PARAPLEGIE - Schweizer ...

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PARAPLEGIE - Schweizer ...
SEPTEMBER 2020 | NR. 175 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE
                              SCHWERPUNK T

                              Solidarität
                              Ein Pfeiler unseres Zusammenlebens

6   PAR APLEGIKER-STIF TUNG
    Zusammen sind wir
    stark
                              18     BEGEGNUNG
                                     Peter Hofstetter hat
                                     nie aufgegeben
                                                            26   WIRBELSÄULENCHIRURGIE
                                                                 Spitzenmed izin
                                                                 für alle
PARAPLEGIE - Schweizer ...
Interaktiv und multimedial:
Einblicke in die Welt von
vier Querschnittgelähmten im
Besucherzentrum ParaForum

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www.paraforum.ch
PARAPLEGIE - Schweizer ...
M AG A ZIN DER GÖNNER-V EREINIG UNG DER SCH W EIZER PA R A PLEG IK ER-S T IF T UNG

                                                                                         18                                    26
Liebe Mitglieder                                                  Schwerpunkt
In einer schwierigen Zeit, wie wir sie jetzt durch die Corona-      6   S T I F T U N G Verschiedene Mitglieder erzählen,
Pandemie erleben, sind Offenheit und Solidarität wichtige               weshalb Solidarität für sie eine Grundhaltung ist, die
Faktoren, um die Herausforderungen gut zu bewältigen.                   einfach zum Leben gehört.
Für das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) war es zu             12   S P E N D E N Wichtige Projekte auf dem Campus
Beginn der Krise selbstverständlich, auf der Intensivpflege-            Nottwil wären ohne zweckgebundene Spenden nicht
station und im Bettentrakt einen Bereich für Personen frei-             umsetzbar gewesen.

zuhalten, die an Covid-19 erkrankt sind. Dadurch mussten           14   G E S E L L S C H A F T In der Schweiz besteht eine grosse
bereits geplante Eingriffe warten und auch wirtschaftlich war           Bereitschaft, sich für andere Menschen einzusetzen.
es für uns eine Belastung. Schlimme Szenarien rückten dann         15   I N T E R V I E W Der Soziologe Ueli Mäder erklärt die
näher, als in der Turnhalle eine medizinische Infrastruktur für         Bedeutung von Solidarität für unser Zusammenleben.
den Ausnahmefall aufgebaut wurde und wir unsere Teams              17   G A S T B E I T R A G SPZ-Gründer Guido A. Zäch über
auf den Ernstfall vorbereiten mussten. Umso grösser war                 gelebte Solidarität.
die Erleichterung, als diese zusätzlichen 220 Betten Ende
Mai wieder abgebaut werden konnten.
    In den Fokus der Fachleute rückte nun die Beatmungs-          Kompetenz
medizin und die dreissigjährige Erfahrung, die Nottwil mit
                                                                   18 B E G E G N U N G Peter Hofstetter war Landwirt aus
künstlich beatmeten Patientinnen und Patienten hat. Die
                                                                      Leidenschaft. Und hat nie aufgegeben.
Beatmung ist eines von drei medizinischen Kernthemen des
SPZ; in diesem Bereich geht es um die schrittweise Entwöh-         24 PA R A - W G Die ersten Wohngemeinschaften für junge
                                                                      Menschen mit Querschnittlähmung sind bezogen.
nung von den Geräten. Mit unserer Expertise unterstüt-
zen wir andere Spitäler in schwierigen Fällen von Covid-19-        25 Q U E R S C H N I T T – R Ü C K E N – B E AT M U N G
Erkrankungen und helfen den Betroffenen, die sich in einer            Mit dem Neu- und Umbau fokussiert Nottwil auf drei
                                                                      medizinische Kernthemen.
sehr kritischen Situation befinden.
    Seit der Gründung vor 45 Jahren ist die Solidarität mit        26   SPIT ZENMEDIZIN FÜR ALLE ( TEIL 1)
betroffenen Menschen ein zentraler Wert der Schweizer Para-             Das noch junge Fachgebiet der Wirbelsäulenchirurgie hat
                                                                        sich im letzten Jahrzehnt rasant weiterentwickelt.
plegiker-Stiftung. Das Miteinander und das Mitdenken für
andere ist aber noch mehr: Es ist eine Stütze unserer Gesell-      30   R A D I O L O G I E Mit modernen Geräten kann die
schaft. Mit Ihrer Mitgliedschaft tragen Sie dieses Engagement           Abteilung in eine neue Dimension vorstossen.
mit. Dafür danken wir Ihnen herzlich.                              32   D A F Ü R H AT E S M I C H H E U T E G E B R A U C H T
                                                                        Hildegard Oswald vermittelt Bücher und Wissen.

                                                                    4   CAMPUS NOT T WIL

                                                                   33   DANKE
Dr. med. Hans Peter Gmünder
Direktor des Schweizer Paraplegiker-Zentrums                       34   AUSBLICK

                                                                                                              Paraplegie, September 2020 3
PARAPLEGIE - Schweizer ...
CAMPUS NOT T WIL

                                                                                                                                   «Einstein» zu Besuch in Nottwil

                                                                                                                                                                                                      © ayseyavas
                                                                                                                                   Wie leistungsfähig sind Menschen bei Hitze? Dieser Frage ging
                                                                                                                                   die Sendung «Einstein» des Schweizer Fernsehens nach. Modera-
                                                                                                                                   tor Tobias Müller machte sich in der Sportmedizin des Schweizer
                                                                                                                                   Paraplegiker-Zentrums kundig und absolvierte einen Hitze-Stress-
                                                                                                                                   test – samt Fahrrad in der Sauna. Das Publikum sah, wie stark
                                                                                                                                   der Körper bei hohen Temperaturen leidet.

61 %
der Menschen mit einer Quer-
                                                                                                                                        Sendung «Hitze in der Stadt» www.srf.ch/einstein

schnittlähmung gehen heute
einer Erwerbstätigkeit nach.
Dies ergeben Daten der Lang-
zeitstudie SwiSCI der Schweizer
Paraplegiker-Forschung. Der
positive Trend auf dem Arbeits-
markt umfasst alle Alters-
gruppen. Einzige Ausnahme                                                                                                                                                                             Lesung mit
sind junge Erwachsene von                                                                                                                                                                             Lukas Bärfuss
16 bis 24 Jahren.
                                                                                                                                                                                                      Er hat den Georg-Büchner-
                                                                                                                                                                                                      Preis 2019 gewonnen, aber
                                 Internationale Stiftung für Forschung in Paraplegie – IRP
                                         & Schweizer Paraplegiker-Stiftung – SPS
                                                       präsentieren

                SOIRÉE DE L’ESPOIR                                                                                                                                                                    Lukas Bärfuss kennt auch das
                F Ü R        D I E   P A R A P L E G I E F O R S C H U N G

                                                                                                                                                                                                      Dasein als Hilfsarbeiter ohne
                                                                                                                                                                                                      festen Wohnsitz. Mit ein paar
                                                                                                                                                                                                      hundert Franken in der Tasche
                                                                                                                                                                                                      machte er sich aus dem Staub.
                                                                                                                                                                                                      Freiheit bedeutete für ihn:
                                                                                                                                                                                                      Zeit zum Lesen. Über diesen
                                                                                                                                                                                                      Lebensabschnitt schreibt er:
                                                                                                                                                                                                      «Meine Lektüre machte mich
                                                                                                  FORSCHUNG
                                                                                                 STIMO Round Table:
                                                                                         Prof. Jocelyne Bloch, CHUV
                                                                                           & Prof. Grégoire Courtine,
                                                                                     ETH Lausanne/Campus Biotech
                                                                                             RUSSISCHE MUSIK
                                                                                                   Quatuor Tzigane
                                                                                 Die Solisten der MENUHIN ACADEMY
                                                                                                                                                                                                      in meiner Welt zu etwas
                                                                                                                                                                                                      Besonderem. Sie verlieh mir
Soirée de l’Espoir
       Reservation und Informationen: www.irp.ch
                                                                                   Donnerstag, 5. Nov. 2020
                                                                                   Opéra de Lausanne
                                                                                                                                                                                                      eine Identität, eine Bildung,
Zum zweiten Mal organisieren
SDE2020_Ann_A4_de.indd 1                                                                                          11.05.20 10:45
                                                                                                                                                                                                      die mich von den anderen
die Internationale Stiftung für                                                                                                                                                                       unterschied und mir einen
Paraplegiker-Forschung (IRP)                                                                                                                                                                          Wert gab, einerlei, für welchen
und die Schweizer Paraplegiker-                                                                                                                                                                       Taugenichts und Tagedieb
Stiftung (SPS) gemeinsam die                                                                                                        Logopädie in der Rehabilitation                                   man mich halten mochte. So
Wohltätigkeitsveranstaltung                                                                                                         Letztes Jahr benötigten rund 330 Patientinnen und Patienten       habe ich Bildung seither ver-
«Soirée de l’Espoir» in Lausanne.                                                                                                   des Schweizer Paraplegiker-Zentrums eine logopädische             standen, als eine Möglichkeit,
Renommierte Wissenschaftler                                                                                                         Therapie, 270 davon wegen Schluckstörungen. Geschwächte           ein Mensch zu werden.»
und Künstler sammeln Mittel                                                                                                         Muskeln aufgrund einer hohen Querschnittlähmung beein-
zur Erforschung der Querschnitt-                                                                                                    flussen die Atmung, das Schlucken und das Sprechen. In            Öffentliche Lesung
lähmung. Unter dem Motto                                                                                                            unserem Blogbeitrag erzählen zwei Patienten,                      30. September, 19.30 Uhr
«Touch of Russia» begleiten                                                                                                         wie ihnen die Logopädie geholfen hat, wieder                      Aula des SPZ, freier Eintritt
Quator Zigane und Solisten der                                                                                                      reden, essen und trinken zu können.                               (Kollekte)
Menuhin Academy durch den
Abend.                                                                                                                                                           Direktlink zum Film:                               Auskunft T 041 939 57 78

