AKTION 2019 MENSCHENRECHTS - Vereinte evangelische Mission
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Womit werden wir uns kleiden? Matthäus 6,31 Zu dieser Publikation Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Vereinte Evangelische Mission (VEM) setzen sich seit vielen Jahren für den Schutz der Menschenrechte ein. Sie stärken damit in Kirchen und Gemeinden das Bewusstsein für Menschenrechte. Die diesjährigen Heftveröffentlichungen zum Tag der Menschenrechte entstanden erstmals in Kooperation, einige Texte erscheinen daher in beiden Publikationen. Im Fokus des EKD-Materialheftes stehen Kleidung und die Menschen, die sie produzieren. Schwerpunkt der VEM-Broschüre sind Wege zu besseren Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie, eine nachhaltige Produktion der Baumwolle und die Einhaltung von Menschenrechtsstandards in der gesamten Produktions- und Handelskette. Die EKD-Broschüre ist hier erhältlich: Download: www.ekd.de/menschenrechte
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 3 INHALT EINFÜHRUNG 04 Womit werden wir uns kleiden? Für Menschenrechte in der Textilindustrie PROJEKTE 08 Indonesien Stärkung von Gewerkschaften und Arbeiterinnen 09 Sri Lanka Stärkung von Textilarbeiterinnen 10 Deutschland Verbesserung der Arbeitsbedingungen INFORMATION 11 Nadelstiche gegen Ausbeutung Menschen- und Arbeitsrechte in der Bekleidungsindustrie 18 Arbeitsbedingungen in der globalen Textilproduktion 20 „Demokratisierung des Wissens“ Im Gespräch mit Dina Septi Utami 22 Ökofaire Beschaffung von Textilien in Kirche und Diakonie 25 Was kann ich tun? Gestaltung: Jola Fiedler / MediaCompany – Agentur für Kommunikation GmbH, Foto: © OLIVER RUDOLPH Photography 26 Empfehlenswerte Textil-Siegel P lakat zur Womit werden wir uns kleiden? Matthäus 6,31 Menschenrechts- GOTTESDIENST UND ANDACHT Für Menschenrechte in der Textilindustrie. Für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Rudolfstraße 137 · 42285 Wuppertal · www.vemission.org IBAN: DE 45 3506 0190 0009 0909 08 · Stichwort »Menschenrechte« aktion 2019 der VEM 28 Womit werden wir uns kleiden? Gedanken zu Matthäus 6,31 und zum VEM-Plakat 34 Hinweis auf das Bildungsmaterial zur VEM-Menschenrechtskampagne 2019 35 Impressum
4 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 EINFÜHRUNG WOMIT WERDEN WIR UNS KLEIDEN? FÜR MENSCHENRECHTE IN DER TEXTILINDUSTRIE Womit werden wir uns kleiden? – Diese Frage stellen Es waren Frauen aus Kirchen in Asien, die 1996 im sich viele Menschen jeden Tag. Auch Matthäus hat sie Zuge der Internationalisierung der VEM auf die pre- gestellt. In der Zeit Jesu wurde sie aber anders verstan- kären Arbeitsbedingungen in Textilfabriken u. a. in den als heute. Kostbare Kleider, Schuhe und Mäntel hat- Indonesien und Sri Lanka aufmerksam gemacht ha- ten nur wenige. Viele konnten sich Kleider nicht leisten. ben. Seitdem ist die VEM Mitglied der damals gegrün- Für uns heute stellt sich jeden Morgen die Frage, was deten „Kampagne für Saubere Kleidung“ und setzt wir anziehen sollen. Dabei ist das Problem meist nicht sich für die Einhaltung wirtschaftlicher und sozialer ein leerer, sondern ein voller Kleiderschrank. Fast hun- Rechte von Frauen in den Lieferketten der internatio- dert Kleidungsstücke sind es im Durchschnitt. Viele da- nalen Modeindustrie ein. Dabei geht es mittlerweile von landen nach kurzer Zeit in der Altkleidersammlung nicht nur darum, die Arbeitsbedingungen der Arbei- oder im Müll. Doch wo kommen die Kleidungsstücke terinnen und Arbeiter in Fabriken zu verbessern. Es her und wie wurden sie produziert? Diese Frage greift geht darum, alle Produktionsschritte im Blick zu ha- die diesjährige Aktion der Vereinten Evangelischen Mis- ben, zum Beispiel beim Baumwollanbau, Spinnen, sion auf: „Für Menschenrechte in der Textilindustrie“. Weben oder Färben. Dort gibt es viele soziale und öko- Die Aktion möchte den Blick auf einen Bereich lenken, logische Probleme. der den Verbraucherinnen und Verbrauchern buchstäb- lich „auf der Haut“ liegt. Sie will informieren und Hand- lungsmöglichkeiten aufzeigen.
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 5 BÜNDNIS NACHHALTIGE TEXTILIEN DER NATIONALE AKTIONSPLAN WIRTSCHAFT UND Als Reaktion auf die Katastrophe von Rana Plaza1 hat MENSCHENRECHTE (NAP) Bundesminister Gerd Müller (Bundesministerium für Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat im wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ) im Jahr 2011 „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschen- Oktober 2014 ein „Bündnis für nachhaltige Textilien ins rechte“ verabschiedet. In ihrem Koalitionsvertrag hatten Leben gerufen. Ziel dieses Bündnisses sind nachprüfbare sich die SPD und die Unionsparteien dazu verpflichtet, soziale und ökologische Verbesserungen in der gesamten diese auf nationaler Ebene umzusetzen. Am 21. Dezem- Wertschöpfungskette von Textilien und Bekleidung: vom ber 2016 wurde der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft Baumwollfeld bis zum Kleiderbügel. und Menschenrechte (NAP) schließlich verabschiedet. Das Ergebnis enttäuscht. Zwar setzt die Bundesregierung Das Bündnis hat 123 Mitglieder (Stand August 2018), darin eine Zielmarke: Bis 2020 soll die Hälfte aller darunter 80 Unternehmen, die rund 50 Prozent des Großunternehmen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten deutschen Textilmarktes abdecken. Zu den 18 Nichtregie- umsetzen. Aber es gibt keine verbindlichen Regelungen rungsorganisationen gehören das Amt für MÖWe der für Unternehmen wie zum Beispiel in Frankreich, Evangelischen Kirche von Westfalen, die Kampagne für Großbritannien und den Niederlanden, wo Gesetze mit Saubere Kleidung, das Südwind Institut für Ökonomie und Menschenrechtsvorgaben für Auslandsgeschäfte von Ökumene, Misereor und Transparency International. Die Unternehmen verabschiedet wurden. Wieder einmal Bundesregierung ist mit drei Ministerien vertreten, die beschränkt sich die Bundesregierung auf freiwillige Gewerkschaften durch den DGB und die IG Metall. Selbstverpflichtungen für Unternehmen. Die Mitgliedschaft im Textilbündnis ist freiwillig. Wer Zu den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft Mitglied wird, verpflichtet sich aber zur (schrittweisen) und Menschenrechte Umsetzung der Bündnisziele, zur Aufstellung eines www.globalcompact.de/de/angebote/publikationen. jährlichen Maßnahmenplans und einer regelmäßigen php?navid=347539895501&pageIdb758b6f1=2#list_ Fortschrittsberichterstattung. Dies ist ein Schritt in die b758b6f1 richtige Richtung, zumal es in Deutschland keine gesetzli- chen Regelungen gibt, die eine menschenrechtliche www.saubere-kleidung.de/2017/11/un-leitprinzipien-fuer- Sorgfaltspflicht von Unternehmen beinhalten. Trotz einiger wirtschaft-und-menschenrechte Fortschritte im Bündnis für nachhaltige Textilien halten die zivilgesellschaftlichen Mitglieder des Textilbündnisses Text des deutschen Nationalen Aktionsplans gesetzliche Maßnahmen für notwendig, besonders für die für Wirtschaft und Menschenrechte Bereiche Offenlegungs- und Berichtspflichten, die Einhal- www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/AA/NAP_ tung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten sowie die Wirtschaft_Menschenrechte_297434.html Haftung von Unternehmen bei Verletzungen der Men- schenrechte bei der Arbeit. Filmbeitrag Monitor www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/lobbyis- www.textilbuendnis.de mus-104.html 2014 wurde das Bündnis für nachhaltige Textilien ge- det hat. Darin werden global agierende Wirtschafts- gründet. Die VEM hat sich dafür eingesetzt, dass die unternehmen aufgefordert, Verantwortung für die Bundesregierung im Jahr 2017 einen Aktionsplan Einhaltung von Menschenrechten zu übernehmen. „Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) verabschie- Im Aktionsplan bleiben die Verpflichtungen leider unverbindlich. Unternehmen, die gegen die im Akti- 1 Beim Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch wurden onsplan dargelegten „Sorgfaltspflichten“ verstoßen, am 24. April 2013 1.135 Menschen getötet und 2.438 verletzt – die meisten von ihnen Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter, die gezwungen brauchen keine Konsequenzen zu fürchten. wurden, trotz Gebäudemängel ihre Arbeit aufzunehmen.
