Pensionskasse = Kartenhaus? - Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr ...
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Mit Beiträgen und Interventionen von: Doris Bianchi Toni Bortoluzzi Brenda Mäder André Müller u.a. Pensionskasse = Kartenhaus? Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr Fairness.
Schweizer Monat SONDERTHEMA SONDERTHEMa Mai Dezember 2015 2015 «Die zweite Säule war nie als Kartenhaus gedacht. Aber es besteht akute Einsturzgefahr. Sie bedarf darum dringend einer Reform, die zurück zur soliden Grundidee führt: Jede Versicherte, jeder Versicherte spart sein Kapital für das eigene Alter an. Die Jungen haben recht, wenn sie Generationengerechtigkeit einfordern.» Heinz Soom, Geschäftsführer der Valitas-Sammelstiftung BVG 2
Pensionskasse = Kartenhaus? Schweizer Schweizer MonatMonat SONDERTHEMA SONDERTHEMA Dezember Mai 2015 Wie solide ist die zweite Säule? Wir bieten eine Standortbestimmung. Eine frische Sicht. Und ein Plädoyer für mehr Fairness. D as 3-Säulen-Vorsorge-Modell der Schweiz gilt in Europa als vorbildlich solide. Und solide war es auch, als es vor geraumer Zeit konzipiert und umgesetzt wurde. Heute, gut drei Jahrzehnte später, bleibt die Idee einer breiten Abstützung der Vorsorge unverändert umsichtig. Die drei Säulen indes beginnen zu wackeln. Das grösste Problem dabei ist nicht, dass die Politik den Reformbedarf nicht längst erkannt hätte. Sie hat ihn in der Tat erkannt, denn für diese Erkenntnis genügen basale Rechenkompetenzen. Doch weil Reformen stets für den einen oder für die andere schmerzhaft sind – im vorliegenden Fall bedeuten sie im Kern entweder mehr Einzahlungen der Aktiven oder weniger Auszahlungen an die Rentner –, drückt sich die Politik davor, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Nach «Zeitbombe?», «Der mündige Versicherte», «Vorsorgen oder versorgen?», «Realitätscheck für die Schweizer Altersvorsorge» folgt mit «Pensionskasse = Kartenhaus?» das fünfte Spezial zum Thema, das wir zusammen mit der Valitas- Sammelstiftung BVG lancieren.1 Wir verfolgen auch mit dieser Sonderpublikation einen zutiefst aufklärerischen Impetus. Wenn die Politik Verschleierung praktiziert, so sehen wir unsere Aufgabe darin, den Schleier mit Argumenten, Zahlen und Fakten zu lüften. Diesmal haben vor allem die Jungen das Wort. Denn sie sind es, die nach heutigem Stand der Dinge die Zeche bezahlen dürften. Und sie streichen hervor: Es geht in der beruflichen Vorsorge nicht um Rentenklau an den heutigen Bezügern, wie uns Neunmalkluge weismachen möchten. Es geht um Kapitalklau an den heutigen Bezahlern. Die Lektüre lohnt sich. Garantiert. Die Redaktion 1 Bestellungen früherer Ausgaben bitte an: bestellung@schweizermonat.ch 3
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 Inhalt Doris Bianchi, Maurus Zeier, Hans Rentsch und Marco Betti 06 streiten sich auf zwei Seiten über drei Säulen und ein Problem. André Müller 16 fragt sich, warum ohne Alte kein Staat mehr zu machen ist und was das für die Jungen bedeutet. Marcel Schuler 19 sagt, dass die heutige Altersvorsorge auf Kosten der morgigen Rentner finanziert wird – wodurch deren Freiheit abnimmt. Jean-Pascal Ammann 22 möchte den Rentenkuchen Kolumnen in Zukunft auf die dänische Art 14 Gut zu wissen #1 backen. 15 Facts & Figures 18 Gut zu wissen #2 Brenda Mäder 24 stellt radikale Forderungen – wenn diese das System auf den Kopf stellen, umso besser! Toni Bortoluzzi 26 erklärt, weshalb er froh ist, keine 2. Säule zu haben – und sich trotzdem für deren Reform einsetzt. 4
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 06 Kapitalisten, wo bleibt denn das Vertrauen in den Kapitalismus? Doris Bianchi 22 Die Politik sucht Kompromisse zwischen links und rechts, nicht zwischen den Generationen. Jean-Pascal Ammann 26 Ich habe Glück gehabt: Ich habe keine 2. Säule! Als selbständiger Schreiner habe ich immer in die 3. Säule eingezahlt. Ich bin froh, dass ich bei dieser staatlich-dirigistischen Veranstaltung nicht mitmachen musste. Ich hätte auch in der AHV nicht mitgemacht, wenn ich nicht hätte mitmachen müssen. Meine Überzeugung war stets: Ich kann für mich selber sorgen. Toni Bortoluzzi 5
zwei Seite Drei Säulen in Problem Verkrustete Vorgaben, unrealistische Zinsversprechen und Reformresistenz: Die berufliche Vorsorge ist erstarrt. Wie lässt sich das System dennoch bewegen? Ein Streitgespräch. René Scheu diskutiert mit Bildlegende. Doris Bianchi, Hans Rentsch, Maurus Zeier und Marco Betti 1 6
Debatte live, photographiert von Philipp Baer. 7
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 H err Zeier, Hand aufs Herz – Doris Bianchi haben Sie Ihren Vorsorgeausweis ist promovierte Juristin, stellvertretende Sekretariatsleiterin schon einmal näher angeschaut? Schweizerischer Gewerkschaftsbund; Schwerpunkt Sozialpolitik Zeier: Ich kenne den Vorsorge- und Sozialversicherungen. ausweis vom Studium her und Hans Rentsch von meinem früheren Arbeit- ist promovierter Ökonom, freier Wirtschaftspublizist und Autor geber. Wenn wir aber ehrlich diverser wirtschaftspolitischer Publikationen für Avenir Suisse. sind, kennen ihn die meisten Leute nicht. Maurus Zeier Wissen Sie, wie hoch die ist Betriebsökonom und Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. erwaltungskosten Ihrer Pensionskasse sind? V Marco Betti Zeier: Nein. Jetzt haben Sie mich erwischt! ist Pensionskassenspezialist. Auf unserem Vorsorgeausweis steht dieser Aufwand schwarz auf weiss vermerkt. Frau Bianchi, wie hält es die Pensionskasse René Scheu des Gewerkschaftsbundes mit der Kostentransparenz? ist Herausgeber und Chefredaktor des «Schweizer Monats». Bianchi: Da steht auch nichts drauf. Aber dies hat einen nach- vollziehbaren Grund: Bei den Gewerkschaften zahlt der Ar- beitgeber alle Verwaltungsgebühren. Die Versicherten sind von dieser Last befreit. Das Ziel des Gewerkschaftsbundes ist das Rentenalter 62 der Eigenverantwortung. Die meisten Menschen können mit und ein Lohnersatz von 75 Prozent – so hat es uns Daniel Lampart ihrem Kapital umgehen. Für das Versagen einiger weniger alle einst erläutert. Glauben Sie weiterhin daran? zu bestrafen, ist völlig daneben. Darüber hinaus ist klar: den Bianchi: Das traf in der Tat früher zu. Seit ich die Geschäftsfüh- Bezug zu verbieten wäre bloss Symptombekämpfung. Das kann rung der Pensionskassen übernommen habe, musste ich einen es definitiv nicht sein. Primatwechsel durchführen: vom Leistungs- zum Beitrags Bianchi: Ich freue mich, wenn nun auch die Jungfreisinnigen primat. Wir sind immer noch bei sehr guten 70 Prozent des indirekt das System der Ergänzungsleistungen loben, das sehr letzten versicherten Lohnes. Diese Leistung kann sich trotz gut funktioniert. Wechsel sehen lassen. Zeier: Die Gewerkschaften werden sich nicht mehr lange über Macht sich Ernüchterung breit? Um es mit einer Metapher die neue Generation der FDP freuen. Wir