Soirée de l’Espoir

                                                                                                                                   29
5. November, Opéra de
                                                                                                                                               junge Frauen und Männer haben im Juli ihre Ausbildung in der Schweizer Para-
Lausanne
                                                                                                                                               plegiker-Gruppe erfolgreich abgeschlossen – in acht Lehrberufen. 25 von ihnen können
                                                                                                                                               in der SPG weiterbeschäftigt werden. Wir gratulieren.
                           Anmeldung
                           www.irp.ch/soiree-de-lespoir                                                                                                                                                      www.paraplegie.ch/karriere

4 Paraplegie, September 2020
PARAPLEGIE - Schweizer ...
CAMPUS NOT T WIL

23 783                                 Likes erhielten
die Social-Media-Beiträge der Schweizer Paraplegiker-Gruppe in der
                                                                                    PRAXIS
ersten Jahreshälfte 2020. Wir freuen uns über das schöne Feedback.
                                                                                    Dr. med.
                                                                                    André Ljutow
     www.facebook.com/paraplegie                www.instagram.com/paraplegie
                                                                                    Chefarzt Zentrum für
                                                                                    Schmerzmedizin

                                                                                    Arbeiten mit Schmerzen

                                                                                    Die Hand ist unser wichtigstes Werkzeug;
                                                                                    dies wird uns bewusst, wenn wir sie nicht
                                                                                    mehr wunschgemäss einsetzen können. Vor
                                                                                    drei Jahren hatte sich Melanie D. bei einem
                                                                                    Arbeitsunfall schwer an der rechten Hand
                                                                                    verletzt. Durch mehrere Operationen konnte
                                                                                    die 27-Jährige zwar viele Funktionen zurück-
                                                                                    gewinnen, doch es blieben unerträglich
                                                                                    starke Schmerzen am Handrücken und in
                                                                                    einigen Fingern. Jede kleinste Berührung
                                                                                    brannte, ihren Job als Mechanikerin musste
                                                                                    die junge Frau aufgeben.
Fernunterricht bei Sirmed
                                                                                    Melanie D. liess nichts unversucht, wurde
Sirmed, das Schweizer Institut für Rettungsmedizin, stellte während des Corona-     von Klinik zu Klinik weitergereicht, alles ohne
Lockdowns auf Fernunterricht um. Um die Inhalte bestmöglich zu vermitteln, hat      Erfolg. Auch am Zentrum für Schmerzmedi-
Sirmed 38 Lernvideos zu praktischen Fertigkeiten produziert, darunter Bergungs-     zin waren verschiedene Abklärungen nötig,
und Immobilisationstechniken oder Massnahmen zur Atemwegssicherung und              bis letztlich eine Neurostimulation neue
Blutstillung. Zudem stehen «Schritt für Schritt»-Anleitungen bereit, die auch für   Hoffnung weckte. Bei dieser Behandlungs-
Prüfungen hilfreich sind. Die Sirmed-Videos sind öffentlich.                        methode werden Nerven durch elektrische
                                                                                    Impulse verändert. Der pulsierende Strom­
     www.paraplegie.ch/lernvideo-profis                                             zufluss verändert die Funktion der Nerven
     www.paraplegie.ch/lernvideo-erste-hilfe                                        und vermindert langfristig die Schmerzüber-
                                                                                    mittlung ans Gehirn. In Kombination mit
                                                                                    Physiotherapie schlug diese Therapie bei der
                                                                                    Patientin so gut an, dass sich ihre Schmerzen
                                    Schulstart in der ParaSchool                    anhaltend reduzierten und sie alle Medika-
                                                                                    mente absetzen konnte.
                                    Seit fünf Jahren ist die Patientenschule des
                                    Schweizer Paraplegiker-Zentrums vom             Dank der Schmerztherapie in Nottwil hat
                                    Kanton Luzern anerkannt. Im August star-        sich ihre Lebensqualität deutlich verbessert.
                                    tete in der ParaSchool das neue Schuljahr,      Viele Handgriffe sind auf einmal wieder fast
                                    damit junge Patientinnen und Patienten          schmerzfrei möglich. Die Fortschritte erlau-
                                    nach der Rehabilitation wieder in ihre          ben es ihr, Teilzeit im Büro zu arbeiten und
                                    Klasse zurück können. Ein zweites Ange-         die Belastung vorsichtig zu steigern.
                                    bot der ParaSchool ist das «Perspektiven-
                                    jahr». Darin entwickeln Menschen mit
                                    körperlichen Beeinträchtigungen neue
                                    Möglichkeiten für ihr Berufsleben.
                                                                                                                       Schmerzskizze
                                    Besuchen Sie die Patientenschule: mit                                             aus der Behand-
                                    unserem Video.                                                                        lungspraxis.

      Direktlink zum Video               www.paraplegie.ch/paraschool                    www.paraplegie.ch/schmerzmedizin

                                                                                                               Paraplegie, September 2020 5
PARAPLEGIE - Schweizer ...
SCHWERPUNKT

                                                                             Die Fotografin Cordula Burkart
                                                                             hat sich entschieden, der
                                                                             Schweizer Paraplegiker-Stiftung
                                                                             ein Legat zu vermachen.

                               «Solidarität ist für mich
                                eine Grundhaltung.»
                                Cordula Burkart, Mitglied und Legatgeberin

6 Paraplegie, September 2020
PARAPLEGIE - Schweizer ...
SCHWERPUNKT

«Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung
 ist eine gute Sache. Die müssen wir
 einfach unterstützen.»
Anna-Greth und Otto Guazzini, Dauermitglieder

                                                              Am Tag der Geburt ihres Enkels fuhren Anna-Greth
                                                              und Otto Guazzini nach Nottwil und haben für ihn
                                                              eine Dauermitgliedschaft in bar einbezahlt.
                                                                                             Paraplegie, September 2020 7
PARAPLEGIE - Schweizer ...
SCHWERPUNKT

                                                                                   Die Klauser Gysslers
                                                                                   haben eine Familien-
                                                                                   mitgliedschaft. Sie
                                                                                   achten darauf, dass
                                                                                   eine unterstützte Insti-
                                                                                   tution seriös ist.

«In Nottwil wird eine sehr
 wertvolle Arbeit geleistet.»
Giulia, Jacqueline, Michael und Fiona Klauser Gyssler (v.l.), Familienmitglieder

8 Paraplegie, September 2020
PARAPLEGIE - Schweizer ...
SCHWERPUNKT

Stiftung
Zusammen sind wir stark
Ohne die Solidarität der Bevölkerung wäre die ganzheitliche Rehabilitation nicht möglich,
die alle Aspekte einer Querschnittlähmung bis hin zur Integration in die Gesellschaft umfasst.
Verschiedene Mitglieder erzählen, weshalb Solidarität für sie eine Selbstverständlichkeit ist.