6 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 Mit der Menschenrechtsaktion für faire Kleidung im Akkord zum Teil unter extremem Druck und zu möchte die VEM auch innerhalb der Kirchen, beson- Löhnen, die kein menschenwürdiges Leben ermögli- ders in diakonischen Einrichtungen wie Krankenhäu- chen. Textilien wie beispielweise Baumwollhosen, die sern und im Pflegebereich, Entscheidungsträger er- in Colombo für unterschiedliche Labels die Fabrik ver- mutigen, nachhaltig und fair produzierte Textilien – wo lassen, werden für 2 bis 4 Euro pro Hose weiterverkauft immer möglich – zu verwenden. bis sie schließlich für 60 bis 140 Euro in Deutschland auf den Ladentischen angeboten werden. Anfang 2017 hat die VEM gemeinsam mit der Evange- lischen Kirche von Westfalen eine Stelle eingerichtet, um das Thema nachhaltiger Textilien konkret voran- zubringen, sowohl in asiatischen und afrikanischen »Mit der Menschenrechtsaktion Kirchen als auch in kirchlichen und diakonischen Ein- richtungen in Deutschland. Pfarrer Dietrich Wein- für faire Kleidung möchte die VEM brenner, der die diesjährige Aktion maßgeblich mit auch innerhalb der Kirchen vorbereitet hat, steht gerne für Rückfragen, Beratung und weitere Informationen zum Thema zur Verfügung. Entscheidungsträger ermutigen, nachhaltig und fair produzierte DER UN-PROZESS FÜR DIE WELTWEIT VERBINDLICHEN REGELN ZU WIRTSCHAFT UND MENSCHENRECHTEN Textilien zu verwenden.« Mit dem sogenannten „UN-Abkommen-Prozess“ soll ein Dr. Jochen Motte, VEM-Vorstand internationales Menschenrechtsabkommen erarbeitet werden, das für die Vertragsparteien verbindlich ist, klare Regeln für Unternehmen schafft und damit den Betroffe- „Die Weber, die einzelne Stühle in ihren Häusern ha- nen Klagemöglichkeiten eröffnet. Seit 2015 verhandelt ben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt da- eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe bei den Vereinten bei und lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark Nationen über das künftige Abkommen. In der Treaty ausdörren ... in Elberfeld allein werden von 2500 Alliance (www.treatymovement.com) haben sich mehr schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzo- als 1000 zivilgesellschaftliche Organisationen und gen und wachsen in den Fabriken auf.“ So beschrieb Einzelpersonen zu einem internationalen Bündnis im Jahr 1839 Friedrich Engels die erbärmlichen Ar- zusammengeschlossen, um den Prozess hin zu einem beitsbedingungen von Arbeiterinnen, Arbeitern und globalen Menschenrechtsabkommen zu transnationalen Kindern in der Textilindustrie im heutigen Wuppertal. Konzernen und anderen Unternehmen zu unterstützen. Dort vollzog sich einst die Industrialisierung und Glo- balisierung der Textilindustrie in rasantem Tempo. Martina Schaub, Südwind Institut für Ökonomie und Ökumene Damals – vor der Zulassung von Gewerkschaften und Das Positionspapier zum UN-Abkommen über Wirtschaft der Verabschiedung von sozialen Grund- und Men- und Menschenrechte finden Sie auf der Website der schenrechten – lag dieses Elend lange unmittelbar vor Kampagne für Saubere Kleidung der Haustür. Heute ist das Elend weit weg, gleichsam www.saubere-kleidung.de/2017/11/positionspapier-zu-ei- unsichtbar. Dafür stehen die modernen stylischen nem-un-abkommen-ueber-wirtschaft-und-menschenrechte Modetempel unübersehbar im Zentrum der Innen- städte. Nichts erinnert dort an die Bedingungen, unter Kontakt: CorA-Netzwerk für Unternehmensverantwortung denen die Textilien hergestellt wurden. www.cora-netz.de/treaty Ziel der Aktion der VEM ist es, dass den Beschäftigen in der Textilproduktion ein gerechter und fairer Lohn Der Name auf dem T-Shirt des Models auf dem Poster gezahlt wird und sie unter menschenwürdigen Bedin- steht für viele Menschen, die in Fabriken in Indone- gungen arbeiten und leben können. Gleichzeitig muss sien oder Sri Lanka beschäftigt sind. Sie nähen dort sichergestellt werden, dass Umwelt- und soziale Kos-
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 7 ie VEM unterstützt Opfer von D Menschenrechtsverletzungen und bittet für diese Arbeit um Ihre Hilfe. ten der Textilproduktion eingepreist werden. Die Die VEM unterstützt auch Projekte in der Demokra- Menschen in den Ländern des globalen Südens dürfen tischen Republik Kongo. Kleinbauern bauen Baum- nicht dafür bezahlen, dass T-Shirts bei uns für unter wolle für die Textilproduktion in der Region an. Und zwei Euro verkauft werden. auf Sumatra stellen junge Erwachsene Schuhe für den lokalen Markt her. Das sichert ihnen ein Ein- Die Vereinte Evangelische Mission unterstützt Opfer kommen für sich und ihre Familien und eröffnet Zu- von Menschenrechtsverletzungen und bittet für diese kunftsperspektiven. Arbeit um Ihre Hilfe. Im Zusammenhang mit dieser Aktion fördern wir Projekte der Methodistischen Kir- Dr. Jochen Motte, che in Sri Lanka und des indonesischen Kirchenrates VEM-Vorstand in Indonesien. Sie begleiten die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in der Textilindustrie und treten für ihre Rechte ein.
