stillgelegter                      regierung Anfang 2021 die Kommunen, die unter
Bahnverbindungen. Mehrere Verbände haben eine                             die Mietpreisbremse fallen, von 31 auf 19, damit die
Volksinitiative zu dem Thema gestartet.12                                 Immobilienwirtschaft in Zukunft noch höhere Rendi­
Die meisten Bewohner*innen des ländlichen Bran­                           ten erzielen kann. Ferner gibt es im suburbanen Raum
denburgs bewerten die Versorgung mit Kinderta­                            große Unterschiede. Das hängt mithin davon ab, wie
geseinrichtungen und Schulen zwar als gut. Doch in                        Kommunalpolitik und öffentliche Wohnungsgesell­
abgeschiedenen Regionen sind die Kitas wegen des                          schaften agieren. Der Preisdruck strahlt in konzentri­
mangelhaften ÖPNV oft schlecht zu erreichen. Auf­                         schen Kreisen auch immer stärker auf die berlinfernen
grund sinkender Schülerzahlen in schrumpfenden                            Regionen aus. Insbesondere entlang der Siedlungs­
Gegenden müssen Schulen teilweise schließen –                             achsen bzw. der Bahnlinien steigen die Preise (von
insbesondere weiterführende Schulen. Auch in der                          einem ursprünglich niedrigen Niveau aus). In begehr­

11 Auch die Versorgung mit Breitbandinternet ist im ländlichen Raum besonders ungenügend und führt bei den Betroffenen zu wachsender
   Unzufriedenheit. Das Problem ist, dass der Ausbau für die privaten Unternehmen dort nicht profitabel genug ist.
12 Weitere Informationen unter: https://verkehrswende-brandenburg.vcd.org/startseite/.

10
ten Lagen der Ober- und Mittelzentren sind teilweise                        Region Milliarden für den Strukturwandel bekommt,
Gentrifizierungsprozesse wie in Berlin festzustellen.                       fürchten viele Lausitzer*innen um ihre Zukunft (siehe
Sogar in manchen peripheren Städten werden so                               Kapitel 3.6). Gleichzeitig erlebt Brandenburg einen
viele Häuser gekauft bzw. gebaut, dass kaum noch                            rasanten Ausbau erneuerbarer Energien. Dadurch
Leerstand und freies Bauland vorhanden sind.                                entstehen neue Konfliktkonstellationen und neue
Dazu kommt, dass es in vielen Gemeinden zu wenige                           Akteure werden aktiv: (dezentrale) Betreiber von
oder für die Bedarfe unpassende Mietwohnungen                               Anlagen, aber auch Protestinitiativen gegen Strom­
gibt. Vor allem für Familien fehlen große Wohnungen.                        netze sowie gegen Wind-, Fotovoltaik- und Biogas­
Akteure des Immobilienbooms sind neben privaten                             anlagen. Viele Initiativen haben einen rechten Hin­
Hausbauer*innen, Genossenschaften und kommu­                                tergrund, manche einen progressiven (Becker et al.
nalen Wohnungsbauunternehmen sowie klassischen                              2013).
