Strukturen der rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg ab 1991

 
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Strukturen der rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg ab 1991
Strukturen der rechtsextremistischen Szene
          in Baden-Württemberg
                  ab 1991

               LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ
Strukturen der rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg ab 1991
Strukturen der rechtsextremistischen Szene
                   in Baden-Württemberg
                               ab 1991

Impressum

Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg
Taubenheimstraße 85 A
70372 Stuttgart

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Inhalt

 1.     Strukturen der rechtsextremistischen Szene .............................................. 3
      1.1       Quantitative Entwicklungen seit der Wiedervereinigung .......................... 3
      1.1.1     Die Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials ............ 3
      1.1.2     Die Entwicklung der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ........... 4
      1.2       Qualitative Entwicklungen seit der Wiedervereinigung ............................ 8
      1.2.1     Erscheinungsformen des Rechtsextremismus ......................................... 8
      1.2.2     Subkulturell geprägte Rechtsextremisten (hauptsächlich Skinheads) ..... 8
      1.2.3     Neonazismus ......................................................................................... 10
      1.2.4     Das rechtsextremistische Parteienspektrum.......................................... 12
      1.3       Örtliche Schwerpunkte oder Gelegenheitsstrukturen? .......................... 20
      1.4       Weitere Aspekte .................................................................................... 23
      1.4.1     Rechtsterrorismus ................................................................................. 23
      1.4.2     Islamfeindliche Bestrebungen................................................................ 25
      1.4.3     Rechtsextremistische Einflussnahme .................................................... 26
 2.     Vernetzung der rechtsextremistischen Szene ........................................... 28
      2.1       Vorbemerkung ....................................................................................... 28
      2.2       Die rechtsextremistische Szene – ein Bündel von Netzwerken ............. 28
      2.2.1     Vernetzung subkulturell geprägter Rechtsextremisten mit Neonazis..... 28
      2.2.2     Vernetzung rechtsextremistischer Parteien mit Neonazis...................... 30
      2.3       Räumliche Vernetzung .......................................................................... 33
      2.3.1     Vernetzung mit Rechtsextremisten anderer Bundesländer.................... 33
      2.3.2     Vernetzung mit Rechtsextremisten im und aus dem Ausland................ 33
 3.     Stellenwert der Musikszene für die „rechte Szene“ .................................. 36
      3.1       Vorbemerkung ....................................................................................... 36
      3.2       Vielfalt der rechtsextremistischen Musikszene ...................................... 36
      3.3       Musik als Teil der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ ............................ 37
      3.4       Organisation von Konzerten .................................................................. 38
      3.5       Veranstaltungsorte ................................................................................ 39
      3.6       Vertrieb rechtsextremistischer Musik ..................................................... 40
      3.7       Rechtsextremistische Musik und der NSU............................................. 41
      3.8       Inhalt der Liedtexte ................................................................................ 41
 Anhang .................................................................................................................. 44

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1.       Strukturen der rechtsextremistischen Szene

„Entstehung ehemaliger und aktueller Strukturen sowie örtlicher Schwerpunkte der
rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg ab dem Jahr 1991“