8 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 PROJEKTE Sie gehen auf die Straße, um ihre Rechte durchzusetzen. Vietnam Philippinen Malaysia Indonesien Papua- Neuguinea Australien Indonesien – Stärkung von Gewerkschaften und Arbeiterinnen Die Textilindustrie bildet einen der größten Wirt- Das „Sedane Labour Resource Centre“ (LIPS) in Indo- schaftsfaktoren Indonesiens. In diesem Bereich sind nesiens Hauptstadt Jakarta forscht zum Thema Ar- über 1,5 Millionen Menschen beschäftigt, darunter beitsbedingungen in der Industrie. Die Forschungser- 90 Prozent Frauen. 80 Prozent haben keinen festen gebnisse sind wichtig für die Gewerkschaftsarbeit. Ein Arbeitsvertrag, sie sind Kontraktarbeiterinnen mit weiterer Bereich von LIPS ist die Bildungsarbeit. Die Kurzzeitverträgen oder Heimarbeiterinnen. Allein auf meisten Arbeiterinnen kennen ihre Rechte nicht, viel- der indonesischen Insel Java sind 5896 Textilfabriken fach fehlen auch die Kenntnisse darüber, wie man konzentriert. Die Arbeitsbedingungen sind men- eine Kampagne aufbaut. LIPS hat ein Programm auf- schenunwürdig. Durch den Termindruck der Mar- gestellt, in dessen Zentrum das Problem der ge- kenunternehmen, die dort produzieren lassen, sind schlechtsspezifischen Gewalt steht. In Lerngruppen die Arbeiterinnen gezwungen, extrem lange Über- beschäftigen sich Arbeiterinnen und Gewerkschafte- stunden zu machen, oft weit über das gesetzlich rinnen mit verschiedenen Ausprägungen sexueller Erlaubte hinaus. Gewalt – ein Tabuthema, das geschützte Räume erfor- dert. Im Rahmen dieses Programms werden Untersu- Die Löhne reichen nicht aus, um die Grundbedürfnis- chungen zu Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz se einer Familie zu decken. Bei der Verbesserung die- durchgeführt und Materialien für entsprechende ser Situation spielen die Gewerkschaften eine wichti- Kampagnen entwickelt. ge Rolle. Sie haben es schwer, sich für die Rechte der Arbeiterinnen einzusetzen. Ihre Arbeit wird oft von Die VEM unterstützt das LIPS-Programm über den In- den Fabrikbesitzern behindert. Es kommt nicht selten donesischen Kirchenrat. vor, dass das Management eine ihm genehme „Ge- werkschaft“ ins Leben ruft.
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 9 Arbeiterunterkunft in Sri Lanka Indien Trincomalee Sri Lanka Colombo Sri Lanka – Stärkung von Textilarbeiterinnen In Sri Lanka ist die Textilindustrie ein bedeutsamer gegen die winzigen Faserteilchen gibt, die in der Luft Wirtschaftsfaktor. Es wird auch für deutsche Unter- herumfliegen. Ein menschenwürdiges Leben ist unter nehmen produziert, zum Beispiel für C&A, H&M, LIDL diesen Bedingungen nicht möglich. oder Adidas. Mehr als 350 000 Menschen arbeiten in diesem Bereich, meist sind es junge Frauen. Sie leiden Die Methodistische Kirche in Sri Lanka setzt sich be- in vielfältiger Weise unter den Zuständen in den Fab- sonders für verletzliche und gefährdete Menschen ein. riken: Der Lohn reicht nicht aus, um die Lebenshal- Zusammen mit der Organisation „Sramabimani tungskosten für die Familie zu sichern. Arbeiterinnen Kendraya“ („Würdige Arbeit“) hat sie ein Programm prostituieren sich, um überleben zu können. Vor al- entwickelt, das Arbeiterinnen in den Industriegebie- lem die langen Arbeitszeiten sind ein Problem. Anan- ten stärken soll. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Bil- da1, die für ein deutsches Unternehmen Kinderklei- dungsmaßnahmen, denn die Arbeiterinnen kennen dung näht, berichtet von 16-Stunden-Schichten. oft ihre Rechte und die entsprechenden Gesetze nicht. Wenn Container für den Export verladen werden Dafür wird ein Gebäude renoviert, in dem Seminare müssen, ist der Zeitdruck groß. Bis zu 24 Stunden und Workshops angeboten werden. Es wird eine klei- muss dann durchgearbeitet werden. Viele Frauen ar- ne Bibliothek eingerichtet sowie einige Wohnmög- beiten im Stehen. Eine Frauen-Organisation hat die lichkeiten für Frauen in Not. dadurch entstehenden Gesundheitsprobleme analy- siert und konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht. Das Programm hat auch eine ökumenische Note: Die Fabrikmanager waren daran jedoch nicht interes- „Sramabimani Kendraya“ wurde von Sarath Iddamal- siert. Oft klagen Arbeiterinnen auch über Atem- goda, einem katholischen Priester, und Noel Christine beschwerden, weil es keinen ausreichenden Schutz Fernando, einer katholischen Ordensschwester, ge- gründet. Beide sind die verantwortlichen Kooperati- 1 Name geändert, der richtige Name ist der Redaktion bekannt. onspartner der Methodistischen Kirche.
10 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 er Fair Fashion Move D in Berlin Anfang Juli 2018 demonstriert für mehr Fairness in der Mode. Dänemark Niederlande Berlin Polen Belgien Deutschland Tschechien Luxemburg Frankreich Österreich Schweiz Deutschland – Verbesserung der Arbeitsbedingungen Die deutsche „Kampagne für Saubere Kleidung“ wurde fungsketten zu übernehmen, und rufen die deutsche 1996 gegründet und ist Teil des internationalen Netz- Regierung dazu auf, Gesetze zu verabschieden, die werks der Clean Clothes Campaign (CCC), die 1989 in Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Unter- den Niederlanden ins Leben gerufen wurde. Inzwi- nehmen verhindern. Wir zeigen uns solidarisch mit schen ist sie in 16 europäischen Ländern vertreten. den Arbeiterinnen, die unsere Kleidung herstellen, und unterstützen ihren Über 200 Menschenrechtsor- Kampf für bessere Arbeitsbe- ganisationen, Frauenrechtsor- dingungen“, so Christiane ganisationen, Gewerkschaften, Schnura, Koordinatorin der Nichtregierungsorganisatio- deutschen CCC. nen und Verbraucherverbän- de arbeiten im Rahmen der Ein wichtiges Instrument der Kampagne zusammen. In Kampagne für Saubere Klei- Deutschland sind es 23 Träger- dung sind die Eilaktionen, organisationen, darunter viele um öffentliche Aufmerksam- aus dem kirchlichen Bereich. keit und Handlungsdruck Auch die Vereinte Evangeli- auf Verantwortliche in Poli- sche Mission ist Mitglied. tik und Wirtschaft zu erzeugen. Hier geht es um die Unterstützung von Beschäftigten bei akuten Fällen Die CCC verfolg das Ziel, Arbeitsrechte in der globalen von Arbeits- oder Menschenrechtsverletzungen ent- Bekleidungs- und Sportartikelindustrie zu verbessern. lang der gesamten Wertschöpfungskette. Gleichzeitig „Wir klären Bürgerinnen auf, drängen Unternehmen, setzt die Kampagne auf kritischen Dialog, um struk- mehr Verantwortung für ihre globalen Wertschöp- turelle und konkrete Verbesserungen zu erzielen.