Jungfreisinnigen sa- Ihres Vorgängers zu sagen: Das darf als ein sehr gut ausgestattetes gen: es braucht eine Reform, aber die muss viel weiter gehen als Auto gelten, aber nicht mehr als Luxuskarosse. die von Berset geplante… Bianchi: Jetzt ist es kein Rolls-Royce mehr, aber immer noch Bianchi: Zurück zur Sache: die Rente ist eine stabilere Vorsorge ein Mercedes. als der Kapitalbezug. Aber Leute mit tiefen Einkommen, die Herr Rentsch, Sie sind pensioniert, geben aber selbstverständlich rund 100 000 Franken zusammengespart haben, sollten auch weiterhin Vollgas. Setzen Sie auf eine Rente der beruflichen das Geld beziehen können. Die wollen keine Rente, auch nicht Vorsorge, oder haben Sie das ganze Kapital schon bezogen? mit einem Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent – selbst Rentsch: Als Liberaler liegt mir an der Verfügungsmacht über wenn sie davon profitieren. Diese Leute wollen das Kapital, mein Eigentum. Ich habe in meiner Berufskarriere nie gewusst, weil sie damit endlich jemand sind. Das ist aus meiner Sicht ein wer mein Kapital verwaltet. Das war für mich Grund genug, das legitimes Motiv. Kapital zu beziehen und damit die Verwaltung meines Kapitals Der Kapitalbezug muss also bleiben: Das halten wir gerne so fest, den anonymen Gremien zu entziehen. Ich habe dies im Wissen Frau Bianchi. Somit stellen Sie sich gegen den Bundesrat, getan, dass ich, rein statistisch gesehen, davon profitieren mit dem Sie sonst zu sympathisieren pflegen? würde, wenn ich eine Rente bezöge. Denn ich gehöre zu der Ge- Bianchi: Der Kapitalbezug kann in einem Zwangssparsystem neration, die bereits die Ersparnisse der Aktiven aufzehrt. nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Frage wird sein, wel- SP-Bundesrat Alain Berset will den erst seit 1995 möglichen ches Netz wir sonst noch haben für jene Leute, die diese Eigen- Kapitalbezug einschränken beziehungsweise verbieten, damit die verantwortung nicht so gut wahrnehmen können, wie sie sich Leute – angeblich – das Kapital nicht mehr verjubeln können und selbst das womöglich wünschen. nachher auf Ergänzungs- und Sozialleistungen angewiesen sind. Rentsch: Leute, die freiwillig nichts gespart haben, könnten in Was halten Sie von dieser Idee, Herr Zeier? der Tat einen Anreiz haben, das Kapital zu beziehen, es zu ver- Zeier: Gar nichts! Das Angesparte gehört ja von Gesetzes wegen pulvern und dann über Ergänzungsleistungen zur AHV auf ein dem Versicherten. Es geht hier um eine fundamentale Frage Einkommen zu kommen, das rund vierzig Prozent über dem 8
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 Einkommen der AHV-Maximalrente liegt. Als Ökonom muss Bianchi: Gut gedacht, nur eben nicht zu Ende gedacht: Wie wol- ich hier zur Vorsicht rufen! Man darf die Anreize nicht verken- len Sie einem Karosseriespengler erklären, dass sein Mindest- nen, die hier eingebaut sind – und die eine Verbindung haben umwandlungssatz an die Lebenserwartung von Uni-Professo- zu den anderen Systemen, zur AHV und zu den EL. Das Leben ren gekoppelt ist? Zudem: wenn die fixe Rente so miserabel ist, auf Kosten anderer zu fördern, war bestimmt nicht der Wille weil Sie auf Bundesobligationen abstellen, die ja nicht das des Gesetzgebers. Das gehört geändert. ganze Anlagespektrum einer Pensionskasse abbilden, gibt es Sie wollen als Liberaler den Kapitalbezug verbieten? einen Aufstand. Eine miese Fixrente mit Aussicht auf Besse- Rentsch: Nein. Man müsste auf der anderen Seite etwas ändern, rung schluckt kein Rentner. Die Leute wollen im Alter ein bere- auf der Seite der Zuschüsse – wer sein Kapital bezieht und ver- chenbares Einkommen. pulvert, verzichtet auf allfällige Ergänzungsleistungen. Zeier: Die Leute wollen vor allem Transparenz – und keine Bianchi: Das ist weder wünsch- noch durchsetzbar! wohlfeilen Versprechungen, die am Ende ohnehin nicht einge- Schon jetzt zeichnet sich ab: Vorsorgefragen sind ideologisch halten werden. Das ist typisch Gewerkschaften: man sagt, es und politisch aufgeheizt. Herr Zeier, was würden Sie als Jungspund funktioniert nicht, bloss weil man politisch dagegen ist! Was ändern, wenn Sie denn könnten? Sie machen, ist reine Illusionsbewirtschaftung. Oder Sie haben Zeier: Wir Jungfreisinnigen wollen die Entpolitisierung des etwas anderes im Sinne: mehr Umverteilung! Umwandlungssatzes und des Rentenalters. Oder positiv for- Bianchi: Das ist eben der Mehrwert der beruflichen Vorsorge, muliert: die Koppelung von Rentenalter und Umwandlungssatz dass wir gemeinsam im Kollektiv Anlageschwierigkeiten meis- an die Lebenserwartung. Und wir wollen endlich die freie Pen- tern – durch das, was Sie Umverteilung nennen, was aber sionskassenwahl der Versicherten. nichts anderes ist als Risikotragung im Kollektiv. Wenn man Bianchi: Was heisst denn hier «entpolitisieren»? Jede Formel das alles individualisiert, kann man einfach ganz auf die dritte hat letztlich eine politische Bewertung dahinter. Ich bin ge- Säule setzen. spannt auf Ihre Vorschläge, wie man einen entpolitisierten Rentsch: Es gibt sozialdemokratisch regierte bzw. stark sozial- Umwandlungssatz festlegen würde. demokratisch geprägte Länder, Dänemark und Schweden, die Zeier: Man kann das Rentenalter an die Lebenserwartung kop- versicherungsmathematisch saubere Lösungen haben. Die Ver- peln. Auch den Umwandlungssatz kann man objektiv festle- sicherten wählen ab 61, wann sie in Pension wollen. Arbeiten gen. Ich sehe da keinerlei politische Färbung. Sie wollen ein- sie länger, erhöht das die Rente. Das wird versicherungsmathe- fach nichts am Status quo ändern – weil er in Ihre Hände spielt. matisch berechnet. Ich frage mich, warum das dort möglich ist, Gehen wir von folgendem Szenario aus. Frau X hat 100 000 Franken während wir seit Jahrzehnten eine solche Diskussion führen, Alterskapital. Sie wird mit 64 Jahren regulär pensioniert: ohne dass eine nachhaltige Lösung sichtbar wäre. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 23 Jahre. Ja, Herr Rentsch, warum? Sagen Sie es uns! Der risikoarme Zins beträgt um die 0 Prozent. 