Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...

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Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...
Mit Beiträgen und
                              Interventionen von:
                              Doris Bianchi
                              Toni Bortoluzzi
                              Brenda Mäder
                              André Müller
                              u.a.

Pensionskasse =
Kartenhaus?

Wie solide ist die zweite
Säule? Wir bieten eine
Standortbestimmung.
Eine frische Sicht. Und ein
Plädoyer für mehr Fairness.
Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...
Schweizer Monat SONDERTHEMA
                SONDERTHEMa Mai
                            Dezember
                                2015  2015  

«Die zweite Säule war nie als
Kartenhaus gedacht. Aber es besteht
akute Einsturzgefahr. Sie bedarf
darum dringend einer Reform, die
zurück zur soliden Grundidee führt:
Jede Versicherte, jeder Versicherte
spart sein Kapital für das eigene
Alter an. Die Jungen haben recht,
wenn sie Generationengerechtigkeit
einfordern.»
Heinz Soom, Geschäftsführer der Valitas-Sammelstiftung BVG

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Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...
Pensionskasse = Kartenhaus?                                                                  Schweizer
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Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung.
Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr Fairness.

                 D
                                     as 3-Säulen-Vorsorge-Modell der Schweiz gilt in Europa als
                                     ­vorbildlich solide. Und solide war es auch, als es vor geraumer
                                      Zeit konzipiert und umgesetzt wurde. Heute, gut drei Jahrzehnte
                                      später, bleibt die Idee einer breiten Abstützung der Vorsorge
                                      unverändert umsichtig. Die drei Säulen indes beginnen zu
                                      wackeln. Das grösste Problem dabei ist nicht, dass die Politik den
                 Reformbedarf nicht längst erkannt hätte. Sie hat ihn in der Tat erkannt, denn für
                 diese Erkenntnis genügen basale Rechenkompetenzen. Doch weil Reformen stets für
                 den einen oder für die andere schmerzhaft sind – im vorliegenden Fall bedeuten sie
                 im Kern entweder mehr Einzahlungen der Aktiven oder weniger Auszahlungen an die
                 Rentner –, drückt sich die Politik davor, den Leuten reinen Wein einzuschenken.

                 Nach «Zeitbombe?», «Der mündige Versicherte», «Vorsorgen oder versorgen?»,
                 «Realitätscheck für die Schweizer Altersvorsorge» folgt mit «Pensionskasse =
                 Kartenhaus?» das fünfte Spezial zum Thema, das wir zusammen mit der Valitas-­
                 Sammelstiftung BVG lancieren.1 Wir verfolgen auch mit dieser Sonderpublikation
                 einen zutiefst aufklärerischen Impetus. Wenn die Politik Verschleierung praktiziert,
                 so sehen wir unsere Aufgabe darin, den Schleier mit Argumenten, Zahlen
                 und Fakten zu lüften.

                 Diesmal haben vor allem die Jungen das Wort. Denn sie sind es, die nach heutigem
                 Stand der Dinge die Zeche bezahlen dürften. Und sie streichen hervor: Es geht in
                 der beruflichen Vorsorge nicht um Rentenklau an den heutigen Bezügern, wie uns
                 Neunmalkluge weismachen möchten. Es geht um Kapitalklau an den heutigen
                 Bezahlern.

                 Die Lektüre lohnt sich. Garantiert.
                 Die Redaktion

                 1
                     Bestellungen früherer Ausgaben bitte an: bestellung@schweizermonat.ch

                                                                                                                                       3
Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015  

Inhalt
                            Doris Bianchi, Maurus Zeier,
                            Hans Rentsch und Marco Betti
                     06	
                        streiten sich auf zwei Seiten
                            über drei Säulen und ein Problem.

                            André Müller
                     16	
                        fragt sich, warum ohne Alte kein Staat
                            mehr zu machen ist und was das
                            für die Jungen bedeutet.

                            Marcel Schuler
                     19	
                        sagt, dass die heutige Altersvorsorge
                            auf Kosten der morgigen Rentner
                            ­finanziert wird – wodurch deren
                             ­Freiheit abnimmt.

                            Jean-Pascal Ammann
                     22	
                        möchte den Rentenkuchen                     Kolumnen
                            in Zukunft auf die dänische Art         14   Gut zu wissen #1
                            backen.                                 15   Facts & Figures
                                                                    18   Gut zu wissen #2

                            Brenda Mäder
                     24	
                        stellt radikale Forderungen –
                            wenn diese das System auf den Kopf
                            stellen, umso besser!

                            Toni Bortoluzzi
                     26	
                        erklärt, weshalb er froh ist, keine
                            2. Säule zu haben – und sich trotzdem
                            für deren Reform einsetzt.

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Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015  

             06
Kapitalisten, wo bleibt
   denn das Vertrauen
 in den Kapitalismus?
            Doris Bianchi

                            22
                            Die Politik sucht Kompromisse
                            zwischen links und rechts,
                            nicht zwischen den Generationen.
                            Jean-Pascal Ammann

26   Ich habe Glück gehabt: Ich habe ­keine 2. Säule!
     Als selbständiger Schreiner habe ich immer
     in die 3. Säule eingezahlt. Ich bin froh, dass ich
     bei dieser staatlich-­dirigistischen ­Veranstaltung
     nicht mitmachen musste. Ich hätte auch in
     der AHV nicht mitgemacht, wenn ich nicht hätte
     mitmachen müssen. Meine Überzeugung war stets:
     Ich kann für mich selber sorgen.
     Toni Bortoluzzi

                                                                                    5
zwei Seite
                   Drei Säulen
                                 in Problem

                                              Verkrustete Vorgaben,
                                              unrealistische Zins­versprechen
                                              und Reform­resistenz:
                                              Die berufliche Vorsorge ist
                                              erstarrt. Wie lässt sich das
                                              ­System dennoch bewegen?
                                               Ein Streitgespräch.
                                              René Scheu diskutiert mit
    Bildlegende.
                                              Doris Bianchi, Hans Rentsch,
                                              Maurus Zeier und Marco Betti
                        1

6
Debatte live, photographiert von Philipp Baer.

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                                   err Zeier, Hand aufs Herz –
                                                                      Doris Bianchi
                                   haben Sie Ihren Vorsorgeausweis
                                                                      ist promovierte Juristin, stellvertretende Sekretariatsleiterin
                                   schon einmal näher angeschaut?     ­Schweizerischer Gewerkschaftsbund; Schwerpunkt Sozialpolitik
                                   Zeier: Ich kenne den Vorsorge-      und Sozialversicherungen.

                                   ausweis vom Studium her und
                                                                      Hans Rentsch
                                   von meinem früheren Arbeit-
                                                                      ist promovierter Ökonom, freier Wirtschaftspublizist und Autor
                                   geber. Wenn wir aber ehrlich       diverser wirtschaftspolitischer Publikationen für Avenir Suisse.
                                   sind, kennen ihn die meisten
                                   Leute nicht.                       Maurus Zeier
                                 Wissen Sie, wie hoch die             ist Betriebsökonom und Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz.

