Out! - Thema: Drag - Zeitschrift des Jugendnetzwerks Lambda e.V. Ausgabe 52 / Sommer 2020 - Lambda Mitteldeutschland
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Zeitschrift des Jugendnetzwerks Lambda e.V. Ausgabe 52 / Sommer 2020 out! out! Zeitschrift des Jugendnetzwerks Lambda e.V. Ausgabe 52 / Sommer 2020 Thema: Drag
SO FINDEST DU DEINEN DRAG-NAMEN! Alle, die Drag machen wollen, brauchen einen Drag-Namen. Olivia Jones, Conchita Wurst, RuPaul, Lady Bunny, Mo B. Dick, Miles Long, Caine Panik, Vigor Mortis – es ist alles erlaubt, ob verrückt, schräg, anzüglich oder vornehm. Mit diesem Quiz findest du deinen persönlichen Drag-Namen! DEIN LAMBDA-LANDESVERBAND Keiner Berlin - Brandenburg Madame Dame Baden - Württemberg Mitteldeutschland Mister Sir Bayern Nord Lady Lord + ERSTER BUCHSTABE DEINES GEBURTSORTES A - Kiki K - Oops U - Chaotic B - Crazy L - Coco V - Fierce Bild: Alejandro Cartagena - Unsplash C - Freaky M - Bonbon W – Pompous D - Sleazy N - Evil X – Magnificent E - Sneaky O - Chic Y - Splendid F - Toxic P - Sick Z - Gorgeous G - Lavish Q - Outrageous Ä - Pretty H - Xtra R - Fishy Ö - Shameless I - Cute S - Filthy Ü - Cheeky J - Fab T - Woozy + ERSTER BUCHSTABE DEINES NACHNAMENS A - Chanel K - Pearl U - Erotica B - Cox L - Sunflower V - Judy C - Danger M - Blonde W - Raja D - Eleganza N - Velvet X - Tension E - Latifah O – del Sol Y – de la Roza F - Eleanor P - April Z - Royale G - Anaconda Q - Appleseed Ä - Gunz H - Foxxx R - Lily Ö - Supreme I - Jewel S - Emerald Ü – Boom-Boom J - Raven T - Diamond
Liebe Leser*innen, Inhalt bunt, schrill, laut, frech – all das ist Drag. Drag ist Über- 02 So findest du deinen Drag-Namen! treibung, Grenzüberschreitung, Provokation. Doch Drag ist noch so viel mehr, auch wenn das unterzugehen droht, 03 Inhalt / Editorial je mehr Drag im Mainstream ankommt. Denn Drag ist im- mer ein politischer Akt, ein Statement, und Drag ist mit 04 Que(e)rgeblickt dem Privileg verbunden, das auch ausleben zu können. Das beweist Verdraga, die ihr auf dem Cover rechts sehen Thema: Drag könnt. Verdraga, „eine Königin mit einer Ästhetik, die im- mer versucht, mit dem Etablierten zu brechen. Ich versu- 06 Eine ganz schön lange Geschichte che, einen politischen Diskurs zu führen, der über die gän- Von Aaron Auchter gige Schönheit hinausgeht“, erklärt Alejandro, der für die Internationale Organisation für Migration in Mexiko arbei- 08 „Manche finden sie halt lustig und andere nicht“ tet, und der sich nachts häufig in Verdraga verwandelt. Interview von Noah Kretzschel Das Foto ist mitten in Mexiko City entstanden, laut Alejan- dro ein sicherer Ort für Queers. „Doch außerhalb, wo die 09 „Der Typ, der ich gern wäre, wenn ich ein Typ wäre“ queere Welle nicht ankommt, gibt es immer noch Machis- Porträt von Julia Zimmermann mo und Homofeindlichkeit, und genau dort möchte ich mit meinem Drag-Charakter ankommen.“ 10 Voguing, Butch Queens und Venus Xtravaganza „Ich möchte meine Kunst zu Leuten bringen, die mit der Von Nadja Zwick queeren Welt nichts zu tun haben, um Sichtbarkeit zu er- zeugen und zu sagen: Wir sind hier, wir bleiben hier, und 12 „Drag zeigt, dass es gar kein Original gibt!“ wir gehen nicht weg, nur weil uns manche ablehnen“, er- Interview von Sara Schreiner klärt Alejandro. Wie Recht er hat! Und wie viel Kraft und Ausdauer in diesen Worten steckt. 14 Weg ist sie, die Liebe Kraft und Ausdauer begegnen euch auch an weiteren Von Noah Kretzschel Stellen im Heft: Zum Beispiel in der Coming-out-Story, aber auch in Swens Bericht über seine Vorstandsarbeit für 15 Queere Kolumne lambda::nord und in Melanies rührender Geschichte über das Abenteuer, Regenbogenfamilie zu werden. 16 Coming-out-Story: Ein Neuanfang in Berlin Kraft und Ausdauer können wir alle wahrscheinlich gera- de gebrauchen. Auch diese out! erreicht euch in einer Zeit 17 Meine Zeit im Vorstand voller Ungewissheiten und Planänderungen. Auch Lambda oder Wie lambda::nord mein Leben verändert hat musste einige Pläne über den Haufen werfen und Veran- Von Swen Gärtner staltungen absagen oder verschieben. Doch wir wären nicht bei Lambda, wenn wir nicht Lö- 18 Platzhalter*in: Verheiratet, ein Kind - Vom Abenteuer, sungen finden würden: Viele Jugendgruppen in den (Regenbogen-)Familie zu werden Landesverbänden treffen sich jetzt digital. Lambda Mit- Von Melanie teldeutschland und Lambda Bayern haben sogar eigene Podcasts gestartet, und Lambda Berlin-Brandenburg bie- 20 Save the Date tet zum Beispiel digitale Koch- und Serienabende an. Der Lambda Bundesverband versorgt euch auf Instagram mit Queertainment-Tipps, damit Langeweile gar keine Chance bekommt. Wir haben sogar eine dreitägige digitale Vorstandsklausur des Bundesverbandes auf die Beine gestellt. Ja, richtig gelesen: Dreitägig, nicht dreistündig. Und die lief sogar richtig gut. Ihr seht also: Die bunte Lambda-Welt steht nicht still. Und die out! erst recht nicht. Die Redaktion hat wieder alles gegeben, eine vielfältige Ausgabe für euch zusammenzu- stellen. Ich wünsche euch viel Spaß mit dieser out!, bleibt gesund, haltet zueinander, seid solidarisch! Fabian Editorial / Inhalt 3 out!52 / Sommer
Q U E (E) R G Ungarn: Trans*phobes Gesetz verabschiedet Nur zwei Tage nach dem Internationalen Tag Ungarischen Verfassungsgerichts, welches ex- gegen Homo-, Bi- und Transphobie (IDAHOBIT) plizit die rechtliche Anerkennung Transsexueller 2020 verabschiedete das Ungarische Einkam- eingefordert hatte. Aktuell wehren sich inter- merparlament mit einer Zweidrittelmehrheit ein national (queere) Menschenrechtsorganisatio- Gesetz, das die Rechte von inter* sowie trans* nen gegen den Gesetzeserlass. Die ungarische Personen massiv einschränkt. Ihnen wird es nach Queer-Organisation Háttér Society forderte der Unterzeichnung des Gesetzes durch den den Präsidenten Jándor Áder auf, nicht zu un- Präsidenten nicht mehr möglich sein, ihr bei der terschreiben, sondern das Verfassungsgericht Geburt zugewiesenes Geschlecht sowie fest- einzubinden. Auf in der Vergangenheit schon gelegten Namen auf legalem Weg zu „ändern“. mehrfach festgestellte Menschenrechtsver- Damit wird inter* und trans* Personen faktisch stöße wurde allerdings nicht reagiert. Dennoch die rechtliche Anerkennung verweigert. Aus- solidarisieren sich weltweit Politiker*innen und weiskontrollen bedeuten demnach immer ein Aktivist*innen unter dem Hashtag „Drop33“, Zwangs-Outing. Diese Regelung widerspricht das auf den geänderten Artikel 33 anspielt, mit nicht nur der ständigen Rechtsprechung des Eu- der ungarischen Community. Ende Mai hat Prä- ropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, sident Áder das Gesetz dennoch unterzeichnet. sondern auch einem 2018 erlassenem Urteil des Bilder: Sabin Urcelay, Drahomir Posteby Mach, Unsplash, Nik Shuliahin - Unsplash, Pixabay - Duotone, Pixabay - Pontin Sue, Sharon McCutcheon - Unsplash Irak: Regenbogenfahnen sorgen für Empörung Anlässlich des IDAHOBITs 2020 wurde weltweit die Regenbogenflagge der LSBTIQ-Community gehisst, auch an öffentlichen Orten und Gebäu- den. Im Irak, wo der einflussreiche schiitische Geistliche Muktada al-Sadr die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in