100 000 geteilt durch Rentsch: Das dürften Sie nicht gerne hören, ich sage es aber 23 Jahre gibt etwa 4,3 Prozent. Der korrekt gerechnete Umwand- trotzdem: weil wir ein halbdirektes politisches System haben. lungssatz müsste also ungefähr 4,3 Prozent sein. De facto beträgt er Wir mussten und müssen immer Referenden gewinnen oder – dank politischer Bestimmung – 6,8 Prozent. Er soll jetzt gemäss vermeiden. Dieser Umstand hat auch die berufliche Vorsorge angedachter Reform gesenkt werden auf 6 Prozent. Schon herrscht geprägt. Das rächt sich nun mit einem überdeterminierten, bü- Aufruhr. Das kann doch nicht sein. Herr Rentsch – wo liegt das rokratischen System, über das alle klagen. Wer es wirklich re- Problem? formieren will, wird aber an der Urne scheitern – weil natürlich Rentsch: Wir haben zu viele Pflöcke eingeschlagen. Es ist, als niemand auf die gemachten Versprechungen zu seinen Guns- ob Sie ein quadratisches Feld abstecken mit vier Pflöcken. ten verzichten will, umso mehr als es sich um Rechtsansprüche Dann müssen sie einen Zaun darum herum machen und die handelt. Seitenlänge ist zehn Meter. Sie bekommen aber nur 35 Meter Ich werde nun erstmals unseren Pensionskassenspezialisten Draht. Sie müssen irgendeinen Pflock verstellen. Bei uns ist der Marco Betti aktivieren. Marco, siehst du es als realistisch an, falsche Pflock invariabel: Der Umwandlungssatz ist gesetzlich dass wir eines Tages eine versicherungsmathematisch saubere vorgeschrieben. Diesen Pflock müsste man verstellen. Und Lösung haben werden wie in Schweden – oder bleibt dies zwar lieber gestern als heute! auf absehbare Zeit ein frommer Wunsch? Ich habe mir eine Laienlösung überlegt. Man koppelt die Rente an Betti: Es gibt ja bereits solche Modelle, wie zum Beispiel jenes die Lebenserwartung und den risikoarmen Zins, man setzt eine der PwC. Herr Rechsteiner hat das mit Vehemenz bekämpft, als Formel ein, und das ergibt einen ehrlichen Umwandlungssatz – es bei den SBB zur Debatte stand. Ich weiss, ehrlich gesagt, das ist der Fixteil. Wenn die Renditen auf dem Kapital grösser sind auch nicht, wie wir in absehbarer Zeit aus dieser Bredouille als erwartet, gibt es zusätzlich einen variablen Teil. Fixteil und kommen können. Es gibt so viele Partikularinteressen. Bald wird variabler Teil: wie wär’s damit, Frau Bianchi? das AHV-Rentenalter mit dem Argument der Gleichstellung bei 9
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 «Wir Jungfreisinnigen wollen die Entpolitisierung des Umwandlungssatzes und des Rentenalters. Oder positiv formuliert: die Koppelung von Rentenalter und Umwandlungs- satz an die Lebenserwartung. Und wir wollen endlich die freie Pensionskassenwahl der Versicherten.» Maurus Zeier den L öhnen gefordert. Das sind alles Lösungen, die sich – ben 1972 ein 3-Säulen-System beschlossen, ein Umlagesystem plastisch ausgedrückt – in den eigenen Schwanz beissen. mit AHV, mit enormer Umverteilung und ein kapitalgedecktes Frau Bianchi, Sie kennen sich sehr gut aus mit Pensionskassen. System, dessen Prinzip lautet: die Renten werden finanziert Welches wäre aus Ihrer Sicht die optimale Lösung, wenn es nicht aus den Erträgen des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks. die ist, die wir bereits haben? Davon sind wir weit entfernt. Wir haben das System g eritzt. Es Bianchi: In Schweden gibt es neben diesem Pensionskassen- ist im aktuellen Zustand ein Verstoss gegen einen früheren modell eine umlagefinanzierte Vorsorge, ausserdem viele GAV- Volksentscheid. basierte Altersrücktrittsmodelle. Wir haben nun aber ein an- Herr Zeier, pro Jahr werden in der beruflichen Vorsorge je nach deres politisches System. Das spielt bei der Lösungsfindung Studie und Berechnung zwischen drei und acht Milliarden von den eine so wichtige Rolle wie die Versicherungsmathematik. Ich Einzahlenden zu den Empfängern umverteilt. Es geht also bereits staune, wenn politische Kreise, die sich ansonsten für die di- ein Teil Ihres Kapitals aus der 2. Säule verloren, aber Sie spüren rekte Demokratie aussprechen, bei Aspekten wie Rentenhöhe nichts. Schweigen darum die Jungen – Sie natürlich ausgenommen – und -alter die Sache an Technokraten delegieren wollen. Wir so beharrlich? entscheiden solche Fragen an der Urne – zum Glück! Wir ha- Zeier: Dass man es nicht spürt, ist Teil des Problems. Das politi- ben kein Altersvorsorgechaos. Das redet man sich politisch ein, sche System trägt insofern zum Problem bei, als man nur von aber die Systeme sind intakt. Rentenklau reden muss, um die Leute auf seine Seite zu brin- Rentsch: Die zweite Säule verteilt gegen vier Milliarden pro Jahr gen – gegen alle Vernunft und Evidenz! Es wäre technokra- von den Aktiven zu den Rentnern, damit die Rentenhöhe ge- tisch, wenn ein Gremium den Umwandlungssatz oder das Ren- halten werden kann. Sie können nicht sagen, dieses System sei tenalter bestimmen würde. Da sind wir dagegen. Unser Punkt stabil – es ist gesetzeswidrig, was wir machen! Punkt. Wir ha- ist ein anderer: mehr Mathematik, also mehr Ehrlichkeit, 10
Maurus Zeier, photographiert von Philipp Baer. 11
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 eniger Politik. Mein Eindruck: je länger es geht und je länger w das gewohnte Leben weiterführen zu können, sondern wir man wartet, desto klarer zeichnet sich ab, dass aus der 2. eine müssten uns mit der nackten Existenz begnügen. Dann sind zweite 1. Säule wird. Dann sind die Pläne des Gewerkschafts- wir bei Herrn Rentsch. Ich bezweifle, dass das Schweizer Volk bundes und der Linken erfüllt. Kompliment, Frau Bianchi! mit einem solchen Downsizing einverstanden wäre. Frau Bianchi, Sie unterscheiden zwischen Risikodiversifikation Rentsch: Sie haben politisch natürlich recht. Das ist die Kondi- und Umverteilung. Was denken Sie zur momentanen Lage: tionierung, mit der man die Abstimmungen gewonnen hat. Die Gibt es diese Umverteilung jenseits der Risikodiversifikation oder meisten Leute kennen die Details und Zusammenhänge nicht. gibt es die aus Ihrer Sicht nicht? Denn es ist klar: auf die Dauer Laut Vox-Analyse haben die Jungen unter 25 im Jahre 2010 das darf es sie von Gesetzes wegen nicht geben. Referendum gegen den angeblichen Rentenklau unterstützt. Bianchi: Momentan reichen die erwirtschafteten Erträge nicht Dass Sie noch keine Jungen getroffen haben, die sich gegen aus, um die technischen Zinssätze für die Renten sauber zu fi- diese Umverteilung wehren, Frau Bianchi, liegt daran, dass die nanzieren. Es reicht nicht, weil der dritte Beitragszahler, der Rechnung erst in ferner Zukunft präsentiert wird. Kapitalmarkt, nicht hergibt, was man sich erhoffte. Das kann, Herr Rentsch, dann ist Ihre Message, dass es keine sicheren Renten das dürfte sich aber auch wieder ändern. Wir reden im Bereich gibt, aber mit der Unsicherheit lässt sich keine Politik machen? der Vorsorge von einem langen Anlagehorizont. Ich staune, Rentsch: Ich habe da nun einmal eine ganz grundlegend andere wie auch grosse Kapitalismusfreunde jetzt sagen, die nächsten Sicht, gerade als Ökonom. Wenn Sie den Leuten ein System vierzig Jahre werde sich die Anlagewelt mit einem Zinssatz von versprechen, welches die Fortführung des gewohnten Lebens- gegen null oder negativ bescheiden müssen. Kapitalisten, wo standards staatlich garantiert, können Sie sicher sein, dass das bleibt denn das Vertrauen in den Kapitalismus? Schon in zehn private Sparverhalten der Leute dadurch beeinflusst wird. Das oder zwanzig Jahren kann die Situation ganz anders aussehen. ist ein Problem des Wohlfahrtsstaats. Wenn Sie den Leuten zu Selbst den Gewerkschaften bleibt nur die Hoffnung auf die viele staatliche Garantien versprechen, verändern die deren Segnungen des Kapitalismus – das nenne ich mal eine schöne Verhalten. Diese