­ erwaltungskosten Ihrer Pensionskasse sind?
V
                                                                      Marco Betti
Zeier: Nein. Jetzt haben Sie mich erwischt!
                                                                      ist Pensionskassenspezialist.
Auf unserem Vorsorgeausweis steht dieser Aufwand schwarz
auf weiss vermerkt. Frau Bianchi, wie hält es die Pensionskasse       René Scheu
des Gewerkschaftsbundes mit der Kostentransparenz?                    ist Herausgeber und Chefredaktor des «Schweizer Monats».
Bianchi: Da steht auch nichts drauf. Aber dies hat einen nach-
vollziehbaren Grund: Bei den Gewerkschaften zahlt der Ar-
beitgeber alle Verwaltungsgebühren. Die Versicherten sind von
dieser Last befreit.
Das Ziel des Gewerkschaftsbundes ist das Rentenalter 62               der Eigenverantwortung. Die meisten Menschen können mit
und ein Lohnersatz von 75 Prozent – so hat es uns Daniel Lampart      ihrem Kapital umgehen. Für das Versagen einiger weniger alle
einst erläutert. Glauben Sie weiterhin daran?                         zu bestrafen, ist völlig daneben. Darüber hinaus ist klar: den
Bianchi: Das traf in der Tat früher zu. Seit ich die Geschäftsfüh-    Bezug zu verbieten wäre bloss Symptombekämpfung. Das kann
rung der Pensionskassen übernommen habe, musste ich einen             es definitiv nicht sein.
Primatwechsel durchführen: vom Leistungs- zum Beitrags­               Bianchi: Ich freue mich, wenn nun auch die Jungfreisinnigen
primat. Wir sind immer noch bei sehr guten 70 Prozent des             indirekt das System der Ergänzungsleistungen loben, das sehr
letzten versicherten Lohnes. Diese Leistung kann sich trotz           gut funktioniert.
Wechsel sehen lassen.                                                 Zeier: Die Gewerkschaften werden sich nicht mehr lange über
Macht sich Ernüchterung breit? Um es mit einer Metapher               die neue Generation der FDP freuen. Wir Jungfreisinnigen sa-
Ihres Vorgängers zu sagen: Das darf als ein sehr gut ausgestattetes   gen: es braucht eine Reform, aber die muss viel weiter gehen als
Auto gelten, aber nicht mehr als Luxuskarosse.                        die von Berset geplante…
Bianchi: Jetzt ist es kein Rolls-Royce mehr, aber immer noch          Bianchi: Zurück zur Sache: die Rente ist eine stabilere Vorsorge
ein Mercedes.                                                         als der Kapitalbezug. Aber Leute mit tiefen Einkommen, die
Herr Rentsch, Sie sind pensioniert, geben aber selbstverständlich     rund 100 000 Franken zusammengespart haben, sollten auch
weiterhin Vollgas. Setzen Sie auf eine Rente der beruflichen          das Geld beziehen können. Die wollen keine Rente, auch nicht
Vorsorge, oder haben Sie das ganze Kapital schon bezogen?             mit einem Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent – selbst
Rentsch: Als Liberaler liegt mir an der Verfügungsmacht über          wenn sie davon profitieren. Diese Leute wollen das Kapital,
mein Eigentum. Ich habe in meiner Berufskarriere nie gewusst,         weil sie damit endlich jemand sind. Das ist aus meiner Sicht ein
wer mein Kapital verwaltet. Das war für mich Grund genug, das         legitimes Motiv.
Kapital zu beziehen und damit die Verwaltung meines Kapitals          Der Kapitalbezug muss also bleiben: Das halten wir gerne so fest,
den anonymen Gremien zu entziehen. Ich habe dies im Wissen            Frau Bianchi. Somit stellen Sie sich gegen den Bundesrat,
getan, dass ich, rein statistisch gesehen, davon profitieren          mit dem Sie sonst zu sympathisieren pflegen?
würde, wenn ich eine Rente bezöge. Denn ich gehöre zu der Ge-         Bianchi: Der Kapitalbezug kann in einem Zwangssparsystem
neration, die bereits die Ersparnisse der Aktiven aufzehrt.           nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Frage wird sein, wel-
SP-Bundesrat Alain Berset will den erst seit 1995 möglichen           ches Netz wir sonst noch haben für jene Leute, die diese Eigen-
Kapitalbezug einschränken beziehungsweise verbieten, damit die        verantwortung nicht so gut wahrnehmen können, wie sie sich
Leute – angeblich – das Kapital nicht mehr verjubeln können und       selbst das womöglich wünschen.
nachher auf Ergänzungs- und Sozialleistungen angewiesen sind.         Rentsch: Leute, die freiwillig nichts gespart haben, könnten in
Was halten Sie von dieser Idee, Herr Zeier?                           der Tat einen Anreiz haben, das Kapital zu beziehen, es zu ver-
Zeier: Gar nichts! Das Angesparte gehört ja von Gesetzes wegen        pulvern und dann über Ergänzungsleistungen zur AHV auf ein
dem Versicherten. Es geht hier um eine fundamentale Frage             Einkommen zu kommen, das rund vierzig Prozent über dem

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Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015  

Einkommen der AHV-Maximalrente liegt. Als Ökonom muss                  Bianchi: Gut gedacht, nur eben nicht zu Ende gedacht: Wie wol-
ich hier zur Vorsicht rufen! Man darf die Anreize nicht verken-        len Sie einem Karosseriespengler erklären, dass sein Mindest-
nen, die hier eingebaut sind – und die eine Verbindung haben           umwandlungssatz an die Lebenserwartung von Uni-Professo-
zu den anderen Systemen, zur AHV und zu den EL. Das Leben              ren gekoppelt ist? Zudem: wenn die fixe Rente so miserabel ist,
auf Kosten anderer zu fördern, war bestimmt nicht der Wille            weil Sie auf Bundesobligationen abstellen, die ja nicht das
des Gesetzgebers. Das gehört geändert.                                 ganze Anlagespektrum einer Pensionskasse abbilden, gibt es
Sie wollen als Liberaler den Kapitalbezug verbieten?                   einen Aufstand. Eine miese Fixrente mit Aussicht auf Besse-
Rentsch: Nein. Man müsste auf der anderen Seite etwas ändern,          rung schluckt kein Rentner. Die Leute wollen im Alter ein bere-
auf der Seite der Zuschüsse – wer sein Kapital bezieht und ver-        chenbares Einkommen.
pulvert, verzichtet auf allfällige Ergänzungsleistungen.               Zeier: Die Leute wollen vor allem Transparenz – und keine
Bianchi: Das ist weder wünsch- noch durchsetzbar!                      wohlfeilen Versprechungen, die am Ende ohnehin nicht einge-
Schon jetzt zeichnet sich ab: Vorsorgefragen sind ideologisch          halten werden. Das ist typisch Gewerkschaften: man sagt, es
und politisch aufgeheizt. Herr Zeier, was würden Sie als Jungspund     funktioniert nicht, bloss weil man politisch dagegen ist! Was
ändern, wenn Sie denn könnten?                                         Sie machen, ist reine Illusionsbewirtschaftung. Oder Sie haben
Zeier: Wir Jungfreisinnigen wollen die Entpolitisierung des            etwas anderes im Sinne: mehr Umverteilung!
Umwandlungssatzes und des Rentenalters. Oder positiv for-              Bianchi: Das ist eben der Mehrwert der beruflichen Vorsorge,
muliert: die Koppelung von Rentenalter und Umwandlungssatz             dass wir gemeinsam im Kollektiv Anlageschwierigkeiten meis-
an die Lebenserwartung. Und wir wollen endlich die freie Pen-          tern – durch das, was Sie Umverteilung nennen, was aber
sionskassenwahl der Versicherten.                                      nichts anderes ist als Risikotragung im Kollektiv. Wenn man
Bianchi: Was heisst denn hier «entpolitisieren»? Jede Formel           das alles individualisiert, kann man einfach ganz auf die dritte
hat letztlich eine politische Bewertung dahinter. Ich bin ge-          Säule setzen.
spannt auf Ihre Vorschläge, wie man einen entpolitisierten             Rentsch: Es gibt sozialdemokratisch regierte bzw. stark sozial-
Umwandlungssatz festlegen würde.                                       demokratisch geprägte Länder, Dänemark und Schweden, die
Zeier: Man kann das Rentenalter an die Lebenserwartung kop-            versicherungsmathematisch saubere Lösungen haben. Die Ver-
peln. Auch den Umwandlungssatz kann man objektiv festle-               sicherten wählen ab 61, wann sie in Pension wollen. Arbeiten
gen. Ich sehe da keinerlei politische Färbung. Sie wollen ein-         sie länger, erhöht das die Rente. Das wird versicherungsmathe-
fach nichts am Status quo ändern – weil er in Ihre Hände spielt.       matisch berechnet. Ich frage mich, warum das dort möglich ist,
Gehen wir von folgendem Szenario aus. Frau X hat 100 000 Franken       während wir seit Jahrzehnten eine solche Diskussion führen,
Alterskapital. Sie wird mit 64 Jahren regulär pensioniert:             ohne dass eine nachhaltige Lösung sichtbar wäre.
Ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 23 Jahre.               Ja, Herr Rentsch, warum? Sagen Sie es uns!
Der risikoarme Zins beträgt um die 0 Prozent. 100 000 geteilt durch    Rentsch: Das dürften Sie nicht gerne hören, ich sage es aber
23 Jahre gibt etwa 4,3 Prozent. Der korrekt gerechnete Umwand-         trotzdem: weil wir ein halbdirektes politisches System haben.
lungssatz müsste also ungefähr 4,3 Prozent sein. De facto beträgt er   Wir mussten und müssen immer Referenden gewinnen oder
– dank politischer Bestimmung – 6,8 Prozent. Er soll jetzt gemäss      vermeiden. Dieser Umstand hat auch die berufliche Vorsorge
­angedachter Reform gesenkt werden auf 6 Prozent. Schon herrscht       geprägt. Das rächt sich nun mit einem überdeterminierten, bü-
 Aufruhr. Das kann doch nicht sein. Herr Rentsch – wo liegt das        rokratischen System, über das alle klagen. Wer es wirklich re-
 ­Problem?                                                             formieren will, wird aber an der Urne scheitern – weil natürlich
Rentsch: Wir haben zu viele Pflöcke eingeschlagen. Es ist, als         niemand auf die gemachten Versprechungen zu seinen Guns-
ob Sie ein quadratisches Feld abstecken mit vier Pflöcken.             ten verzichten will, umso mehr als es sich um Rechtsansprüche
Dann müssen sie einen Zaun darum herum machen und die                  handelt.
Seitenlänge ist zehn Meter. Sie bekommen aber nur 35 Meter             Ich werde nun erstmals unseren Pensionskassenspezialisten
Draht. Sie müssen irgendeinen Pflock verstellen. Bei uns ist der       Marco Betti aktivieren. Marco, siehst du es als realistisch an,
falsche Pflock invariabel: Der Umwandlungssatz ist gesetzlich          dass wir eines Tages eine versicherungsmathematisch saubere
vorgeschrieben. Diesen Pflock müsste man verstellen. Und               Lösung haben werden wie in Schweden – oder bleibt dies
zwar lieber gestern als heute!                                         auf absehbare Zeit ein frommer Wunsch?
Ich habe mir eine Laienlösung überlegt. Man koppelt die Rente an       Betti: Es gibt ja bereits solche Modelle, wie zum Beispiel jenes
die Lebenserwartung und den risikoarmen Zins, man setzt eine           der PwC. Herr Rechsteiner hat das mit Vehemenz bekämpft, als
­Formel ein, und das ergibt einen ehrlichen Umwandlungssatz –          es bei den SBB zur Debatte stand. Ich weiss, ehrlich gesagt,
 das ist der Fixteil. Wenn die Renditen auf dem Kapital grösser sind   auch nicht, wie wir in absehbarer Zeit aus dieser Bredouille
 als erwartet, gibt es zusätzlich einen variablen Teil. Fixteil und    kommen können. Es gibt so viele Partikularinteressen. Bald wird
 ­variabler Teil: wie wär’s damit, Frau Bianchi?                       das AHV-Rentenalter mit dem Argument der Gleichstellung bei