Noch vor wenigen Jahrzehnten galt: Wer in der          weniger Glück haben.» Letzten Oktober, am Tag
Schweiz von einer Querschnittlähmung betroffen         als ihr Enkel Gian Vero auf die Welt kam, fuhren
war, fristete ein Leben am Rande der Gesellschaft.     sie direkt von der Geburtsklinik nach Nottwil und
Oft abgeschoben in Alters- und Pflegeheime –           haben für den Neugeborenen eine Dauermit-
junge Menschen bei vollem Verstand, aber ohne          gliedschaft in bar einbezahlt. Die soziale Haltung
Hoffnung. Damit sich ihre Situation verbessern         wird so direkt in der Familie weitergegeben.
konnte, waren sie auf die Solidarität einer Gemein-         «Wir leben selber nicht im Überfluss», sagt
schaft angewiesen, die sich ihrer Not annahm.          Otto Guazzini. Aber mit dem, was wir haben,
So wurde Solidarität von Beginn an ein zentraler       möchten wir etwas bewirken.» Ferien können
Wert der Schweizer Paraplegiker-Stiftung.              sie sich von ihrer AHV keine leisten. Doch sie
     Seit ihrer Gründung vor 45 Jahren hat die         unterstützen verschiedene Stiftungen und spen-
private Stiftung wesentlich dazu beigetragen,          den jedes Jahr zusätzlich dreissig Franken für das
dass die Betroffenen in die Gesellschaft inte-         Magazin Paraplegie. «Man erklärte mir, das sei
griert sind und ein möglichst selbstständiges          nicht nötig», ergänzt seine Frau. «Aber ich mache
Leben führen können. Dieser Erfolg wurde jedoch        es gerne.»
nur möglich durch eine breite Unterstützung aus
der Bevölkerung.                                       Integration dank Mehraufwand
                                                       Dank dieser Solidarität von vielen Menschen
Dauermitgliedschaft für den Enkel                      konnte in Nottwil ein Leistungsnetz entstehen,
Anna-Greth und Otto Guazzini sind zwei der             das von der Versorgung auf der Unfallstelle bis
rund 1,8 Millionen Gönnerinnen und Gönner der          zur lebenslangen Begleitung reicht. Dabei wird
Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Solidarität ist für   ein Drittel des Budgets von den Mitgliedern getra-
sie eine Selbstverständlichkeit, sie gehört einfach    gen. Ohne sie wäre das Konzept der ganzheit-
zum Leben. Die beiden besuchen oft Menschen
im Altersheim und sehen, was es heisst, auf einen
Rollstuhl angewiesen zu sein. «Wir denken nicht                      «Für die Extrameile benötigen wir
nur ans Eigenwohl», sagt das Rentnerpaar aus
Halten SO. «Man muss auch anderen Gutes tun                         Menschen, die solidarisch denken.»
und sich gegenseitig helfen.» Als Anna-Greth                                                                Joseph Hofstetter, SPS-Direktor
Guazzini 1985 ihre erste Stelle im Gastgewerbe
antrat, investierte sie ihren Lohn in lebenslange      lichen Rehabilitation undenkbar. Es gäbe auch
Dauermitgliedschaften für die Familie.                 keine chancengleiche Behandlung von Patientin-
     «Im Strassenverkehr ist schnell etwas pas-        nen und Patienten aus der ganzen Schweiz. Und
siert», sagt die Siebzigjährige. Aber nicht die        wer im Pensionsalter eine Querschnittlähmung
Gönnerunterstützung, die sie als Mitglied bei          erleidet, dem stünde nur das Minimum zu. So
einem Unfall erhalten würde, stand für sie im          funktioniert unser Gesundheitssystem.
Vordergrund, sondern die Identifikation mit einer           Wenn es um mehr gehen soll als das körper-
guten Sache: «Wenn wir das Geld nicht selber           liche Überleben, muss ein Mehraufwand geleistet
benötigen, so nützt unser Beitrag anderen, die         werden, den die Kostenträger nicht übernehmen.

                                                                                                                     Paraplegie, September 2020 9
PARAPLEGIE - Schweizer ...
SCHWERPUNKT

«Extrameile» nennen es die Verantwortlichen in         nen Menschen, und deshalb sind Akzeptanz und
Nottwil. «Wir erwirtschaften so viel es geht sel-      Miteinander Werte, die sie in der Erziehung ver-
ber», erklärt Joseph Hofstetter, der Direktor der      mittelt: «Ich will nicht, dass meine Kinder Men-
Schweizer Paraplegiker-Stiftung. «Aber für die         schen im Rollstuhl anstarren. Das Miteinander
Extrameile benötigen wir Menschen, die solida-         soll für sie normal sein.»
risch denken.» Ohne sie müssten wichtige Teile               Die solidarische Haltung, das Mitdenken für
der Leistung abgespeckt werden.                        andere liegt nicht nur dieser Familie am Herzen.
     Dabei finanziere die Stiftung keinen Luxus,       Diverse Studien bestätigen, dass das Dazugehö-
betont Hofstetter, sondern nur nötige Massnah-         ren zu einer Gemeinschaft ein wichtiger Aspekt
men für eine gelingende Integration. Wenn eine         der menschlichen Gesundheit ist. Und wenn eine
Zusatztherapie die Mobilität steigert, wenn mit        Gemeinschaft zusammenhält, kann sie etwas
Direkthilfe eine Wohnung besser angepasst wer-         erreichen. So steht Nottwil nicht nur beispielhaft
den kann oder wenn ein umgebautes Auto den             für die medizinische Entwicklung, sondern ver-
Arbeitsweg erlaubt, dann können Menschen mit           deutlicht ebenso anschaulich, wie das Konzept
einer Querschnittlähmung ein selbstständiges           der Integration gelingt.
Leben führen. In der Schweiz gehen 61 Prozent
einer Erwerbsarbeit nach – das ist im internatio-      Hauptmotive der Mitglieder
nalen Vergleich eine Spitzenposition.                  Diese Erfolgsgeschichte mag in einer Zeit der
                                                       wachsenden Ich-Bezogenheit erstaunen, in der
Die Rückkehr der Solidarität                           gerade jüngere Generationen sich seltener zu
Seit einigen Monaten sprechen wir wieder mehr          einem Mitgliedschaftsmodell verpflichten. Doch
über Solidarität. Die Corona-Pandemie hat uns          entgegen diesem Trend zeigen Meinungsumfra-
die eigene Verletzlichkeit vor Augen geführt, und      gen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, dass die
viele haben erkannt, dass nur mit einer gemeinsa-      Mehrheit der Mitglieder tatsächlich aufgrund
men Anstrengung Lösungen erzielt werden. «Ich
finde es gut, dass wegen Corona der Gedanke an
die Solidarität wieder präsenter ist», sagt Jacque-
line Klauser. «Man geht für ältere Personen ein-
                                                                  «Wohin sollte sich ein Querschnitt-
kaufen, fördert das lokale Gewerbe und unsere                            gelähmter sonst wenden?»
Gesellschaft hat einen neuen Zusammenhalt
                                                                                               Christian Hamböck, Leiter Mitgliedermarketing
gefunden. Ich hoffe, dass dieser Effekt länger-
fristig anhält.» Die Psychologin aus Oberwil BL
spendet für mehrere Organisationen, zu denen           des Solidaritätsgedankens beigetreten ist und
sie einen persönlichen Bezug hat. Seit vielen          nicht wegen der persönlichen Gönnerunterstüt-
Jahren ist ihre Familie überzeugte Gönnerin der        zung von 250 000 Franken. Christian Hamböck,
Schweizer Paraplegiker-Stiftung.                       der Leiter des Mitgliedermarketings, sieht ein
      «In Nottwil wird eine sehr wertvolle Arbeit      weiteres Motiv: «Die Tatsache, dass es jeden
geleistet. Andererseits denken wir auch: Wenn          treffen kann, berührt die Menschen. Glück und
man selber verunfallt, ist man froh, dass es einen     Unglück liegen nahe beieinander, da ist man froh,
Ort gibt, wo man gut betreut wird.» Ein weiterer       dass es diese Solidarität gibt.»
Punkt ist der Familie wichtig: Eine Institution muss        Obwohl seit den Anfängen der Stiftung viel
seriös sein. «Man überlegt sich beim Spenden:          erreicht wurde, muss die Überzeugungsarbeit für
Wie viel geht in die Administration und wie viel       das von ihr geschaffene Leistungsnetz fortschrei-
kommt effektiv an?» Die Transparenz der Stiftung       ten. «Wohin sollte sich ein Mensch mit Quer-
schafft hierbei Vertrauen.                             schnittlähmung sonst wenden, wenn nicht nach
      Jacqueline Klauser weiss, dass nichts im         Nottwil?», fragt Hamböck. «Die ganzheitliche
Leben sicher ist. Eine Querschnittlähmung kann         Rehabilitation ist auf eine spezialisierte Institu-
von einem Augenblick zum nächsten geschehen.           tion angewiesen, die sich intensiv mit dem Thema
Deshalb unterstützt sie die Anliegen der betroffe-     befasst.» Die meisten Spitäler wissen nicht mit

10 Paraplegie, September 2020
SCHWERPUNKT

«Im SPZ ist das Geld
 am richtigen Ort.»
 Sonia Kälin, Dauermitglied und Spenderin

Schwingerkönigin Sonia Kälin spendete
ihren Gewinn aus «1 gegen 100» spontan
ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ).