Anreizwirkungen sind fundamental, werden Konstellation! aber kaum thematisiert. Leider. Bianchi: Ein Kapitaldeckungssystem, deren Verantwortliche Bianchi: Ich denke nicht, dass in der Schweiz zu wenig gespart nicht an Erträge glauben, ist ein Unding. Dann können wir wird. Wenn wir die zweite und dritte Säule und Wohneigentum gleich alles auf Umlage setzen. Schauen Sie: die Umvertei- zusammenrechnen, kommt einiges zusammen. Wir dürfen lungsproblematik ist ein Thema, das vor allem in den Publika- aber nicht vergessen, dass auch das Konsumieren quasi eine tionen der Pensionskassen sehr gehypt wird. Ich habe noch Bürgerpflicht ist. Ansonsten läuft der Laden nicht. Das Leis- keinen jungen Beitragszahler getroffen, der mir mit grosser tungsziel der Altersvorsorge ist ein guter Wirtschaftsmotor. Empörung gesagt hätte: «So geht das nicht, wir zahlen für die Auch die Alten bringen Gelder in Umlauf. Es wäre für die Volks- Rentner, also proben wir den Aufstand.» wirtschaft nachteilig, wenn die Alten auf niedrigem Niveau Rentsch: Wir haben seit 1985 das Volk so konditioniert, dass ge- gehalten würden. nau das erwartet wird, was Frau Bianchi gesagt hat: gesicherte, Rentsch: Ich spreche eben davon, dass obligatorisches Zwangs- immergleiche Renten. Das ist in einem kapitalgedeckten Sys- sparen ersetzt wird durch freiwilliges privates Sparen! Dann tem schlicht nicht möglich, weil der Ertrag des volkswirt- haben Sie nicht weniger Konsum, sondern Sie senken bloss das schaftlichen Kapitalstocks risikobehaftet ist. Man kann den Zwangssparen – und haben eine viel bessere Anreizstruktur Leuten nicht fixe Renten aus der 2. Säule versprechen. Das und stärken die Eigenverantwortung. kann man in der AHV vielleicht bis zu einem gewissen Grad, Herr Zeier, es scheint, als wären sich Frau Bianchi und Herr Rentsch aber auch dort ist es problematisch. Die Linke war immer skep- in einem Punkt einig: Echte Reformen sind nicht möglich, tisch gegenüber der 2. Säule. Eigentlich wollten sie lieber eine weil sie Leistungskürzungen oder Beitragserhöhungen bedeuten Volkspension. Die haben sich angepasst, aber sie wollen immer würden. Das nehmen die Leute nicht hin. Sind Sie mit dieser noch die AHV ausbauen. Wir stehen mittendrin in einer Verun- Diagnose einverstanden? reinigung des Systems. Zeier: Aus zweckoptimistischer Sicht muss ich Herrn Rentsch Bianchi: Herr Rentsch hat recht, was die Skepsis betrifft. Aber widersprechen. Das PwC-Modell ist meiner Meinung nach hoch- er vergisst zu sagen, dass wir die sind, die sich für gute Renten interessant. In Übereinkunft mit den Rentnern haben sie Anpas- einsetzen und nun sagen, auch die 2. Säule müsse ein leis- sungen vorgenommen. Josef Bachmann, der Geschäftsführer der tungsstarkes System sein. Und zweitens: die berufliche Vor- PwC-Pensionskassen, hat praktisch mit jedem Rentner gespro- sorge ist nun einmal kein reines Kapitaldeckungssystem. Wir chen und die Situation erklärt: die Jungen finanzieren die Alten. müssen uns an Leistungsziele halten, die die Bundesverfas- Das wollen die Alten nämlich selbst nicht – und sie haben einge- sung vorgibt. Entweder wir revidieren die Verfassung und sa- willigt, die Vorsorge im Rahmen des Möglichen zu reformieren. gen, es gehe nicht mehr, mit AHV- und Pensionskassenrente Reformen sind also möglich, auch im Rahmen eines Urnengangs! 12
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 Rentsch: Strukturelle Reformen wirken nicht schnell genug. Publikum: Wir haben jetzt fast nur über Technizitäten zur Zum Beispiel die Erhöhung des Rentenalters. Das dauert lange, 2. Säule geredet, gar nicht aber über die 1. Säule, wo die wirk bis es wirkt – dafür wirkt es nachhaltig. Hingegen wirkt die Er- lichen Probleme drohen. Also auch nicht über die absehbar im- höhung der Mehrwertsteuer sofort – und darauf dürfte am mer stärker werdende Umverteilung – da werden immer mehr Ende die ganze Diskussion hinauslaufen, wenn wir ehrlich Milliarden fliessen in den kommenden Jahren. Wie sehen Sie sind: wir erhöhen die Mehrwertsteuer um ein paar weitere Pro- als Podium hier die Möglichkeiten, um aus diesem Teufelskreis zente, um die Vorsorge zu sanieren. Und haben wieder Ruhe hinauszukommen? für ein paar Jahre. Bianchi: Die Zukunft der Altersvorsorge liegt in der Stärkung Stichwort Rentenalter, das kommt mir sehr gelegen: der AHV. Aktuell sind wir in einem umlagefinanzierten System Ich arbeite gerne bis 70, wenn ich fit bin. wesentlich leistungsfähiger unterwegs als in der 2. Säule. Die Woher kommt diese Fetischisierung des Rentenalters 65? AHV entwickelt sich, allen Unkenrufen zum Trotz, solide. Laut Wir leben doch nicht mehr zu Bismarcks Zeiten. Couchepins früheren Prophezeiungen wäre die AHV heute Bianchi: Diesen Fetisch gibt es nicht. Viele Leute, die vom Ar- bankrott. Ist sie aber nicht, denn sie schreibt schwarze Zahlen. beitgeber darum gebeten werden, länger zu arbeiten, machen Sie wird auch nicht bankrottgehen, wenn die Babyboomer dran das ja auch jetzt schon. Die Normalität sieht aber leider anders sind. Da ist eine Zusatzfinanzierung über die AHV eine vertret- aus. Heute sind viele Firmen froh, wenn einer das Rentenalter bare Option. Die Alternative wäre es, alles privat anzusparen. erreicht und weg ist. Das machen die Leute aber nicht mit, da die Erträge so gering Zeier: Die Beschäftigungsquote der Älteren ist sehr hoch in der sind. Da ist eine solidarische Umlagefinanzierung weit, weit Schweiz. Was Sie sagen, ist reinste Panikmache. Das Problem effizienter. sind doch gerade die hohen Sozialabgaben im Alter, die gesetz- Rentsch: Wir haben uns bei der Analyse der Probleme der AHV lich festgelegt werden – zu ihnen zählen auch jene in die beruf- nur zeitlich getäuscht. Die Probleme kommen. Die sind nicht liche Vorsorge. Wir werden bestimmt immer älter, also auch zu vermeiden. Bisher war es leicht zu sagen, das wären alles immer teurer, aber nicht unbedingt produktiver! Kassandrarufe von Bürgerlichen. Gerade jetzt hat man in der Rentsch: Ich bin absolut einverstanden mit Ihnen, Herr Scheu. Zeitung lesen können, dass die Ausgaben höher waren als die Man muss arbeiten – und irgendwann muss man nicht mehr Einnahmen. Warum hat sich die Prognose im Timing so ver- arbeiten: Solche politischen Vorgaben sind aus anreiztheoreti- schoben? Wegen der Immigration, das ist ganz klar. Wenn man scher Sicht verheerend. Eine Totalflexibilisierung der Pensio- davor die Augen verschliesst, ist das reine Politik, weil man nierung wäre längst fällig. Und das ist ja nun wirklich keine re- weiss, man kommt damit an bei den Leuten. Die Probleme sind volutionäre Idee. ungelöst. Auch die Berset-Revision wird sie nicht nachhaltig Wollen beziehungsweise können wir uns, gut helvetisch, lösen, weil wir nicht bereit sind, ein versicherungsmathema- zum Schluss auf diesen Grundkonsens einigen: tisch vernünftiges System einzuführen. Lieber wollen wir es Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Aufklärung, politisiert lassen, mit einer Art Leistungsprimat. Ich sehe damit die Versicherten sich für ihre Vorsorgegelder schwarz. zu interessieren beginnen? Herr Zeier, sagen Sie etwas Positives! Bianchi: Etwas mehr Gelassenheit rund um die Altersvorsorge Zeier: Also ich sehe auch schwarz. Die «Altersvorsorge würde allen involvierten Parteien gut anstehen. Die Leute wollen 2020»-Reform ist für mich frustrierend. Sie zeigt, wie ver- in erster Linie ein Rentensystem, das ihnen im Alter ein anständi- korkst die Situation ist. Man versucht es allen Seiten recht zu ges Leben ermöglicht, ohne ständig optimieren zu müssen. machen. Kaum ist die Reform draussen, kommen die Gegner Rentsch: Falsch! Da haut es mir den Nuggi raus. Das System ist und sagen, 65/65 sei unannehmbar, und schon schlagen sich intransparent und bürokratisch. Darum kann man es den Leu- alle die Köpfe ein. Vor sechs Jahren haben wir den Generatio- ten nicht zum Vorwurf machen, dass sie so wenig über ihre ei- nendialog gegründet, einen bürgerlichen Schulterschluss von gentliche Vorsorge wissen. Und ganz klar: die Leute haben sich Junger CVP, den Jungfreisinnigen und der Jungen SVP. Auf bür- zu sehr an den Status quo gewöhnt. Sie sind konditioniert. Sie gerlicher Seite gibt es eine Generation, die diese Probleme er- können sich einen solchen Wechsel zu einem freiheitlichen kennt. Der Generationendialog setzt sich für Entpolitisie- System nicht vorstellen. Ich würde es so sagen: alles scheint rungsforderungen ein. Ich würde niemals sagen, dass ein wunderbar – bis es irgendwann nicht mehr wunderbar läuft. System funktioniert, um dann am Ende doch eine Mehrwert- Dann heulen alle auf. steuerfinanzierung zu verlangen. Das ist unehrlich und bedeutet, Zeier: Ich sage Ihnen: unter den Jungen regt sich Widerstand. die Leute für nicht voll zu nehmen! Machen Sie sich in den kommenden Jahren darauf gefasst! Marco Betti, wie wird sich der Altersvorsorgediskurs Ich höre, da will sich jemand aus dem Publikum zu Wort melden. in den kommenden Jahrzehnten entwickeln? Werden wir ewig Nur zu! weiterdiskutieren – oder machen wir Nägel mit Köpfen? 13
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 Betti: Was ich mir erhoffe, ist, dass das Volk nicht permanent Gregor Szyndler angelogen wird. Eine Pensionskasse rechnet heute im Schnitt mit einem technischen Zins von etwa drei Prozent. Das bedeu- tet, dass die Passiven zu rund vierzig Prozent unterschätzt wer- den, und zwar absichtlich. Auf den Aktiven hat man einen im- Gut zu wissen #1: pliziten Zins von null oder minus eins und rechnet in grösster Ruhe mit einem ganz anderen, imaginären Zins. In der Indus SM-BVG-Streitgespräch trie würde jeder, der ein solches Testat abgibt, ins Gefängnis wandern. In der PK-Welt ist es zulässig. Frau Bianchi würde jetzt sagen, die Verhältnisse könnten sich E auch wieder ändern, damit auch das Zinsumfeld – und damit auch s gehört zum Konzept dieser Zeitschrift, der technische Zins. leidenschaftliche Streitgespräche mit Betti: Wir haben seit zwanzig Jahren einen zu hohen techni- interessanten Experten zu organisieren. schen Zins. 1985 war das alles im Gleichgewicht. Seit 1996 ist Eine kleine Auswahl von Schmankerln aus dies nicht mehr der Fall. Wir haben längst griechische Verhält- den BVG-Sonderpublikationen zeigt, wo nisse. Das Publikum wird aber nicht aufgeklärt – es gilt als poli- es in früheren Auflagen dieser Streitgespräche langging, tisch nicht opportun. Es bräuchte nur ein paar kleine Änderun- wo es rund ging, wo es hoch zu- und herging, wo die gen. Beispielsweise muss man Kassen zulassen, die nur für Geister sich schieden und wo sie sich wieder fanden. Rentner sind. Man wird dann feststellen, dass ein Umwand- 2014 moderierten René Scheu und Florian Rittmeyer das Aufeinandertreffen von Finanzmarktökonom lungssatz von 6 Prozent nicht finanzierbar ist. Er muss dann Martin Janssen und Gewerkschaftsbundpräsident um die 4 Prozent sein. Wenn wir nichts tun, werden die nötigen Paul Rechsteiner. Der Schlagabtausch stand unter dem Änderungen über Nacht kommen müssen – und dann wird es Motto «Wenn ökonomische auf politische Realitäten richtig unangenehm. prallen». Paul Rechsteiner definierte die Stärke der Bianchi: Ich stelle fest, dass man nach der jahrelangen Schwarz- AHV optimistisch als die Fähigkeit zum Ü berleben ihrer malerei in der AHV nun schwarz malt bei der beruflichen Vor- eigenen Totsagung. Er verlangte einen über die eigenen sorge. Das nehmen die Leute einem nie und nimmer ab! Interessen hinausgehenden, langfristigen Blick auf Betti: Sie wissen doch ganz genau, was eine Barwertrechnung die Materie. Angesichts der von Martin Janssen vorge- ist, Frau Bianchi. rechneten Diskrepanz zwischen den SGB-Wunsch-Zinsen Bianchi: Natürlich, aber das ist eine Zahlenspielerei, die letzt- und tatsächlich an den Märkten erwirtschafteten Zinsen lich einen bestimmten Zweck verfolgt. Die Absicht hinter die- fragte er: «Sind Sie etwa Pessimist?» – worauf Janssen ser Schwarzmalerei ist, dass die Leute privat ansparen, dass sie erwiderte: «Ich bin Unternehmer und demnach viel mehr ihr Geld zu Bank und Versicherungen bringen. Optimist als Sie!» Die beiden Optimisten fanden sich nach dieser Debatte am Buffet wieder. Betti: Nein! Ich möchte nur Transparenz haben und freie Wahl. 2013 stiegen der Ex-Gewerkschaftsbundsekretär Zeier: Genau. Nur das. So etwas ist doch keine Hexerei, es geht Beat Kappeler und Daniel Lampart, damals noch nur um die freie BVG-Wahl! Chefökonom und Sekretariatsleiter des SGB, in den Ring. Bianchi: Ich staune, dass auch junge Politiker immer wieder Daniel Lampart v erkaufte den Kapitalismus mit dem solche alten Kalauer bringen. Argument (man beachte die merkelsche Diktion!), Zeier: Das ist doch kein alter Kalauer! Die besten Kalauer kom- dass er ohne Alternative sei – man brauche ihn und men ohnehin von den Linken, das muss man ihnen lassen. seine Auswüchse nur mit realistischen b ehördlichen Bianchi: Seit 1975 ist die freie Pensionskassenwahl immer Vorgaben zu bändigen. Beat Kappeler konterte, dass er wieder Thema. Der Bundesrat hat zig Berichte dazu geschrie- nicht das Vertrauen in den Kapitalismus an und für ben. Wir haben schon eine freie Wahl im Krankenkassen sich v erloren habe. Vielmehr habe er zu wenig Vertrauen bereich. Ich glaube kaum, dass Lösungen auf Krankenkassen in einen Kapitalismus, an dem dermassen herumgedok- niveau sinnvoll sind bei den PK. tert werde. Er sagte aber auch: «Das ist eben der Fluch Zeier: Aber das ist doch ein interessantes Beispiel, denn gerade der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.» – «War das jetzt Goethe?», fragte René Scheu. bei den Krankenkassen wird die freie Wahl ja auch immer «Schiller», lautete die reflexhaft nachgeschobene wieder bestätigt an der Urne. Antwort. Eine lapidare Antwort ist das, und die reinste Betti: Es geht um eine kleine Änderung. Wenn ich bei einem Prophezeiung: wird man doch den designierten NZZ- alten Arbeitgeber aufhöre und bei einem neuen beginne, muss Feuilleton-Chef bald öfter mal in der gleichnamigen ich die Wahl haben, ob ich in der neuen oder in der alten Kasse Brasserie antreffen.� einzahlen will. Diese kleine Wahl wird alles verändern. � 14