1.1   Quantitative Entwicklungen seit der Wiedervereinigung
1.1.1 Die Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials
Der Verfassungsschutzbericht des Landes Baden-Württemberg weist für das Be-
richtsjahr 1991 nach Abzug der Mehrfachmitgliedschaften eine damalige tatsächliche
Mitgliederzahl rechtsextremistischer Organisationen im Land von 4.875 Personen
aus.1 Der Verfassungsschutzbericht des Bundes geht für das gleiche Jahr von bun-
desweit 39.800 deutschen Rechtsextremisten aus.2 Demnach lebte im Jahr 1991
rund ein knappes Achtel (12,3 Prozent) der organisierten deutschen Rechtsextremis-
ten in Baden-Württemberg. Dieser Anteil entsprach fast exakt dem Anteil der Ein-
wohnerschaft Baden-Württembergs an der Einwohnerschaft des gerade wiederverei-
nigten Deutschlands (10,00184 Millionen von 80,275 Millionen,3 demnach
12,5 Prozent). Auf 100.000 Einwohner Baden-Württembergs entfielen 49 Rechtsext-
remisten, während bundesweit 50 Rechtsextremisten auf 100.000 Einwohner kamen.
Im Ergebnis waren Rechtsextremisten im Jahr 1991 in Baden-Württemberg im ge-
samtdeutschen Vergleich weder signifikant unter- noch überrepräsentiert.
Bis zum Jahr 2013 hatten sich diese quantitativen Dimensionen und Relationen deut-
lich verschoben. Nunmehr lebten nach den jeweiligen Verfassungsschutzberichten in
ganz Deutschland rund 21.700,4 in Baden-Württemberg etwa 1.800 Rechtsextremis-
ten.5 Das bedeutete einen Rückgang im Vergleich zum Jahr 1991 im Bund um annä-
hernd die Hälfte, im Land sogar um annähernd zwei Drittel. Zieht man zum Vergleich
das Jahr 1993 heran, als sowohl im Land (ca. 7.0406) wie im Bund (ca. 64.5007) die
jeweils höchste Anzahl an Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung bis heute
registriert wurde, fallen die Rückgänge auf beiden Ebenen noch drastischer aus: Im
Bund schrumpfte das rechtsextremistische Personenpotenzial demnach innerhalb
von 20 Jahren um knapp zwei Drittel, im Land sogar um fast drei Viertel. Das bedeu-

1
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1991, S. 111.
2
     Vgl. Bundesminister des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, S. 72.
3
     Vgl. www.statistik.baden-wuerttemberg.de vom 21. Juli 2014.
4
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 70.
5
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 144.
6
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 17.
7
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, S. 78. Der Verfas-
     sungsschutzbericht des Bundes bezog erst ab diesem Jahresbericht das Mitgliederpotenzial der
     Partei „Die Republikaner“ in das rechtsextremistische Personenpotenzial mit ein, nunmehr auch
     rückwirkend bis einschließlich des Jahres 1992.
                                                                                                3
tet, dass sich der Trend rückläufiger rechtsextremistischer Personenpotenziale in
Baden-Württemberg noch ausgeprägter vollzogen hat, als im Bundesgebiet insge-
samt. Im Jahr 2013 lebte demzufolge nur noch ein knappes Zwölftel (8,3 Prozent)
der organisierten deutschen Rechtsextremisten in Baden-Württemberg.
Der Anteil der in Baden-Württemberg wohnhaften Rechtsextremisten am gesamt-
deutschen rechtsextremen Personenpotenzial (8,6 Prozent) lag im Jahr 2012 deut-
lich unter dem Anteil der Einwohnerschaft Baden-Württembergs an der Einwohner-
schaft Deutschlands (10,569111 Millionen von 80,524 Millionen,8 etwa 13,1 Prozent).
Auf 100.000 Einwohner Baden-Württembergs entfielen 2012 demnach 18 Rechtsext-
remisten, während bundesweit 27 Rechtsextremisten auf 100.000 Einwohner kamen.
Im Ergebnis waren Rechtsextremisten im Jahr 2012 in Baden-Württemberg somit im
gesamtdeutschen Vergleich sichtbar unterrepräsentiert.
Allerdings zeigen die folgenden Ausführungen, dass trotz rückläufiger rechtsextre-
mistischer Personenpotenziale in Baden-Württemberg weiterhin ein Kern rechtsext-
remistischer Personen mit hoher Extremismusintensität9 und auch Gewaltorientie-
rung aktiv ist.