Projektierern zunehmend finanzmarktgetriebene                               Mindestens ebenso umkämpft ist die Landwirtschaft
Investoren. Anders als in Berlin ist aber in Branden­                       in Brandenburg. Auf der einen Seite ist sie geprägt
burg bisher kaum eine Bewegung um dieses Thema                              von teilweise rechten Wählergruppen aus bäuerli­
entstanden. In Potsdam, Brandenburg an der Havel,                           chen Kreisen sowie von konventionellen Bewirtschaf­
Cottbus oder Eberswalde gibt es durchaus politische                         tungsmethoden. Die Landwirtschaft wird von großen
Kämpfe um das Wohnen und ein Recht auf Stadt. In                            Agrarunternehmen dominiert. In den letzten Jahren
ländlichen Gemeinden finden sich jedoch nur ein­                            sind außerdem Finanzmarktakteure hinzugekom­
zelne Beispiele von Mieterinitiativen.                                      men, die in großem Stil Flächen aufkaufen. Durch die­
                                                                            ses Landgrabbing steigen Bodenpreise und die Flä­
                                                                            chen für andere Landwirt*innen werden knapp. Auf
2.6 UMKÄMPFTE NATURVERHÄLTNISSE                                             der anderen Seite protestieren progressive Initiativen
                                                                            zum Teil erfolgreich gegen die ökologischen Folgen
Schließlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse                        von Großmastanlagen, Monokultur und massenhaf­
zur Natur Gegenstand vielfältiger Konflikte, die auch                       tem Pestizideinsatz. Im Jahr 2016 nahm die Landes­
Fragen ländlicher Umweltgerechtigkeit aufwer­                               regierung etwa ein Volksbegehren gegen die Mas­
fen. Zum Beispiel schaffen große Industriebetriebe                          sentierhaltung in veränderter Form an. Gleichzeitig
und Infrastrukturprojekte wie Tesla, der Flughafen                          setzen viele Höfe auf die Produktion von Biolebens­
BER oder auch das (verhinderte) Bombodrom im                                mitteln. Oder sie experimentieren mit alternativen
Landkreis Ostprignitz-Ruppin Arbeitsplätze und                              Formen wie der solidarischen Landwirtschaft. In eini­
Steuereinnahmen. Sie belasten aber die regiona­                             gen Regionen haben sich Ernährungsräte gegründet
len Ökosysteme und Anwohner*innen durch Lärm                                (siehe Kapitel 2.8).13
(BER, Bombodrom) oder durch die Zerstörung von
Wäldern und Wasserkreisläufen (Tesla). Und sie ent­
werten dadurch die Immobilien der Betroffenen. Fer­                         2.7 DIE RADIKALE RECHTE
ner haben sie oft gravierende globale Auswirkungen
auf den Frieden (Bombodrom), lokale Communities                             Um die Bedeutung der radikalen Rechten in Bran­
(Tesla) oder das Klima (BER). Aber auch ohne die                            denburg zu verstehen, muss man bis in die Zeit
In­fra­strukturprojekte ist Brandenburg im Vergleich zu                     der Weimarer Republik zurückgehen. Anfang der
anderen Bundesländern besonders stark von der Kli­                          1930er-Jahre entwickelte sich vor allem der länd­
makrise betroffen: In Zukunft werden Hitze, sommer­                         lich-periphere Osten des heutigen Brandenburg (die
liche Trockenheit, Wasserknappheit und Extremereig­                         Gebiete an der Oder entlang) zu einer Hochburg der
nisse wie Waldbrände zunehmen (DWD 2019). Vor                               Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei
diesem Hintergrund hat die Klimabewegung in den                             (NSDAP). In der DDR, so argumentieren Falkner und
letzten Jahren auch in der Mark einen Aufschwung                            Kahrs, war die «nationalsozialistische Prägung […]
erfahren – allen voran Fridays for Future (siehe Kapi­                      nur unter die Oberfläche verbannt, wo sie sich offen­
tel 2.8).                                                                   sichtlich auch reproduzieren konnte und nach dem
Ein Brennpunkt der Auseinandersetzung ist die                               Wegfall der disziplinierenden Aspekte der DDR-Struk­
Braunkohlewirtschaft in der Lausitz: Die Region ist tief                    turen allmählich wieder aufbrach» (Falkner/Kahrs
gespalten zwischen Kohlegegner*innen und -befür­                            2019: 29). Gleichzeitig wurden diese latenten Ein­
worter*innen. Obwohl die meisten Kraftwerke nach                            stellungsmuster von Teilen der Wendegeneration auf
Beschlusslage der ehemaligen Bundesregierung                                der Suche nach neuen ideologischen Orientierungen
noch bis 2038 weiterbetrieben werden sollen und die                         wiederbelebt. Die Renaissance rechtsradikaler Ten­

13 Schließlich ist auch der Naturschutz ein umstrittenes Feld. Die zahlreichen und großen Schutzgebiete in Brandenburg sind Gegenstand
   konkurrierender Nutzungs- und Gestaltungsinteressen.

                                                                                                                                         11
denzen muss vor dem Hintergrund der spezifischen          23,5 Prozent in den Brandenburger Landtag einzog.