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 Facts & Figures Die Anzahl Gesetze und Verordnungen zum BVG trägt bei zur Systemstarre. Der Rentenklau findet bereits statt: nicht an den jetzigen, sondern an den künftigen Rentnern. Die demographische Entwicklung betrifft Bildung, AHV, Altersvorsorge und -pflege. Abbildung 1 Das gesetzliche Umfeld der beruflichen Vorsorge wird zunehmend komplexer 200 Anzahl Seiten Gesetze und Verordnungen Freizügigkeitsgesetz (FZG) 150 BV-Verordnungen (BVV 1–3) Verordnungen 100 50 Gesetze 0 Quelle: Avenir Suisse 1981 1984 1987 1990 1993 1996 1999 2002 2005 2008 Abbildung 2 Zu hohe Umwandlungssätze sind Rentenklau Umverteilung pro Neurentner in Schweizer Franken Bei Umwandlungssatz 6,8 % statt 6,4 % 19 000 CHF (Vorlage 2010) 6,8 % statt 6,0 % 40 000 CHF (Altersvorsorge 2020) 6,8% statt 5,65% 61 000 CHF (Publica ab 2015) Quelle: Avenir Suisse 0 20 000 40 000 60 000 80 000 Abbildung 3 Alterung tangiert vor allem Altersvorsorge und -pflege Anzahl Aktive (20–64) Anzahl Aktive (20–64) Anzahl Aktive (20–64) Anzahl Jungrentner (65–79) pro Jugendliche (0–19) pro Rentner (65+) pro Hochaltrige (80+) pro Hochaltrige (80+) 3,1 3,4 12,3 2,6 2,9 2,9 -45% -63% -46% - 2,1 2,3 1,9 7,1 1,4 4,5 Quelle: Avenir Suisse 2015 2035 2055 2015 2035 2055 2015 2035 2055 2015 2035 2055 Relevant für die Relevant für die Relevant für die Relevant für die Bildung von Finanzierung der Durchführung professio- Leistung freiwilliger Jugendlichen Altersvorsorge (AHV) neller Alterspflege Alterspflege 15
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 2 Umverteilung gegen die Jugend Das Ausmass der bereits stattfindenden generationenübergreifenden Umverteilungen zeigt sich in einer Gesamtschau der Geldströme zwischen Jung und Alt. Das ernüchternde Fazit: Reformen werden nur dann speditiv angegangen, wenn die ältere Generation Nutzniesser ist. von André Müller U m die Generationengerechtigkeit zu beurteilen, muss man alle Geldflüsse von Jung zu Alt (und umgekehrt) be- trachten, auch jenseits der Altersvorsorge. Die Lasten werden André Müller ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als freier Mitarbeiter bei der «Neuen Zürcher Zeitung». Er ist Mitglied der Operation Libero, einer dabei immer mehr auf die Schultern der Jungen verschoben, Bewegung, die sich für liberale Lösungen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen einsetzt. wie folgende vier Beispiele zeigen. Es beginnt bei scheinbar kleinen Anpassungen im Ge- sundheitswesen: Der Bundesrat schlägt vor, die Prämienra- 140 Millionen Franken. Auch hier gilt: nicht die Anpassung an batte für die Wahl der höchsten Franchisenstufe zu reduzie- sich ist stossend, sondern der politische Grundsatz dahinter. ren. Damit erhöht er nicht nur die Vollkaskomentalität in der Reformen werden schneller angepackt, wenn die ältere Genera Krankenkasse, sondern auch die Umverteilung zum Alter hin, tion davon profitiert. denn: Viele jüngere Menschen nutzen die Krankenkasse als Das dritte Problem hat Hans-Werner Sinn vor einem Jahr klassische Versicherung gegen unvorhersehbare Grossrisiken an dieser Stelle angesprochen. In den deutschsprachigen Län- und wählen daher die höchstmögliche Franchise von 2500 dern unternimmt der Staat verhältnismässig wenig, um die ex- Franken. Sie sind die Leidtragenden, wenn der bundesrätliche ternen Effekte der Kindererziehung zu internalisieren. Wer Vorschlag umgesetzt wird. In den Medien wurde dieser Vor- heute Kinder hat, muss selbst für die Kosten aufkommen, wäh- schlag aber in erster Linie unter dem Aspekt der Eigenverant- rend (zumindest ökonomisch betrachtet) zu einem grossen wortung und der Solidarität zwischen Kranken und Gesunden Teil andere den Nutzen davon tragen, weil diese Kinder in besprochen, der Generationenaspekt wurde vernachlässigt. dreissig Jahren die Altersvorsorge aller bestreiten werden. Das Dem Vernehmen nach steht im Parlament zwar zur Debatte, ist ungerecht und ineffizient. Das gilt hierzulande besonders jungen Erwachsenen bis 35 einen Teil ihrer Risikoausgleichs- ausgeprägt: in der Schweiz zahlen Eltern deutlich mehr für zahlungen an die Älteren zu erlassen; das ist allerdings noch Krippenplätze als im benachbarten Ausland, wie ein Bericht nicht umgesetzt. des Bundesrats in diesem Sommer aufzeigte. Weil die Krippen- Ein zweites Beispiel findet sich in der jüngsten Auseinan- kosten zudem nur begrenzt von den Steuern abzugsfähig sind, dersetzung um die Sozialhilfe. Die deutlichen Kürzungen weil Prämienverbilligungen und weitere Subventionen bei beim Grundbedarf für junge Erwachsene und Grossfamilien steigendem Einkommen rasch wegfallen und weil Ehepaare müssen nicht falsch sein. Dass der deutlich höher angesetzte gemeinsam besteuert werden, lohnt es sich für ein (meist jun- Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV ges) Elternpaar mit mittleren Einkommen kaum, seine gemein- kaum Bestandteil dieser Diskussion war, erstaunt aber, da same Arbeitsleistung zu erhöhen, denn ihnen schlagen enorm diese die öffentliche Hand 2014 laut Bundesamt für Statistik hohe Grenzsteuersätze entgegen. Die Quittung für dieses 2,7 Milliarden kosteten, Tendenz steigend. Das Departement schlecht abgestimmte Steuersystem erteilen die Jüngeren des Inneren hat zu den EL zwar eine grosse Reform angekün- gleich zweifach: mit einer niedrigen Rate an Vollzeit erwerbs- digt, die Schwelleneffekte und den Fehlanreiz beheben soll, tätigen Frauen und dem Verzicht auf Kinder. Beides setzt die möglichst alles Geld vor dem Eintritt ins Altersheim auszuge- Altersvorsorge weiter unter Druck. Der Bundesrat möchte die- ben; es scheint damit aber nicht zu eilen. Dabei wären Ideen, ses System verbessern, doch brachte erst die Angst vor dem beispielsweise eine obligatorische Pflegeversicherung, durch- Fachkräftemangel die Politmaschinerie ins Laufen und nicht aus vorhanden. Ein Element musste indes rasch – noch vor den die Ungerechtigkeit an sich. Dabei ist auch diese Schieflage Wahlen? – beschlossen werden: die Erhöhung der EL-Mietzu- nicht von gestern auf heute entstanden, seit Jahrzehnten wird schüsse aufgrund der gestiegenen Mieten. Kostenpunkt: vor dieser demographischen Klippe gewarnt, ohne dass diese 16