1.1.2 Die Entwicklung der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten
Im Folgenden soll aus der quantitativen Entwicklung der rechtsextremistisch motivier-
ten Straftaten die Teilmenge der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten her-
ausgegriffen werden. Zwar handelt es sich dabei in der Regel um eine relativ kleine
Teilmenge (im Jahr 2013 in Baden-Württemberg 3,9 Prozent10). Doch nicht zuletzt
aufgrund der Folgen für die Opfer stehen diese Gewalttaten in stärkerem Maße im
Fokus der Öffentlichkeit und der Sicherheitsbehörden als Propagandadelikte wie et-
wa Hakenkreuz-Schmierereien, die insgesamt die übergroße Zahl rechtsextremisti-
scher Straftaten ausmachen.11
Am 10. Mai 2001 beschloss die „Ständige Konferenz der Innenminister und
-senatoren des Bundes und der Länder“ rückwirkend zum 1. Januar 2001 die Einfüh-
rung eines modifizierten Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“. Mit ihm

8
     Vgl. www.statistik.baden-wuerttemberg.de vom 21. Juli 2014. Das Statistische Landesamt Baden-
     Württemberg weist noch keine Angaben für 2013 aus, daher musste dieser Vergleich für 2012 an-
     gestellt werden.
9
     Die Extremismusintensität bezeichnet den Grad der Ablehnung von Normen und Regeln des de-
     mokratischen Verfassungsstaates. Vgl. zu diesem Begriff: Armin Pfahl-Traughber, Extremismusin-
     tensität, Ideologie, Organisation, Strategie und Wirkung. Das E-IOS-W-Schema zur Analyse ext-
     remistischer Bestrebungen, in: Ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusfor-
     schung 2011/2012 (I), Brühl/Rheinland 2012, S. 7-27, hier S. 10-12.
10
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 145.
11
     Vgl. Das LfV BW führt keine eigenen Statistiken zu Straf- und Gewalttaten mit extremistischem
     Hintergrund. Diese werden vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg erstellt und u. a. in den
     jährlichen Verfassungsschutzberichten des Landes veröffentlicht. Für den Bund und andere Bun-
     desländer gilt Entsprechendes.
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erfasst die Polizei seither alle politisch motivierten Straf- und Gewalttaten. Die Straf-
taten mit extremistischem, also verfassungsfeindlichem Hintergrund sind nur eine
Teilmenge davon, die jedoch im Bereich der rechtsextremistischen Gewalttaten re-
gelmäßig über 90 Prozent ausmacht. Zu dem Katalog der politisch bzw. extremis-
tisch motivierten Gewaltdelikte zählen seither: Tötungsdelikte, versuchte Tötungsde-
likte, Körperverletzungen, Brandstiftungen, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion,
Landfriedensbruch, gefährliche Eingriffe in Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr,
Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung sowie Widerstandsdelikte.12
Dieses neu eingeführte Definitionssystem macht einen direkten Vergleich der vor
dem Jahr 2001 erhobenen Zahlen mit späteren Zahlen schwierig. Zwar war auch
schon vor dem Jahr 2001 die Berechnungsbasis mehrfach geändert worden. Doch
waren diese Änderungen nicht so gravierend, als dass man danach die Zahlen der
jeweiligen Vorjahre nicht nach den neuen Maßstäben umrechnen konnte.
Betrachtet man die Häufigkeit rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Baden-
Württemberg seit dem Jahr 1990,13 so ergibt sich – wie im wiedervereinigten
Deutschland insgesamt – keine einheitliche, in eine Richtung weisende, sondern eine
wellenartige, von Schwankungen gekennzeichnete Entwicklung. Anhand der Zahlen
lassen sich sechs Phasen unterscheiden:

Phase 1: Anfang der neunziger Jahre
Anfang der neunziger Jahre stieg die Anzahl rechtsextremistisch motivierter Gewalt-
taten explosionsartig an. Der Negativhöhepunkt wurde im Jahr 1992 erreicht, als al-
lein in Baden-Württemberg 129 (Bund: 1.48514) rechtsextremistisch motivierte Ge-
walttaten registriert wurden. Vor allem die Zahl der Angriffe und Anschläge auf von
Migranten bewohnte Gebäude nahm erschreckende Ausmaße an. Hoyerswerda,
Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen sind bis heute als Schauplätze solcher
Verbrechen in bundesweiter Erinnerung. Doch auch Baden-Württemberg war betrof-
fen. So rotteten sich in Mannheim vom 25. bis 29. Mai 1992 täglich bis zu 400 Per-
sonen – darunter alkoholisierte und gewaltbereite Jugendliche – vor einem Asylbe-
werberheim zusammen, um gegen angebliche sexuelle Übergriffe von Asylbewer-
bern auf deutsche Frauen zu protestieren. Im Zuge dieser Zusammenrottungen wur-
den auch fremdenfeindliche Parolen skandiert und Asylbewerber provoziert.

12
     In den Jahren 2003 bis 2012 wurden vom Verfassungsschutzbericht des Bundes auch die politisch
     bzw. extremistisch motivierten Sexualdelikte in diesem Katalog aufgeführt, was statistisch aller-
     dings nie ins Gewicht fiel: Von 2003 bis 2012 wurde demnach bundesweit kein einziges rechtsext-
     remistisch motiviertes Sexualdelikt registriert.
13
     Bis einschließlich des Jahres 1990 liegen für Baden-Württemberg keine Zahlen vor.
14
     Vgl. zu beiden Zahlen: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht
     Baden-Württemberg 2000, S. 23.
                                                                                                    5
Am 31. Mai 1992 wurden sogar zwei Molotowcocktails auf das Wohnheimgelände
geworfen.15 Nur gut einen Monat später endete ein Überfall auf ein von Ausländern
bewohntes Arbeiterwohnheim in Ostfildern-Kemnat im Kreis Esslingen tödlich: Am 8.
Juli 1992 drangen vier vermummte, unter anderem mit Baseballschlägern bewaffnete
Täter gewaltsam in das Gebäude ein und erschlugen einen Kosovo-Albaner. Einen
weiteren Kosovo-Albaner verletzten sie schwer. Die 20 bis 32 Jahre alten Täter hat-
ten den Entschluss zu der Tat unter Alkoholeinfluss und nach dem Anhören von Hit-
ler-Reden gefasst.16

Phase 2: Mitte der neunziger Jahre
Mitte der neunziger Jahre beruhigte sich die Situation. Bis zum Jahr 1995 fiel die
Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Baden-Württemberg auf 28
(Bund: 61217) und damit auf den niedrigsten hierzulande je festgestellten Wert.
Gründe hierfür waren der massive Verfolgungsdruck, verbunden mit einer konse-
quenten Strafverfolgung, eine Vielzahl an Vereinigungsverboten neonazistischer Or-
ganisationen, aber auch die geringere Anzahl der Asylsuchenden sowie die breite
gesellschaftliche Ächtung von Gewalt gegen Ausländer.

Phase 3: Die Jahrtausendwende
Auf diese Beruhigung folgte jedoch wieder eine fast kontinuierliche Verschärfung der
Situation. Im Jahr 2000 lag die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten
mit 107 (Bund: 99818) zum zweiten und bisher letzten Mal im dreistelligen Bereich.
Dabei wirkte der vermeintlich rechtsextremistische Sprengstoffanschlag am 27. Juli
2000 in einem S-Bahnhof in Düsseldorf wie ein Fanal. Er zog im Zuge der öffentli-
chen Diskussion über die Gefahren des Rechtsextremismus ähnlich wie bereits zu
Beginn der 1990er Jahre eine Reihe von Nachahmungsgewalttaten – auch in Baden-
Württemberg – nach sich.19 Auch das Wiedererstarken der Neonaziszene dürfte hier
eine maßgebliche Rolle gespielt haben.