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«Wir Jungfreisinnigen wollen
die Entpolitisierung des
­Umwandlungssatzes und des
 Rentenalters. Oder positiv
 ­formuliert: die Koppelung von
  Rentenalter und Umwandlungs-
  satz an die Lebenserwartung.
  Und wir wollen endlich die
  freie Pensionskassenwahl
  der Versicherten.»
Maurus Zeier

den ­L öhnen gefordert. Das sind alles Lösungen, die sich –         ben 1972 ein 3-Säulen-System beschlossen, ein Umlage­system
­plastisch ausgedrückt – in den eigenen Schwanz beissen.            mit AHV, mit enormer Umverteilung und ein kapital­gedecktes
Frau Bianchi, Sie kennen sich sehr gut aus mit Pensionskassen.      System, dessen Prinzip lautet: die Renten werden finanziert
Welches wäre aus Ihrer Sicht die optimale Lösung, wenn es nicht     aus den Erträgen des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks.
die ist, die wir bereits haben?                                     ­Davon sind wir weit entfernt. Wir haben das System g­ eritzt. Es
Bianchi: In Schweden gibt es neben diesem Pensionskassen-            ist im aktuellen Zustand ein Verstoss gegen einen früheren
modell eine umlagefinanzierte Vorsorge, ausserdem viele GAV-         Volksentscheid.
basierte Altersrücktrittsmodelle. Wir haben nun aber ein an-        Herr Zeier, pro Jahr werden in der beruflichen Vorsorge je nach
deres politisches System. Das spielt bei der Lösungsfindung         ­Studie und Berechnung zwischen drei und acht Milliarden von den
eine so wichtige Rolle wie die Versicherungsmathematik. Ich          Einzahlenden zu den Empfängern umverteilt. Es geht also bereits
staune, wenn politische Kreise, die sich ansonsten für die di-       ein Teil Ihres Kapitals aus der 2. Säule verloren, aber Sie spüren
rekte Demokratie aussprechen, bei Aspekten wie Rentenhöhe            nichts. Schweigen darum die Jungen – Sie natürlich ausgenommen –
und -alter die Sache an Technokraten delegieren wollen. Wir          so beharrlich?
entscheiden solche Fragen an der Urne – zum Glück! Wir ha-          Zeier: Dass man es nicht spürt, ist Teil des Problems. Das politi-
ben kein Altersvorsorgechaos. Das redet man sich politisch ein,     sche System trägt insofern zum Problem bei, als man nur von
aber die Systeme sind intakt.                                       Rentenklau reden muss, um die Leute auf seine Seite zu brin-
Rentsch: Die zweite Säule verteilt gegen vier Milliarden pro Jahr   gen – gegen alle Vernunft und Evidenz! Es wäre technokra-
von den Aktiven zu den Rentnern, damit die Rentenhöhe ge-           tisch, wenn ein Gremium den Umwandlungssatz oder das Ren-
halten werden kann. Sie können nicht sagen, dieses System sei       tenalter bestimmen würde. Da sind wir dagegen. Unser Punkt
stabil – es ist gesetzeswidrig, was wir machen! Punkt. Wir ha-      ist ein anderer: mehr Mathematik, also mehr Ehrlichkeit,

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Maurus Zeier, photographiert von Philipp Baer.