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 11 INFORMATION NADELSTICHE GEGEN AUSBEUTUNG MENSCHEN- UND ARBEITSRECHTE IN DER BEKLEIDUNGSINDUSTRIE »Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen.« Stephan Lessenich Große Handelshäuser bieten im Internet alle zwei von Grundrechten in der Textil- und Baumwollpro- Wochen eine neue Kleiderkollektion an. Wer sich je- duktion, über internationale Verpflichtungen, ver- des Wochenende in einem neuen Outfit präsentiert, bindliche Regeln und Selbstauflagen für die beteilig- gilt als schick und cool. Über 90 Prozent aller in ten Unternehmen Gedanken machen. Deutschland verkauften Textilien werden importiert – größtenteils aus Asien, Osteuropa und Lateinamerika. Demgegenüber gibt es, so die Kampagne für Saubere Irrsinn? Ja, mit Methode. Ein Arbeitstag bis zu Kleidung (Clean Clothes Campaign, CCC), geradezu 16 Stunden mit wenig Pausen, sechs bis sieben Ar- eine Industrie, die die Prüfung solcher Fabriken auf beitstage pro Woche, Arbeitslöhne am Existenzmini- Mindeststandards im Arbeitsschutz und Gebäudezu- mum (die Lohnkosten von Näherinnen betragen bei- stand übernommen, allerdings auch zu einem ein- spielsweise durchschnittlich 0,5 bis 3 Prozent des träglichen Geschäftsmodell entwickelt hat. Die be- Verkaufspreises), feste Arbeitsverträge als Ausnahme, kannt gewordenen Skandale um diese Überprüfungen gravierende Sicherheitsmängel beim Gebäudezu- (Stichwort TÜV Rheinland im Fall von Rana Plaza) stand, fehlender Brandschutz, Schikanen des Auf- lassen erhebliche Zweifel aufkommen, ob es hier um sichtspersonals, willkürliche Betriebsschließungen, Sicherheit oder doch eher um einen vordergründigen massive Unterdrückung von Gewerkschaften: Wir Nachweis, also eher um Show geht. Hersteller, Auf- sprechen nicht vom 19. Jahrhundert, sondern vom traggeber und Händler im Textilhandel verweisen ger- heutigen Arbeitsalltag von geschätzten 60-75 Millio- ne auf Zertifikate zu Sicherheits- und Arbeitsstan- nen Menschen – rund drei Viertel davon Frauen – in dards, um eine verbindliche, rechtliche Verantwortung der Textil- und Bekleidungsindustrie weltweit. zu vermeiden. Den lokal Beschäftigten nutzen sie bis heute kaum. Getrübt werden die Verkaufskampagnen der Textil- konzerne allenfalls durch Nachrichten über große Un- Charakteristischerweise besitzen in der Textil- und glücke, die ausnahmsweise auch mal bei den Käufe- Bekleidungsindustrie die Modediscounter und Mode- rinnen und Käufern in Europa oder Nordamerika firmen keine eigenen Produktionsstätten, sondern ankommen; so der Einsturz der Fabrik Rana Plaza verfügen über Zulieferer, die in Billiglohnländern pro- 2013 in Dhaka (Bangladesch) oder das Großfeuer in duzieren lassen. Alle bilden ein Netz an Unternehmen, Karachi 2012 (Pakistan). Nachrichten über die alltäg- die systematisch Rechte verletzen, durch ihr interna- lichen Missstände in der Produktion oder im Anbau tional verzweigtes Geschäftskonstrukt rechtlich je- von Baumwolle (Zwangsarbeit, Verseuchung der Um- doch schwer zu fassen sind. Einige Unternehmen sind welt) erreichen bislang vorwiegend ein Fachpubli- freiwillige Verpflichtungen eingegangen. Das Engage- kum. Immerhin: Hier engagieren sich Organisationen ment dafür ist aller Ehren wert, es reicht aber nicht und Einzelpersonen, die sich über die Durchsetzung aus. Auch jüngste Erhebungen über die Zustände
12 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 S ie demonstrieren friedlich für einen menschenwürdigen Lohn und gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in den Textilfabriken. beim Baumwollanbau und in der Textilherstellung die Demokratische Republik Kongo. Wie angedeutet, verdeutlichen, dass eine rechtsverbindliche Regulie- geht der Großteil der Baumwollernte überwiegend rung nötig ist, um gegen die genannten Missstände nicht in Länder der Endvermarktung, sondern nach mit Aussicht auf Sanktionen vorgehen und mithin Pakistan, Bangladesch, die Türkei, Vietnam, China, In- Änderungen spürbar durchsetzen zu können. donesien, Mexiko, Indien, Thailand und Südkorea. Dort wird die Baumwolle verarbeitet, und die Textili- en werden anschließend in Regionen mit großer Textilproduktion und Baumwollanbau Kaufkraft wie Nordamerika oder Europa exportiert. Die größten Produktionsländer und -regionen in der Ein Großteil der Kosten für Mensch und Natur fällt Textilherstellung sind Bangladesch, Brasilien, China, außerhalb des Konsumentenmarktes an. Der Anbau Indien, Indonesien, Japan, Osteuropa, Pakistan, Süd- und die Fasergewinnung bei Baumwolle zählen zu korea, Sri Lanka, Taiwan, die Türkei, die USA, Vietnam den Produktionen mit dem höchsten Schmutzfaktor: und Westeuropa. Die Textilproduktion in China um- hoher Pestizideinsatz, Wasserverknappung und -ver- fasst rund die Hälfte im weltweiten Vergleich. Chine- seuchung, Zwangs- und Kinderarbeit. Darauf basiert sische Importeure kontrollieren darüber hinaus große eine der lukrativsten Konsumindustrien weltweit: ge- Baumwollanbauflächen in Afrika. In Ländern der schätzte 3 Billionen US-Dollar an Wertschöpfung bei VEM-Mitgliedskirchen spielt die Bekleidungsindustrie Textilien, Bekleidung, Schuhwerk und Luxusmode; insbesondere in Indonesien und Sri Lanka eine grö- Tendenz steigend. Zu den desaströsen Verhältnissen ßere Rolle. Die wichtigsten Absatzmärkte befinden im Anbau und in der Produktion kommt in den Pro- sich in den USA und in Europa, vor allem in der Euro- duzentenländern die Furcht vor Arbeitsplatzverlusten, päischen Union, und hier wiederum stehen Italien, wie schlecht ausgestattet und bezahlt sie auch sein Deutschland und Großbritannien an oberster Stelle. mögen, vor Unterbietungswettbewerben im interna- tionalen Wettbewerb und letztlich vor einem Abglei- Die Länder mit den größten Anteilen am Baumwol- ten in die Bedeutungslosigkeit auf dem Weltmarkt. In lanbau sind Indien, China, die USA, Brasilien, Pakistan, den Konsumentenländern führen Debatten um un- Australien, die Türkei, Usbekistan, Turkmenistan, Me- gleiche Lebensverhältnisse oft genug zu Hinweisen xiko und Burkina Faso. Länder mit gewichtigem auf eine Basisversorgung mit Produkten des Alltags zu Baumwollanbau im Kontext der VEM-Mitgliedskir- günstigen Preisen und mithin zur Zementierung der chen sind Indonesien, die Philippinen, Tansania und weltmarktgesteuerten Ausbeutung.
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 13 Die konsumorientierte Angleichung von Lebenslagen reich, vertragslosen Beschäftigungsverhältnissen, etwa in Europa oder in Deutschland fußt auf der Ex- willkürlichen Entlassungen, mangelnder Arbeitssi- klusion der anderen. Zusammen ergibt sich eine cherheit, unzureichendem Gesundheitsschutz, man- Wechselwirkung, in der selbst die hässlichsten Formen gelndem Schutz von Schwangeren und jungen Müt- der Ausbeutung nicht zur Ausnahme, sondern zum tern, mangelndem Zugang zum rechtlichen Gehör in integralen Bestandteil des Geschäftsmodells gehören. Folge einer lokalen, schwachen oder korrumpierten Wer das ändern will, muss auch an der Art und Weise Justiz, mangelhaften rechtsstaatlichen Verfahrensga- ansetzen, wie Konsum inszeniert wird, auf welchen rantien, Verbot oder Behinderung der gewerkschaftli- Grundlagen er beruht. Die Initiativen zu einem ethisch chen Organisation, Repression gegen Personen und begründbaren Konsum weisen einen der Wege. Die Organisationen, die Kollektivverhandlungen einfor- Entwicklung und Umsetzung (völker-)rechtlicher dern, Landvertreibungen, Wasserverknappung oder Mindeststandards zum Schutz der lokalen Beschäftig- gänzlich fehlendem Zugang zu sauberem Wasser, Um- ten und ihrer Umwelt verweisen auf einen anderen. welt- und Gesundheitsschäden durch den Einsatz von Agrochemikalien im Baumwollanbau und Chemika- lien bei der Textilverarbeitung. Völkerrechtliche Mindeststandards Hinzu kommen Mängel in der staatlichen Organisati- Übersetzt in Begriffe zum Schutz der Menschenrechte on in Form von Korruption, politischer Auflösung von handelt es sich um die unzureichende Verankerung Ressourcenkonflikten zugunsten der Unternehmen, und Umsetzung von bürgerlichen Freiheitsrechten sachfremder Steuerbefreiung der Fabriken, Duldung wie Meinungs-, Versammlungs- und gewerkschaftli- menschenrechtswidriger Geschäftspraktiken, gering chen Organisationsrechten sowie um die Verletzung gehaltenen, staatlichen Kapazitäten zur Kontrolle und von Arbeits-, Sozial- und Umweltgesetzen. Dies nimmt Rechtsdurchsetzung, mangelnder Transparenz und Formen an von Zwangs- und Kinderarbeit, sittenwid- fehlender Kontrolle der unternehmerischen Sorgfalts- rigen (Hunger-)Löhnen, überlangen Arbeitszeiten, pflichten in den Lieferketten. Diskriminierung und Misshandlungen im Arbeitsbe- In der Textilproduktion werden immer noch viele verschiedene Chemikalien und Farbstoffe eingesetzt, die gesundheitsschädigend sind.