                                                                                                                  Sonia Kälin unterwegs ins
                                                                                                               ParaForum. Seit Kurzem ist sie
dem komplexen Krankheitsbild umzugehen.                Eine ganz besondere Spenderin ist die Sportlerin         Botschafterin der Schweizer
Würde die private Unterstützung für Nottwil            Sonia Kälin. Als sie in einer Spezialausgabe der SRF-          Paraplegiker-Stiftung.
wegfallen, wäre der Weg in die gesellschaftliche       Quizsendung «1 gegen 100» fast 30 000 Franken
Integration erneut blockiert.                          gewonnen hatte, liess sie den Betrag spontan
                                                       nach Nottwil überweisen. «Ich musste in diesem
Die normalste Sache der Welt                           Moment nicht viel überlegen», sagt die vierfache
Neben den Mitgliedern tragen auch zahlreiche           Schwingerkönigin. «Schon meine Eltern waren
Spenderinnen und Spender dazu bei, dass das            Mitglieder, und ich bin sozuagen mit dem Schwei-
Solidarwerk Bestand hat und die Arbeit weiter-         zer Paraplegiker-Zentrum aufgewachsen. In Nott-
geht. Cordula Burkart zum Beispiel hat sich dazu       wil ist das Geld am richtigen Ort.»
entschieden, der Stiftung ein Legat zu verma-                Nach diesem Fernsehauftritt hat sie sich
chen. Solidarität ist für sie die normalste Sache      bereit erklärt, die Funktion einer Botschafterin für
der Welt: «Es ist eine Grundhaltung, ich bin so        die Stiftung zu übernehmen: «Es ist eine Angele-
aufgewachsen. Für uns gab es immer nur ein Mit-        genheit, die mir am Herzen liegt. Man hilft Men-
einander und Füreinander – im Rahmen des Mög-          schen, die durch einen Schicksalsschlag aus dem
lichen.» Es sind kleine Details, die den Unterschied   Leben gerissen werden.» Als aktive Schwingerin
ausmachen, sagt die Fotografin aus Safenwil AG:        hatte Sonia Kälin manchmal selber das Schick-
«Wieder einmal den Nachbarn fragen: Geht es dir        sal herausgefordert: «Es gab Würfe, da war ich
gut?» Es brauche nicht viel, dann sei man auch         froh, dass ich wieder aufstehen konnte.» Heute
selber zufrieden.                                      ist sie dankbar, dass sie die Zeit des Spitzensports
     Zum Thema Gesundheit hat Cordula Burkart          gesund abgeschlossen hat.
einen direkten Bezug: Sie und ihr Partner haben              Das Bewusstsein um unsere Verletzlichkeit
mehrere heikle Situationen mit Rückenverletzun-        stärkt den Gemeinsinn. Für diese ganz unter-
gen überstanden. «Ich sagte zu Andy: Wir haben         schiedlichen Mitglieder der Schweizer Paraple-
beide viel Glück gehabt. Wir spenden jetzt nach        giker-Stiftung ist es eine Selbstverständlichkeit,
Nottwil für Menschen, die in einer schwierigen         dass man sich in schwierigen Situationen gegen-
Lebenssituation stecken.» Sie sei froh, dass sie       seitig hilft. Es sind Beispiele von Menschen, die       Sonia Kälin
diese wohl grösste Herausforderung im Leben            Mut machen.                                             besucht das
nicht durchmachen musste.                                                        (kste/d.plüss, we, reta)     ParaForum

                                                                                                                    Paraplegie, September 2020 11
SCHWERPUNKT

Zweckgebundene Spenden
Viele wichtige Projekte auf dem Campus Nottwil wären ohne
zweckgebundene Spenden und aufgerundete Mitgliederbeiträge nicht
umsetzbar gewesen – allen voran die Modernisierung der Klinik.

                                                                       Der Erweiterungs-
                                                                       bau des SPZ
                                                                       Das grosse Bauprojekt von
                                                                       2015 – 2020 beseitigt Kapazi-
                                                                       tätsengpässe und macht das
                                                                       SPZ fit für kommende He-
                                                                       rausforderungen. Es ist ein
                                                                       weiterer Meilenstein auf dem
                                                                       Weg, für Menschen mit
                                                                       einer Querschnittlähmung
                                                                       die besten Voraussetzungen
                                                                       für eine gelingende Integra-
                                                                       tion zu schaffen.

                                                                   ParaSchool

                                                                   Rund ein Viertel der Patientinnen und Patienten in
                                                                   Nottwil sind schulpflichtige Kinder, Jugendliche,
                                                                   Lehrlinge und Studenten. Die Patientenschule baut
                                                                   eine Brücke zwischen ihrer Rehabilitation und der
  Rollen-Trainingshalle                                            schulischen Wiedereingliederung.

  Optimale Bedingungen für
  unsere Spitzen-, Breiten- und
  Nachwuchsathleten. Seit Ende
  2019 können sie sich in der
  Rollen-Trainingshalle auf ihre
  Wettkämpfe vorbereiten –
  das ganze Jahr und bei jedem
  Wetter.

12 Paraplegie, September 2020
SCHWERPUNKT

                                                                                          Jugendreha

                                                                                          Junge Querschnittgelähmte erleben
Therapiegarten                                                                            in den Sommerferien ein vielseitiges
                                                                                          Programm aus intensiver Therapie,
Der im Herbst 2020 eröffnete                                                              Sport und Spass. Sie verfolgen indivi-
Therapiegarten schliesst eine                                                             duelle Ziele, um im Alltag selbstständi-
Lücke in der ganzheitlichen                                                               ger zu werden, und profitieren vom
Rehabilitation. Neue Behand-                                                              Austausch untereinander.
lungsformen im Aussenbereich
nutzen die positive Wirkung der
Natur und trainieren Alltags-
anwendungen in einer realitäts-
nahen Umgebung.

                                                        ParaForum

                                                        Seit September 2019 bietet das
                                                        Besucherzentrum ParaForum
                                                        spannende Einblicke in den All-
                                                        tag von Querschnittgelähmten.
                                                        Die interaktive und multime­
                                                        diale Ausstellung beeindruckt
                                                        auch jüngere Generationen.
                                                        Der Eintritt ist kostenlos.

Direkthilfe

Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung unterstützt
Querschnittgelähmte in Härtefällen mit Beiträgen
an Hilfsmittel, ungedeckte Pflegekosten, Aus- und
Weiterbildungen oder Umbauten von Wohnräumen,
Fahrzeugen und Arbeitsplätzen. Pro Jahr werden
14 bis 17 Mio. Franken Direkthilfe ausbezahlt.

                                                                             Sportrollstühle

                                                                             Sport ist für die Gesundheit von Querschnittge-
                                   Lokomat
                                                                             lähmten enorm wichtig. Doch Spezialrollstühle für
                                                                             einzelne Sportarten sind teuer. Die Schweizer
                                   Der Gangroboter hilft in der
                                                                             Paraplegiker-Stiftung engagiert sich stark, um den
                                   Neurorehabilitation, motorische
                                                                             Betroffenen dennoch einen Einstieg in den Sport
                                   Funktionen wiederzuerlangen.
                                                                             zu ermöglichen.
                                   Er steigert Anzahl und Inten-
                                   sität von Therapien, die viele
                                   Wiederholungen benötigen.

                                                                                                               Paraplegie, September 2020 13
SCHWERPUNKT

Gesellschaft
Die solidarische Schweiz
Sie helfen in Krisenzeiten und opfern ihre Freizeit: In der Schweiz
ist die Bereitschaft gross, sich für die Mitmenschen einzusetzen.

Das Wort Solidarität wird derzeit oft benutzt. Für    Mehr als hundert Hilfsorganisationen haben in
betagte Nachbarn Arbeiten erledigen oder Ein-         der Corona-Krise bereits eine finanzielle Unter-
käufe tätigen – das zählt zu den häufigsten For-      stützung erhalten, dafür wurden über 24 Mil-
men der Unterstützung. Ein deutliches Signal der      lionen Franken eingesetzt. Schnelle Hilfe war
Bevölkerung waren auch die Spenden für jene           auch nötig, um die Not bei Sans-Papiers oder
Personen, die von der Corona-Krise am stärksten       Obdachlosen zu lindern. Zurückhaltung erlebe
betroffen sind.                                       die Glückskette kaum – obwohl viele Spendende
      Bevor die Glückskette, die grösste private      selber nicht wissen, ob sie ihren Arbeitsplatz
Geld­geberin für humanitäre Hilfe im Land, ihre       behalten können. «In schwierigen Zeiten zeigt
Sammelaktion zum Corona-Thema lancierte, stand        sich ein grosses Gemeinschafts- und Zusammen-
sie vor der Frage: Sind die Leute überhaupt bereit,   gehörigkeitsgefühl im Land», sagt Spörri. «Die
dafür Geld zu spenden? Die positive Antwort kam       Menschen haben ein feines Sensorium. Manche
in aller Deutlichkeit.                                sagen sich: Es gibt einige, denen es schlechter         Priska Spörri Verantwortliche
                                                      geht, darum möchte ich mich einsetzen.»               Öffentlichkeitsarbeit und Partner-
«Wir sind Spendenweltmeister»                              Besonders geblieben ist ihr eine Szene kurz       beziehungen bei der Glückskette
Über vierzig Millionen Franken sind seit März         vor Weihnachten. Bei der Aktion «Jeder Rappen
zusammengekommen, zehn Millionen waren es             zählt» hielt ein Mann Spörri hundert Franken ent-
am nationalen Solidaritätstag. «Wir sind Spen-        gegen und bat um fünfzig Franken Retourgeld:
denweltmeister», erklärt Priska Spörri, die bei der   «Er erklärte uns, dass er mit dem Rest noch bis
Glückskette die Öffentlichkeitsarbeit betreut und     Ende Monat durchkommen müsse.»
in der Corona-Krise einmal mehr erlebte, welche
bemerkenswerte Hilfsbereitschaft vorhanden ist:       Swiss Volunteers ohne Nachwuchssorgen
«Die Menschen spenden, obwohl sie selber nicht        Solidarisch sein, das geht nicht nur mit Geld, son-
viel haben.» Es gab Personen, die zwanzig Fran-       dern auch mit Zeit. Auf die Hilfe von Freiwilligen
ken einzahlten und sich entschuldigten, dass es       angewiesen sind zahlreiche Sportveranstaltun-
kein höherer Betrag sein konnte.                      gen, die auf die Organisation Swiss Volunteers                  Ruedi Kunz Präsident
     Die Bereitschaft, sich mit ärmeren Menschen      zählen. Über 60 000 Mitglieder sind registriert,                 von Swiss Volunteers
solidarisch zu zeigen, ist eine Grundhaltung in der   2019 leisteten sie 226 374 Einsatzstunden. Der
Schweiz. Oft sind es Bilder von Naturkatastro-        Fleissigste brachte es auf 730 Stunden – ohne
phen, die etwas auslösen. Wie im Jahr 2000 der        finanzielle Entschädigung. «Ohne diese Hilfe
Erdrutsch in Gondo, 2004 der Tsunami in Thai-         ginge nichts», sagt Ruedi Kunz, der Präsident von
land oder die Überflutungen in Pakistan 2010.         Swiss Volunteers, und ergänzt, dass keine Nach-
«Die Leute sind emotional berührt, wenn etwas         wuchssorgen bestehen: «Da machen ganz viele
Schlimmes in der Nähe passiert», sagt Spörri.         junge, engagierte Menschen mit.»
«Aber auch ein grosses Elend in fremden Ländern            Während der Corona-Krise steht die Platt-
löst eine Welle der Solidarität aus.» Dabei spiele    form samt Volunteer-Datenbank systemrelevan-
weder die Weltregion eine Rolle noch Faktoren         ten Organisationen zur Verfügung. Gemeinden
wie die Religion.                                     etwa können Freiwillige rekrutieren, die sie bei