anderen Ländern für die Verbreitung des Corona-Virus verantwortlich macht, birgt solch eine anders- wo selbstverständlich wirkende Geste allerdings großes Konfliktpotenzial. Nachdem westliche Botschaften im Irak dennoch an der Aktion teil- nahmen, meldete sich unter anderem das iraki- sche Außenministerium per Twitter zu Wort. Die „Fahne der Homosexualität“ widerspreche den „hohen Normen und Werten, die von allen gött- lichen Religionen respektiert werden“. Der radi- kale Milizenführer und Politiker Al-Sadr appel- lierte deswegen an die irakische Bevölkerung, als Gegenaktion die nationale „islamische Flag- ge“ an ihren Häusern anzubringen. Neben der Aufforderung an westliche Botschafter*innen, sich öffentlich zu entschuldigen und eine Wie- derholung einer solchen Aktion zu unterlassen, wurden Stimmen laut, die sogar deren Auswei- sung forderten. Brasilien: Blutspendeverbot für schwule und bisexuelle Männer aufgehoben Das bisherige Teilverbot für schwule und bise- lung bei der Blutspende gegangen. Darunter xuelle Männer beim Blutspenden gilt in Brasilien nicht nur westeuropäische Staaten wie Spanien seit Anfang Mai nun offiziell als verfassungs- oder Portugal. Auch in Bulgarien, Polen und neu- widrige Diskriminierung. Statt also die sexuelle estens sogar Ungarn bestimmt das individuelle Orientierung eines Mannes als generellen Aus- Sexualverhalten die Möglichkeit zur Blutspende. schlussfaktor anzusehen, soll zukünftig wie bei In Deutschland hingegen muss ein Mann, des- Heterosexuellen das tatsächliche Sexualverhal- sen sexuelle Orientierung Geschlechtsverkehr ten betrachtet werden. Auch wenn die Gefahr mit anderen Männern suggeriert, zwölf Mona- von sexuell übertragbaren Krankheiten bei der te auf gleichgeschlechtlichen Sex verzichten. betroffenen Personengruppe laut Studien pau- Selbst monogame Paare oder Ehepartner sind schal höher liegt, ist das tatsächliche Infektions- nicht von dieser Regelung ausgeschlossen. Eine risiko individuell. So bewerteten sieben von elf Mitte Mai beantragte Änderung des Transfusi- Richter*innen des obersten brasilianischen Ge- onsgesetzes, welche die Diskriminierung von richts den Fall. Andere Länder sind bereits vor sexuellen Minderheiten bedeutete, wurde von Jahren den Schritt in Richtung Gleichbehand- der Großen Koalition abgelehnt. Que(e)rgeblickt 4 out!52 / Sommer
E B L I C K T USA/Maryland: Queere Geschichte im Klassenzimmer In insgesamt zehn High Schools in Maryland wird es Schüler*innen ab Herbst möglich sein, den Kurs „LGBTQ+ Geschichte und Kultur“ zu belegen. Voraussichtlich werden folgende vier Inhalte Teil des Fachs sein: unterschied- liche Identitäten, wichtige Persönlichkeiten der Bewegung für LGBTQ+ Rechte, wichtige Momente queerer Geschichte und aktuelle Herausforderungen der Community. Mit dem Programm, das allen Schüler*innen - queer oder nicht - offensteht, erhofft sich das Schulminis- terium mehr Akzeptanz, Unterstützung und Ge- meinschaftsgefühl unter allen, unabhängig von Sexualität oder Gender. Indem mit diverser Re- präsentation ein sicheres Umfeld für junge Leu- te der queeren Community geschaffen werden soll, begegnet Maryland auch Zahlen, die von weitaus höhere Suizidraten, weit verbreiteter Depression und anderer psychischer Krankhei- ten in dieser Gruppe sprechen. Verläuft das Pro- jekt erfolgreich, wird wohl bald schon an mehre- ren Schulen „queere Geschichte und Kultur“ auf den Stundenplänen zu finden sein. Deutschland: Bundestag beschließt Teilverbot sogenannter Konversionstherapien Homosexualität ist keine Krankheit. Soweit wa- Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr rechnen, ren sich die Redner*innen aller Fraktionen am sondern auch Fürsorge- und Erziehungsbe- Entscheidungstag einig. Auch dass kein Kind rechtigte. Das gilt allerdings nur, wenn diese unfreiwillig „Behandlungen“ unterzogen wer- ihre Fürsorge und Erziehungspflicht grob ver- den darf, die darauf abzielen, dessen sexuelle letzen. Das Werben für Konversionstherapien Orientierung oder die selbstempfundene ge- wird gänzlich verboten. Während das Gesetz schlechtliche Identität zu unterdrücken oder zu weitgehend als „wichtiges Zeichen“ gelobt wird, verändern, scheint Konsens unter den demo- geht es vielen Politiker*innen, Expert*innen und kratischen Parteien zu sein. Um diesen in Rea- Aktivist*innen nicht weit genug. Sie kritisieren lität aber noch legal praktizierten sogenannten unter anderem die zu niedrige Schutzalters- Konversionstherapien nun Einhalt zu gewähren, grenze von 18 Jahren und den nur eingeschränkt verabschiedete der Bundestag Anfang Mai ein auf Fürsorge- oder Erziehungsberechtigte an- entsprechendes Gesetz. Minderjährige bis ein- zuwendenden Strafbestand. Zwei diese Mängel schließlich 18 Jahren sollen somit vor Eingriffen betreffende Änderungsanträge der Grünen- dieser Art geschützt werden. Nicht nur berufs- fraktion wurden im Vorfeld abgelehnt. Auch die mäßig Handelnde können bei Verstoß mit einer Forderung nach einer Aufklärungskampagne Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro oder einer fand keinen Anklang. Taiwan: Über viertausend gleichgeschlechtliche Eheschließungen innerhalb eines Jahres Am 24. Mai 2019 legalisierte Taiwan als erstes asiatisches Land die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare. Knapp ein Jahr später veröffentlicht das taiwanesische Innenministerium Zahlen, laut denen bisher 4021 Paare von ihrem neuen Recht Gebrauch gemacht haben – allen voran lesbische Paare, die 69 Prozent der Gesamtzahl ausmachen. Ein Großteil der Ehen wurde in den sechs größten Städten des Landes registriert. Laut einer Umfrage Anfang Mai sind etwas über 50 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass homosexuelle Ehen mit denen Heterosexueller gleichgestellt sein sollten. Das sind knapp 15 Prozent mehr als noch zwei Jahre zuvor. Que(e)rgeblickt 5 out!52 / Sommer
Eine ganz schön Ü ber die Kultur der Azteken (14. – 16. M lange Geschichte Jahrhundert), Inkas (13. – 16. Jahrhun- dert) und das alte Ägypten (z. B. Königin enschen haben sich vermutlich schon verkleidet, seit sie Kleidung tragen. Hatschepsut, 15. Jahrhundert v. Chr.) gibt Darunter wahrscheinlich auch mit Klei- Von Aaron Auchter dung, die nicht für ihr Geschlecht vorge- es Dokumente, die zeigen, dass Cross- Dressing – also das Tragen von Kleidung sehen war. In den letzten Jahrzehnten für andere Geschlechter – für Zeremoni- rückt Drag immer mehr ins en gängig war. Auge der Öffentlichkeit. Seit I n Japan war besonders im 17. Jahrhundert, aber auch später, die Theaterform des „Kabuki“ beliebt. Fraueni- einiger Zeit ist es mit Sendun- mitatoren stellten durch Verkleidung, Verhalten und gen wie RuPaul‘s Drag Race Bewegung Weiblichkeit dar. Solche Darsteller heißen Onnagata. Auf dem Druck aus dem Jahr 1860 sind oder Queen of Drags auch Nakamura Shikan IV und Sawamura Tanosuke III als im Mainstream-TV zu sehen. „Schöne Frauen“. Auch in der westlichen Kultur war Cross-Dressing im Theater bis ins späte 20. Jahrhun- Doch Drag ist kein neuartiges dert gängig. Die vor allem von jungen Männern ver- Phänomen. Der Zeitstrahl soll