15
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1992, S. 77.
16
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1992, S. 24.
17
     Vgl. zu beiden Zahlen: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht
     Baden-Württemberg 2000, S. 23.
18
     Vgl. zu beiden Zahlen: Ebd.
19
     Vgl. hierzu: Helmut Rannacher, Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Motivationshin-
     tergrund, in: Thomas Fliege/Kurt Möller (Hrsg.), Rechtsextremismus in Baden-Württemberg. Ver-
     borgene Strukturen der Rechten, Freiburg i. Br. 2001, S. 69-84.
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Phase 4: Das Jahr 2001
Vom Jahr 2000 auf das Jahr 2001 weist die Statistik nahezu eine Halbierung der
Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten auf 5520 (Bund: 70921) aus. Das
ist insbesondere auf den hohen staatlichen Kontroll- und Verfolgungsdruck und die
im Jahr 2000 von Bund und Ländern beschlossenen umfangreichen Maßnahmen zur
Bekämpfung des Rechtsextremismus zurückzuführen. Hierzu zählen Aussteigerpro-
gramme, die Intensivierung der Kriminalprävention, Aufklärung, Jugendsozialarbeit
und Öffentlichkeitsarbeit.

Phase 5: Die Jahre 2002 bis 2006
Ab dem Jahr 2002, als in Baden-Württemberg 5122 (Bund: 77223) rechtsextremistisch
motivierte Gewalttaten begangen wurden, stieg die Zahl wieder an, und zwar bis auf
9924 im Jahr 2006 (Bund: 1.04725). Das war unter anderem auf verstärkte Auseinan-
dersetzungen zwischen gewaltbereiten Rechts- und Linksextremisten zurückzufüh-
ren. Dies ging einher mit einer Zunahme neonazistischer Demonstrationen und einer
generell ansteigenden Gewaltbereitschaft von Neonazis und Skinheads.

Phase 6: Entwicklung der letzten Jahre
Die Entwicklung der letzten Jahre seit einschließlich dem Jahr 2007 ist für Baden-
Württemberg alles in allem positiv zu bewerten, da die Zahl der rechtsextremistisch
motivierten Gewalttaten im Land seither fast kontinuierlich und in der Summe deut-
lich auf nunmehr 35 im Jahr 201326 und damit auf den niedrigsten Wert seit 1995
zurückgegangen ist. Zwar ist auch auf Bundesebene mit 801 Fällen27 ein deutlicher
Rückgang innerhalb dieses Zeitraumes zu verzeichnen, der jedoch bei weitem nicht
so stark ausfiel wie in Baden-Württemberg.

20
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2001, S. 26.
21
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2001, S. 37.
22
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2002, S. 23.
23
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2002, S. 32.
24
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2006, S. 129.
25
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2006, S. 31-33.
26
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 145.
27