14 Paraplegie, September 2020
SCHWERPUNKT
                                                                                         Ohne Freiwillige kein Grossanlass
                                                                                         «Häufer» (Zuger Dialekt für Helfer) am Eidgenös­sischen
                                                                                         Schwing- und Älplerfest 2019 in Zug.

                                                                                         verschiedenen Projekten unterstützen, beispiels­
                                                                                         weise in Wohn- und Altersheimen oder im Bereich
                                                                                         der Nachbarschaftshilfe.
                                                                                             «Die Ehrenamtlichkeit dürfte in allen Berei-
                                                                                         chen an Bedeutung gewinnen, da die Sponsoren-
                                                                                         gelder nach der Corona-Krise tendenziell anders
                                                                                         eingesetzt werden», sagt Ruedi Kunz. Das macht
                                                                                         ihm keine Sorgen: «Wenn sich die Volunteers von
                                                                                         einem Projekt angesprochen fühlen, sind sie mit
                                                                                         einer beeindruckenden Passion bei der Sache.
                                                                                                                          (pmb / zvg)

                                                                                               www.glueckskette.ch
                                                                                               www.swissvolunteers.ch

«Solidarität ist ein Grundpfeiler der Gesellschaft»
Ueli Mäder, was ist für Sie Solidarität?        Ändert sich das soziale Verhalten
Es ist eine Form von Zusammengehörigkeit        nach dieser Krise?
und Zusammenhalt. Ich erlebe das praktisch      Ich hoffe, dass wir die Gesundheit mehr
täglich – in der Nachbarschaft, unter Ange-     schätzen lernen und uns immer wieder
hörigen, bei meinen Fussball- und Hand-         überlegen, was im Leben wichtig ist – und
ballkollegen, bei jungen Menschen. In einer     ob es wirklich nötig ist, das Tempo immer
Zeit, die vom Finanzdenken geprägt ist, ver-    derart hochzuhalten und den Konkurrenz-
halten sich viele Menschen trotzdem über-       kampf zu forcieren.
aus sozial. Ohne diese Haltung, ohne dieses
individuelle Handeln würde unser Zusam-         Und weshalb erstaunt es Sie, dass
menleben kaum funktionieren. Daher sehe         man andere schützen möchte?
ich Solidarität als einen Grundpfeiler unse-    Eigentlich müsste es normal sein. Und doch                 Ueli Mäder ist emeritierter Professor
rer Gesellschaft.                               ist es wegen der Profitgier nicht selbstver-                für Soziologie der Universität Basel.
                                                ständlich: Heute muss alles rentieren. Daher
Hat sich Ihre Wahrnehmung in der                ist das soziale Verhalten vieler Menschen so
Corona-Krise verändert?                         wertvoll. Ich halte es für möglich, dass man   Solidarität mangelt. Auch in den wichtigen
Ja. Wir erleben eine erstaunlich grosse Be-     das Egoistische und borniert Wachstums-        globalen Bezügen müsste sich ein Land wie
reitschaft, Leben zu schützen und sich für      orientierte allmählich öde findet. Daraus      die Schweiz solidarischer verhalten.
Benachteiligte einzusetzen. Dafür wer-          könnte sich eine Bereitschaft entwickeln,
den auch wirtschaftliche Einbussen in Kauf      über die Bücher zu gehen und häufiger aus      Aber Ihnen gefällt die Solidarität
genommen. Ich sehe Ansätze eines Gegen-         freien Stücken soziale Verbindlichkeiten       im Kleinen?
trends zur dominierenden Rolle der wirt-        einzugehen.                                    Ja. Viele haben das Selbstverständnis, dass
schaftlichen Faktoren. Die Angst, die eine                                                     sie zum Helfen keine laufende TV-Kamera
solche Krise auslöst, führt oft zu zwei Reak-   Ist die Schweiz bezüglich Solidarität          benötigen; sie erwarten auch keine Gegen-
tionen: Die einen verkriechen sich, andere      beispielhaft?                                  leistung. Solidarität lässt sich nicht leicht
wählen die Flucht nach vorne und wollen         Unser System der sozialen Absicherung          fassen und nicht messen. Aber ich finde
rasch wieder die alte Normalität herstellen.    zählt für mich zur Solidarität. Aber wenn      es wichtig, darüber zu reden und sich zu
Der Coronavirus trägt dazu bei, diese Nor-      es um die Verteilung von Kapital oder um       überlegen, was dazugehört und wie sich
malität vermehrt zu hinterfragen.               Löhne geht, gibt es Bereiche, in denen es an   die Solidarität stärken lässt. 

                                                                                                                        Paraplegie, September 2020 15
Kompetenz erhalten,
richtig zu handeln

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bei Ihnen vor Ort in allen vier Landessprachen.
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GASTBEITR AG

Gelebte Solidarität

«Einer trage des anderen Last.» Mit diesem
Paulus-Wort aus dem Brief an die Galater hat
die Schweizer Paraplegiker-Stiftung 1975 in
ihrem ersten Rundschreiben zu mehr Soli-
darität für Querschnittgelähmte aufgeru-
fen. Mit überwältigendem Erfolg bis zum
heutigen Tag.
     «Unus pro omnibus, omnes pro uno –
Einer für alle. Alle für einen», so steht es zu-
oberst über den Köpfen der Politikerinnen
und Politiker in der Kuppel des Schweizer
Bundeshauses. Ausdruck findet der Soli-
daritätsgedanke auch in der Präambel der
Bundesverfassung: «Die Stärke des Volkes
misst sich am Wohl der Schwachen.» In der
Schweiz beruht Solidarität auf gegenseiti-
gem Vertrauen und hat eine nachhaltige
Tradition.

Das Erreichte neu gestalten
Die in die Tat umgesetzte Vision der ganz-
heitlichen Rehabilitation von Querschnitt-
gelähmten ist gelebte Solidarität. Sie hat im
internationalen Vergleich beachtenswerte
Fortschritte und erfreuliche Resultate erzielt.                                    Bild aus der Pionierzeit Guido A. Zäch am Helikopter mit Patient.
Dafür verdienen das überdurchschnittlich
engagierte Rehabilitationsteam des Schwei-
zer Paraplegiker-Zentrums Nottwil und die          litation im Kompetenzzentrum bleibt die         Wir sind alle eindringlich aufgerufen, unse-
vielen Gönnerinnen und Gönner der Stiftung         Zielsetzung.                                    ren persönlichen Beitrag zur Linderung von
Anerkennung und Dank.                                    Der Akutphase wurde in den vergan-        Not zu leisten. Diese Hilfe ist notwendig
     «Was du ererbt von deinen Vätern hast,        genen zehn Jahren zu wenig Beachtung            und sinnstiftend, wie es die österreichische
erwirb es, um es zu besitzen», heisst es in        geschenkt. Jetzt ist die bauliche Infrastruk-   Schriftstellerin Marie Ebner von Eschen-
Goethes «Faust». Das Erreichte nicht nur           tur in Nottwil optimal, ergänzt durch einen     bach prägnant feststellte: «Menschen, die
zu bewahren oder auszusitzen, sondern              neuen Heli-Landeplatz mit Satellitenna­vi­      wir aufrichten, sind uns selber Stütze im
täglich zu hinterfragen und initiativ neu zu       gation sowie Erweiterung der Intensivsta-       Leben.»
gestalten ist unsere permanente Aufgabe.           tion und der Operationssäle. Dieses Angebot          Menschen in Not finden Mitmenschen
Dazu sind Herzblut und eine unerschütterli-        muss wieder während 168 Stunden pro             in Nottwil. Spontan, kompetent, mit Empa-
che Zuversicht nötig. Auch die Fortsetzung         Woche genutzt werden. So sind Akutthera­        thie. Das gilt noch immer. Ohne Wartezeit.
des Goethe-Zitats verdient Beachtung:              pie und Erstversorgung erneut die entschei-     Tag und Nacht. Dieser Einsatz verdient tat-
«Was man nicht nützt, ist eine schwere             denden Schwerpunkte des ganzheitlichen          kräftige Unterstützung.
Last. Nur was der Augenblick erschafft, das        Leistungsangebotes.                                                        Guido A. Zäch
kann er nützen.»
                                                   Sinnstiftende Hilfe
Die Akutphase ist entscheidend                     Auch in der Corona-Pandemie zeigt sich die        1975 gründete Guido A. Zäch die Schweizer
Um ein bestmögliches Behandlungsresul-             Schweiz als Land der solidarischen Hilfe.         Paraplegiker-Stiftung. Der Pionier der
tat für rückenmarkverletzte Unfallopfer zu         Der soeben erschienene Freiwilligen-Moni-         ganzheitlichen Rehabilitation rief zur
erreichen, gilt: «Die Rehabilitation beginnt       tor 2020 bestätigt erfreuliche Zahlen: Sechs      Solidarität mit Menschen auf, die unter
am Unfallort.» Richtige Bergung, schonen-          von zehn Personen setzen sich regelmäs-           schwierigsten Bedingungen leben.
der Transport, Erstversorgung und Rehabi-          sig gemeinnützig für die Gesellschaft ein.