China 53,70 % Diskrepanz Bangladesch 88,32 % Diskrepanz Indien 73,31 % Diskrepanz Kambodscha 78,77 % Diskrepanz Sri Lanka Malaysia 80,57 % 45,72 % Diskrepanz Diskrepanz Indonesien 69,22 % Das verdient Niemand: Diskrepanz Die Diskrepanz zwischen Mindestlohn und Existenzlohn* Land Tatsächlicher Benötigter Minimallohn Existenzlohn Bangladesch 3.000 Taka 25.687 Taka Kambodscha 336.000 Riel 1.582.688 Riel China 1.450 Yuan 3.132 Yuan * Länderspezifische Existenzlöhne zu ermitteln, ist wichtig, um eine gerechte Bezahlung von Arbeiterinnen und Arbeiter einfordern zu Indien 4.334 Rupien 16.240 Rupien können. Die hier vorliegenden Existenzlöhne für einige Länder Asiens Indonesien 1.246.151 Rupiah 4.048.226 Rupiah basieren auf folgenden Faktoren: der Anzahl der zu unterstützenden Familienmitglieder, dem Grundbedarf an Nahrungsmitteln, Kosten für Malaysia 850 Ringgit 1.566 Ringgit Kleidung, Wohnen, Mobilität, Bildung der Kinder und Gesundheit sowie Einkommen für Rücklagen, Unterhaltung und Vorsorge für Alter Sri Lanka 8.970 Rupien 46.168 Rupien und Arbeitslosigkeit. Quelle: www.lohnzumleben.de Die internationalen Menschenrechtskonventionen Kamerun, Namibia, Philippinen, Ruanda, Sri Lanka, über zivile und politische Rechte (Zivilpakt), über Südafrika, Tansania. Lediglich Botsuana hat den Sozi- wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozial- alpakt bis heute nur signiert. Insgesamt liegen die pakt) sowie über die Kinderrechtskonvention kom- Ratifizierungen beim Zivilpakt momentan bei 172 Län- men bei den vorgenannten Tatbeständen zur Anwen- dern, beim Sozialpakt bei 169 und bei der Kinder- dung: das Recht auf Leben, das Verbot der willkürlichen rechtskonvention bei 196 Staaten (Stand August 2018). Verhaftung, das Recht auf Vereinigungs-, Versamm- Lediglich die USA haben als einziger Staat die Kinder- lungs- und Meinungsfreiheit, der Zugang zu einem rechtskonvention nur signiert. Es kann also mit Fug fairen Gerichtsverfahren, das Recht auf Arbeit, faire und Recht von international anerkannten Standards Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Gesundheit, gesprochen werden. Folglich stünde der Staat in den das Verbot von Kinderarbeit oder das Recht des Kindes Produktionsländern in der Pflicht, die Menschen- und auf eine saubere Umwelt als Voraussetzung für die vol- Arbeitsrechte zu achten, zu schützen und wirksam um- le Entfaltung seiner potenziellen Persönlichkeit. zusetzen. Das ist jedoch offenkundig nicht der Fall. Fast alle Länder, in denen Mitgliedskirchen der VEM Im Bereich der Modeindustrie hat die CCC folgende vorhanden sind, haben alle drei hier besonders ein- Tatbestände als Kernprobleme identifiziert: Niedrig- schlägigen Menschenrechtsstandards ratifiziert: De- löhne, Missbrauch von Kurzzeitverträgen und andere mokratische Republik Kongo, Deutschland, Indonesien, prekäre Beschäftigungsformen, Verstöße gegen die
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 15 Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivver- kommission zu den Rechten von Minderheiten seit handlungen sowie kurzfristige und unangekündigte den 1980er Jahren. Im Bereich des Menschenrechts- Betriebsschließungen. Diese spezifisch im Arbeitsbe- rates beschäftigte sich der Sondergesandte des UN-Ge- reich angelegten Fälle werden auch in den Konventi- neralsekretärs, John Ruggie, seit 2005 mit Fragen der onen der Internationalen Arbeitsorganisation aufge- Unternehmensverantwortung in Sachen Menschen- griffen (International Labour Organisation, ILO) einer rechte. Aus seiner Arbeit gingen Richtlinien (Guiding seit 1919 bestehende Unterorganisation der Vereinten Principles on Business and Human Rights) sowie da- Nationen. Die 1998 von der ILO verabschiedeten Ker- rauf beruhende Arbeitsgruppen hervor. Eine der bei- narbeitsnormen setzen Sozialstandards im Rahmen den Arbeitsgruppen sammelt seit 2011 Beispiele guter der Welthandelsordnung, um menschenwürdige Ar- Praxis und entwickelt diese systematisch weiter beitsbedingungen zu gewährleisten. (Working Group on the issue of human rights and transnational corporations and other business enter- Die Kernarbeitsnormen sind bislang in ihrer Gesamt- prises). Die andere erarbeitet seit 2014 einen völker- heit von 143 Staaten anerkannt (Stand August 2018). rechtlich verbindlichen Vertragsentwurf (Open-en- Andere Staaten haben nur einzelne Übereinkommen ded intergovernmental working group on daraus ratifiziert; die USA beispielsweise die Konven- transnational corporations and other business enter- tionen 105 und 182. Im Kontext der VEM haben alle prises with respect to human rights). Die Ergebnisse Mitgliedstaaten alle Konventionen zu den acht Ker- flossen bereits in Teilen in nationale Aktionspläne narbeitsnormen ratifiziert (siehe auch Seite 19). einzelner Staaten oder in Vereinbarungen zur men- schenrechtlichen Unternehmensverantwortung auf Spezifische Normen der ILO zum Beschäftigungssek- freiwilliger Basis ein. tor Bekleidung beinhalten den Schutz von Heim- arbeiterinnen (Nr. 189; 2011) oder die Empfehlungen John Ruggies UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und aus dem Jahr 2015 zur informellen Beschäftigung Menschenrechte knüpfen ihrerseits an die OECD-Leit- (ILC.104/V/1). Das ILO-Übereinkommen zur Heim- sätze für transnationale Unternehmen an (Organisa- arbeit weist allerdings einen niedrigen Ratifizierungs- tion for Economic Co-operation and Development; stand auf: 25 Staaten, darunter Deutschland, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit Philippinen und Südafrika. Das Übereinkommen Nr. und Entwicklung). Die dortigen Standards fordern 189 ist nicht nur für das nationale Arbeitsrecht von von den Unternehmen mit Stammsitz in den Bedeutung, sondern ebenso mit Blick auf die unter- OECD-Ländern, ihrer menschenrechtlichen Sorgfalts- nehmerischen Sorgfaltspflichten bei der Heimarbeit. pflicht nachzukommen, Menschenrechte in ihre Un- Hier mangelt es also allein schon an rechtlicher Ver- ternehmenspolitik aufzunehmen, Menschenrechts- bindlichkeit. verträglichkeitsprüfungen durchzuführen und sich einem Beschwerdeverfahren zu unterwerfen, das bei Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit einer staatlichen Behörde angesiedelt ist, allerdings ohne Sanktionsmöglichkeiten. Viele Beschäftigte auf den Baumwollfeldern oder in den Fabriken der Bekleidungsindustrie kennen we- Völkerrechtlich verbindlich sind die Bewertungen der ihre Rechte noch haben sie die Mittel, diese poli- (Concluding Observations) durch die Fachausschüsse tisch oder juristisch durchzusetzen. Sie benötigen der UN-Vertragsorgane. Jeder Vertragsstaat zu einem Unterstützung und Ermutigung vor Ort, durch Ge- der internationalen Menschenrechtsabkommen wird werkschaften, Nichtregierungsorganisationen und periodisch wiederkehrend auf die normgerechte Um- kirchliche Einrichtungen, um ihre Rechte einzufor- setzung überprüft und bewertet. Schon in der Vergan- dern oder vor Gericht einzuklagen. Menschen- und genheit haben sich einige Fachausschüsse mit spezifische Arbeitsrechte können auf vielerlei Ebenen Menschenrechtsverletzungen im Kontext unter- eingefordert werden; nachfolgend einige Hinweise in nehmerischer Tätigkeit befasst. Aus dem Länderbe- Stichworten. reich der VEM-Mitgliedskirchen betraf dies unter an- derem Kamerun in den Jahren 2005, 2013 und 2016, Innerhalb der Vereinten Nationen beschäftigen sich die Philippinen in den Jahren 2003 und 2007, Sri Lan- mehrere Organe und Einrichtungen mit dem Thema ka im Jahr 2005. (Details unter „Lese- und Quellenhin- Unternehmen und Menschenrechte, die immer auch weise“, Seite 17) als öffentliche Plattform für die einschlägige Standard- entwicklung genutzt werden; so die vormalige Unter-