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­ eniger Politik. Mein Eindruck: je länger es geht und je länger
w                                                                    das gewohnte Leben weiterführen zu können, sondern wir
man wartet, desto klarer zeichnet sich ab, dass aus der 2. eine      müssten uns mit der nackten Existenz begnügen. Dann sind
zweite 1. Säule wird. Dann sind die Pläne des Gewerkschafts-         wir bei Herrn Rentsch. Ich bezweifle, dass das Schweizer Volk
bundes und der Linken erfüllt. Kompliment, Frau Bianchi!             mit einem solchen Downsizing einverstanden wäre.
Frau Bianchi, Sie unterscheiden zwischen Risikodiversifikation       Rentsch: Sie haben politisch natürlich recht. Das ist die Kondi-
und Umverteilung. Was denken Sie zur momentanen Lage:                tionierung, mit der man die Abstimmungen gewonnen hat. Die
Gibt es diese Umverteilung jenseits der Risikodiversifikation oder   meisten Leute kennen die Details und Zusammenhänge nicht.
gibt es die aus Ihrer Sicht nicht? Denn es ist klar: auf die Dauer   Laut Vox-Analyse haben die Jungen unter 25 im Jahre 2010 das
darf es sie von Gesetzes wegen nicht geben.                          Referendum gegen den angeblichen Rentenklau unterstützt.
Bianchi: Momentan reichen die erwirtschafteten Erträge nicht         Dass Sie noch keine Jungen getroffen haben, die sich gegen
aus, um die technischen Zinssätze für die Renten sauber zu fi-       diese Umverteilung wehren, Frau Bianchi, liegt daran, dass die
nanzieren. Es reicht nicht, weil der dritte Beitragszahler, der      Rechnung erst in ferner Zukunft präsentiert wird.
Kapitalmarkt, nicht hergibt, was man sich erhoffte. Das kann,        Herr Rentsch, dann ist Ihre Message, dass es keine sicheren Renten
das dürfte sich aber auch wieder ändern. Wir reden im Bereich        gibt, aber mit der Unsicherheit lässt sich keine Politik machen?
der Vorsorge von einem langen Anlagehorizont. Ich staune,             Rentsch: Ich habe da nun einmal eine ganz grundlegend andere
wie auch grosse Kapitalismusfreunde jetzt sagen, die nächsten         Sicht, gerade als Ökonom. Wenn Sie den Leuten ein System
vierzig Jahre werde sich die Anlagewelt mit einem Zinssatz von        versprechen, welches die Fortführung des gewohnten Lebens-
gegen null oder negativ bescheiden müssen. Kapitalisten, wo           standards staatlich garantiert, können Sie sicher sein, dass das
bleibt denn das Vertrauen in den Kapitalismus? Schon in zehn          private Sparverhalten der Leute dadurch beeinflusst wird. Das
oder zwanzig Jahren kann die Situation ganz anders aussehen.          ist ein Problem des Wohlfahrtsstaats. Wenn Sie den Leuten zu
Selbst den Gewerkschaften bleibt nur die Hoffnung auf die             viele staatliche Garantien versprechen, verändern die deren
Segnungen des Kapitalismus – das nenne ich mal eine schöne            Verhalten. Diese Anreizwirkungen sind fundamental, werden
­Konstellation!                                                       aber kaum thematisiert. Leider.
Bianchi: Ein Kapitaldeckungssystem, deren Verantwortliche             Bianchi: Ich denke nicht, dass in der Schweiz zu wenig gespart
nicht an Erträge glauben, ist ein Unding. Dann können wir             wird. Wenn wir die zweite und dritte Säule und Wohneigentum
gleich alles auf Umlage setzen. Schauen Sie: die Umvertei-            zusammenrechnen, kommt einiges zusammen. Wir dürfen
lungsproblematik ist ein Thema, das vor allem in den Publika-         aber nicht vergessen, dass auch das Konsumieren quasi eine
tionen der Pensionskassen sehr gehypt wird. Ich habe noch             Bürgerpflicht ist. Ansonsten läuft der Laden nicht. Das Leis-
keinen jungen Beitragszahler getroffen, der mir mit grosser           tungsziel der Altersvorsorge ist ein guter Wirtschaftsmotor.
Empörung gesagt hätte: «So geht das nicht, wir zahlen für die         Auch die Alten bringen Gelder in Umlauf. Es wäre für die Volks-
Rentner, also proben wir den Aufstand.»                               wirtschaft nachteilig, wenn die Alten auf niedrigem Niveau
Rentsch: Wir haben seit 1985 das Volk so konditioniert, dass ge-     ­gehalten würden.
nau das erwartet wird, was Frau Bianchi gesagt hat: gesicherte,       Rentsch: Ich spreche eben davon, dass obligatorisches Zwangs-
immergleiche Renten. Das ist in einem kapitalgedeckten Sys-           sparen ersetzt wird durch freiwilliges privates Sparen! Dann
tem schlicht nicht möglich, weil der Ertrag des volkswirt-            haben Sie nicht weniger Konsum, sondern Sie senken bloss das
schaftlichen Kapitalstocks risikobehaftet ist. Man kann den           Zwangssparen – und haben eine viel bessere Anreizstruktur
Leuten nicht fixe Renten aus der 2. Säule versprechen. Das            und stärken die Eigenverantwortung.
kann man in der AHV vielleicht bis zu einem gewissen Grad,           Herr Zeier, es scheint, als wären sich Frau Bianchi und Herr Rentsch
aber auch dort ist es problematisch. Die Linke war immer skep-       in einem Punkt einig: Echte Reformen sind nicht möglich,
tisch gegenüber der 2. Säule. Eigentlich wollten sie lieber eine     weil sie Leistungskürzungen oder Beitragserhöhungen bedeuten
Volkspension. Die haben sich angepasst, aber sie wollen immer        würden. Das nehmen die Leute nicht hin. Sind Sie mit dieser
noch die AHV ausbauen. Wir stehen mittendrin in einer Verun-         ­Diagnose einverstanden?
reinigung des Systems.                                               Zeier: Aus zweckoptimistischer Sicht muss ich Herrn Rentsch
Bianchi: Herr Rentsch hat recht, was die Skepsis betrifft. Aber      ­widersprechen. Das PwC-Modell ist meiner Meinung nach hoch-
er vergisst zu sagen, dass wir die sind, die sich für gute Renten     interessant. In Übereinkunft mit den Rentnern haben sie Anpas-
einsetzen und nun sagen, auch die 2. Säule müsse ein leis-            sungen vorgenommen. Josef Bachmann, der Geschäftsführer der
tungsstarkes System sein. Und zweitens: die berufliche Vor-           PwC-Pensionskassen, hat praktisch mit jedem Rentner gespro-
sorge ist nun einmal kein reines Kapitaldeckungssystem. Wir           chen und die Situation erklärt: die Jungen finanzieren die Alten.
müssen uns an Leistungsziele halten, die die Bundesverfas-            Das wollen die Alten nämlich selbst nicht – und sie haben einge-
sung vorgibt. Entweder wir revidieren die Verfassung und sa-          willigt, die Vorsorge im Rahmen des Möglichen zu reformieren.
gen, es gehe nicht mehr, mit AHV- und Pensionskassenrente             Reformen sind also möglich, auch im Rahmen eines Urnengangs!

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Rentsch: Strukturelle Reformen wirken nicht schnell genug.           Publikum: Wir haben jetzt fast nur über Technizitäten zur
Zum Beispiel die Erhöhung des Rentenalters. Das dauert lange,        2. Säule geredet, gar nicht aber über die 1. Säule, wo die wirk­
bis es wirkt – dafür wirkt es nachhaltig. Hingegen wirkt die Er-     lichen Probleme drohen. Also auch nicht über die absehbar im-
höhung der Mehrwertsteuer sofort – und darauf dürfte am              mer stärker werdende Umverteilung – da werden immer mehr
Ende die ganze Diskussion hinauslaufen, wenn wir ehrlich             Milliarden fliessen in den kommenden Jahren. Wie sehen Sie
sind: wir erhöhen die Mehrwertsteuer um ein paar weitere Pro-        als Podium hier die Möglichkeiten, um aus diesem Teufelskreis
zente, um die Vorsorge zu sanieren. Und haben wieder Ruhe            hinauszukommen?
für ein paar Jahre.                                                  Bianchi: Die Zukunft der Altersvorsorge liegt in der Stärkung
Stichwort Rentenalter, das kommt mir sehr gelegen:                   der AHV. Aktuell sind wir in einem umlagefinanzierten System
Ich arbeite gerne bis 70, wenn ich fit bin.                          wesentlich leistungsfähiger unterwegs als in der 2. Säule. Die
Woher kommt diese ­Fetischisierung des Rentenalters 65?              AHV entwickelt sich, allen Unkenrufen zum Trotz, solide. Laut
Wir leben doch nicht mehr zu Bismarcks Zeiten.                       Couchepins früheren Prophezeiungen wäre die AHV heute
Bianchi: Diesen Fetisch gibt es nicht. Viele Leute, die vom Ar-      bankrott. Ist sie aber nicht, denn sie schreibt schwarze Zahlen.
beitgeber darum gebeten werden, länger zu arbeiten, machen           Sie wird auch nicht bankrottgehen, wenn die Babyboomer dran
das ja auch jetzt schon. Die Normalität sieht aber leider anders     sind. Da ist eine Zusatzfinanzierung über die AHV eine vertret-
aus. Heute sind viele Firmen froh, wenn einer das Rentenalter        bare Option. Die Alternative wäre es, alles privat anzusparen.
erreicht und weg ist.                                                Das machen die Leute aber nicht mit, da die Erträge so gering
Zeier: Die Beschäftigungsquote der Älteren ist sehr hoch in der      sind. Da ist eine solidarische Umlagefinanzierung weit, weit
Schweiz. Was Sie sagen, ist reinste Panikmache. Das Problem          effizienter.
sind doch gerade die hohen Sozialabgaben im Alter, die gesetz-       Rentsch: Wir haben uns bei der Analyse der Probleme der AHV
lich festgelegt werden – zu ihnen zählen auch jene in die beruf-     nur zeitlich getäuscht. Die Probleme kommen. Die sind nicht
liche Vorsorge. Wir werden bestimmt immer älter, also auch           zu vermeiden. Bisher war es leicht zu sagen, das wären alles
immer teurer, aber nicht unbedingt produktiver!                      Kassandrarufe von Bürgerlichen. Gerade jetzt hat man in der
Rentsch: Ich bin absolut einverstanden mit Ihnen, Herr Scheu.        Zeitung lesen können, dass die Ausgaben höher waren als die
Man muss arbeiten – und irgendwann muss man nicht mehr               Einnahmen. Warum hat sich die Prognose im Timing so ver-
arbeiten: Solche politischen Vorgaben sind aus anreiztheoreti-       schoben? Wegen der Immigration, das ist ganz klar. Wenn man
scher Sicht verheerend. Eine Totalflexibilisierung der Pensio-       davor die Augen verschliesst, ist das reine Politik, weil man
nierung wäre längst fällig. Und das ist ja nun wirklich keine re-    weiss, man kommt damit an bei den Leuten. Die Probleme sind
volutionäre Idee.                                                    ungelöst. Auch die Berset-Revision wird sie nicht nachhaltig
Wollen beziehungsweise können wir uns, gut helvetisch,               lösen, weil wir nicht bereit sind, ein versicherungsmathema-
zum Schluss auf diesen Grundkonsens einigen:                         tisch vernünftiges System einzuführen. Lieber wollen wir es
Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Aufklärung,                   politisiert lassen, mit einer Art Leistungsprimat. Ich sehe
damit die Versicherten sich für ihre Vorsorgegelder                  schwarz.
zu interessieren beginnen?                                           Herr Zeier, sagen Sie etwas Positives!
Bianchi: Etwas mehr Gelassenheit rund um die Altersvorsorge          Zeier: Also ich sehe auch schwarz. Die «Altersvorsorge
würde allen involvierten Parteien gut anstehen. Die Leute wollen     2020»-Reform ist für mich frustrierend. Sie zeigt, wie ver-
in erster Linie ein Rentensystem, das ihnen im Alter ein anständi-   korkst die Situation ist. Man versucht es allen Seiten recht zu
ges Leben ermöglicht, ohne ständig optimieren zu müssen.             machen. Kaum ist die Reform draussen, kommen die Gegner
Rentsch: Falsch! Da haut es mir den Nuggi raus. Das System ist       und sagen, 65/65 sei unannehmbar, und schon schlagen sich
intransparent und bürokratisch. Darum kann man es den Leu-           alle die Köpfe ein. Vor sechs Jahren haben wir den Generatio-
ten nicht zum Vorwurf machen, dass sie so wenig über ihre ei-        nendialog gegründet, einen bürgerlichen Schulterschluss von
gentliche Vorsorge wissen. Und ganz klar: die Leute haben sich       Junger CVP, den Jungfreisinnigen und der Jungen SVP. Auf bür-
zu sehr an den Status quo gewöhnt. Sie sind konditioniert. Sie       gerlicher Seite gibt es eine Generation, die diese Probleme er-
können sich einen solchen Wechsel zu einem freiheitlichen            kennt. Der Generationendialog setzt sich für Entpolitisie-
System nicht vorstellen. Ich würde es so sagen: alles scheint        rungsforderungen ein. Ich würde niemals sagen, dass ein
wunderbar – bis es irgendwann nicht mehr wunderbar läuft.            System funktioniert, um dann am Ende doch eine Mehrwert-
Dann heulen alle auf.                                                steuerfinanzierung zu verlangen. Das ist unehrlich und bedeutet,
Zeier: Ich sage Ihnen: unter den Jungen regt sich Widerstand.        die Leute für nicht voll zu nehmen!
Machen Sie sich in den kommenden Jahren darauf gefasst!              Marco Betti, wie wird sich der Altersvorsorgediskurs
Ich höre, da will sich jemand aus dem Publikum zu Wort melden.       in den ­kommenden Jahrzehnten entwickeln? Werden wir ewig
Nur zu!                                                              weiter­diskutieren – oder machen wir Nägel mit Köpfen?