                                                                                                                            Paraplegie, September 2020 17
Peter Hofstetter bei den Schafen.
Eines Tages will er wieder melken können.
IN T EG R AT I O N

Begegnung
«Alles, was ich jetzt tun kann, ist ein Geschenk»
Peter Hofstetter überlebte einen Holzerunfall mit schweren Verletzungen.
Der Entlebucher Landwirt kann heute wieder einige wenige Meter gehen – und will
mit dem Elektro-Dreirad hundert Kilometer zurücklegen.

Äusserlich sind kaum Spuren erkennbar. Er hat           Lukas rennt los und entdeckt seinen Vater
einen leichten Kratzer im Gesicht und es erweckt        bewusstlos am Boden. Er wählt sofort die Not-
den Eindruck, als käme Peter Hofstetter glimpflich      rufnummer, informiert seine Mutter – und war-
davon. Aber dieser Unfall im Januar 2018 verur-         tet. Zwanzig Minuten hält er den Vater in den
sacht schwere innere Schäden. Sein Bruder, ein          Armen, bis Ambulanz und Rettungs-Helikopter
Radiologe, wird ihm später sagen, dass nicht viele      fast gleichzeitig eintreffen. Der Schwerverletzte
überlebt hätten.                                        kommt ins Kantonsspital Luzern. Er kommuniziert
     Er war Landwirt aus Leidenschaft, ein              mit den Sanitätern und Ärzten, aber er erinnert
Chrampfer, der sich nur selten einen freien Tag         sich nicht mehr. Ihm wurde davon berichtet, wie
gönnte. Der 58-Jährige sitzt am Esstisch seiner         über vieles, das in den vier ersten Wochen nach
heimeligen Wohnstube in Entlebuch, vor dem              dem Unfall passierte. Das Gedächtnis hat es nicht
Haus führt die Strasse hinauf Richtung Glauben-         speichern können.
berg. Hier hat er mit seiner Frau Heidi fünf Buben
grossgezogen, hier haben sie ihre Existenz aufge-       Elf Wirbel verschraubt
baut mit einem Hof und einer Käserei, die Schaf-        Der Brustkorb ist zertrümmert, eine Rippe hat
milchprodukte herstellt. Hofstetter legt seine          sich durch die Lunge gebohrt, dazu erleidet
stattlichen Hände auf den Tisch und erinnert sich       Peter Hofstetter eine Hirnblutung. Sein Glück ist
an jenen Tag, als es passierte: «Ich dachte: Das        es, dass er kräftige Muskeln hat und so die Wir-
wars. Fertig, Feierabend.»                              belsäule nicht heftiger verletzt wird. Das Rücken-
                                                        mark ist gequetscht, nicht durchtrennt. In Luzern
Stille, beklemmende Stille                              wird er bis 3 Uhr nachts operiert. Vier Wirbel sind
Es ist ein kalter, schöner Montag, als er nach dem      gebrochen, elf werden verschraubt. Der Rücken
Mittag mit Sohn Lukas zum Holzen in den nahen           wird dadurch so steif, dass er bis heute auf Hilfe
Wald aufbricht. Das Sturmtief «Burglind» hat die        angewiesen ist, um Socken anzuziehen.
Region nicht verschont. Um 15.30 Uhr macht sich              Nach drei Wochen wird der Verunfallte nach
der Bauer daran, eine kranke Esche zu fällen. Hol-      Nottwil verlegt. Als Hofstetter realisiert, in wel-
zen, das ist eines seiner Fachgebiete, es käme ihm      cher Lage er sich befindet, ist das ein schlimmes
nie in den Sinn, Risiken einzugehen.                    Erlebnis. Er möchte selbstständig atmen, aber
      Der Baum ist von der Eschenwelke stärker          er ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen; er
befallen, als Peter Hofstetter annimmt. Dann            kann weder sprechen noch sonst auf sich auf-
geschieht das Unglück. Die Spitze bricht ab, don-       merksam machen oder sich bewegen. Der Puls
nert zu Boden – und trifft ihn mit voller Wucht.        schnellt in die Höhe, er reagiert panisch: «Ich
Lukas arbeitet fünfzig, sechzig Meter entfernt,         dachte, ich ersticke», erzählt er. Das Pflegeperso-
von seinem Standort hat er den Vater normaler-          nal auf der Intensivstation bemerkt die Pulsände-
weise im Blickfeld. Jetzt sieht er ihn nicht mehr. Er   rung und kümmert sich sofort um ihn.
ruft, bekommt aber keine Antwort. Das Geräusch               Es ist eine Episode von vielen, gesammelt in        Oben Zum Alltag zählen
der Motorsäge ist verstummt. Stille, beklem-            zwei Tagebüchern. Heidi Hofstetter hat gleich         auch administrative Arbeiten
mende Stille.                                           am ersten Tag damit begonnen zu notieren, wie               für die Emscha GmbH.

                                                                                                                 Paraplegie, September 2020 19
IN T EG R AT I O N

sie ihren Mann wahrnimmt, wie sein Zustand           «Man kann nichts erzwingen»
sich verändert. Weitere Schilderungen stammen        Peter Hofstetter ist ein Kämpfer, der sich immer
von nahestehenden Besuchern wie den Söhnen           neue Ziele setzt. Vor allem will er wieder Auto-
oder Geschwistern. Als Peter Hofstetter die Hefte    fahren können, selbstständig sein. Oft motiviert er
später liest, wühlt ihn das emotional auf: «Das      sich zu einem Schritt: «So, Hofstetter, hü!» Doch
fährt ein. Meine Familie hat einiges mitmachen       immer wieder muss er sich eingestehen, dass es
müssen.»                                             nicht so rasch aufwärts geht. So sehr er sich daran
     Erst in Nottwil habe er gemerkt, dass er        klammert, seine Visionen zu verfolgen, so scho-
querschnittgelähmt ist. In dieser neuen Realität     nungslos wird ihm vor Augen geführt: «Man kann
musste er sich zuerst zurechtfinden. Zwar hatte      nichts erzwingen, die Nerven geben nicht mehr
die ganze Familie eine Gönnermitgliedschaft          her. Ich bin querschnittgelähmt.»
abgeschlossen, aber mehr aus Solidarität für die          Als er nach sieben Monaten Rehabilitation
gute Sache, nie hätte er gedacht, dass er selber     Ende August 2018 nach Hause darf, legt er als Ers-
einmal ein Patient im Schweizer Paraplegiker-Zen-    tes die Fahrprüfung ab. Heute hat er sich so gut
trum (SPZ) sein würde. Wenn er vor dem Unfall        erholt, dass er als inkompletter Paraplegiker gilt.
jemanden im Rollstuhl sah, schoss ihm durch den
Kopf: «Ein armer Cheib!» Aber was das wirklich
bedeutet?                                            « Ich frage mich, ob ich zu viel riskiert habe.
Emotionen im Spitalbett                                Aber die Antwort lautet immer Nein.»
Der Paraplegiker bekommt einen Ordner voller           Peter Hofstetter
Informationen und Antworten auf die zentrale
Frage: Wie lebe ich mit einer Querschnittläh-        Mit Stöcken schafft er einige Meter zu Fuss; in
mung? Nach sechs Wochen kann er die grosse           der eigenen Wohnung versucht er, wenn immer
Zehe am Fuss des rechten Beins bewegen, ein          möglich, auf Gehhilfen zu verzichten. Hofstetter
Hoffnungsschimmer, der ihm Tränen in die Augen       macht sich keine Illusionen, eines Tages wieder zu
treibt. Im Ohr bleiben die Worte der Ärzte: Es sei   einer seiner geliebten Wanderungen aufbrechen
möglich, dass sich die Nerven im gequetschten        zu können. «Aber alles, was ich jetzt tun kann, ist
Rückenmark in zwei, drei Jahren erholen könn-        ein Geschenk.»
ten. Er denkt sich: «Wenn ich das SPZ verlasse,           Er geht mit einer positiven Grundeinstellung
dann gehe ich aufrecht heraus.»                      durchs Leben und mit grosser Dankbarkeit. Bei
     Rasch wird sich Peter Hofstetter bewusst,       der Jahreskontrolle in Nottwil erkundigt sich eine
wie viel er nun lernen muss. Am Anfang seiner        Physiotherapeutin nach dem Befinden. «Es geht
Rehabilitation wird er von den Pflegefachperso-      mir gut», sagt Hofstetter. «Wieso gut?», hakt die
nen alle vier Stunden im Bett gedreht, um Druck-     Physiotherapeutin nach. «Vieles ist eine Frage der
geschwüre zu vermeiden. Er selber ist dazu nicht     Optik», antwortet er. «Ich erinnere mich an Tage,
in der Lage – der kräftige Naturbursche, der in      an denen ich im Bett die Decke anstarrte und
seinem Alltag anpackte, wo er nur konnte und         mich nicht rühren konnte. Jetzt ist meine Situa-
kaum Hürden kannte, ist plötzlich auf fremde         tion markant besser.» Darum hadere er auch nicht
Hilfe angewiesen.                                    mit dem Schicksal. «Ich mache mir meine Gedan-
     Über Ostern möchte er nach Hause zu seiner      ken, ja. Ich frage mich: Habe ich damals zu viel
Familie, aber die Ärzte trauen ihm das noch nicht    riskiert? Aber die Antwort ist immer die gleiche:      Oben Peter Hofstetter im Lager-
zu. Stattdessen darf er sich in eine der Übungs-     Nein, ich habe das Holzfällen fachmännisch abso-                  raum seiner Käserei.
wohnungen auf dem Campus zurückziehen, und           lut korrekt ausgeführt.»                               Mitte Im Tagebuch beschreiben
seine Frau Heidi verbringt die Ostertage mit ihm.                                                          Nahestehende, wie sie Peter nach
Anfänglich meint er nicht lernen zu müssen, sich     248 Meter mit Krücken                                             dem Unfall erleben.
im Rollstuhl fortzubewegen, er will ja gehen.        Der ehemalige Bauer hat einen eisernen Willen.        Unten Auf dem Heimweg von der
Dann merkt er, dass dies ein Trugschluss ist.        Am 20. Dezember 2018 macht er mit Krücken                 Arbeit in der Kirchgemeinde.