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 37-38.
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1.2   Qualitative Entwicklungen seit der Wiedervereinigung
1.2.1 Erscheinungsformen des Rechtsextremismus
Üblicherweise werden sowohl durch die Verfassungsschutzbehörden als auch in der
öffentlichen Diskussion innerhalb des Gesamtphänomens Rechtsextremismus drei
Teilphänomene unterschieden: der subkulturell geprägte Rechtsextremismus (haupt-
sächlich Skinheads), der Neonazismus und der parteiförmige Rechtsextremismus.
Die Realität der rechtsextremistischen Szene in Baden-Württemberg wie in Deutsch-
land ist allerdings insgesamt viel zu komplex, um sie in idealtypischen, angeblich klar
voneinander abgrenzbaren Kategorien wirklich eindeutig und abschließend zu erfas-
sen. Viel eher ist der baden-württembergische und mit ihm der deutsche sowie der
europäische Rechtsextremismus ein Netzwerk, das über vielfältige Verbindungen
und Überschneidungen in sich verknüpft ist und kommuniziert (siehe hierzu Ziffer 6).
Der neonazistisch gesinnte Skinhead, der Mitglied einer rechtsextremistischen Par-
tei, aber auch mit sonstigen rechtsextremistischen Organisationen verbunden ist, ist
kein rein theoretisches Konstrukt. Andererseits war und ist die rechtsextremistische
Szene in Baden-Württemberg und Deutschland teils aus ideologischen, teils aus per-
sönlichen Gründen zerstritten und in der Folge durch organisatorische Zersplitterung
gekennzeichnet. Diese Zerstrittenheit und Zersplitterung gehen auch mitten durch die
oben genannten Kategorien. Erinnert sei hier nur an die frühere organisatorische
Zersplitterung des rechtsextremistischen Parteienspektrums, die zeitweilig zurück-
ging, sich in jüngster Zeit in Form von Parteineugründungen aber offenbar zu wie-
derholen scheint. Sie beruht nicht zuletzt auf den teils recht unterschiedlichen Extre-
mismusintensitäten und den ideologischen Standpunkten der einzelnen Parteien.
In analytischer Hinsicht ist ein genauerer, differenzierender Blick in die einzelnen
Teilphänomene des baden-württembergischen und deutschen Rechtsextremismus
erforderlich: Dieser Blick relativiert – bedauerlicherweise – auf der qualitativen Ebene
den an sich positiven quantitativen Rückgang beim rechtsextremistischen Personen-
potenzial seit dem Jahr 1993. Um es auf eine Formel zu bringen:
Die Szene wurde zwar personell deutlich kleiner, aber im Durchschnitt auch jünger,
aktiver und extremismusintensiver. Denn tendenziell verschwanden eher die lebens-
älteren, passiveren und weniger extremismusintensiven Segmente als die lebensjün-
geren und aktiveren. Mit anderen, bildlichen Worten: Die „weichen“ Ränder schmol-
zen weit stärker als der harte Kern. Er blieb und ist phasenweise entgegen der all-
gemeinen Gesamttendenz gewachsen.