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Gregor Szyndler                                                  angelogen wird. Eine Pensionskasse rechnet heute im Schnitt
                                                                 mit einem technischen Zins von etwa drei Prozent. Das bedeu-
                                                                 tet, dass die Passiven zu rund vierzig Prozent unterschätzt wer-
                                                                 den, und zwar absichtlich. Auf den Aktiven hat man einen im-

Gut zu wissen #1:                                                pliziten Zins von null oder minus eins und rechnet in grösster
                                                                 Ruhe mit einem ganz anderen, imaginären Zins. In der Indus­
SM-BVG-Streitgespräch                                            trie würde jeder, der ein solches Testat abgibt, ins Gefängnis
                                                                 wandern. In der PK-Welt ist es zulässig.
                                                                 Frau Bianchi würde jetzt sagen, die Verhältnisse könnten sich

E
                                                                 auch wieder ändern, damit auch das Zinsumfeld – und damit auch
                 s gehört zum Konzept dieser Zeitschrift,        der technische Zins.
                 ­leidenschaftliche Streitgespräche mit          Betti: Wir haben seit zwanzig Jahren einen zu hohen techni-
                  interessanten Experten zu organisieren.        schen Zins. 1985 war das alles im Gleichgewicht. Seit 1996 ist
                  Eine kleine Auswahl von Schmankerln aus        dies nicht mehr der Fall. Wir haben längst griechische Verhält-
                  den BVG-Sonderpublikationen zeigt, wo          nisse. Das Publikum wird aber nicht aufgeklärt – es gilt als poli-
es in früheren Auflagen dieser Streitgespräche langging,
                                                                 tisch nicht opportun. Es bräuchte nur ein paar kleine Änderun-
wo es rund ging, wo es hoch zu- und herging, wo die
                                                                 gen. Beispielsweise muss man Kassen zulassen, die nur für
Geister sich schieden und wo sie sich wieder fanden.
                                                                 Rentner sind. Man wird dann feststellen, dass ein Umwand-
        2014 moderierten René Scheu und Florian Rittmeyer
das Aufeinandertreffen von Finanzmarktökonom
                                                                 lungssatz von 6 Prozent nicht finanzierbar ist. Er muss dann
Martin Janssen und Gewerkschaftsbundpräsident                    um die 4 Prozent sein. Wenn wir nichts tun, werden die nötigen
Paul Rechsteiner. Der Schlagabtausch stand unter dem             Änderungen über Nacht kommen müssen – und dann wird es
Motto «Wenn ökonomische auf politische Realitäten                richtig unangenehm.
prallen». Paul Rechsteiner definierte die Stärke der             Bianchi: Ich stelle fest, dass man nach der jahrelangen Schwarz-
AHV optimistisch als die Fähigkeit zum Ü     ­ ber­leben ihrer   malerei in der AHV nun schwarz malt bei der beruflichen Vor-
eigenen Totsagung. Er verlangte einen über die eigenen           sorge. Das nehmen die Leute einem nie und nimmer ab!
Interessen hinausgehenden, langfristigen Blick auf               Betti: Sie wissen doch ganz genau, was eine Barwertrechnung
die Materie. Angesichts der von Martin Janssen vorge-            ist, Frau Bianchi.
rechneten Diskrepanz zwischen den SGB-Wunsch-Zinsen              Bianchi: Natürlich, aber das ist eine Zahlenspielerei, die letzt-
und tatsächlich an den Märkten erwirtschafteten Zinsen
                                                                 lich einen bestimmten Zweck verfolgt. Die Absicht hinter die-
fragte er: «Sind Sie etwa Pessimist?» – worauf Janssen
                                                                 ser Schwarzmalerei ist, dass die Leute privat ansparen, dass sie
erwiderte: «Ich bin Unternehmer und demnach viel mehr
                                                                 ihr Geld zu Bank und Versicherungen bringen.
Optimist als Sie!» Die beiden Optimisten fanden sich
nach dieser Debatte am Buffet wieder.
                                                                 Betti: Nein! Ich möchte nur Transparenz haben und freie Wahl.
        2013 stiegen der Ex-Gewerkschaftsbundsekretär            Zeier: Genau. Nur das. So etwas ist doch keine Hexerei, es geht
Beat Kappeler und Daniel Lampart, damals noch                    nur um die freie BVG-Wahl!
­Chefökonom und Sekretariatsleiter des SGB, in den Ring.         Bianchi: Ich staune, dass auch junge Politiker immer wieder
 Daniel Lampart v­ erkaufte den Kapitalismus mit dem             solche alten Kalauer bringen.
 ­Argument (man beachte die merkelsche Diktion!),                Zeier: Das ist doch kein alter Kalauer! Die besten Kalauer kom-
  dass er ohne Alternative sei – man brauche ihn und             men ohnehin von den Linken, das muss man ihnen lassen.
  seine Auswüchse nur mit realistischen b­ ehördlichen           Bianchi: Seit 1975 ist die freie Pensionskassenwahl immer
  Vorgaben zu bändigen. Beat Kappeler konterte, dass er          ­wieder Thema. Der Bundesrat hat zig Berichte dazu geschrie-
  nicht das Vertrauen in den Kapitalismus an und für              ben. Wir haben schon eine freie Wahl im Krankenkassen­
  sich v­ erloren habe. Vielmehr habe er zu wenig Vertrauen
                                                                  bereich. Ich glaube kaum, dass Lösungen auf Krankenkassen­
  in ­einen Kapitalismus, an dem dermassen herumgedok-
                                                                  niveau sinnvoll sind bei den PK.
  tert werde. Er sagte aber auch: «Das ist eben der Fluch
                                                                  Zeier: Aber das ist doch ein interessantes Beispiel, denn gerade
  der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss
  ­gebären.» – «War das jetzt Goethe?», fragte René Scheu.
                                                                  bei den Krankenkassen wird die freie Wahl ja auch immer
   «Schiller», lautete die reflexhaft nachgeschobene              ­wieder bestätigt an der Urne.
   ­Antwort. Eine lapidare Antwort ist das, und die reinste        Betti: Es geht um eine kleine Änderung. Wenn ich bei einem
    Prophezeiung: wird man doch den designierten NZZ-­             ­alten Arbeitgeber aufhöre und bei einem neuen beginne, muss
    Feuilleton-Chef bald öfter mal in der gleichnamigen             ich die Wahl haben, ob ich in der neuen oder in der alten Kasse
    Brasserie antreffen.�                                           einzahlen will. Diese kleine Wahl wird alles verändern. �

14
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015  

  Facts & Figures
  Die Anzahl Gesetze und Verordnungen zum BVG trägt bei zur Systemstarre.
  Der Rentenklau findet bereits statt: nicht an den jetzigen, sondern an den künftigen Rentnern.
  Die demographische Entwicklung betrifft Bildung, AHV, Altersvorsorge und -pflege.