20 Paraplegie, September 2020
Paraplegie, September 2020 21
Bewegungsdrang
                                                                                                                    Peter Hofstetter mit dem
seine ersten Schritte. Bei der Kontrolle ein Jahr    stellte beschäftigt er, und neben seinem Sohn                  Elektro-Dreirad, begleitet
später in Nottwil will er sich von seiner besten     beliefern ihn weitere acht Bauern mit Schafs-                     von seiner Frau Heidi.
Seite präsentieren. Exakt 248 Meter bewältigt er     milch: «Ich bin stolz darauf, dass wir auch kleinen
mit Gehhilfen, verausgabt sich dabei aber so sehr,   Bauern im Berggebiet ein Einkommen ermögli-
dass er danach drei Tage ruhen muss. Er lernt, mit   chen», sagt Hofstetter.
seinen Kräften besser umzugehen: Bevor der Lift           Vor Weihnachten 2019 lancierte die Käserei
installiert war, kämpfte er sich die zwei Stock-     eine Aktion mit dem Grossverteiler Coop: Sie pro-
werke von seiner Wohnung ins Erdgeschoss nur         duzierte «Engeli Chäsli» und spendete vom Erlös
zweimal hinunter, nicht öfter. Und jedes Mal war     einen Teil ans SPZ. Dreitausend Franken kamen so
ein Kraftakt.                                        zusammen: «Ich habe in Nottwil so viel bekom-
      Aber er muss raus, will raus. Vor dem Unfall   men. Für mich war es wichtig, einmal etwas
kauften die Hofstetters einen zweiten Betrieb,       zurückgeben zu können.»
der von ihrem Sohn Lukas geführt wird. Peter              An drei Vormittagen pro Woche arbeitet er
Hofstetters grosses Ziel ist es, ihm eines Tages     als Buchhalter für die Kirchgemeinde der Pfarrei
beim Melken der Schafe helfen zu können. Dafür       Entlebuch. Und in seiner Freizeit fährt er gerne
muss ein Melkstand gebaut werden, um nicht           mit seinem Velo, einem Elektro-Dreirad. Siebzig
von Schaf zu Schaf gehen zu müssen. Manch-           Kilometer haben er und seine Frau Heidi an einem
mal schaut er auch bei Sohn Simon vorbei, der        Tag schon zurückgelegt, aber dabei soll es nicht
seinen Bauernhof übernommen hat. Anzutreffen         bleiben. Er möchte rund um den Napf fahren,
ist er heute häufiger im Büro der Emscha GmbH,       hundert Kilometer sind das.                           So hilft Ihr
der zwanzigjährigen Käserei, die sich seit 2017           Heidi Hofstetter legt eine Hand auf die Schul-   Mitgliederbeitrag
auf den zwei untersten Etagen seines Wohnhau-        ter ihres Mannes und sagt: «Peter war noch nie
ses befindet.                                        einer, der aufgegeben hätte.» Sie haben schwie-       Die Gönnerunterstützung
                                                     rige Monate gemeistert und sie gehen mit Zuver-       der Schweizer Paraplegiker-
«Engeli Chäsli» als Dankeschön                       sicht in die Zukunft. Ein Anliegen hatte sie stets:   Stiftung half Peter Hofstetter
Manchmal trifft man ihn auch in der Produktion.      Dass bei Sohn Lukas, der beim Unfall in der Nähe      wesentlich dabei, die Über-
Zielsicher fährt er im Rollstuhl durch die Gänge,    war, keine Schuldgefühle aufkommen. «Ich sagte        gabe der beiden Höfe an
zeigt die moderne Anlage und den Lagerraum           den anderen vier Söhnen: Nehmt Lukas zwischen-        seine Söhne Simon und Lukas
mit über viertausend Käselaiben. Rund hundert        durch in den Arm, und dankt ihm dafür, dass er        zu ermöglichen. Zudem
Läden in verschiedenen Deutschschweizer Kan-         so schnell und richtig gehandelt hat.»                konnte er ein Elektro-Dreirad
tonen beliefert der Käsereibetrieb, zwanzig Ange-                                          (pmb / we)     erwerben.

22 Paraplegie, September 2020
GÖNNER-VEREINIGUNG

Einladung zur 27. Mitgliederversammlung
Mittwoch, 21. Oktober 2020, 18.00 Uhr
Aula, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, 6207 Nottwil

Aufgrund der Corona-Pandemie musste unsere Mitgliederversammlung vom April verschoben werden. Wir freuen
uns, Sie nun am 21. Oktober 2020 zur diesjährigen Mitgliederversammlung begrüssen zu können. 1)

                                                                                 Traktanden
                                                                                  1. Begrüssung Heinz Frei, Präsident Gönner-Vereinigung
                                                                                  2. Genehmigung Protokoll der Mitglieder­versammlung
                                                                                     vom 24. April 2019 2)
                                                                                  3. Jahresbericht des Präsidenten
                                                                                  4. Informationen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS)
                                                                                  5. Abnahme der Jahresrechnung 2019 2)
                                                                                  6. Festlegung der Mitgliederbeiträge
                                                                                   7. Statutenänderung
                                                                                  8. Anträge von Mitgliedern 3)
                                                                                  9. Wahlen in den Vorstand
                                                                                 10. Wahl der Kontrollstelle
                                                                                 11. Informationen
                                                                                 12. Varia

1) Bei diesem Termin vorbehalten sind mögliche neue Anordnungen der Behörden zur Eindämmung der Corona-Pandemie.
2) Das Protokoll 2019 sowie die Jahresrechnung 2019 können auf www.paraplegie.ch/mitgliederversammlung eingesehen oder schriftlich angefordert werden
   bei: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Guido A. Zäch Strasse 6, 6207 Nottwil.
3) Anträge an die Mitgliederversammlung sind bis 28. September 2020 einzusenden an: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung,
   Guido A. Zäch Strasse 6, 6207 Nottwil oder an sps.sec@paraplegie.ch. Als Datum gilt der Poststempel resp. der E-Mail-Versand mit Lesebestätigung.
   Die zur Abstimmung vorliegenden Anträge von Mitgliedern werden auf www.paraplegie.ch ab 1. Oktober 2020 aufgeschaltet sein.

Anmeldung Mitgliederversammlung 2020
   Ich / Wir nehme/n an der Mitgliederversammlung teil: Anzahl Personen

Name / Vorname

Strasse

PLZ / Ort

Mitglieder-Nr.

      Bitte senden Sie den Anmeldetalon bis 1. Oktober 2020 an: Gönner-Vereinigung der Schweizer Paraplegiker-Stiftung,
      Guido A. Zäch Strasse 6, 6207 Nottwil.
      Anmeldung online: www.paraplegie.ch /mitgliederversammlung

                                                                                                                                 Paraplegie, September 2020 23
IN T EG R AT I O N

ParaWG
Die Bewohner sind eingezogen
Geplant war eine Wohngemeinschaft für junge Menschen mit Quer-
schnittlähmung. Die Nachfrage für die erste ParaWG der Schweiz war derart
gross, dass sogar zwei Wohnungen bezogen wurden.