16 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 ie Umsätze der D Fast-Fashion-Konzerne steigen weiter. Das Tempo des Klamottenkonsums auch. genannten Ebenen der Vereinten Nationen war und ist Die Zeiten ändern sich. die unmittelbare Beteiligung nicht staatlicher Akteure ein tragendes Element der Standardentwicklung. Die Vorstellung, die Konsequenzen unseres Konsums auslagern Die menschenrechtliche Verantwortung für die Wirt- schaft wird von einigen Initiativen auch über soge- zu können und hier nichts nannte extraterritoriale Schutzpflichten für Men- schenrechte hergeleitet. Das heißt die Schutzpflicht damit zu tun haben zu wollen, des Staates erstreckt sich auf grenzüberschreitende Unternehmensaktivitäten. Dadurch soll die unter- ist brüchig geworden. nehmerische Verantwortung auch in dem Staat auf dem gerichtlichen Klageweg eingefordert werden können, in dem das Unternehmen seinen Stammsitz In allen Fällen ging es um die nicht normgerechte An- hat. Allerdings ist der Nachweis von Menschen- wendung des Zivilpaktes durch die jeweiligen Regie- rechtsverletzungen im Ausland aufwendig und durch rungen: willkürliche Haft wegen der Beschwerde über die komplexen Unternehmensstrukturen und Han- Vertragsverletzungen, Hinauszögern von Gerichtsver- delsketten mit Hürden versehen, etwa im Textilsek- fahren oder Morddrohungen wegen der Einforderung tor. Im deutschen Gesellschaftsrecht ist die Haftung von Kompensationszahlungen und staatliche Untätig- eines Mutterunternehmens für Handlungen von keit. Der Kinderrechtsausschuss sowie der Fachaus- Tochterunternehmen aufgrund des sogenannten schuss zum Vertrag über die Eliminierung des Rassis- Trennungsprinzips nicht möglich. Ohne hier auf wei- mus haben auf das Recht auf sauberes Wasser und tere juristische Details eingehen zu wollen, sei darauf saubere Luft in der frühkindlichen Entwicklung sowie verwiesen, dass Initiativen wie das European Center das Recht auf eine genuine natürliche Umgebung hin- for Constitutional and Human Rights (ECCHR) oder gewiesen, die als Kernelement der lokalen Aborigi- medico international gleichwohl Klagen in Deutsch- nes-Gemeinschaft in Australien erachtet wurde. Es land unterstützen, um eine rechtliche Neubewertung gibt hier zwar keine international vollziehende Ins- über Gerichtsentscheidungen zu erreichen; so die tanz, aber diese Bewertungen und Kommentare sind Klage von Überlebenden und Hinterbliebenen der Teil einer Standardsetzung, die Maßstäbe für men- Brandkatastrophe in Karachi. schenrechtliche Sorgfaltspflichten und menschen- rechtsverträgliches Handeln auf Seiten des Staates so- Wie effektiv und nutzbar sind Menschenrechtsab- wie mittelbar des Unternehmens setzt. Auf all den kommen, ILO-Konventionen und Richtlinien ange-
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 17 sichts der vielen Wenn und Aber? Bei den internatio- Gesellschaft und Politik zu betreiben, damit der nalen Konventionen gibt es Prüforgane sowie Schutz der Menschenrechte und das Ziel der Nachhal- Berichts- und Beschwerdeverfahren, die feststellen, tigkeit nicht allein einer individuellen Verantwortung inwieweit Staaten ihren menschenrechtlichen Pflich- überlassen bleibt. Solche auf die gesellschaftlichen ten nachkommen. An diesen Prüf- und Auswertungs- Bedingungen zielenden Fingerzeige bestehen, in verfahren sind nicht staatliche Akteure immer betei- Stichworten, unter anderem in unabhängigen Textil- ligt, und sie haben die Standardsetzung auch im siegeln, in Initiativen wie dem „Bündnis für nachhal- Bereich Wirtschaft und Menschenrechte nicht unwe- tige Textilien“ (BMZ), in Kampagnen für Saubere Klei- sentlich mitbestimmt. Damit können wiederum Be- dung, in Regularien für die öffentliche Beschaffung, troffene vor Ort arbeiten; und gegebenenfalls mittels im Einrichten von Entschädigungsfonds, in staatli- (Rechts-)Hilfe aus dem Ausland eigene Beschwerden chen Regeln für Unternehmen zur menschenrechtli- bei den UN-Organen einreichen oder Klagemöglich- chen Sorgfalt und in Zusagen über langfristige Ein- keiten in Ländern mit Unternehmensstammsitz son- kaufsmengen für Lieferländer und anderes mehr. dieren und ausschöpfen. Die Zeiten ändern sich. Die Vorstellung, die Konse- Menschenrechtsstandards liegen etwa dem Zollpräfe- quenzen unseres Konsums auslagern zu können und renzabkommen der Europäischen Union (EU) zu- hier nichts damit zu tun haben zu wollen, ist brüchig grunde, dem „Allgemeinen Präferenzsystem plus“ geworden. Wenngleich Staat und Gesellschaft in ihrer (APS+; englisch: GSP+), das Sri Lanka und die Philip- Mehrheit in Deutschland faktisch gewaltsam daran pinen einbezieht. Allerdings wurde die Zollpräferenz festhalten, dieses Lebensmodell gegen andere abzu- bislang nur Sri Lanka von 2010-2017 entzogen, jedoch schotten, so wissen doch einige um die extremen Un- weniger wegen grober Menschenrechtsverstöße, als gleichheiten: Andere haben kein Trinkwasser, damit vielmehr wegen vermuteter Kriegsverbrechen. Ein wir das nächste Bekleidungsstück umtauschen kön- zweites Anwendungsgebiet innerhalb der EU sind nen. Dass dies nicht mit rechten Dingen zugehen Menschenrechtsklauseln, die seit 1992 Bestandteil bi- kann, ahnen ebenfalls viele. Die teils grobe und syste- lateraler Abkommen sind. Selbst in Fällen grober Ver- matische Verletzung von Menschenrechten andern- stöße wie in Mexiko wurde kein Handelsvertrag aus- orts, damit unser Wohlstand funktioniert, diese Ver- gesetzt. Umgekehrt bleiben europäische Unternehmen knüpfung würden viele hingegen öffentlich ablehnen. hier ausgeklammert, die unter Umständen für Men- Damit dies in der Praxis handlungsleitend wird, brau- schenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind und chen wir lautstarke, wirkmächtige Institutionen, die davon profitieren. eine andere Art des Produzierens und Konsumierens propagieren und für sich selbst ins Werk setzen. Noch überwiegt der Eindruck, dass entgegen allen Umfra- Was können wir tun? gen jedes vermeintliche Schnäppchen genutzt wird, und Konsumentinnen verstört auf die Verteuerung Zunächst ist es wichtig, dass über die Anbau- und Ar- von Billigangeboten reagieren. beitsbedingungen in den Produktionsländern aufge- klärt wird. Nur wenn die Informationen breit gestreut, die menschenrechtlichen Folgen pointiert vorgetra- gen werden sowie ein anderes, nachhaltiges Konsu- Dr. Theodor Rathgeber, mieren aufgezeigt wird, können die Betroffenen in Journalist und Menschenrechtsexperte den Produzentenländern auf Solidarität hoffen, und wir unser Handeln ändern. Informationen zu streuen heißt auch, Kampagnen und Lobbyarbeit gegenüber Lese- und Quellenhinweise Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Berlin, Berlin 2016 Kamerun 2005 (Dokument CCPR/C/96/D/1397/2005), 2013 (CCPR/C/112/D/2325/2013) und 2016 (CCPR/C/121/D/2764/2016), die Philippinen 2003 (CCPR/C/81/D/1167/2003) und 2007 (CCPR/C/98/D/1619/2007), Sri Lanka 2005 (CCPR/C/95/D/1432/2005).