Abbildung 1 Das gesetzliche Umfeld der beruflichen Vorsorge wird zunehmend komplexer
200 Anzahl Seiten
      Gesetze und Verordnungen                          Freizügigkeitsgesetz
                                                        (FZG)

150                   BV-Verordnungen
                      (BVV 1–3)
                                                                                                     Verordnungen

100

 50

                                                                               Gesetze
  0                                                                                                                                           Quelle: Avenir Suisse
      1981        1984         1987      1990       1993            1996         1999             2002         2005          2008

Abbildung 2 Zu hohe Umwandlungssätze sind Rentenklau
      Umverteilung pro Neurentner in Schweizer Franken                                                                                        Bei Umwandlungssatz

                                                                                                                                               6,8 % statt 6,4 %
                 19 000 CHF                                                                                                                    (Vorlage 2010)

                                                                                                                                              6,8 % statt 6,0 %
                                                  40 000 CHF                                                                                  (Altersvorsorge 2020)

                                                                                                                                               6,8% statt 5,65%
                                                                                     61 000 CHF                                                (Publica ab 2015)

                                                                                                                                              Quelle: Avenir Suisse
      0                        20 000                           40 000                            60 000                            80 000

Abbildung 3 Alterung tangiert vor allem Altersvorsorge und -pflege

          Anzahl Aktive (20–64)         Anzahl Aktive (20–64)             Anzahl Aktive (20–64)            Anzahl Jungrentner (65–79)
          pro Jugendliche (0–19)          pro Rentner (65+)               pro Hochaltrige (80+)              pro Hochaltrige (80+)

               3,1                          3,4                               12,3                               2,6
                     2,9 2,9                             -45%                              -63%                              -46%
                                                                                                                             -
                                                                                                                       2,1
                                                  2,3
                                                        1,9                          7,1
                                                                                                                              1,4

                                                                                           4,5

                                                                                                                                              Quelle: Avenir Suisse
             2015 2035 2055                2015 2035 2055                    2015 2035 2055                     2015 2035 2055

             Relevant für die             Relevant für die                  Relevant für die                   Relevant für die
               Bildung von               Finanzierung der                Durchführung professio-             Leistung freiwilliger
              Jugendlichen              Altersvorsorge (AHV)               neller Alterspflege                   Alterspflege

                                                                                                                                                                                     15
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015  

     2   Umverteilung gegen die Jugend
     Das Ausmass der bereits stattfindenden generationenübergreifenden Umverteilungen zeigt sich
     in einer Gesamtschau der Geldströme zwischen Jung und Alt. Das ernüchternde Fazit:
     Reformen werden nur dann speditiv angegangen, wenn die ältere Generation Nutzniesser ist.
     von André Müller

U     m die Generationengerechtigkeit zu beurteilen, muss
      man alle Geldflüsse von Jung zu Alt (und umgekehrt) be-
trachten, auch jenseits der Altersvorsorge. Die Lasten werden
                                                                 André Müller
                                                                 ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als freier Mitarbeiter bei der
                                                                 «Neuen Zürcher Zeitung». Er ist Mitglied der Operation Libero, einer
dabei immer mehr auf die Schultern der Jungen verschoben,        Bewegung, die sich für liberale Lösungen in gesellschaftlichen und
                                                                 wirtschaftlichen Fragen einsetzt.
wie folgende vier Beispiele zeigen.
    Es beginnt bei scheinbar kleinen Anpassungen im Ge-
sundheitswesen: Der Bundesrat schlägt vor, die Prämienra-        140 Millionen Franken. Auch hier gilt: nicht die Anpassung an
batte für die Wahl der höchsten Franchisenstufe zu reduzie-      sich ist stossend, sondern der politische Grundsatz dahinter.
ren. Damit erhöht er nicht nur die Vollkaskomentalität in der    Reformen werden schneller angepackt, wenn die ältere Genera­
Krankenkasse, sondern auch die Umverteilung zum Alter hin,       tion davon profitiert.
denn: Viele jüngere Menschen nutzen die Krankenkasse als              Das dritte Problem hat Hans-Werner Sinn vor einem Jahr
klassische Versicherung gegen unvorhersehbare Grossrisiken       an dieser Stelle angesprochen. In den deutschsprachigen Län-
und wählen daher die höchstmögliche Franchise von 2500           dern unternimmt der Staat verhältnismässig wenig, um die ex-
Franken. Sie sind die Leidtragenden, wenn der bundesrätliche     ternen Effekte der Kindererziehung zu internalisieren. Wer
Vorschlag umgesetzt wird. In den Medien wurde dieser Vor-        heute Kinder hat, muss selbst für die Kosten aufkommen, wäh-
schlag aber in erster Linie unter dem Aspekt der Eigenverant-    rend (zumindest ökonomisch betrachtet) zu einem grossen
wortung und der Solidarität zwischen Kranken und Gesunden        Teil andere den Nutzen davon tragen, weil diese Kinder in
besprochen, der Generationenaspekt wurde vernachlässigt.         dreissig Jahren die Altersvorsorge aller bestreiten werden. Das
Dem Vernehmen nach steht im Parlament zwar zur Debatte,          ist ungerecht und ineffizient. Das gilt hierzulande besonders
jungen Erwachsenen bis 35 einen Teil ihrer Risikoausgleichs-     ausgeprägt: in der Schweiz zahlen Eltern deutlich mehr für
zahlungen an die Älteren zu erlassen; das ist allerdings noch    Krippenplätze als im benachbarten Ausland, wie ein Bericht
nicht umgesetzt.                                                 des Bundesrats in diesem Sommer aufzeigte. Weil die Krippen-
    Ein zweites Beispiel findet sich in der jüngsten Auseinan-   kosten zudem nur begrenzt von den Steuern abzugsfähig sind,
dersetzung um die Sozialhilfe. Die deutlichen Kürzungen          weil Prämienverbilligungen und weitere Subventionen bei
beim Grundbedarf für junge Erwachsene und Grossfamilien          steigendem Einkommen rasch wegfallen und weil Ehepaare
müssen nicht falsch sein. Dass der deutlich höher angesetzte     gemeinsam besteuert werden, lohnt es sich für ein (meist jun-
Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV            ges) Elternpaar mit mittleren Einkommen kaum, seine gemein-
kaum Bestandteil dieser Diskussion war, erstaunt aber, da        same Arbeitsleistung zu erhöhen, denn ihnen schlagen enorm
diese die öffentliche Hand 2014 laut Bundesamt für Statistik     hohe Grenzsteuersätze entgegen. Die Quittung für dieses
2,7 Milliarden kosteten, Tendenz steigend. Das Departement       schlecht abgestimmte Steuersystem erteilen die Jüngeren
des Inneren hat zu den EL zwar eine grosse Reform angekün-       gleich zweifach: mit einer niedrigen Rate an Vollzeit erwerbs-
digt, die Schwelleneffekte und den Fehlanreiz beheben soll,      tätigen Frauen und dem Verzicht auf Kinder. Beides setzt die
möglichst alles Geld vor dem Eintritt ins Altersheim auszuge-    Altersvorsorge weiter unter Druck. Der Bundesrat möchte die-
ben; es scheint damit aber nicht zu eilen. Dabei wären Ideen,    ses System verbessern, doch brachte erst die Angst vor dem
beispielsweise eine obligatorische Pflegeversicherung, durch-    Fachkräftemangel die Politmaschinerie ins Laufen und nicht
aus vorhanden. Ein Element musste indes rasch – noch vor den     die Ungerechtigkeit an sich. Dabei ist auch diese Schieflage
Wahlen? – beschlossen werden: die Erhöhung der EL-Mietzu-        nicht von gestern auf heute entstanden, seit Jahrzehnten wird
schüsse aufgrund der gestiegenen Mieten. Kostenpunkt:            vor dieser demographischen Klippe gewarnt, ohne dass diese