                                                                                                       Oben Barrierefreie Überbauung
                                                                                                                           «Im Dorf».
                                                                                                          Mitte Letzte Vorbereitungen:
                                                                                                    Anfertigung einer Wanddekoration.
                                                                                                 Unten Michael Hürlimanns Einzug wird
                                                                                                   vom Schweizer Fernsehen begleitet.

Die Wände riechen nach frischer Farbe,            orientierte Integrationsmassnahme bei der
im Gang stapeln sich letzte Umzugskisten:         ParaWork in Nottwil.
Seit ein paar Tagen sind alle Zimmer der
ParaWG besetzt. Die beiden Wohnungen              Breite Unterstützung
dieses innovativen Projekts befinden sich in      Das Projekt wurde von der Schweizer Para-
der barrierefreien Überbauung «Im Dorf» in        plegiker-Stiftung vorfinanziert. Die ParaWG
Schenkon LU. Dass das Konzept so grossen          hilft jungen Querschnittgelähmten, beim
Anklang fand, freut Projektleiterin Andrea        Einstieg in Ausbildung und Beruf zusätz-
Violka von ParaHelp: «Es ist der Beweis,          lich den Schritt in die eigene Wohnung zu
dass eine solche Wohnform für junge Quer-         bewältigen. Die betreute Gruppe erleich-
schnittgelähmte wirklich gefehlt hat.»            tert den Weg in die Selbstständigkeit. Da
     Die acht Bewohner sind zwischen 18           die Invalidenversicherung das Wohntrai-
und 26 Jahre alt. «Es ist wohl ein Zufall, dass   ning finanziell unterstützt, wenn gewisse
sich für die erste Belegung der Zimmer nur        Kriterien erfüllt sind, sollte die Wohnform
junge Männer gemeldet haben», vermu-              ab 2021 selbsttragend sein.
tet Pflegefachfrau Violka. Künftig werden               Unterstützt wird das Projekt von meh-
sicher auch Frauen einziehen, denn der            reren Firmen und Stiftungen. IKEA Rothen-
Aufenthalt in der Para-Wohngemeinschaft           burg übernimmt die Wohnungseinrichtung
ist auf sechs Monate bis drei Jahre befris-       von der Planung bis zur Montage. Die Trisa
tet. «Wir passen die Dauer den persönli-          AG aus Triengen spendet Küchengeräte.
chen Erfordernissen an», sagt Violka. «Alle       Brack.ch stellt Geräte wie Fernseher oder
Bewohner haben das Ziel, nach der betreu-         Tumbler zur Verfügung. Als Stiftung betei-
ten Phase selbstständig wohnen und ihren          ligt ist unter anderem Folsäure Schweiz von
Alltag meistern zu können.»                       Maria Walliser. Und die Vermieter Inge und
                                                  Bruno Steiner haben der ParaWG monate-
Individuelle Betreuung                            lang die Miete erlassen.
Die WG-Bewohner weisen unterschiedli-                   Wenn sie ihre Zimmer fertig eingerich-
che Lähmungshöhen auf, daher benötigt             tet haben, werden die Bewohner der bei-
jeder eine massgeschneiderte Unterstüt-           den ParaWGs ihren grossen Schritt in die
zung. Dazu werden sie von einem Team              Selbstständigkeit mit einem Einweihungs-
aus Fachleuten begleitet. Zum Beispiel beim       apéro feiern. Wir wünschen allen ein erfolg-
Duschen oder Anziehen, beim Wäschewa-             reiches WG-Leben.             (manm / zvg)
schen oder bei der Organisation des All-
tags. Auch wenn ein Bewohner zum ersten                www.paraplegie.ch/parawg
Mal weite Strecken im öffentlichen Ver-
kehr zurücklegt, ist er froh, wenn er dabei
begleitet wird.
                                                   Die Sendung «Schweiz aktuell» von SRF
     Alle haben einen Job oder eine Lehr-
                                                   sendet Ende Jahr eine vierteilige Serie zur
stelle. Ein Bewohner macht eine Lehre als
                                                   ParaWG. Voraussichtliche Daten: 28.12.,
Kaufmann EFZ im Schweizer Paraplegiker-
                                                   29.12., 30.12., 4.1.2021.
Zentrum. Ein weiterer absolviert eine berufs-

24 Paraplegie, September 2020
KOMPE TENZ

Querschnitt – Rücken – Beatmung
«Der Neubau hat ein attraktives Umfeld geschaffen»
Mit der Inbetriebnahme des Neubaus wurde auch das Angebot überarbeitet:
Das SPZ fokussiert auf drei medizinische Kernthemen, für die es eine umfassende
Versorgungskette sicherstellt. Das ist einzigartig.

Es sind drei Worte, die ineinandergreifen:      und viel Erfahrung im Operationssaal. So
«Querschnitt – Rücken – Beatmung». Wer          drängte sich die Idee auf, diese Chirurgie
sie zum ersten Mal hört, dem sagen sie          auch für Menschen zu öffnen, die nicht an
wohl kaum etwas. Wer aber Hans Peter            einer Querschnittlähmung leiden.
Gmünder fragt, den Direktor des Schweizer
Paraplegiker-Zentrums (SPZ), sieht rasch das    Der Bereich Rücken ist in Ihrer
präzise Räderwerk hinter den drei medizi-       Strategie also eng verbunden mit
nischen Kernthemen von Nottwil. Der Neu-        dem Thema Querschnitt?
und Umbau der Klinik ist genauso darauf         Das Rückenthema leitet sich aus dem
ausgerichtet wie die Organisation der Mit-      Bedarf ab, querschnittgelähmte Menschen
arbeitenden, die sich um die bestmögliche       ganzheitlich zu betreuen – von der Akut-
Versorgung der Patientinnen und Patienten       behandlung über die Rehabilitation bis zur        Dr. med. Hans Peter Gmünder, Direktor
kümmern. Und dies in jeder Behandlungs-         Integration und lebenslangen Begleitung.           des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ)
phase von der Akutmedizin bis hin zur le­       Dadurch können wir Patientinnen und Pati-
benslangen Begleitung.                          enten ohne Querschnittlähmung ebenfalls
                                                auf der gesamten Versorgungskette behan-
Hans Peter Gmünder, die SPZ-Infra-              deln. Sei das eine Operation, eine Zweit-    spitälern und Uni-Kliniken. Selbstverständ-
struktur erlaubt mehr Operationen.              meinung, eine Nachbehandlung oder eine       lich stellen wir unser Wissen allen Menschen
Was hat dies für Folgen?                        komplexe ambulante Rückentherapie. Die-      zur Verfügung, die sich in einer hochkriti-
Die Modernisierung der Klinik hat uns vor       ser Ansatz unterscheidet uns von anderen     schen Lebenssituation befinden.
allem eine grosse Chance geboten. Da wir        Spitälern.
aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen                                                       Mit den neuen Bettenstationen
den Bereich Operation und Intensivpflege        Und weshalb ist die Beatmung für             können auch Querschnittgelähmte
ohnehin sanieren mussten, konnten wir           Nottwil so wichtig?                          mit allgemeinen akutmedizinischen
gleichzeitig unserer Vision näher kommen,       Eine hohe Querschnittlähmung beein-          Problemen betreut werden.
national und international eine Spitzen-        trächtigt die Atmungsmuskulatur. Betrof-     Bisher mussten sich solche Akutfälle aus
position einzunehmen. Die neue Infrastruk-      fen sind Atmen, Schlucken und Sprechen,      Kapazitätsgründen in anderen Spitälern
tur ermöglicht ein dynamisches Umfeld,          auch Lungenentzündungen sind oft eine        behandeln lassen, die über wenig Erfah-
das uns attraktiv macht für ein hochste-        Gefahr. Daher hat Nottwil eine dreissig-     rung mit den typischen Anforderungen
hendes Chirurgenteam. Damit decken wir          jährige Erfahrung in der Beatmungsme-        einer Querschnittlähmung verfügen. Nicht
das ganze Spektrum der Wirbelsäulen- und        dizin; interprofessionelle Teams arbeiten    selten kamen sie nach einigen Tagen oder
Rückenmark-Chirurgie ab.                        eng zusammen, um die betroffenen Men-        Wochen mit einer querschnittspezifischen
                                                schen von der künstlichen Beatmung durch     Komplikation dann doch zu uns. Deshalb
Und dies erfordert höhere Fallzahlen?           Maschinen zu befreien. Darin sind wir sehr   haben wir den akutmedizinischen Bereich
Wir möchten Rückenverletzungen und              erfolgreich und einzigartig.                 beim Umbau gestärkt. Mit den zusätzlichen
Rückenleiden auf dem höchsten Niveau                                                         Betten, der erweiterten Intensivstation und
operieren können, das ist der Auftrag von       Profitieren auch Covid-19-Betroffene         neuen Operationssälen können wir jetzt
der Schweizer Paraplegiker-Stiftung und das     vom SPZ?                                     auch in der Akutmedizin speziell quer-
sind wir unseren Patientinnen und Patien-       Ja. Unsere Expertise in diesem schwierigen   schnittgelähmten Menschen eine bessere
ten schuldig. Damit wir diese Qualität errei-   Bereich hat sich herumgesprochen und wir     Versorgung anbieten.
chen, braucht es ein Team an Spezialisten       bekamen Überweisungen aus den Kantons-                                     (kste / we)

                                                                                                                   Paraplegie, September 2020 25
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