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 externen Kosten für junge Eltern angepackt werden. Die hohe schreckte bei der Erbschaftssteuerinitiative davor zurück, alte Zuwanderung hat den Effekt der tiefen Geburtenrate in der Hüsli-Besitzer zu verärgern, und baute einen Freibetrag von Schweiz über lange Zeit gemildert, damit der Politik aber auch zwei Millionen Franken in den Initiativtext ein. Ohne die älteren eine Entschuldigung gegeben, die nötige Diskussion um diese, Wähler lässt sich anscheinend kein Staat machen, weder links um die eigentliche, Generationenfrage auf den St.-Nimmer- noch rechts. leins-Tag zu verschieben. Die Migration bringt indes keine dauerhafte Lösung des Alterungsproblems und sollte daher Natürlich ginge es noch schlimmer – auch nicht in diesem Kontext diskutiert werden: Sie kann, über aber es geht auch besser einen Einmaleffekt, den abrupten demographischen Übergang Die Schweiz ist mit diesem schleichenden Trend zur Ge- bei der Pensionierung der Babyboomer abfedern helfen. Weil rontokratie kein Einzelfall. In den USA türmen sich die Pensi- die neuen Arbeitskräfte selbst wieder Rentenansprüche auf- onsversprechen des Staats an seine Bürger immer höher, wes- bauen, verwandelt sich die Altersvorsorge ohne Anpassungen halb diese noch immer nicht sparen, sondern munter weiter aber erst recht zum Schneeballsystem. konsumieren; die grossen Versprechen werden allerdings nie- Das vierte Beispiel betrifft die Ausgestaltung des Steuer- mals eingehalten werden können. In Deutschland hat die systems: Arbeit (und Kapital) müssen in der Schweiz einen zu grosse Koalition ihrer treuen, ergrauten Wählerschaft mit der hohen Anteil der Steuerlast stemmen. Zur Einkommenssteuer Rente ab 63 ein üppiges Startgeschenk gemacht. Auch in kommen die Sozialabgaben und die mannigfachen impliziten Grossbritannien hat die konservative Regierung in den letzten Steuern wie die bereits erwähnten, einkommensabhängig Jahren angesichts riesiger Defizite staatliche Leistungen zu- wegfallenden Prämienverbilligungen. Dieses System trifft vor sammengestrichen – und dabei einzig die Privilegien der Rent- allem Arbeitnehmer und bedrückt Arbeitsangebot und Pro- ner nie angetastet. Letztere haben es den Tories mit einer duktion. Denn: je mehr man arbeitet, desto mehr muss man komfortablen Wiederwahl gedankt. In Griechenland oder abgeben. So verschärft sich das Problem, dass bald einmal zu Italien wiederum hat der Staat den Rentnern über lange Jahre wenige Menschen im arbeitsfähigen Alter für zu viele Rentner einen nicht nachhaltigen Lebensstandard finanziert. Die aufkommen müssen. Eine Lösung wäre denkbar, wenn die Suppe auslöffeln dürfen kommende Generationen, die den wohlhabende Rentnergeneration anteilsmässig mehr Steuern Schuldenberg, den ihre Vorgänger angehäuft haben, in müh- zahlt: Arbeitnehmer haben meist viel Einkommen, aber wenig seliger, jahrzehntelanger Arbeit wieder abtragen dürfen. Vermögen, bei den Pensionierten ist es umgekehrt. Um den Es gibt also noch schlimmere «Generationensünder» als Faktor Arbeit freizuschaufeln, müsste das Steuersystem ver- die Schweiz.1 Hier hat der Staat, das muss man ihm fairerweise ändert werden, weg von Einkommens- und hin zu Boden-, zugutehalten, sich zumindest bezüglich Staatsverschuldung Konsum- und Vermögenssteuern – ohne Erhöhung der Staats- im engeren Sinne stark zurückgehalten, nicht zuletzt dank der quote und unter Beibehalt des Progressionsverlaufs. Das hätte Schuldenbremse. Bei uns ist die Staatsschuldenquote (nach ei- den willkommenen Nebeneffekt, dass das Steuersystem das nem Anstieg in den 90er-Jahren) mehr oder weniger stabil Verhalten der Besteuerten weniger verzerrt: Steuern können geblieben. den Arbeitsanreiz schmälern, aber nicht den Boden. Ein s olches Ein schaler Beigeschmack bleibt: Das Bundesamt für Sta- Vorhaben ist aber weit und breit nicht in Sicht. Sogar die Linke tistik hat im letzten Jahr die Altersarmut untersucht und fest- «Ohne die älteren Wähler lässt sich anscheinend kein Staat machen, weder links noch rechts.» André Müller 17
Schweizer Monat SONDERTHEMa Dezember 2015 gestellt, dass die Quote der Menschen, die unter materiellen Gregor Szyndler Entbehrungen zu leiden haben, unter Kindern und Jugendli- chen mit Abstand am höchsten ist (4,8 Prozent). Bei den Über- 65-Jährigen sind nur 1,7 Prozent betroffen. In vielen Fällen un- terstützt die «Rentnerpolitik» also gar nicht die ärmsten Be- Gut zu wissen #2: wohner des Landes, was noch immer die wichtigste Aufgabe «Gerontokratie» des Sozialstaats sein muss. Das macht die forcierte Umvertei- lung von Jung zu Alt besonders ungerecht. D er Begriff «Gerontokratie» vereint Massenhaft Anschauungsmaterial die altgriechischen Ausdrücke für Greise Das Wahljahr bot wie erwähnt reiches Anschauungsmate- (gerontes) und Herrschaft (krátos). rial an fehlgeleiteter Politik zugunsten der alternden Babyboo- G. bedeutet also nichts anderes als «Herr- mer und der Kriegsgeneration. Diese finden in Bern mehr Be- schaft der Greise». Schon bei Homer fin- achtung als frühere Generationen von Älteren: Sie sind sehr den sich solche Ältestenräte, die etwa als Königsberater gute Wähler. Erstens gibt es schlicht mehr von ihnen, zweitens fungieren. In archaischen Gesellschaften korrespon- ist der Ausländeranteil unter den Rentnern viel niedriger als in dierte das Minimum verbliebener Lebenszeit ohnehin der Gesamtbevölkerung und drittens gehen die alten Schwei- mit dem Maximum an Macht – Alter war ein Distinktions zer fleissiger an die Urne als die jungen. merkmal. Den Jüngeren blieb nichts übrig, als selbst Dieser «graue Bias» liesse sich vielleicht durch ein von den zu vergreisen, ein hilfloses «Tempus fugit!» zwischen Eltern wahrgenommenes Wahl- und Stimmrecht für Kinder den Zähnen. Galt der Begriff in der Antike als positiv, wird er ausgleichen, wie es Hans-Werner Sinn in dieser Publikation heute meist polemisch verwendet – überzufällig oft von schon vorgeschlagen hat. 2 Aber vermutlich braucht es nicht berufener Stelle! So frotzelte der republikanische einmal diesen «grossen Wurf», sondern viele, hartnäckig ein- Ex-Präsidentschafts-Anwärter Newt Gingrich, selbst geforderte kleine Verbesserungen; als erstes einen entpoliti- jugendliche 72 Lenze, dass das demokratische Kandidaten sierten Umwandlungssatz für die zweite Säule. So würde zu- feld die reinste G. sei. Oder Jungspund Erdogan, 61 Jahre, mindest die offensichtlichste Form der nicht vorgesehenen stellt sich als Antidot zur herrschenden G. in der Türkei Umverteilung ausser Kraft gesetzt. dar, als Verjüngungskur, die er so lange sein will, bis er In einem nächsten Schritt sollte sich die Politik zum Ziel selbst vergreist und zur G. gehört. Aber auch was jung setzen, einen besseren Überblick über die Geldströme zwi- daherkommt, wird gern von der G. dominiert: wir denken schen den Generationen zu gewinnen. Diese Gesamtsicht an die Formel 1 und Bernie Ecclestone oder an die müsste nebst den hier erwähnten Themenfeldern noch wei- 286 Jahre, die die Rolling Stones auf die Bühne bringen tere umfassen. Betroffen sind auch die Bildungspolitik (Schul- (notabene nur die aktuelle Besetzung). und Stipendienwesen) oder