18 VEM-Menschenrechtsaktion 2019 ARBEITSBEDINGUNGEN IN DER GLOBALEN TEXTILPRODUKTION Seit vielen Jahren schon machen Menschenrechtsorga- etwa von Seidensticker oder Gerry Weber werden dort nisationen wie die „Kampagne für Saubere Kleidung“ hergestellt. Es gibt nur noch wenige Produktionsstät- auf die zahlreichen Arbeitsrechtsverletzungen bei der ten, die den Auftraggebern selbst gehören. In der Re- Produktion von Textilien und Bekleidung aufmerksam. gel beauftragen H&M und Co. indonesische Zuliefer- Doch wie gravierend sind diese Missstände? Wo fin- betriebe, nach einem vorgegebenen Design eine den sie statt und wer ist dafür verantwortlich? bestimmte Stückzahl an Bekleidung herzustellen und pünktlich zu liefern. Arbeitsrechte sind Menschenrechte Die über eine Million Beschäftigten in der indonesi- schen Textil- und Bekleidungsindustrie, die nähen, Nehmen wir das Beispiel Indonesien: Indonesien ge- weben, verpacken etc. arbeiten in der Regel bei einem hört zu den zehn wichtigsten Bekleidungsexporteu- Zulieferbetrieb der deutschen oder europäischen Auf- ren der Welt. Dort ist besonders die Sportartikelindus- traggeber. Der Zulieferbetrieb hat deshalb auch die trie (Adidas, Nike, Puma u.a.) sehr stark vertreten, direkte Verantwortung für die Arbeitsbedingungen. aber auch Bekleidung für Massenanbieter wie bei- Wenn diese Arbeitsbedingungen gegen Menschen- spielsweise H&M oder C&A oder hochpreisige Ware rechte bei der Arbeit verstoßen, also Mindestlöhne Die 10 wichtigsten Lieferländer von Bekleidung (2017, in Mrd. US-Dollar) 2. 1. EU China 130 158 6. 10. Türkei USA 15 3. 6 Bangladesch 29 4. Vietnam 7. 5. 27 Hongkong Indien 14 18 8. Indonesien 9. 8 Kambodscha 7 Quelle: WTO 2018
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 19 nicht gezahlt werden, Überstunden erzwungen wer- seine eigenen Kosten senkt: Überstunden werden den, Kinder im Betrieb beschäftigt werden, Frauen nicht oder zu gering entlohnt, Lohnerhöhungen wer- schlechter als Männer bezahlt werden oder keine Ge- den ausgesetzt, Entschädigungen bei Entlassungen werkschaft im Betrieb erlaubt wird – dann sind die (in Indonesien rechtlich verbindlich) nicht gezahlt, Auftraggeber aber zumindest indirekt dafür verant- Gewerkschaftsgründungen verhindert. wortlich: Denn der Wettbewerb im Bekleidungsmarkt ist groß. Wer sich an diesem Markt behaupten will, Wenn der Zulieferbetrieb trotz aller Sparmaßnahmen muss nicht nur gute oder modische Produkte anbie- die Preiserwartungen der Auftraggeber nicht erfüllen ten, sondern auch Kosten reduzieren, wo es nur geht. oder die erwünschten Lieferzeiten nicht einhalten Was das im Vergleich zum Endverkaufspreis zum Bei- kann, weil er zum Beispiel keine gesetzwidrigen Ar- spiel eines Sportschuhs bedeutet, wurde vor mehr als beitszeiten von 14 bis 16 Stunden am Tag anordnet, 15 Jahren schon einmal ausgerechnet: Die indonesi- dann ziehen die Auftraggeber schnell weiter: zu güns- schen Arbeitskosten in einem Sportschuh, der in Eu- tigeren Zulieferern oder sogar in günstigere Produkti- ropa verkauft wird, lagen damals bei rund 0,6 Prozent. onsländer. Auch zwischen den Staaten insbesondere Obwohl die Kostenkalkulationen der Auftraggeber in Asien entsteht so ein großer Konkurrenzdruck. nicht öffentlich sind, kann man davon ausgehen, dass Wenn Mindestlöhne erhöht werden sollen, ist ganz oft bei allen Bekleidungsstücken, ob preiswert oder teuer, ein schlagkräftiges Gegenargument, dass man dann die Arbeitskosten auch heute noch im niedrigen ein- nicht mehr mit den günstigeren Nachbarländern mit- stelligen Prozentbereich liegen. halten könne. Das Ende der Freiwilligkeit MENSCHENRECHTE BEI DER ARBEIT Die sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Seit den 1990er Jahren macht die Kampagne für Sau- Arbeitsorganisation (ILO) sind als Menschenrechte bei der bere Kleidung auf die Arbeitsrechtsverletzungen in Arbeit weltweit anerkannt. Auf ihre Umsetzung müssen die der textilen Kette aufmerksam. Lange verneinten die ILO-Mitgliedsstaaten hinarbeiten – egal, ob sie die europäischen Unternehmen ihre Verantwortung für einzelnen acht Übereinkommen ratifiziert haben oder nicht. die Arbeitsbedingungen in den Zulieferbetrieben. Das ist heute anders. Doch nehmen die meisten Auftrag- Die acht Kernarbeitsnormen sind: geber ihre Verantwortung „freiwillig“ über die Durch- führung von Sozialaudits wahr: Sie schicken einen Nr. 29 und Nr. 105 Abschaffung von Zwangs- oder Dienstleister in ihre Zulieferbetriebe, der bei seinen Pflichtarbeit Besuchen eine Checkliste zu den dortigen Arbeitsbe- Nr. 87 und Nr. 98 Recht auf Vereinigungsfreiheit dingungen abarbeitet. Das ist nicht immer glaubwür- und Kollektivverhandlungen dig, festgestellte Missstände werden nicht unbedingt Nr. 100 und Nr. 111 Anti-Diskriminierung in behoben, die vorgelagerten Betriebe wie etwa Un- Beschäftigung und Beruf ter-Auftragnehmer oder Produzenten von Vorproduk- Nr. 138 und Nr. 182 Verbot von Kinderarbeit ten werden in der Regel gar nicht erreicht. Außerdem formuliert schon die ILO-Verfassung von 1919 Es ist Zeit, im Rahmen von gesetzlichen Maßnahmen als einen ihrer Grundsätze „die Bezahlung der Arbeiter mit die Auftraggeber für Missstände in ihrer Lieferkette einem Lohne, der ihnen eine (…) angemessene Lebensfüh- zur Verantwortung zu ziehen und damit das Zeitalter rung ermöglicht“. Hieran knüpfen Kampagnen zur Zahlung der freiwilligen Sozialverantwortung zu beenden. existenzsichernder Löhne an. Dr. Sabine Ferenschild, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Südwind Institut für Ökonomie und Ökumene Die Preise, die die Zulieferbetriebe von ihren Auftrag- gebern erhalten, sind in den vergangenen Jahren in vielen Fällen noch gesunken. Das kann ein Zulieferbe- trieb aber nur dann ökonomisch überleben, wenn er