1.2.2 Subkulturell geprägte Rechtsextremisten (hauptsächlich Skinheads)
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die rechtsextremistische Skin-
headszene, die trotz ihrer seit Jahren anhaltenden Krise bis heute den Hauptteil der
subkulturell geprägten Rechtsextremisten ausmacht, sowie auf die quantitative Ent-

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wicklung der Skinheadszene seit dem Jahr 1991 in Baden-Württemberg. Nicht alle
Skinheads in Deutschland sind Rechtsextremisten. Neben den rechtsextremistischen
gibt es linksorientierte und linksextremistische, aber auch unpolitische bis antipoliti-
sche Skinheads. Bei der rechtsextremistischen Skinheadszene handelt es sich um
eine jugendliche, gewaltaffine Subkultur innerhalb der rechtsextremistischen Ge-
samtszene mit diffus widersprüchlicher Ausrichtung, die immer wieder auch ins Neo-
nazistische ausgreifen kann.28
Die Verfassungsschutzberichte des Bundes und des Landes Baden-Württemberg
weisen erst seit dem Berichtsjahr 1991 Angaben zur Zahl der rechtsextremistischen
Skinheads aus. Demnach wohnten damals in Baden-Württemberg etwa 190 rechts-
extremistische Skinheads.29 Das waren nicht einmal vier Prozent der baden-
württembergischen Rechtsextremisten insgesamt. Rein personell-quantitativ betrach-
tet stellten rechtsextremistische Skinheads damals in der rechtsextremistischen Ge-
samtszene also eine Randerscheinung dar.
Danach war aber ein fast kontinuierlicher Anstieg dieser Zahl zu beobachten, der
sich gegen Ende der 1990er Jahre in einen regelrechten Boom der rechtsextremisti-
schen Skinheadszene steigerte und im Jahr 2005 seinen Höhepunkt erreichte, als
allein für Baden-Württemberg im Verfassungsschutzbericht etwa 1.040 rechtsextre-
mistische Skinheads ausgewiesen wurden.30 Das bedeutete einen Anstieg um das
annähernd Viereinhalbfache, während im gleichen Zeitraum die Zahl der Rechtsext-
remisten insgesamt um 20 Prozent zurückging (von 4.87531 auf 3.90032). Der Anteil
der rechtsextremistischen Skinheads an der Gesamtszene vervielfachte sich dadurch
auf über ein Viertel. Innerhalb von nicht einmal anderthalb Jahrzehnten waren die
rechtsextremistischen Skinheads in Baden-Württemberg also von einem quantitativ
marginalen zu einem zentralen Faktor innerhalb der rechtsextremistischen Gesamt-
szene angewachsen. Damals kam die Realität dem bereits seit Ende der 1980er
Jahren verbreiteten Klischee vom Skinhead als dem typischen, repräsentativen Ver-
28
     Vgl. zur Skinheadsubkultur allgemein: Christian Menhorn, Skinheads: Portrait einer Subkultur, Ba-
     den-Baden 2001. Kurt Möller/Nils Schuhmacher, Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs-
     und Szenezusammenhänge – Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads, Wies-
     baden 2007.
29
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1991, S. 111. Der Verfassungsschutzbericht des Bundes sprach von Mitgliedern von „Zusammen-
     schlüssen neonazistischer Skinheads“ und gab eine Zahl von ca. 4.200 an, vgl. Bundesminister
     des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, S. 72.
30
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2005, S. 116. Der Verfassungsschutzbericht des Bundes für 2005 veröffentlichte nur eine Gesamt-
     zahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten, die zwar haupt-
     sächlich, aber nicht ausschließlich aus rechtsextremistischen Skinheads bestehen. Diese Zahl be-
     trug für 2005 ca. 10.400, siehe Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht
     2005, S. 55.
31
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1991, S. 111.
32
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2005, S. 112.
                                                                                                    9
treter des Rechtsextremismus – neben dem „gescheitelten“ Neonazi – noch am
nächsten.
Nach dem Jahr 2005 setzte allerdings eine Krise der rechtsextremistischen Skin-
headszene ein, die bis heute anhält. Bereits seit Jahren unterliegt die Skinheadsub-
kultur einem Erosionsprozess, der Zweifel weckt, ob ihr – und damit auch der rechts-
extremistischen Skinheadszene – eine langfristige Zukunft beschieden sein wird.33
Mittlerweile (2013) gibt es laut Verfassungsschutzbericht „nur“ noch ungefähr 400
rechtsextremistische Skinheads in Baden-Württemberg.34 Das sind allerdings immer
noch mehr als doppelt so viele als im Jahr 1991 und entspricht über einem Fünftel
des rechtsextremistischen Gesamtpersonenpotenzials.
Im Ergebnis konnte sich die rechtsextreme Skinheadszene bis zum Jahr 2005 ver-
größern, obwohl das rechtsextremistische Personenpotenzial insgesamt deutlich zu-
rückging. Mittlerweile befindet sich die rechtsextremistische Skinheadszene aller-
dings in einer tiefen Krise.

1.2.3 Neonazismus
Die hier zugrundeliegende Definition des Terminus „Neonazismus“ orientiert sich
möglichst eng am Bezugspunkt des historischen Nationalsozialismus (NS). Demnach
sind nur diejenigen rechtsextremistischen Einzelpersonen, Organisationen oder auch
Medien als Neonazis bzw. neonazistisch zu kategorisieren, die ein direktes oder indi-
rektes Bekenntnis zu Ideologie, Organisationen, Protagonisten oder aber auch we-
sensverwandten bis wesensgleichen Vorgängerphänomenen35 des historischen NS
erkennen lassen und in letzter Konsequenz auf die Abschaffung der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung zugunsten eines totalitären Führerstaates nach dem
Vorbild des „Dritten Reiches“ ausgerichtet sind.36