Bedingungen im Systemumbruch betrachtet werden.           Der vom «Flügel» dominierte Landesverband weist
Die Rechte seit der Wende: So gab es im Osten             enge Bezüge zu Neonazis auf. Rechtsradikale und
bereits in den 1980er-Jahren eine wachsende rechte        rechtspopulistische Szenen mischen sich zuneh­
Skinheadszene. Aber als gut organisierte Bewe­            mend. Die Brandenburger AfD hat aber auch neue
gung formierte sie sich erst nach der Wende. In den       Kreise von Rechten aktiviert, die mitunter enge Ver­
«Baseballschlägerjahren» terrorisierten rechte Grup­      bindungen zu Teilen von CDU und rechten freien
pen in zahlreichen Orten Migrant*innen, Linke und         Wählergruppen haben. Die AfD trägt durch ihre Prä­
Andersdenkende. Seit 1990 haben Neonazis über             senz im Alltag zu einer Diskursverschiebung bzw.
20 Menschen in Brandenburg ermordet (Opferpers­           einer Normalisierung rechter Positionen bei. Sie ver­
pektive o. J.). Wichtige rechte Organisationen der ers­   ändert durch den Zugewinn von Mandaten und finan­
ten Jahre waren die Nationalistische Front, die United    ziellen Ressourcen die politischen Bedingungen in
Skins und Blood & Honor. Regionale Schwerpunkte           den Kommunen massiv und bedroht alternative und
bildeten nicht nur Frankfurt (Oder), Cottbus und die      zivilgesellschaftliche Projekte durch Anträge, Anfra­
Lausitz – die früher von linken Bastionen bestimmt        gen und Ähnliches. Dennoch bleibt auch die AfD
war – sowie viele Kleinstädte im ländlichen Raum.         hinter dem politischen Potenzial zurück, das ihr aus
Insbesondere im Berliner Umland lagen die opera­          der breiten Wählerbasis erwächst. Die Gründe liegen
tiven Zentren der Rechten: in Oranienburg, Velten,        darin, dass ihr bisher noch eine breite Kaderschicht
Kremmen und Nauen, in der Gegend um Königs                fehlt, sie in manchen Kreisen und Kommunen unterei­
Wusterhausen, auch in Potsdam (Kleffner/Spangen­          nander zerstritten ist und die Partei bundesweit durch
berg 2016).                                               ihren Richtungsstreit in Schwierigkeiten geraten ist.
Durch zivilgesellschaftlichen und antifaschistischen      Die soziale Basis – Generation Hoyerswerda: Aktive
Protest, durch staatliche Repression und interne Zer­     Nazis waren auch in den 1990er-Jahren nur eine Min­
würfnisse erlitt die Rechte Rückschläge, wandelte         derheit. Aber sie beförderten durch die Alltagspraxis
sich aber immer wieder und organisierte sich neu          in ihren Orten die Entstehung eines eigenen politi­
(Botsch/Schulze 2021). So gab es unterschiedliche         schen Milieus – die «Generation Hoyerswerda», die
Wellen rechtsradikaler Aktivität und Gewalt in ver­       die Erfahrung gemacht hat, durch kollektiven Terror
schiedenen Regionen. Über diese Bewegungszyklen           auf der Straße politische Siege erringen zu können
hinweg blieben viele faschistische Kader aktiv. Einige    (Kleffner/Spangenberg 2016). Die AfD bekommt in
Orte sind seit Jahrzehnten durch eine rechte Domi­        Brandenburg zwar Stimmen aus allen Schichten
nanz geprägt. Nazis nehmen nicht nur haupt- und           und Altersgruppen. Doch ihre Wahlerfolge sind
ehrenamtliche Funktionen in ihren Gemeinden wahr,         nicht zuletzt auf die nachhaltige rechte Prägung der
sondern schlagen auch immer wieder zu. Sie haben          genannten Generation zurückzuführen. Vor allem
Einfluss in der Türsteher-, Kampfsport- und Hooligan­     viele Männer* der mittleren Jahrgänge, die heute im
szene, in örtlichen Trinkerkreisen und in der organi­     Berufsleben stehen und oft in ihren Gemeinden sozial
sierten Kriminalität. So bleiben sie im Alltag präsent    verankert sind, wählen seit den 1990er-Jahren stabil
und haben dazu beigetragen, dass sich rassistische        faschistische Parteien. Dieser harte rechtsradikale
und patriarchale Einstellungen etablieren konnten.        Kern bildet zusammen mit neu hinzugewonnenen
In den letzten Jahren haben zudem völkische Sied­         rechtsbürgerlich-konservativen Kreisen die Stamm­
ler*innen, Reichsbürger*innen und zuletzt Coro­           wählerschaft der Brandenburger AfD. So wählen
na-Leugner*innen an Bedeutung gewonnen, unter             nicht nur Männer* fast doppelt so häufig wie Frauen*
die sich vielerorts auch ein esoterisch-anthroposo­       die Rechtsaußenpartei, sondern sie schneidet auch
phisches Spektrum mischt. Nichtsdestotrotz machen         bei allen Geschlechtern in den Altersgruppen von 35
aktive Antifaschist*innen in manchen Landkreisen die      bis 60 weit überdurchschnittlich ab. Ferner erhält die
Erfahrung, dass auch die Nazis älter werden und sich      AfD von Menschen mit einem mittleren Bildungs­
tendenziell ins Private zurückziehen, weniger aktiv       abschluss, der zu einem Fachlehrberuf qualifiziert,
sind und in vielen Orten eine geringere Alltagspräsenz    besonders viele Stimmen (Falkner/Kahrs 2019).