körperten Frauenimitatoren waren in der westlichen Unterhaltungsbranche weit verbreitet und völlig ohne einen Ausschnitt der langen queeren Bezug. Die (Hetero-)Sexualität oder Ge- und globalen Geschichte von schlechtsidentität der Darsteller wurde dabei nicht in Frage gestellt. Drag und Cross-Dressing er- zählen und ein paar Daten und Ereignisse hervorheben: BIPoC steht für „Black, Indigenous and People of Color”. Das ist eine Selbstbezeichnung für Menschen mit Rassismuserfahrung. Schwarz I m späten 19. Jahrhundert haben Drag Balls ihren Ur- sprung. Bei den Bällen wurden Wettbewerbe unter anderem Bilder: Alejandro Cartagena - Unsplash, Wikimedia, ProSieben und weiß stehen dabei nicht für Hautfarben, für Outfit und Performance veranstaltet. Als erster Veran- sondern für soziale Konstruktionen. Es handelt staltungsort zählt die Hamilton Lodge in Harlem. Im frühen sich um politische Begriffe, bei denen es um 20. Jahrhundert formten BIPoC eigene Bälle, um der Un- die Benennung von Rassismus und Machtver- gleichbehandlung bei den Wettbewerben zu entkommen hältnisse geht. Früher war die Abkürzung PoC (mehr zur Ballroom-Culture findest du im Artikel auf Seite verbreitet, doch sollen Schwarze und indige- 10 und 11). ne Menschen explizit einbezogen werden. Die deutsche Sprache kennt keine adäquate Über- setzung des Begriffs. Oft wird weiß daher kursiv und/oder groß ge- schrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine Beschreibung von Äußerlichkei- ten handelt, sondern die Positionierung und so- ziale Zuschreibung als weiß in einer rassistisch I n den 1950ern und 60ern änderte sich die kulturelle Wahrnehmung von Drag in den USA. Mehr und mehr Männer hatten sich als schwul geoutet, und gesellschaftlich wurde Drag immer häufi- strukturierten Gesellschaft. Mit Weißsein ist die ger mit Homosexualität in Verbindung gebracht. Dadurch war Drag Anfeindungen anti-queerer dominante und privilegierte Position innerhalb Stimmungsmacher*innen ausgesetzt. Die Polizei setzte geltende Anti-Crossdressing-Gesetze hart des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die um, stoppte Menschen auf der Straße, um zu kontrollieren ob sie die vorgeschriebene Mindestan- sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt zahl von drei Kleidungsstücken, entsprechend dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht, bleibt. tragen würden. Queere Bars wurden Ziel von Polizeirazzien, bei denen Drag Queens und Kings so- wie trans* Menschen verhaftet wurden, weil sie gegen diese Kleidungsvorschrift verstießen. Auch die Stonewall-Aufstände in New York City begannen bei einer der häufigen Razzien der Bar Stone- wall Inn am 28. Juni 1969, als Besucher*innen und Künstler*innen begannen, sich gegen die Verhaf- tungen zu wehren, darunter auch Drag Queens. D anach wurde Drag durch Musik und Film zunehmend Teil der Mainstream-Unter- haltung, mit Darstellungen wie zum Beispiel die des Schauspielers Tim Curry in dem Film Rocky Horror Picture Show von 1975 oder auch dem gender-nonconformen Auftreten des Sängers Boy George (Foto). Auch die Band Queen zeigt sich in ihrem Musikvideo zu „I want to break free“ 1984 in Drag. Thema: Drag 6 out!52 / Sommer
D ass sich männliche Schauspieler für Frauenrollen verklei- den, wird als Beginn von Drag gesehen. Das war schon im alten Griechenland gängig, aber auch zu Shakespeares Zeiten (16./17. Jahrhundert) der Fall, als vor allem junge Männer für die Rol- len eingesetzt wurden. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff Drag: „To Drag“ bedeutet, Kleider auf dem Bühnenboden hin- terherziehen. Aber auch in China war das üblich, da Frauen seit 1872 nicht mehr auf der Bühne auftreten durften. Mei Lanfang war einer der bekanntesten sogenannten „Dan“ Darsteller der Peking-Oper und damit auch international bekannt. A uch in sogenannten „Freak Shows“ waren Drag- Darsteller*innen, neben anderen trans*, queeren oder anderweitig nicht geschlechts-konform lebenden A Darsteller*innen zu sehen. Diese Vorführungen als „Freaks“ hatten große Beliebtheit im Viktorianischen uch in Indien des frühen 20. Jahr- Zeitalter (19. Jahrhundert). Annie Jones (1865-1902) hunderts gab es männliche Schauspie- war eine sogenannte bärtige Frau aus den USA, die ler, die sich für die Theaterbühne als weltweit bekannt war. Sie setzte sich dafür ein, dass das Frauen verkleideten. Sie waren auch Wort „Freak“ nicht mehr genutzt wird. Außerhalb der weiterhin beliebt, als Frauen auf der Show allerdings wurden Männer in Frauenkleidung we- Bühne spielen durften. gen Sodomie oder Prostitution verhaftet. I m frühen 20. Jahrhundert begann die Darstellung der Frau- enimitatoren eine neue Form anzunehmen und auch Männer wurden imitiert. Immer noch sehr gängig und angesehen in der Unterhaltungsbranche, traten die Darsteller*innen in der Theatergattung „Vaudeville“ auf, wobei die Verkörperung von Frauen und Männern zu komödiantischen Zwecken genutzt wurde. Julian Eltinge war einer der bekanntesten Darsteller des Vaudeville. Auf dem Foto ist er in der Rolle als „Die faszinieren- de Witwe“. Es gibt Spekulationen, dass Eltinge schwul war, er selbst hat das jedoch stets verneint. W ährend der Prohibition der 1920er und frühen 30er Jahre wurden in den USA die Speakeasys Ort il- legalisierter Aktivitäten. Neben dem Ausschank von Alkohol, Glücksspiel und Prostitution war auch Ho- mosexualität Teil mancher dieser Untergrundbars und -clubs. Drag rutschte mit in diese Untergrundszene und so wurde in den schwulen Bars neben Cocktails von Drag-Künstler*innen performt. Einer der bekanntesten von ihnen war Jean Malin (Foto). Obwohl diese Orte verboten waren, wurden sie für viele queere, trans* und 2009 begann die Erfolgsgeschichte der Casting-Sendung RuPaul‘s Drag Race, die heute international bekannt ist. Seit 2019 gibt es auch in Deutschland mit „Queen of Drags“ gender-nonconforming Künstler*innen zu Anlaufstellen. So wurde Drag schließlich Teil der queeren (Club-)Szene und blieb es auch nach der Zeit der Prohibition. eine Castingshow für Drag Queens nach dem US-Vorbild. Drag ist heute eine Kunstform, in der sich Personen für Performances verkleiden und schminken und dabei oft mit gesellschaft- lichen Geschlechtervorstellungen brechen und einem bestimmten Geschlecht zugeschriebe- ne Eigenschaften übertrieben darstellen. Die Darstellung entspricht meist nicht der eigenen Identität, die meisten Drag Queens werden also von Männern dargestellt, während Frauen als Drag Kings performen. Eine feste Regel dafür gibt es aber nicht. Personen jeden Geschlechts, und auch jeder sexuellen Orientierung, können sowohl als Drag Queens als auch als Kings auftreten. Dennoch ist Drag fest in der queeren Community verwurzelt. Thema: Drag 7 out!52 / Sommer