die Wohnpolitik. Das Ziel ist es Deutschland ist seit diesem Jahr laut Hans-Werner Sinn (SM Sonderthema 20/Dezember 2014) eine G. dabei nicht, jegliche Transfers zwischen Alt und Jung zu unter- Es gibt mehr Rentner als Beitragszahler. Die Profiteure binden. Vielmehr sollten die Veränderungen registriert wer- einer Ausweitung des Rentensystems sind in der Mehr- den, damit die Politik Gegengewicht geben kann, wenn sich die heit, allfällige Anpassungen zugunsten der Beitrags Gesamtbilanz stark zuungunsten der einen Generation ent zahler müssen sich gegen deren Widerstand durchsetzen. wickelt. Es geht nicht um Sozialabbau und Rentenklau, Der Generationenvertrag steht vor einer Bewährungs- s ondern um nachhaltige Politik, deren Pfeiler über unsere probe. In spätestens zehn Jahren rächt sich heutiges Generationen hinaus den Sozialstaat sichern. Daran sollten Nichtstun. Der Altenüberschuss in Deutschland ist indes alle im Land ein Interesse haben – Jung und Alt. � heute schon so gross, dass es nicht erstaunen würde, wenn auf «Mutti» 2017 ein «Opi» folgen würde. Aber G. hin oder her: das Alter ist kein Selbstzweck. Es gilt, was der rumänische Pessimist Emil Michele Cioran sagte: «Das Alter ist die Selbstkritik der Natur.» 1 Sicher nicht zu den Generationensündern gehört Schweden. Schon in den 1990er Jahren hat man sich dort vom regulären Rentenalter verabschiedet Wer oder was alt wird, hat sich bewährt, und es soll und berechnet die Höhe der Renten in Abhängigkeit von der durchschnitt gerade deshalb auch den Jüngeren zugutekommen. lichen Lebenserwartung und dem effektiven Pensionsalter des Bezügers. Die Entscheidung, wann er sich pensionieren lassen will, bleibt dem einzel- Die Altersvorsorge ist auch kein Selbstzweck. Sie muss nen überlassen. Man muss die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen, in die Selbstkritik der Politik sein, die Fähigkeit, zwischen Form tieferer Renten bei früherer Pensionierung. Derzeit strebt Schweden eine Erhöhung des Zielbandes für das Renteneintrittsalter an. Jung und Alt zu vermitteln und tragbare Lösungen zu 2 Hans-Werner Sinn: «150 000 Euro pro Kind», in: «Realitätscheck für die finden. � Schweizer Altersvorsorge», Sonderthema 20, Dezember 2014, S. 16 ff. 18
Schweizer Monat SONDERTHEMA Dezember 2015 3 Die Reform nach der Reform Wer heute pensioniert wird, dem fehlt viel Geld, um die versprochene Rente zu finanzieren. BVG und AHV müssen gleichzeitig angepasst werden. Der hohe Norden geht mit gutem Beispiel voran. von Marcel Schuler E in Durchschnittsschweizer erhält, gemessen am letzten Ge- halt, im Vergleich zum Ausland eine deutlich höhere Rente und kann diese über einen längeren Zeitraum beziehen. Um die- Marcel Schuler studiert Politikwissenschaften und ist Vorstandsmitglied der Jungfreisinnigen Schweiz. ses hohe Niveau halten und auch künftig im Alter finanziell sor- genfrei leben zu können, braucht es strukturelle Anpassungen Suisse 4 aufgrund des zu hoch angesetzten Umwandlungssat- und Reformen. Dabei dürfen wir nicht nur bis zur nächsten Re- zes. Bis 2030 liegt die Finanzierungslücke der Schweizer form schauen, sondern wir müssen unseren Blick auch auf die Altersv orsorge damit im dreistelligen Milliardenbereich. Die weiter entfernte Zukunft richten. Zeit zum Handeln ist jetzt gekommen! Dank Technologie und medizinischem Fortschritt leben Obschon das angesparte Geld in absehbarer Zeit nicht mehr wir Menschen jedoch nicht nur länger, sondern wir bleiben für die eigene Rente reicht, ist der Reformdruck noch nicht in auch länger gesund. Dadurch hat sich der Rentenbezug seit der den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Wie schon in frühe- Einführung der AHV um elf Jahre verlängert und das Verhält- ren BVG-Publikationen des «Schweizer Monats» angedeutet nis von Rentnern zu Erwerbstätigen hat sich beinahe verdrei- wurde 5, ist das Versorgungsmotiv vergessen gegangen, so dass facht: 1948 wurde ein Rentner noch durch 6,5 Erwerbstätige die Sensibilität für abstrakte, demographische Probleme und finanziert, 2007 waren es nur noch 3,7 und 2035 werden es nur die Folgen für umlagefinanzierte Rentensysteme gering ist. noch 2,1 Erwerbstätige sein.1 Auch die 2. Säule kommt durch Auch das Meinungsforschungsinstitut gfs bestätigt, dass Mehr- diese Entwicklung unter Druck: Bei einem Umwandlungssatz heiten im Hinblick auf die Zukunft davon ausgehen, dass die von 6,8 Prozent erhält ein Pensionär oder eine Pensionärin mit Altersvorsorge grundsätzlich funktioniere. Mit seinem Ent- einem selbst angesparten Altersguthaben von 100 000 Fran- scheid, die Altersvorsorge zu reformieren und einen neuen An- ken jährlich eine Rente von 6800 Franken. Dieses Guthaben ist lauf zu einer politischen Veränderung in der Schweizer Renten- jedoch nach 14,7 Jahren, also im Alter von knapp 82 Jahren, politik zu nehmen, sendet der Bundesrat jedoch ein deutliches aufgebraucht. Die grundsätzlich erfreuliche Zunahme der Le- Signal aus, auf diese Entwicklung zu reagieren. Dabei verfolgt er benserwartung vergrössert das Problem. einen gesamtheitlichen Ansatz, bei dem die Leistungen der ers- ten beiden Säulen gemeinsam betrachtet werden sollen. Dieser Vorhandene und programmierte Defizite Ansatz soll Vertrauen schaffen und eine Reform – nach den bis- Diese demographischen Veränderungen bringen grosse her gescheiterten Versuchen! – möglich machen. strukturelle und finanzielle Herausforderungen für die Alters- Da aber die langfristige Rentensicherheit ein wesentlicher vorsorge mit sich. Auch wegen der Verschlechterung der Anla- Standortvorteil für die Schweiz ist, ist angesichts des Reform- gemöglichkeiten auf dem Kapitalmarkt und durch historisch projekts «Altersvorsorge 2020» äusserste Vorsicht geboten. Der tiefe Zinsen sind die heutigen Rentenversprechen nicht mehr Plan des Bundesrates, dem Parlament ein grosses Gesamtpaket gesichert. Wer heute pensioniert wird, dem fehlen im Schnitt zuzuführen, so dass alle Akteure zufrieden sind, geht nicht auf. mehr als 40 000 Franken, um die versprochene Rente zu finan- Bereits vor und während der Beratung im Parlament wurde klar, zieren. Das Bundesamt für Sozialversicherungen 2 prognosti- dass jede noch so kleine Änderung des Reformprojektes sofort ziert in einem mittleren Szenario ab 2019 ein Defizit von einen neuen medialen Sturm der Entrüstung auslöst. Ange- 56 Milliarden Franken in der AHV. Zusätzlich rechnet das Bun- sichts der hohen Bedeutung der Reform muss somit das Risiko, desamt für Statistik mit einer Unterdeckung von 40 Milliarden dass das Projekt «Altersvorsorge 2020» scheitert, reduziert wer- Franken in der 2. Säule. 3 Weitere Defizite, bis zu 15 Milliarden, den, indem der Umfang der Reform verkleinert wird. Das Pro- ergeben sich gemäss Berechnungen der UBS und Avenir jekt darf nicht überladen sein, so dass sich politische Akteure 19
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