haben. Mit dem Sommer der Migration 2015 kam es           Mehrere wissenschaftliche Analysen zeigen zudem,
in vielen Orten von Brandenburg allerdings zu einer       dass sich Menschen mit bestimmten menschen- und
neuen Welle von Gewalt und Demonstrationen gegen          demokratiefeindlichen Positionen in der Brandenbur­
Unterkünfte für Geflüchtete, an denen sich auch «nor­     ger AfD-Wählerschaft konzentrieren, während sie in
male» Bürger*innen beteiligten. Dort zeigte sich, dass    der sozialen Basis anderer Parteien nur Minderheiten
die Anhänger*innen der Rechten nie aus Branden­           bilden. Die Stimmanteile der AfD können deshalb
burg verschwunden sind, sondern sich leicht reakti­       auch ein Indiz für die Verbreitung solcher Einstel­
vieren lassen.                                            lungsmuster in der Bevölkerung sein. «In bestimmten
Mittelfristig konnte von dem rechten Bewegungs­           Milieus über Generationen modifiziert erhaltene Habi­
zyklus vor allem die AfD profitieren, die 2019 mit        tus- und Mentalitätsmuster prägen die Deutungen,

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die wiederum den Rohstoff für politische Mobilisie­       2.8 DIE MOSAIKLINKE
rung bilden.» (Kahrs 2019: 15) Diese grundlegenden
Weltanschauungen bestehen in einer konservativ-au­        Es wäre jedoch falsch, aus der Stärke der radikalen
toritären Gesellschaftsvorstellung, der Orientierung      Rechten zu schlussfolgern, dass sie allein die politi­
an einem völkischen Kollektiv, das Vorrang vor den        sche Landschaft in Brandenburg dominieren kann.
Fremden haben müsse, sowie in einer Betonung              Genauso wie es in der Weimarer Republik lokale und
von Leistung und harter Arbeit, die allein zu sozialer    regionale Hochburgen der Rechten gab, so hatte
Teilhabe berechtige. Dazu kommt ein patriarchales         auch die Linke an zahlreichen Orten eine starke Basis:
Männerbild, das auf Stärke, Gewalt und traditionellen     in Industriestädten wie Rathenow, Brandenburg an
Geschlechterrollen basiert.                               der Havel, Nowawes (heute Potsdam-Babelsberg),
Vor diesem Hintergrund sammeln sich bei der AfD vor       Luckenwalde und vor allem in Cottbus und den umlie­
allem diejenigen Brandenburger*innen, die neolibera­      genden Arbeiterstädten der Lausitz. Während der
len und emanzipatorischen Modernisierungsprozes­          gesamten Dauer des faschistischen Regimes setzten
sen skeptisch gegenüberstehen. Weniger ein Gefühl         zudem sozialdemokratische und kommunistische
der Marginalisierung erklärt dann die Stimmen für         Zellen in vielen Orten den antifaschistischen Kampf
die AfD, sondern eher eines, die als erstrebenswert       aus dem Untergrund fort (Sandvoß 2019).