Dagmar, wie fühlt es sich an, auf der Bühne zu stehen? Dagmar: Wenn ich mit meinen Freundinnen durch Frankfurt spaziere, zaubern wir den Leuten ein Lächeln ins Gesicht. Die finden uns lustig. Viele wollen ein Foto von uns schießen, häufig trauen sich die Leute auch nicht und versuchen, heimlich eins zu machen – aber ich sehe alles! Mit Margot und Waltraud war ich auch schon in Berlin und in London – auf Mieträdern sind wir zum Buckingham-Palast gefahren. Da hat sich eine riesige Menschentraube vor uns gebildet – wir haben mit den Leuten gequatscht und uns wie Promis gefühlt. Warum die alle so auf uns flie- gen, weiß ich gar nicht – aber die sind glücklich dabei und das ist ja die Hauptsache. Mit der Margot und der Waltraud bin ich auf schon auf dem CSD in Frankfurt oder in Darmstadt bei vielbunt aufgetreten. Und im Jugendzentrum in Frankfurt, dem Kuss41, da macht der Phil ab und an so Quiz-Abende, da helfe ich dem ein bisschen dabei. Also oft bin ich ja unterwegs, dann macht der eine Videoschalte mit mir. Phil, wie würdest du die Dagmar beschreiben? Phil: Die Dagmar ist unverschämter und mutiger als ich. Sie spricht Dinge direkter an. Allerdings ist sie auch viel tollpatschiger und dusseliger als ich. Und im Gegensatz zu mir spricht sie ausschließlich Frankfurterisch- Hessischen Dialekt. (Für den Abdruck des Interviews sind ihre Aussagen ins Hochdeutsche übertragen, Anm. d. Red.) Wir wissen alle nicht, wie alt sie wirklich ist, auf jeden Fall ist sie nicht so auf der modernen Welle. Sie „Manche finden bringt gern Menschen zum Lachen, weil sie die Leute glücklich machen will. Einfach ein bisschen Ablenkung vom Alltag und den Sorgen. Gerade zu Corona-Zeiten vermisst die Dagmar es, rauszugehen und aufzutreten. sie halt lustig und Die Dagmar polarisiert das Publikum, manche finden sie halt lustig und andere nicht. Es kam auch schon mal vor, dass Leute sich angegriffen füh- andere nicht“ len, weil sie denken, die Dagmar macht sie über sie lustig. Dann ist es mir sehr wichtig, das nicht stehen zu lassen, sondern zu vermitteln und zu erklären. Interview von Noah Kretzschel Dagmar, kannst du das so bestätigen? Und wie würdest du Phil Phil und Dagmar kenne ich seit vielen beschreiben? Jahren aus dem queeren Jugendzentrum Dagmar: Ja, das stimmt schon, was der Phil sagt. Ich bin eher forsch und Kuss41 in Frankfurt. Phil ist der Alltags- stehe gern auf der Bühne. Der Phil ist eher ein bisschen schüchterner und zurückhaltender als ich. Und der macht ganz tolle Sachen beim Verein mensch und Dagmar seine drag-Kunst- ourgeneration. person. Als „Gaga-Ladies“ tritt Dagmar Phil, du engagierst dich ehrenamtlich beim queeren Jugend- gemeinsam mit Waltraud und Margot im verein „our generation“ in Frankfurt. Was machst du da? Rhein-Main-Gebiet auf. Phil: Ich bin mit 16 zu „our generation“ gestoßen, damals gab es ein paar Mal die Woche abends Jugendtreffen in der Bar der Aidshilfe. Dort war ich zwar mit Abstand der Jüngste, aber gerade das Zusammensein mit Dagmar und Phil, wie habt ihr euch kennengelernt? Älteren hat mir in meiner Entwicklung sehr geholfen und mich bei mei- nem Coming-out unterstützt. Heute will ich weitergeben, was ich selbst Phil: Aufmerksam auf Dagmar wurde ich durch einen Freund, der mir den früher toll fand. Vor zehn Jahren wurde das Jugendzentrum Kuss41 in Spitznamen „Dagmar“ gab. Das war ein paar Jahre lang ein Scherz, bis die Trägerschaft von „our generation“ eröffnet. Im Verein mache ich viel Dagmar dann zur Verleihung der MTV Europe Music Awards wollte – die Verwaltung und Organisation, außerdem leite ich Freizeitfahrten für Ju- fand 2012 in unserer Heimatstadt Frankfurt statt. gendliche aus dem Kuss41. Leider habe ich den Kontakt zu vielen Jugend- lichen im Laufe der Zeit verloren, das Alter steuert halt auseinander. Am Dagmar: Der Radiosender hr3 hat damals mitten in Frankfurt, in einem Schönsten war und ist für mich zu sehen, wie die Leute sich entwickeln, Einkaufszentrum, ein öffentliches Casting veranstaltet. Zu gewinnen gab das bewundere und bestaune ich. es Eintrittskarten zu diesen MTV Europe Music Awards. Da wollte ich unbedingt hin! Und zwar mit meinen Freundinnen Margot und Waltraud. Was macht „our generation“ und das Kuss41 Dafür mussten wir dieses Casting gewinnen. Wir haben dann das Lied während Corona? „Pokerface“ von der Lady Gaga einstudiert. Für die Aufführung brauchte Bild: privat ich natürlich noch ein scharfes Kostüm, das habe ich auf dem Flohmarkt Phil: Die Mitarbeitenden bieten Online- und Telefonberatung an, außer- gefunden. Beim Casting haben wir uns „Gaga-Ladies“ genannt und die dem gibt es virtuelle Treffen. Das Queer-Quiz gibt es jeden Freitag – im Eintrittskarten gewonnen! Das war unser erster Auftritt überhaupt. Internet auf kahoot. Thema: Drag 8 out!52 / Sommer
„Der Typ, der ich gern wäre, wenn ich ein Typ wäre“ Porträt von Julia Zimmermann Bilder: privat Drag Kings haben viele Gesichter: von natürlich Das erste Role-Model, das für Alonzo die Leitfi- tauchen in die Welt des Drags leicht. maskulin bis so richtig extravagant und ausge- gur in die Welt des Drags war, war der Dragking Jetzt, wo das Thema Drag nun durch Reality- fallen, mal wild, mal cartooney, mal kunterbunt, Spikey van Dykey, der vor allem für seine strip- Fernsehsendungen in den USA wie „RuPaul‘s Avantgarde, schrill – all das ist Drag. Wenn man pereske Nummer mit einem rotierenden fun- Drag-Race“ und hier mit „Queen of Drags“ versucht, das Aussehen von Alonzo Bordello auf kensprühenden Schleifgerät an einem metal- mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt diesem Spektrum zu beschreiben, wirkt er wie lischen Tiefschutz auf YouTube bekannt wurde. wird, ist es für Alonzo wichtig, weiterhin auch ein wilder Mix aus Pimp und Oldschool Gangster Zu diesem Zeitpunkt, 2014, war es noch schwer, hinter Glanz, Glitzer und Make-Up, Beauty, Gla- – überzogen und gleichzeitig Gentleman, flirty, Drag Kings im deutschsprachigen Internet zu mour, Fashion und die unterhaltsame und schö- dangerous, Flachmann in der Tasche und Zigar- finden. So reiften über Make-up-Tutorialvideos, ne Fassade zu schauen und festzustellen, dass re im Mund. Kurz: „Der Typ, der ich gerne wäre, Halbwissen und Cosplayerfahrung langsam Aus- die Clubrealität in Deutschland weit weg von wenn ich ein Typ wäre.“ sehen und Persönlichkeit von Alonzo. diesen Fernsehbildern ist. Er will weiterhin ein Vielleicht lässt er sich mit Mr. Peachum, dem Aufgrund fehlender Möglichkeiten und Orte, bisschen Punk bleiben und Dinge, insbesondere Bettlerkönig aus Brechts Dreigroschenoper Drag zu tragen, fand Alonzos erster Drag-Auf- auf politischer Ebene, kritisch hinterfragen und vergleichen: eine Kunstfigur, die man im richti- tritt in einer Schwulenkneipe statt. Er beteiligte Rechte für LSBTIQ* einfordern. gen Leben nicht sympathisch fände, aber die als sich an einem Dragcontest und beschreibt sein Was bedeutet Drag für Alonzo Bordello? Nicht Rolle mit einem Augenzwinkern und viel Witz zu Outfit von damals als „ziemlich crappy, eige- zwangsweise die Umkehr von Geschlechter- verstehen ist. Alonzo, Mitte 20, versprüht das ne Haare als Bart im Gesicht, ansonsten Zöpfe rollen. Er betont, dass auch Bio Queens (cis- Lebensgefühl der 1930er und zieht die Men- geflochten“ und berichtet von Ausrufen aus Frauen, die Drag Queens darstellen) oder nicht- schen in seinen Bann. der Menge, die fragten: „Machen die Lesben binäre Dragpersönlichkeiten Teil der vielfältigen Die Mutter von Alonzo würde ihn rein optisch das jetzt auch?!“ Aber für ihn stand schon da- Welt des Drags sind. Sein Motto lautet: „Egal, so beschreiben: „Sieht so’n bisschen aus wie mals sein eigenes, gutes Gefühl, der Spaß beim was und wie du sein willst – go for it!“ Drag ist Prince, also so wie wenn man dir Prince über Performen und die Freundschaft, die Solida- für ihn über die Karikatur von Geschlechterrol- drei Ecken beschreiben würde.“ Die Looks von rität zwischen den anderen Menschen in Drag len und Stereotypen hinaus ein höchst indivi- Alonzo variieren, sind manchmal inspiriert von im Vordergrund. Da die Person hinter Alonzo dueller Ausdruck von Kunst, oft verbunden mit anderen Drag Kings wie Andro Gin, Hugo Grrl selbst aus der Cosplay-Community kommt, in der vermutlich vielen Queers aus verschiedenen und Landon Cider, der bekannt ist für seine der Crossdressing, insbesondere bei Frauen zu Zusammenhängen bekannten Frage: Will ich so Horror-Outfits. Männern, überhaupt kein Thema ist, fiel das Ein- sein oder finde ich das einfach nur heiß? Thema: Drag 9 out!52 / Sommer