20 „DEMOKRATISIERUNG DES WISSENS“ Im Gespräch mit Dina Septi Utami, Mitarbeiterin des Sedane Labour Resource Center (LIPS) in der indonesischen Hauptstadt Jakarta Frau Septi Utami, wie sind die Arbeitsbedin- zu gehen. Es kommt vor, dass Arbeiterinnen extra um gungen in den Fabriken? Erlaubnis für den Toilettengang bitten müssen. Manchmal müssen sie die Erlaubnis schriftlich nach- Überlange Arbeitszeiten infolge hoher Zielvorgaben weisen. Wenn sie „zu lange“ auf der Toilette sind, häm- sind die Regel. Dies vor allem während der „Export-Ta- mern die Aufsichtspersonen an die Tür. Es gibt Fabri- ge“. Dann müssen Arbeiterinnen häufig in der Fabrik ken, die nicht genügend Toiletten vorhalten. Viele übernachten, um ihr Soll erfüllen zu können. Diese stellen auch keine Gebetsräume zur Verfügung. Überstunden werden oft nicht wie vorgeschrieben vergütet. Es gibt ein geflügeltes Wort: „Du arbeitest, bis In vielen Textilfabriken sind die Arbeiterinnen nicht das Soll erfüllt ist, bis du stirbst.“ ausreichend geschützt. Es werden Chemikalien be- nutzt, deren gesundheitliche Langzeitfolgen sie nicht Den Arbeiterinnen fehlt die Zeit zu beten (die meisten kennen. Zudem sind die Lichtverhältnisse, Tempera- sind muslimischen Glaubens; Anmerkung D. W.). Ih- tur oder Lüftung oft unzureichend. nen fehlt selbst die Zeit, zur Toilette zu gehen. Auch dies hängt mit den hohen Zielvorgaben zusammen. Es Arbeiterinnen berichten auch von alltäglichen Ge- kommt vor, dass die eigenen Kolleginnen sie vom Ge- walterfahrungen. LIPS hat unter anderem folgende bet oder vom Toilettengang abhalten, weil dadurch Formen von Gewalt registriert: Schläge, Beschimp- das Fließband ins Stocken gerät. Manche arbeiten so- fungen Einschüchterung, Demütigung, Schikane, gar während der Mittagspause oder frühmorgens vor sexuelle Belästigung, Forderung nach sexuellen dem offiziellen Arbeitsbeginn. Aus Zeitmangel schlin- Dienstleistungen als Voraussetzung für einen dauer- gen sie in der Mittagspause das Essen runter. Manch- haften Arbeitsplatz. mal verzichten sie sogar auf die Mahlzeit. Magenge- schwüre sind häufig die Folge. Schwerwiegende Folgen wie Harnwegsinfektionen werden diagnosti- ziert, wenn sie sich nicht die Zeit nehmen, zur Toilette
VEM-Menschenrechtsaktion 2019 21 Die Löhne haben Auswirkungen auf das Leben Was können wir von hier aus beitragen, der Arbeiterinnen. aus Europa, aus Deutschland? Textilarbeiterinnen haben Anspruch auf den gesetzli- Fördern Sie ein besseres Arbeitsklima! Stärken Sie chen Mindestlohn. Dennoch versuchen Unterneh- Gewerkschaften durch Bildungsmaßnahmen. Das men, diese Regelung zu umgehen, indem sie bei der Wissen muss an die Basis gebracht werden. Europäi- Regionalregierung eine Ausnahmegenehmigung be- sche Länder sind an multilateralen und bilateralen antragen. Im Jahr 2013 wurden von 949 solcher An- Handelsabkommen beteiligt. Dies ist eine Gelegen- träge 669 genehmigt. Die gesetzlichen Mindestlöhne heit, eine bessere Arbeitspolitik zu befördern. Euro- unterscheiden sich je nach Provinz oder Distrikt. In päische Gewerkschaften können Wissen bereitstellen Tangerang zum Beispiel, wo auch Adidas und H&M und Erfahrungen mit indonesischen Gewerkschaften produzieren lassen, liegt er aktuell bei 207 Euro im austauschen. Üblicherweise geschieht dies zwischen Monat, in Sragen (Ost-Java) dagegen nur bei 90 Euro. etablierten Gewerkschaften auf nationaler Ebene und Dieser Mindestlohn reicht aber nicht für den eigenen in internationalen Netzwerken. Es gibt aber auch ei- Bedarf, geschweige denn für den der Familie. nen dringenden Bedarf der „Demokratisierung des Wissens“ von unten, auf Fabrikebene, denn dort lie- Untersuchungen haben gezeigt, dass man mindestens gen die Probleme. 245 Euro im Monat braucht. Ein menschenwürdiges Leben ist mit diesem Mindestlohn nicht möglich. Der Lohn reicht nicht, um Lernmaterialien und Schuluni- Was können Unternehmen und formen für die Kinder zu kaufen oder für einen ange- Konsumentinnen tun? messenen Wohnraum. Ein gemietetes Zimmer in ei- ner Arbeiterunterkunft ist kein Ort, um Kinder Der Lohnanteil bei einer Bluse beispielsweise beträgt großzuziehen. So lassen viele Arbeiterinnen ihre Kin- nur 0,6 Prozent. Eins ist klar: Die Auftraggeber müssen der bei den Großeltern. den Produzenten mehr bezahlen, um bessere Löhne zu ermöglichen. Was können Arbeiterinnen tun, um ihre Die Markenfirmen stehen an der Spitze der globalen Situation zu verbessern? Lieferkette der Textilien. Sie sind mächtig und strei- chen den größten Profit ein. Sie müssen ihren eigenen Drei Dinge: Erstens können Arbeiterinnen und Ge- Verhaltenskodex umsetzen, um den Arbeiterinnen werkschaften den sozialen Dialog nutzen. Es gibt dafür menschenwürdige Bedingungen zu garantieren. Sie Institutionen auf verschiedenen Ebenen, in denen sie dürfen nicht nur auf ihre Profitsteigerung blicken. für eine bessere Arbeitspolitik kämpfen können, d. h. für den Schutz vor unbegründeter Entlassung oder die Für die Konsumentinnen ist es wichtig, dass sie Infor- Verbesserung der Berechnung und die Vereinbarung mationen über die Produkte haben, die sie kaufen. Wer des Mindestlohns. Zweitens können sie ihre organisa- hat sie gemacht? Wo wurden sie produziert? Wie sind torischen Fähigkeiten und ihr Verhandlungsgeschick dort die Arbeitsbedingungen? Konsumentinnen kön- entwickeln. nen Druck auf Markenfirmen ausüben, die Arbeiterin- nen besser zu bezahlen. Es geht darum, die Bedürfnisse und Forderungen der Arbeiterinnen gut zu formulieren und an den Ver- Vielen Dank für das Gespräch! handlungstisch zu bringen. Schließlich können sie sich für Demokratisierungsprozesse innerhalb der Ge- Interview und Übersetzung: werkschaften einsetzen. Erneuerung und Verjüngung Dietrich Weinbrenner der Gewerkschaftsführung sowie Bildungsmaßnah- men sind wichtig, um die Verhandlungsfähigkeit im sozialen Dialog zu verbessern.
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