empfundene traditionelle Lebensweise gegen Ver­           Auch heute gibt es vielfältige linke, progressive und
änderungen verteidigen zu müssen. Diese Deutung           demokratische Akteure in Brandenburg. Allerdings
befördert die Konstruktion einer kollektiven Identität:   verstehen sich viele dieser Gruppen nicht als expli­
Ein speziell im Osten verankertes «Volk» versucht,        zit links, sondern als Punks, engagierte Christ*innen
sich aggressiv gegen die Zumutungen der modernen          oder einfach Antifaschist*innen. Ferner sind deutliche
Welt abzuschotten. Konsequenterweise ist das ver­         regionale Unterschiede festzustellen: Während die
bindende Moment der Rechten der Rassismus gegen           gesellschaftlichen Bedingungen für zivilgesellschaft­
Migrant*innen, Geflüchtete und Muslim*innen. Der          liches Engagement im Berliner Umland zunächst
Sommer der Migration war in Brandenburg nur der           günstiger sind, sind die Strukturen in vielen peri­
Anlass, durch den diese Einstellungen mobilisiert         pheren Gegenden relativ dünn. Es ist aber auch der
wurden. Gepaart ist die Fremdenfeindlichkeit mit          gegenteilige Trend zu beobachten, dass sich einige
einem tiefen Misstrauen gegenüber den etablierten         suburbane Gemeinden zu eher inaktiven Schlaforten
demokratischen Institutionen, gegen die die Deut­         entwickeln und in manchen peripheren Zentren eine
schen aufbegehren müssten.                                lebendige Zivilgesellschaft entsteht. Schließlich gibt
Die AfD-Anhänger*innen in Brandenburg blicken             es ein relativ klares Nord-Süd-Gefälle des Engage­
zwar überdurchschnittlich pessimistisch auf die wirt­     ments: Insgesamt findet sich in der nördlichen Hälfte
schaftliche Lage im Land. Trotzdem scheinen soziale       des Landes ein dichteres Netz von Gruppen und Ini­
Themen bei ihnen eher eine untergeordnete Rolle zu        tiativen, wohingegen die Zivilgesellschaft Richtung
spielen – ebenso Interessen als deprivilegierte Ost­      Süden und insbesondere in der Lausitz am prekärsten
deutsche. Über die sozialräumliche Polarisierung          aufgestellt ist.
tritt die soziale Frage jedoch in den Mittelpunkt der     Die soziale Basis der progressiven Kräfte: In der DDR
rechten Weltsicht. Die regionalen Hochburgen der          wurden Sozialismus und Antifaschismus zur autori­
AfD fast im gesamten Süden und Osten des Landes           tären Staatsdoktrin und die zuvor linken Klassenmili­
sind nicht allein durch historische Kontinuitäten zu      eus veränderten sich tiefgreifend. So waren nicht die
erklären, sondern auch damit, «dass die regionalen        traditionellen Arbeitermilieus, sondern die moderne­
Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten, ein zuneh­       ren alternativen und subkulturellen Milieus die Träger
mendes Auseinanderdriften der sozialräumlichen All­       der Wende: «Die Akteure der friedlichen Revolution
tagswelten in den ostdeutschen Ländern selbst, ent­       von 1989/90 kommen im Wesentlichen aus diesen
scheidend sind für die Herausbildung eines Gefühls        blockierten, neuen sozialen Milieus, die sich in den
für den sozialen Raum, in dem man lebt» (ebd.).           letzten 20 Jahren der DDR herausgebildet hatten.»
Gefühle der kulturellen Überforderung und düstere         (Hofmann 2020) Erst in den Monaten der Revolution
Zukunftserwartungen bestimmen vor allem solche            ergriff der Umbruch breitere Kreise der etablierten
Regionen, die durch starke Abwanderung und einen          Arbeiter- und Angestelltenmilieus. Solche politischen
demografischen Überhang von Alten und Männern*            Veränderungen lassen sich zum Beispiel auch in Pots­
gekennzeichnet sind, in denen Infrastrukturen massiv      dam (Warnecke 2019) und Brandenburg an der Havel
abgebaut wurden, die unter geringer Wirtschaftskraft      (Segert 1995; Zierke 1995) nachzeichnen.
und sozialer Prekarisierung leiden (siehe Kapitel 2.1     Die Initiativen der Bürgerrechtsbewegung und ihre
und 2.4). AfD und Co können diese Räume oft mit           soziale Basis gruppierten sich lokal jeweils unter­
ihren Deutungen füllen und zu rechten Bastionen aus­      schiedlich. Es lassen sich aber einige typische
bauen (vgl. auch Candeias 2018).                          Akteure und Szenen unterscheiden:

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