E in junger, afroamerikanischer Mann sitzt auf einem Sofa und erzählt von seinem Traum, irgendwann einmal mit seinem ganzen House nach Japan zu reisen, dort alles loslassen zu kön- nen und sich akzeptiert zu fühlen. Davon, dass er gern ein großer Star wäre, ein Choreograf oder ein berühmter Tänzer. Er schaut verträumt vor sich hin. Andere Szene – selber Mann. Er steht in einem weißen, rücken- freien Hemd und schwarzer Hose mitten in einem Saal. Das Pu- blikum um ihn herum schaut ihm begeistert zu. Er voguet sich mit gefrorener Miene über die Tanzfläche und legt eine beein- druckende Choreografie hin. Dieser Mann ist Willi Ninja, Mother des House of Ninja. Er revolutionierte das Voguing grundlegend. Das ist eine Form des Tanzens, bei der in fließenden Bewegungen von Tänzer*innen die Darstellungen der Models auf dem Lauf- steg, in Modemagazinen wie der „Vogue“ und bei Fotoshootings dargestellt werden. Das sind Szenen aus der Dokumentation „Paris Is Burning“ von Jennie Livingston. Sie erschien im Jahr 1990 und bildet die Ball- room Culture von New York City in den 1980er Jahren ab. Der Film zeigt Interviews mit Mitgliedern der ruhmreichsten Houses der damaligen Community. So wird zum Beispiel Venus Xtravaganza gezeigt, eine bewun- dernswert selbstsichere trans* Frau, die offen über die Drogen- abhängigkeit vieler Kids der Szene und ihre eigene Arbeit als Sex- Voguing, Butch Queens arbeiterin spricht. Über die Faszination für Glamour, den Traum von Ruhm und Akzeptanz, über ein Leben voller Entbehrungen. und Venus Xtravaganza Sie spricht von den Demütigungen und Gewalttaten, die ihr von Männern angetan wurden, wenn sie bemerkten, dass sie eine Die Serie “Pose” entführt uns in die schil- trans* Frau war. Sie war erst 23, als sie noch vor der Premiere von „Paris Is Burning“ ermordet in einem Hotelzimmer gefunden lernde wie solidarische Welt der Ball- wurde. In der Community erlitten viele ähnlich traurige Schick- room Culture. Das war eine ganz beson- sale. So starben viele in der Ballroom-Szene an den Folgen von Aids. dere queere Subkultur, die immer noch Auf einem Ball konnte man alles sein, was man wollte. Es gehe Anhänger*innen weltweit hat. darum, „eine Legende zu werden“. Es gab Drags, die wie Las Ve- gas-Showgirls aussahen, wie Filmstars oder Models. Man konnte Von Nadja Zwick sich wie ein Hetero kleiden, sich wie einer mimen und eine Illusi- on schaffen. Ganz bewusst wurden Gender- und Rollenklischees überspitzt und gesprengt. Die individuelle Interpretation dessen wurde in Kategorien wie ,Butch Queen’, ,Going to school’ oder ,High fashion evening wear’ gezeigt. Eine andere Kategorie war zum Beispiel ,Mother of the year’. Die Kids sahen zu ihrer Mother oder ihrem Father auf, sie waren deren Ansprechpartner*innen, Ratgeber*innnen und Elternersatz. es verboten war, genderspezifische Kleidung zu tragen, die nicht Die Dokumentation „Paris Is Burning“ gilt als wichtiges Zeitzeug- dem bei Geburt zugeordneten Geschlecht entsprach. Die Balls nis der Transgender- und Schwulenszene sowie der afroamerika- waren eine Mischung aus Tanzveranstaltung und Maskenball. Es nischen und lateinamerikanischen Community des 20. Jahrhun- ging vor allem darum, stereotype Gender-Klischees aufzubre- derts. Allerdings sprach sich die Community im Nachgang gegen chen. Eine Jury begutachtete und bewertete die Darstellung der die Doku aus und kritisierte sie heftig, da sie nur die Schattensei- Queers und vergab Trophäen und Auszeichnungen. ten der Ballroom Culture beleuchte. Bei den ersten Balls saßen ausschließlich weiße Menschen in der Jury, People of Color oder Latinos wurden oft unfair bewertet Die Anfänge der Ballroom Culture oder von den Preisverleihungen ausgeschlossen. Deshalb be- So vielfältig und bunt wie in „Paris Is Burning“ war es jedoch nicht gannen später People of Color und Lateinamerikaner*innen ihre immer. In den 1920er Jahren nahm die Ballroom Culture in US- eigenen Balls zu organisieren. In verschiedenen Kategorien wur- Großstädten wie New York City ihren Anfang. Die im Untergrund den aufwendige Kostümierungen und eingeübte Shows gezeigt. Bild: Netflix aktive LSBTIQ-Community organisierte in regelmäßigen Abstän- Je glamouröser, desto eindrucksvoller. Auch hier war das Ziel, den sogenannte Balls, die jedoch als gesetzeswidrig galten, da eine Trophäe oder Auszeichnung zu erhalten. Die Mitglieder der Thema: Drag 10 out!52 / Sommer
„Pose“ – eine ganz besondere Serie Maßgeblich von „Paris Is Burning“ wurde die US-Serie „Pose“ beeinflusst, die 2018 erstmals ausgestrahlt wurde. Sie wirft ei- nen unverfälschten und ehrlichen Blick auf die Ballroom Culture Ende der 1980er Jahre in Lower Manhattan, New York. Im Fokus der Serie stehen die Namen und Mitglieder der drei erfolgreichsten Houses der Community: Das House of Abun- dance, das House of Evangelista und das House of Ferocity. In den Hauptrollen sind BIPoC zu sehen, die sich als trans* Frauen oder cis*-männliche Schwule identifizieren. Jede Woche finden in großen Veranstaltungsräumen Balls statt, welche in der LSBTIQ-Community begehrte und gut besuchte Events sind. Neben den spektakulären, meist freudig aufgeladenen und aus- gelassenen Balls wird jedoch auch die Schattenseite dieser Zeit gezeigt. In den späten 80er-, Anfang der 90er-Jahre ist Donald Trump nur ein Vertreter der konservativen, rassistischen und LSBTIQ-feindlichen Politik in Amerika, die besagte Randgruppen systematisch ausschloss und diskriminierte. Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit sind allgegenwärtig, was jeden einzelnen Charakter der Serie betrifft und in sehr emotionalen Szenen zu sehen ist. Die Summierung und Härte der missbräuchlichen, abwertenden und menschenunwürdigen Taten durch meist weiße, vermeintlich heterosexuelle Männer, endet in mehr als einer Situation tödlich für die Opfer. Beerdigungen stehen an der Tagesordnung und der Tod ist schmerzhafter, allge- genwärtiger Begleiter. Nicht minder vertreten sind die Auswir- kungen der sich damals schnell verbreitenden HIV-Infektionen in der Szene. Wer nicht selbst betroffen ist, kennt jemanden, der es ist oder bereits an Aids verstarb. So trifft dieses Schicksal auch einige der Hauptrollen der Serie. „Pose“ zeigt, anders als in den meisten bisher weltweit ausge- strahlten Produktionen, keine cis-Personen in den trans* Rollen der Serie, sondern ausschließlich trans* Personen. Ballroom heute „Pose“ trug dazu bei, dass die Ballroom Culture in die Mitte des Mainstreams rutschte. Fernab dieses Booms, den die Serie auslöste, existiert schon seit vielen Jahren ebendiese Kultur in sogenannten Houses traten gegeneinander an und versuchten Großstädten auf der ganzen Welt, so zum Beispiel auch in Berlin anhand ihrer Realness (Echtheit) zu überzeugen. Sie präsentier- und Hamburg. Es finden sich Menschen aus unterschiedlichsten ten eine Mischung aus Walking, Voguing, Lip-Synchronisation Gesellschaftsschichten zusammen, BIPoCs und weiße Menschen und Tanz. mit diversen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentiä- Als Houses wurden entstandene Wahlfamilien bezeichnet, die ten, sie schaffen sich ihren Safe Place und lassen die Ballroom für viele Mitglieder der unterdrückten LSBTIQ-Community die Culture aufs Neue erblühen. Unsere heutige Zeit lässt mehr Viel- Rettung vor einem Leben auf der Straße waren, da sie oft von falt zu als damals. Es gibt mittlerweile zahlreiche Fashion Shows, zu Hause verstoßen wurden. Ein House wurde von einer Mother die den Spirit des Ballrooms in ihrer Mode einfangen und publik oder einem Father geleitet und beherbergte eine unbegrenzte machen. Anzahl an Children/Kids, die sich oft so nah standen wie Ge- Auch wenn die Mitglieder der queeren Community sowie BIPoC schwister. Um ein House zu gründen, spielte es eine zentrale noch immer oft am Rande der Gesellschaft stehen, kämpfen Rolle, wie berühmt und wie lange man schon in der Szene war. Tausende Tag für Tag gegen Rassismus, Homophobie und Trans*- Das Zugehörigkeits- und Familiengefühl, die damit verbundene Feindlichkeit, machen sich für LSBTIQ-Rechte stark und haben Sicherheit, bedeutete einigen Houses so viel, dass sie auch ge- in den vergangenen Jahren einige, wenn auch längst überfällige, meinsam lebten. kleinere und größere Erfolge feiern können. Thema: Drag 11 out!52 / Sommer
Bilder: privat Mehr Informationen über Stephanie Weber und die Workshops findet ihr hier: pas-weber.de, auf Instagram: steph_from_stm, Facebook: shesthemanworkshop und im YouTube-Kanal TheQueer- LVlog. Thema: Drag 12 out!52 / Sommer
„Drag zeigt, dass es gar kein Original gibt!“ Interview von Sara Schreiner Wer an Drag denkt, hat oft Glam und Glitzer im Kopf. Aber Drag heißt erstmal nur, bestimmte Gender-Merkmale eines Geschlechts anzunehmen, mit dem man sich nicht identifiziert. Das kann Outfit, Make-Up, Stimme oder Verhalten sein. Deshalb ist Drag oft hochpolitisch. Das zeigen viele Aktivist*innen weltweit, und die New Yorker Stone- wall Riots haben 1969 bewiesen, dass Drag schon lange politisch war. Vorlesestunden von Drag Queens oder der Protest gegen US-Präsident Donald Trump oder die AfD sind heute Teil davon. Abseits von demokratischen Staaten sieht der Aktivismus anders aus: Worin liegt die Chance, Drag und Aktivismus zu verbinden? Drag-Künstler*innen und LSBTIQs müssen Angst vor Verfolgung und Bestrafung haben und können sich oft nur im Untergrund frei bewegen, Drag ist ein Stilmittel, um Themen, die uns beschäftigen, Raum zu geben. wenn sie etwa bei queeren Partys in Drag auftreten. Sie setzen sich dabei Ein Vorteil daran ist: Das können alle. Und Drag ist nicht geschlechtlich höchster Gefahr aus, indem sie einfach nur sichtbar sind. Doch auch die in festgelegt. Trans* Personen können das genauso machen, es gibt keine der Öffentlichkeit weniger präsenten Drag Kings sind häufig aktivistisch: binäre Regel. Stephanie Weber aus Köln zum Beispiel gibt seit zwölf Jahren Workshops Drag hält der Gesellschaft auch einen Spiegel vor, indem es zeigt, wo wir für Frauen, um zu empowern und klassische Geschlechterrollen heraus- in Sachen Emanzipation oder Gleichstellung der Geschlechter stehen. zufordern. Die Gender- und Medienpädagogin engagiert sich außerdem Sobald man auf die Bühne kommt, wird automatisch Geschlecht infra- bei „Queers for future“, dem queeren Ableger der Klimaschutzbewegung ge gestellt. Wir lernen, indem die „Kopie“ eines Geschlechts dargestellt „Fridays for future“ und ist Teil des YouTube-Formats „Queer L-Vlog“, in wird. Leute bewerten diese Kopie dann, indem sie sich fragen „ist das eine dem der Alltag von Kölner Queers und Lesben thematisiert wird. echte Frau?“. Aber Drag zeigt, dass es gar kein Original gibt. Was bedeutet Aktivismus für dich? Wie verbreitet ist die Idee in unserer Gesellschaft, Drag sei nur zur Unterhaltung da? Für mich bedeutet Aktivismus, sich nicht davor zu scheuen, immer wieder anzufangen. Ich gebe Seminare zu den Themen Drag und Geschlechter- Viele Menschen haben live noch keine Drag Shows gesehen und müssen rollen, spreche darüber, setze mich dafür ein. Ich versuche, immer wieder gezielt danach suchen, um sie dann in einer größeren Stadt zu finden. bei Punkt Null zu beginnen, auch wenn ich selbst schon darüber hinaus Oder nur nebenbei, außer sie waren mal in Berlin feiern. Ein Hoch für bin. Drag gab es durch Heidi Klums Show, und natürlich auch durch RuPaul. Ginge es RuPaul dabei nur um Unterhaltung, würde RuPaul jedoch nicht Wie bewertest du es, dass Drag Kings im Mainstream nach wie die Menschen hinter Drag zeigen, was sie damit verbinden und warum sie vor seltener vorkommen als Queens? Drag machen. Es geht schon darum, tiefer hineinzuschauen. Ich denke, Drag ist eine Drag Kings und Queens zu vergleichen, ist wie lesbisches und schwules Faszination und mehr als Unterhaltung, Drag regt zum Nachdenken an. Coming-out auf eine Stufe zu stellen. Natürlich gibt es da ein gemein- Wenn ich meine Workshops gebe, dann habe ich das Gefühl, viele Men- sames Erlebnis, aber der Rest unterscheidet sich. Kings tauchen immer schen nutzen sie, um Ge- wieder als Trend auf, der dann zeitweise verschwindet. Wichtig ist, von schlecht zu hinterfragen. dieser Entwicklung nicht genervt zu sein, sondern sie als Phänomen zu Das liegt bestimmt daran, betrachten. dass auch die Philosophin Es gibt viele größere Zeitungen, die sie vor dem Hintergrund anfragen, und Queer-Theoretikerin dass über Drag Kings zu berichten als etwas „Außergewöhnliches“ gilt, Judith Butler das Thema vo- obwohl sie im Kern dasselbe machen wie Drag Queens. rangebracht hat. Die Rück- Im Mainstream sind Drag Kings noch nicht angelangt, obwohl sie als meldungen, die ich nach Phänomen schon sehr lange existieren. Sie bilden eine Kontinuität in der den Wochenenden bekom- queer-alternativen Subkultur. me, sind so positiv. Teilwei- Es ist schade, dass die wenigen Bühnen, die es gibt, im Mainstream oft nur se berichten Teilnehmende von Queens besetzt sind. Wahrscheinlich denken offene Bühnen nicht Jahre später, dass sie immer weit genug. Ich habe mal eine Show in einem Kölner Theater besucht, bei noch davon profitieren. der zwei weibliche Comedians vierzig Rollen performt haben. Das gipfel- te in einem albernen Kermit-Kostüm. Aber das war im Prinzip auch eine Und vielleicht macht Drag-King-Show. Nun ist das ein „gediegenes“ Kölner Theater, in dem es man das genau deshalb. kein queeres Publikum gibt, und die Show ist doch immer ausverkauft. Danke für das Interview, Man sieht, das funktioniert also total gut! Es gibt wahrscheinlich zu weni- Stephanie! ge mutige Menschen. Thema: Drag 13 out!52 / Sommer