16
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015  

externen Kosten für junge Eltern angepackt werden. Die hohe        schreckte bei der Erbschaftssteuerinitiative davor zurück, alte
Zuwanderung hat den Effekt der tiefen Geburtenrate in der          Hüsli-Besitzer zu verärgern, und baute einen Freibetrag von
Schweiz über lange Zeit gemildert, damit der Politik aber auch     zwei Millionen Franken in den Initiativtext ein. Ohne die ­älteren
eine Entschuldigung gegeben, die nötige Diskussion um diese,       Wähler lässt sich anscheinend kein Staat machen, weder links
um die eigentliche, Generationenfrage auf den St.-Nimmer-          noch rechts.
leins-Tag zu verschieben. Die Migration bringt indes keine
dauerhafte Lösung des Alterungsproblems und sollte daher            Natürlich ginge es noch schlimmer –
auch nicht in diesem Kontext diskutiert werden: Sie kann, über      aber es geht auch besser
einen Einmaleffekt, den abrupten demographischen Übergang                 Die Schweiz ist mit diesem schleichenden Trend zur Ge-
bei der Pensionierung der Babyboomer abfedern helfen. Weil          rontokratie kein Einzelfall. In den USA türmen sich die Pensi-
die neuen Arbeitskräfte selbst wieder Rentenansprüche auf-          onsversprechen des Staats an seine Bürger immer höher, wes-
bauen, verwandelt sich die Altersvorsorge ohne Anpassungen          halb diese noch immer nicht sparen, sondern munter weiter
aber erst recht zum Schneeballsystem.                               konsumieren; die grossen Versprechen werden allerdings nie-
    Das vierte Beispiel betrifft die Ausgestaltung des Steuer-      mals eingehalten werden können. In Deutschland hat die
systems: Arbeit (und Kapital) müssen in der Schweiz einen zu        grosse Koalition ihrer treuen, ergrauten Wählerschaft mit der
hohen Anteil der Steuerlast stemmen. Zur Einkommenssteuer           Rente ab 63 ein üppiges Startgeschenk gemacht. Auch in
kommen die Sozialabgaben und die mannigfachen impliziten            Grossbritannien hat die konservative Regierung in den letzten
Steuern wie die bereits erwähnten, einkommensabhängig               Jahren angesichts riesiger Defizite staatliche Leistungen zu-
wegfallenden Prämienverbilligungen. Dieses System trifft vor        sammengestrichen – und dabei einzig die Privilegien der Rent-
allem Arbeitnehmer und bedrückt Arbeitsangebot und Pro-             ner nie angetastet. Letztere haben es den Tories mit einer
duktion. Denn: je mehr man arbeitet, desto mehr muss man            komfortablen Wiederwahl gedankt. In Griechenland oder
abgeben. So verschärft sich das Problem, dass bald einmal zu        ­Italien wiederum hat der Staat den Rentnern über lange Jahre
wenige Menschen im arbeitsfähigen Alter für zu viele Rentner         einen nicht nachhaltigen Lebensstandard finanziert. Die
aufkommen müssen. Eine Lösung wäre denkbar, wenn die                 Suppe auslöffeln dürfen kommende Generationen, die den
wohlhabende Rentnergeneration anteilsmässig mehr Steuern             Schuldenberg, den ihre Vorgänger angehäuft haben, in müh-
zahlt: Arbeitnehmer haben meist viel Einkommen, aber wenig           seliger, jahrzehntelanger Arbeit wieder abtragen dürfen.
Vermögen, bei den Pensionierten ist es umgekehrt. Um den                  Es gibt also noch schlimmere «Generationensünder» als
Faktor Arbeit freizuschaufeln, müsste das Steuersystem ver-          die Schweiz.1 Hier hat der Staat, das muss man ihm fairerweise
ändert werden, weg von Einkommens- und hin zu Boden-,                zugutehalten, sich zumindest bezüglich Staatsverschuldung
Konsum- und Vermögenssteuern – ohne Erhöhung der Staats-             im engeren Sinne stark zurückgehalten, nicht zuletzt dank der
quote und unter Beibehalt des Progressionsverlaufs. Das hätte        Schuldenbremse. Bei uns ist die Staatsschuldenquote (nach ei-
den willkommenen Nebeneffekt, dass das Steuersystem das              nem Anstieg in den 90er-Jahren) mehr oder weniger stabil
Verhalten der Besteuerten weniger verzerrt: Steuern können         ­geblieben.
den Arbeitsanreiz schmälern, aber nicht den Boden. Ein s­ olches          Ein schaler Beigeschmack bleibt: Das Bundesamt für Sta-
Vorhaben ist aber weit und breit nicht in Sicht. Sogar die Linke     tistik hat im letzten Jahr die Altersarmut untersucht und fest-

«Ohne die älteren Wähler lässt sich
anscheinend kein Staat machen,
weder links noch rechts.»
André Müller

                                                                                                                                   17
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                                                                    gestellt, dass die Quote der Menschen, die unter materiellen
Gregor Szyndler                                                     Entbehrungen zu leiden haben, unter Kindern und Jugendli-
                                                                    chen mit Abstand am höchsten ist (4,8 Prozent). Bei den Über-
                                                                    65-Jährigen sind nur 1,7 Prozent betroffen. In vielen Fällen un-
                                                                    terstützt die «Rentnerpolitik» also gar nicht die ärmsten Be-
Gut zu wissen #2:                                                   wohner des Landes, was noch immer die wichtigste Aufgabe
«Gerontokratie»                                                     des Sozialstaats sein muss. Das macht die forcierte Umvertei-
                                                                    lung von Jung zu Alt besonders ungerecht.

D
                       er Begriff «Gerontokratie» vereint             Massenhaft Anschauungsmaterial
                       die altgriechischen Ausdrücke für Greise            Das Wahljahr bot wie erwähnt reiches Anschauungsmate-
                       (gerontes) und Herrschaft (krátos).            rial an fehlgeleiteter Politik zugunsten der alternden Babyboo-
                       G. bedeutet also nichts anderes als «Herr-     mer und der Kriegsgeneration. Diese finden in Bern mehr Be-
                       schaft der Greise». Schon bei Homer fin-       achtung als frühere Generationen von Älteren: Sie sind sehr
den sich solche Ältestenräte, die etwa als Königsberater              gute Wähler. Erstens gibt es schlicht mehr von ihnen, zweitens
fungieren. In archaischen Gesellschaften korrespon-                   ist der Ausländeranteil unter den Rentnern viel niedriger als in
dierte das Minimum verbliebener Lebenszeit ohnehin
                                                                      der Gesamtbevölkerung und drittens gehen die alten Schwei-
mit dem Maximum an Macht – Alter war ein Distinktions­
                                                                      zer fleissiger an die Urne als die jungen.
merkmal. Den Jüngeren blieb nichts übrig, als selbst
                                                                           Dieser «graue Bias» liesse sich vielleicht durch ein von den
zu vergreisen, ein hilfloses «Tempus fugit!» zwischen
                                                                      Eltern wahrgenommenes Wahl- und Stimmrecht für Kinder
den Zähnen.
           Galt der Begriff in der Antike als positiv, wird er        ausgleichen, wie es Hans-Werner Sinn in dieser Publikation
heute meist polemisch verwendet – überzufällig oft von                schon vorgeschlagen hat. 2 Aber vermutlich braucht es nicht
berufener Stelle! So frotzelte der republikanische                  einmal diesen «grossen Wurf», sondern viele, hartnäckig ein-
­Ex-Präsidentschafts-Anwärter Newt Gingrich, selbst                 geforderte kleine Verbesserungen; als erstes einen entpoliti-
 ­jugendliche 72 Lenze, dass das demokratische Kandidaten­          sierten Umwandlungssatz für die zweite Säule. So würde zu-
  feld die reinste G. sei. Oder Jungspund Erdogan, 61 Jahre,        mindest die offensichtlichste Form der nicht vorgesehenen
  stellt sich als Antidot zur herrschenden G. in der Türkei         Umverteilung ausser Kraft gesetzt.
  dar, als Verjüngungskur, die er so lange sein will, bis er               In einem nächsten Schritt sollte sich die Politik zum Ziel
  selbst vergreist und zur G. gehört. Aber auch was jung            setzen, einen besseren Überblick über die Geldströme zwi-
  ­daherkommt, wird gern von der G. dominiert: wir denken
                                                                    schen den Generationen zu gewinnen. Diese Gesamtsicht
   an die Formel 1 und Bernie Ecclestone oder an die
                                                                    müsste nebst den hier erwähnten Themenfeldern noch wei-
   286 Jahre, die die Rolling Stones auf die Bühne bringen
                                                                    tere umfassen. Betroffen sind auch die Bildungspolitik (Schul-
   ­(notabene nur die aktuelle Besetzung).
                                                                    und Stipendienwesen) oder die Wohnpolitik. Das Ziel ist es
           Deutschland ist seit diesem Jahr laut Hans-Werner
    Sinn (SM Sonderthema 20/Dezember 2014) eine G.                  dabei nicht, jegliche Transfers zwischen Alt und Jung zu unter-
    Es gibt mehr Rentner als Beitragszahler. Die Profiteure         binden. Vielmehr sollten die Veränderungen registriert wer-
    einer Ausweitung des Rentensystems sind in der Mehr-            den, damit die Politik Gegengewicht geben kann, wenn sich die
    heit, ­allfällige Anpassungen zugunsten der Beitrags­           Gesamtbilanz stark zuungunsten der einen Generation ent­
    zahler müssen sich gegen deren Widerstand durchsetzen.          wickelt. Es geht nicht um Sozialabbau und Rentenklau,
    Der Generationenvertrag steht vor einer Bewährungs-             ­s ondern um nachhaltige Politik, deren Pfeiler über unsere
    probe. In spätestens zehn Jahren rächt sich heutiges             ­Generationen hinaus den Sozialstaat sichern. Daran sollten
    Nichtstun. Der Altenüberschuss in Deutschland ist indes           alle im Land ein Interesse haben – Jung und Alt. �
    heute schon so gross, dass es nicht erstaunen würde,
    wenn auf «Mutti» 2017 ein «Opi» folgen würde.
           Aber G. hin oder her: das Alter ist kein Selbstzweck.
    Es gilt, was der rumänische Pessimist Emil Michele
    ­Cioran sagte: «Das Alter ist die Selbstkritik der Natur.»
                                                                    1
                                                                      Sicher nicht zu den Generationensündern gehört Schweden. Schon in den
                                                                    1990er Jahren hat man sich dort vom regulären Rentenalter verabschiedet
     Wer oder was alt wird, hat sich bewährt, und es soll           und berechnet die Höhe der Renten in Abhängigkeit von der durchschnitt­
     ­gerade deshalb auch den Jüngeren zugutekommen.                lichen Lebenserwartung und dem effektiven Pensionsalter des Bezügers.
                                                                    Die Entscheidung, wann er sich pensionieren lassen will, bleibt dem einzel-
      Die Altersvorsorge ist auch kein Selbstzweck. Sie muss        nen überlassen. Man muss die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen, in
      die Selbstkritik der Politik sein, die Fähigkeit, zwischen    Form tieferer Renten bei früherer Pensionierung. Derzeit strebt Schweden
                                                                    eine Erhöhung des Zielbandes für das Renteneintrittsalter an.
      Jung und Alt zu vermitteln und tragbare Lösungen zu           2
                                                                      Hans-Werner Sinn: «150 000 Euro pro Kind», in: «Realitätscheck für die
      finden. �                                                     Schweizer Altersvorsorge», Sonderthema 20, Dezember 2014, S. 16 ff.