Weg ist sie, die Liebe Von Noah Kretzschel „Ich fühl‘s nicht“: Wo sind sie hin, die starken, übermächtigen Liebesgefühle, wie sie von Minnesängern besungen, von Romantiker*innen bedichtet, von Musiker*innen besungen wurden? Liv Strömquist widmet sich in ihrem gnante, zuweilen anspruchs- neuen Comic dem Verlust des Gefühls. volle Worte. Farbe setzt sie Es ist der vierte Comic der schwedi- nur sparsam ein. schen Zeichnerin. In all ihren Werken, das bekannteste ist „Der Ursprung der Die von Strömquist darge- Welt“, setzt sie sich feministisch und stellten Modelle und Beispie- kritisch mit der Welt auseinander. In- le beziehen sich vor allem auf haltlich überschneidet sich „Ich fühl‘s patriarchale, monogame he- nicht“ teilweise mit ihrem Comic „Der terosexuelle Beziehungen von Ursprung der Liebe“. Strömquist wird europäischen und nordameri- in Deutschland vom Avant Verlag ver- den ist. Sie erklärt, dass durch die große Aus- kanischen Menschen, wobei sie in einigen Bei- öffentlicht, der gesellschaftskritische Comics wahl an potenziellen Partner*innen – verstärkt spielen auch gleichgeschlechtliche Beziehun- und Graphic Novels verlegt. durch Internetportale – sich die Suchenden in gen darstellt. Eine Reflexion, ob es in queeren Konsument*innen verwandelt hätten. Sie er- Liebesbeziehungen die gleichen oder andere Der Aufhänger in Strömquists Comic ist Leo- läutert, dass emotionale Distanziertheit einen Dynamiken gibt, fehlt aber. nardo die Caprios Liebesleben. Er hat alle paar hohen sozialen Status markiert und dass das mit Monate ein neues Bademoden-Model an seiner der Liebe natürlich schwer ist, wenn es uncool Dennoch ist der Comic sehr lesenswert und für Seite– ohne dass sie und er sich starke Gefühle ist, zu sagen: „Ich liebe dich.“ Sie kritisiert auch alle empfehlenswert, die Lust haben, sich auf entgegenbrächten und unter der darauffolgen- modernes feministisches Self-empowerment, anschauliche Weise mit dem Phänomen und der den Trennung stark litten. Der Verlust des Ge- das Frauen zu vermitteln sucht, dass Liebe kon- Dynamik der Liebe auseinanderzusetzen. fühls, der starken, wahren Liebe, sei ein verbrei- trollierbar ist und mensch nicht unter der Liebe tetes Phänomen, meint Strömquist, denn das leiden soll. Dieser Ansatz mache in der Konse- Verständnis von Liebe und Partnerschaft habe quenz die Menschen selbst für ihren Liebeskum- sich in den letzten Jahrzehnten stark gewan- mer verantwortlich. All das verflicht Strömquist delt. Sie nimmt dabei hauptsächlich Bezug auf geschickt und kenntnisreich mit zahlreichen die Theorien des Philosophen Byung-Chul Han Beispielen aus Literatur, Popkultur, Mytholo- und der Soziologin Eva Illouz. gie und Geschichte. Sie arbeitet mit Ironie und Wiederholungen, schaltete sich als Erzählerin Bilder: Avant Verlag Strömquist erzählt von der Entzauberung zuweilen kommentierend ein. Ich fühl’s nicht der Liebe durch biologische und psychologi- Liv Strömquist sche Analysen des Phänomens, das dadurch Ihr grob, flächig gezeichneten Figuren dozieren 176 Seiten , Softcover scheinbar erklärbar und kontrollierbar gewor- Theorien oder stellen Beispiele dar, finden prä- Avant Verlag, 20 Euro Rezension 14 oout!52 / Sommer
Liebes Team, ich bin bisexuell und in einer Be- ziehung, die nach außen hetero wirkt (cis-Frau und cis-Mann). Ich fühle mich nicht immer willkommen in queer spaces, weil man mir ein Hetero-sein unterstellen könnte und ich Angst habe, dass Leute mir meine Sexualität aberken- nen. Hilfe! Anastasia, 23 Hallo liebe Anastasia, anfängt, sich selbst darüber zu definieren, oder von an- deren definieren zu lassen. Identität – dazu gehört auch Sara, 24, beansprucht das La- erst einmal danke für deine Zuschrift und das Vertrauen, zum Beispiel die sexuelle Orientierung – ist etwas ganz bel “bisexuell” gerne für sich, das du uns entgegenbringst. Persönliches, und wird allein durch dich definiert. Deine regt sich aber regelmäßig Die Situation, die du schilderst, nämlich, nicht immer in Identität hängt von keiner anderen Person ab. Und das auf, wenn Leute sie zwingen queer spaces willkommen zu sein, ist eine sehr schmerz- ist das Schöne – du allein hast die Macht darüber zu sa- wollen, sich für “eine Seite zu hafte und dennoch: Du bist nicht alleine damit. Einige Bi- gen, wer du bist. Niemand, absolut niemand kann dir das entscheiden”. Sie hasst Ent- sexuelle, darunter auch ich, haben schon mal Blicke von absprechen, und allen, die das versuchen, könntest du scheidungen nämlich, egal, der Seite oder blöde Kommentare abbekommen, die aber etwas entgegnen wie: „Du hast dich mir grade zwar als ob es um die Liebe zu ver- glücklicherweise nicht die Meinung und das Verhalten aller Anna vorgestellt, aber ich finde, du siehst viel eher aus schiedenen Geschlechtern LSBTIQ*s widerspiegeln. wie eine Maria. Deshalb nenne ich dich ab jetzt Maria. geht, oder darum, welches Das ist doch sicher okay für dich?“ – Das wirkt jetzt fast Buch sie als nächstes lesen Leider haben auch in der LSBTIQ*-Community einige Men- lachhaft und ist sicher keine geeignete Entgegnung in möchte. schen eine sehr konkrete Auffassung davon, wie „queere einem Gespräch, unterstreicht aber, wie sehr es an den Menschen“ zu sein haben. Manche Urteile werden vor- Haaren herbeigezogen ist, dass man einer Person die schnell gezogen, allein dadurch, dass eine Frau einen Mann Orientierung oder Geschlechtsidentität ansehen kann. küsst – und angenommen wird, sie sei hetero. Bestimmt hast du aber auch schöne Momente in der Von vielen Menschen weißt du vielleicht auch selbst nicht, Community oder bei deinem Coming-out erlebt, bei dass sie bisexuell sind oder unterstellst ihnen unterbewusst denen du das Gefühl hattest, deine Bisexualität wird Heterosexualität, so wie andere das bei dir tun könnten. völlig akzeptiert. Du kennst sicher Menschen, die dich So ein Bild herrscht in unserer Gesellschaft immer noch vor bedingungslos akzeptieren und mit denen du dich gerne und wird, auch unabsichtlich, reproduziert und unreflek- umgibst. tiert übernommen. Bi-Erasure, also die Unsichtbarmachung von Bisexualität, ist ein tatsächliches Problem, an dem wir Vielleicht kannst du ja auch mit deinem Partner darüber als Gesellschaft meiner Meinung nach noch mehr arbeiten sprechen, was dich belastet, wie er dich vielleicht beim müssen. Wohlfühlen in queer spaces unterstützen kann, oder ein- fach deinen Gefühlen Platz geben. Auch der Austausch Aber natürlich existiert Bisexualität! Das „B“ in LSBTIQ* ist mit anderen Bisexuellen könnte dir helfen, übers Inter- ja aus gutem Grund Teil des Akronyms, und gehört genauso net oder vielleicht auch in einer Jugendgruppe in der in die Community – und du damit auch! Nähe, die auch manchmal eine eigene Gruppe für bise- QUEERE KOLUMNE Es gibt zum Beispiel eine Studie von der Organisation MAP, xuelle Menschen anbieten. die feststellt, dass Bisexuelle in den USA 52 Prozent der queeren Community ausmachen. Fazit: Du schuldest niemandem eine Rechtfertigung für deine Bisexualität. Versuche, dir in unangenehmen Si- Viele bisexuelle Menschen haben die Community stark tuationen bewusst zu machen, dass du dich mit deiner beeinflusst mit ihren Taten, und damit kannst du auch mal eigenen Identität wohlfühlen darfst. Wenn es Leute gibt, kontern, sagen, wie wichtig Bisexuelle für die Communi- mit denen du dich umgeben kannst, die dich darin un- ty sind. Nur um mal Beispiele zu nennen, wäre da Brenda terstützen, dann tu es – das könnte dich sicherlich noch Howard, die „Mutter des Pride“, Fritz Klein, ein US-ameri- mehr bestärken! kanischer Arzt, der als Wegbereiter der Bi-Bewegung gilt, Kyrsten Senema, eine offen bisexuelle US-Senatorin, oder Ich wünsche dir und deinem Partner alles Gute und viel der deutsche DJ Felix Jaehn. Mut. Wenn man in einer Beziehung ist, kommt es vor, dass man Deine Sara Queere Kolumne 15 out!52 / Sommer
C O M I N G - O U T - S T O R Y Du möchtest an dieser Stelle auch von deinem Coming-out erzählen? Wir veröffentlichen jedes Mal eine Coming-out-Story, die jungen, queeren Menschen Mut machen soll. Für ihr eigenes Coming-out oder auch für die selbstbestimmte Ent- scheidung, sich nicht zu outen – zumindest nicht jetzt, nicht überall oder nicht bei allen. Deine Geschichte hat uns da gerade noch gefehlt – denn jede Geschichte ist einzigartig, kann zum Nachdenken anregen, zum Schmunzeln bringen oder tief schlucken lassen. Du möchtest deine Geschichte erzählen und im gedruckten Magazin sehen? Dann melde dich einfach per Mail outredaktion@lambda-online.de – auch anonym, falls du das möchtest. drei reagierten gelassen. Allerdings empfand halten. Als ich nach zwei Wochen entlassen wur- ich für Simon mehr als Freundschaft, was leider de, kehrte ich auf eigenen Wunsch in die alte nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Klasse zurück. Ich wollte unbedingt allen zeigen, Als ich ihn meine Zuneigung gestand, antwor- dass ich nicht aufgeben werde und hatte die tete er: „Es ist mir gerade zu viel, ich verstehe Hoffnung, dass sich jetzt etwas verändert. Lei- es nicht und ich muss mich von dir fernhalten, der eine Enttäuschung. Wieder ritzte ich mich um meine Gedanken zu ordnen. Aber Fernhal- und sprach darüber mit einem Lehrer, was mir ten heißt nicht, dass wir nie mehr miteinander einen zweiten Krankenhausaufenthalt beschert Kontakt haben werden.“ Danach hat er sich nie hat. Meine Familie war total durcheinander und wieder gemeldet, outete mich jedoch bei mei- die Situation zu Hause wurde noch schwieriger. ner Mutter. Damit nahm er mir mein Recht zu Geritzt habe ich mich seitdem aber nie wieder. entscheiden, wann ich mich outen wollte. Ich Ein Jahr später wechselte ich die Schule und war zu diesem Zeitpunkt nicht bereit und meine fand dort Freund*innen, meist weibliche. Das Eltern auch nicht. Meine Mutter hat geweint, Mobbing war kaum ein Thema und ich wurde und mein Vater sagte: „Ich habe nichts gegen selbstbewusster. Schwule, ich hätte aber bevorzugt, dass mein Nach dem Abi beschloss ich mit 16 Jahren, allein Sohn nicht schwul wäre.“ Dieser Tag wird für im- nach Berlin zu ziehen, um meine Ausbildung zum In diesem Text kommt (körperliche) Gewalt und mer in meinem Gedächtnis bleiben. Physiotherapeuten zu machen. Es war für mich Selbstverletzung vor – ohne detailreiche Danach wurde das Thema ein Tabu, vor allem ein Neuanfang und die Hoffnung, meine Prob- Beschreibungen. für meinen Vater, der das Ganze bis heute nicht leme hinter mir zu lassen. Die Entfernung und Ein Neuanfang richtig verarbeitet hat. All das geschah während der Ferien. Als die Schule in einer neuen Klas- die Zeit haben die Beziehung zu meiner Mutter irgendwie verbessert. Sie hat inzwischen akzep- in Berlin se wieder begann, spürte ich alle Blicke auf mir. tiert, dass ich schwul bin und ist immer da, wenn Das Mobbing begann. ich sie brauche. Emotionale Themen - zum Bei- Ich fühlte mich immer mehr unter Druck und spiel, was ich wirklich tief in mir fühle - kommen Ich bin auf La Réunion aufgewachsen, einer fing an, mich zu ritzen. Es war ein Hilferuf an aber nur selten vor. Die Beziehung mit meinem französischen Insel im Indischen Ozean, östlich mein Umfeld und Ventil für diese Wut, die ich Vater ist noch genauso oberflächlich wie früher von Madagaskar. Dort wird Homosexualität to- gegen mich selber richtete. Eines Tages, als ich geblieben. Meine Sexualität ist nie Thema. Ich leriert, aber nur wenn man darüber schweigt. auf dem Schulhof mit Freundinnen zusammen- fühlte mich anfangs sehr allein in Berlin, daher Wenn man wie ich in einem kleinen Dorf lebt, stand, bekam ich plötzlich einen Stein an den habe ich einige Dating-Apps benutzt, um diese merken die Leute schnell, wenn man von der Kopf geworfen und ein Mitschüler schrie: „Hier furchtbare Einsamkeit loszuwerden. Dadurch Norm abweicht und wird das Ziel von Klatsch für dich, scheiß Schwuler!“ Alle meine Freundin- habe ich mich sexuell ausgetobt, aber auch vor und Tratsch. nen schwiegen. Sofort waren die negativen Ge- etwas mehr als einem Jahr meinen Freund ge- Soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich fühle und das Verlangen mich zu ritzen wieder funden. Der macht mich richtig glücklich, ver- immer für Jungs interessiert, und habe mich da. Und das tat ich mitten auf dem Schulhof. steht mich und nimmt mich so, wie ich bin. Die immer „weiblicher“ verhalten als andere Jun- Daraufhin landete ich in der Kinder- und Ju- Verarbeitung dieses Traumas schiebe ich heute ge aus meinem Umfeld. Mit 12 hatte ich schon gendpsychiatrie. Meine Familie reagierte mit noch vor mir her. Nach und nach lerne ich aber, verstanden, dass ich schwul bin und hatte auch Trauer, Wut und Unverständnis über mein Ver- besser damit umzugehen. kein Problem damit, es anzunehmen: Es war für mich immer eindeutig und selbstverständlich. Leider verläuft nicht jedes Coming-Out problemlos. Bild: privat Solange ich vor meinen Eltern nicht geoutet In Notfällen, wenn du nicht mehr weiter weißt oder wenn du einfach mal einen Menschen zum Reden war, lief bei mir alles gut. Ich war in einem Inter- oder Zuhören brauchst, kannst du dich an folgende Anlaufstellen wenden: nat, weg von meiner Familie, wo ich mich „aus- Kinder- und Jugendtelefon: 0800 / 111 0 333 - erreichbar montags bis samstags von 14 - 20 Uhr. toben“ konnte, um mich zu entdecken. In die- Telefonseelsorge: 0800/ 111 0 111 – erreichbar 24 Stunden täglich ser Zeit war Simon mein bester Freund. Er war Mailberatung für junge Menschen in Suizidgefahr: www.u25-deutschland.de auch einer der Ersten aus meinem nahen Um- Außerdem kannst du dich beim Lambda Beratungsprojekt in&out von jungen Queers zu Themen wie feld, zusammen mit meiner Cousine und meiner Coming-out, Partnerschaft, Beziehung, Diskriminierung, Einsamkeit... beraten lassen: Schwester, vor dem ich mich geoutet habe. Alle www.comingout.de Coming-out-Story 16 out!52 / Sommer
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