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Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015  

  3   Die Reform nach der Reform
  Wer heute pensioniert wird, dem fehlt viel Geld, um die versprochene Rente
  zu finanzieren. BVG und AHV müssen gleichzeitig angepasst werden.
  Der hohe Norden geht mit gutem Beispiel voran.
  von Marcel Schuler

E   in Durchschnittsschweizer erhält, gemessen am letzten Ge-
    halt, im Vergleich zum Ausland eine deutlich höhere Rente
und kann diese über einen längeren Zeitraum beziehen. Um die-
                                                                     Marcel Schuler
                                                                     studiert Politikwissenschaften und ist Vorstandsmitglied
                                                                     der Jungfreisinnigen Schweiz.
ses hohe Niveau halten und auch künftig im Alter finanziell sor-
genfrei leben zu können, braucht es strukturelle Anpassungen         ­Suisse 4 aufgrund des zu hoch angesetzten Umwandlungssat-
und Reformen. Dabei dürfen wir nicht nur bis zur nächsten Re-         zes. Bis 2030 liegt die Finanzierungslücke der Schweizer
form schauen, sondern wir müssen unseren Blick auch auf die           Alters­v orsorge damit im dreistelligen Milliardenbereich. Die
weiter entfernte Zukunft richten.                                     Zeit zum Handeln ist jetzt gekommen!
    Dank Technologie und medizinischem Fortschritt leben                  Obschon das angesparte Geld in absehbarer Zeit nicht mehr
wir Menschen jedoch nicht nur länger, sondern wir bleiben             für die eigene Rente reicht, ist der Reformdruck noch nicht in
auch länger gesund. Dadurch hat sich der Rentenbezug seit der         den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Wie schon in frühe-
Einführung der AHV um elf Jahre verlängert und das Verhält-           ren BVG-Publikationen des «Schweizer Monats» angedeutet
nis von Rentnern zu Erwerbstätigen hat sich beinahe verdrei-          wurde 5, ist das Versorgungsmotiv vergessen gegangen, so dass
facht: 1948 wurde ein Rentner noch durch 6,5 Erwerbstätige            die Sensibilität für abstrakte, demographische Probleme und
finanziert, 2007 waren es nur noch 3,7 und 2035 werden es nur         die Folgen für umlagefinanzierte Rentensysteme gering ist.
noch 2,1 Erwerbstätige sein.1 Auch die 2. Säule kommt durch           Auch das Meinungsforschungsinstitut gfs bestätigt, dass Mehr-
diese Entwicklung unter Druck: Bei einem Umwandlungssatz              heiten im Hinblick auf die Zukunft davon ausgehen, dass die
von 6,8 Prozent erhält ein Pensionär oder eine Pensionärin mit        Altersvorsorge grundsätzlich funktioniere. Mit seinem Ent-
einem selbst angesparten Altersguthaben von 100 000 Fran-             scheid, die Altersvorsorge zu reformieren und einen neuen An-
ken jährlich eine Rente von 6800 Franken. Dieses Guthaben ist         lauf zu einer politischen Veränderung in der Schweizer Renten-
jedoch nach 14,7 Jahren, also im Alter von knapp 82 Jahren,           politik zu nehmen, sendet der Bundesrat jedoch ein deutliches
aufgebraucht. Die grundsätzlich erfreuliche Zunahme der Le-           Signal aus, auf diese Entwicklung zu reagieren. Dabei verfolgt er
benserwartung vergrössert das Problem.                                einen gesamtheitlichen Ansatz, bei dem die Leistungen der ers-
                                                                      ten beiden Säulen gemeinsam betrachtet werden sollen. Dieser
Vorhandene und programmierte Defizite                                 Ansatz soll Vertrauen schaffen und eine Reform – nach den bis-
     Diese demographischen Veränderungen bringen grosse               her gescheiterten Versuchen! – möglich machen.
strukturelle und finanzielle Herausforderungen für die Alters-            Da aber die langfristige Rentensicherheit ein wesentlicher
vorsorge mit sich. Auch wegen der Verschlechterung der Anla-          Standortvorteil für die Schweiz ist, ist angesichts des Reform-
gemöglichkeiten auf dem Kapitalmarkt und durch historisch             projekts «Altersvorsorge 2020» äusserste Vorsicht geboten. Der
tiefe Zinsen sind die heutigen Rentenversprechen nicht mehr           Plan des Bundesrates, dem Parlament ein grosses Gesamtpaket
gesichert. Wer heute pensioniert wird, dem fehlen im Schnitt          zuzuführen, so dass alle Akteure zufrieden sind, geht nicht auf.
mehr als 40 000 Franken, um die versprochene Rente zu finan-          Bereits vor und während der Beratung im Parlament wurde klar,
zieren. Das Bundesamt für Sozialversicherungen 2 prognosti-           dass jede noch so kleine Änderung des Reformprojektes sofort
ziert in einem mittleren Szenario ab 2019 ein Defizit von             einen neuen medialen Sturm der Entrüstung auslöst. Ange-
56 Milliarden Franken in der AHV. Zusätzlich rechnet das Bun-         sichts der hohen Bedeutung der Reform muss somit das Risiko,
desamt für Statistik mit einer Unterdeckung von 40 Milliarden         dass das Projekt «Altersvorsorge 2020» scheitert, reduziert wer-
Franken in der 2. Säule. 3 Weitere Defizite, bis zu 15 Milliarden,    den, indem der Umfang der Reform verkleinert wird. Das Pro-
ergeben sich gemäss Berechnungen der UBS und Avenir                   jekt darf nicht überladen sein, so dass sich politische Akteure

                                                                                                                                    19
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