33
     Vgl. Christian Menhorn, Die Erosion der Skinhead-Bewegung als eigenständiger Subkultur. Eine
     Analyse des Wandels elementarer Stilmerkmale, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für
     Extremismus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl/Rheinland 2010, S. 125–150. Ders.,
     Skinheads – eine aussterbende Subkultur? Eine Jugendbewegung im Wandel der Zeit, in: Armin
     Pfahl-Traughber/Monika Rose (Hrsg.), Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Ver-
     fassungsschutz und für Andreas Hübsch, Brühl/Rheinland 2007, S. 284–303.
34
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 159.
35
     Vgl. Hierunter ist z. B. und insbesondere die völkische Bewegung des Kaiserreiches und der frühen
     Weimarer Republik zu verstehen.
36
     Vgl. Walter Jung, Neonazismus in der „Deutschen Stimme“. Eine ideologietheoretische Analyse
     der NPD-Parteizeitung, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terro-
     rismusforschung 2008, Brühl/Rheinland 2008, S. 193–-246, hier S. 200-201. Ders., Positive Rekur-
     se auf die Völkische Bewegung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik innerhalb des aktuel-
     len deutschen Rechtsextremismus. Über einen Aspekt rechtsextremistischer Traditionspflege und
     seine historisch-ideologischen Hintergründe, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Ext-
     remismus- und Terrorismusforschung 2011/2012 (I), Brühl/Rheinland 2012, S. 134–179, hier S.
     166. Diese Neonazismus-Definition entspricht im Wesentlichen derjenigen, die z. B. auch das ba-
     den-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz zur Grundlage seiner Arbeit in diesem
     Bereich macht. Vgl. dazu auch: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutz-
     bericht Baden-Württemberg 2013, S. 167.
                                                                                                  10
Nach dieser Definition handelt es sich bei der Neonaziszene also um eine ideolo-
gisch besonders „harte“ Rechtsextremismus-Variante mit besonders hoher
Extremismusintensität. In Deutschland bildet sie den „harten Kern des harten Kerns“
des Rechtsextremismus. Zudem liegt das Alter der Aktivisten in der Regel unter dem
Durchschnitt. Das kommt nicht zuletzt in den jugendlichen Alterskohorten zum Aus-
druck, aus denen sich die zahlreichen regionalen, zumeist informellen Kleingruppen
(z. B. sogenannte Kameradschaften) und Teilszenen (wie z. B. „Autonome Nationa-
listen“) rekrutieren, aus denen die Neonaziszene nach den gegen sie gerichteten
Vereinsverboten der 1990er Jahre besteht.
Ausgerechnet dieser härteste Kern des deutschen Rechtsextremismus war von dem
quantitativen Schrumpfungsprozess der rechtsextremistischen Gesamtszene in den
letzten zwei Jahrzehnten über weite Phasen nicht betroffen und ist heute größer als
Anfang der 1990er Jahre. Im Jahr 1993, für das die Verfassungsschutzbehörden so-
wohl in Baden-Württemberg als auch in ganz Deutschland die bis heute höchste Zahl
an Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung auswiesen, gab es demnach im
Land ungefähr 25537 und im Bund etwa 2.450 Neonazis.38 Demnach stellten Neona-
zis im Jahr 1993 in Baden-Württemberg ebenso wie in ganz Deutschland nicht ein-
mal vier Prozent der damals landesweit etwa 7.040 bzw. bundesweit etwa 64.500
Rechtsextremisten. Zusammenfassend waren rein personell-quantitativ betrachtet
Neonazis damals in der rechtsextremistischen Gesamtszene also eine Randerschei-
nung.
Diese Relationen hatten sich 2013 – und bereits lange davor – auf Landes- wie auf
Bundesebene vollständig gedreht. Die nunmehr etwa 410 Neonazis in Baden-
Württemberg stellten ein Fünftel bis ein Viertel der in Baden-Württemberg wohnhaf-
ten Rechtsextremisten.39 Das entsprach der gleichzeitigen Entwicklung in ganz
Deutschland, wo im Jahr 2013 die Neonazis sogar über ein Viertel der deutschen
Rechtsextremisten ausmachten (5.800 von 21.700).40 Im Ergebnis waren die Neona-
zis in Baden-Württemberg und ganz Deutschland innerhalb von 20 Jahren von einem
quantitativ relativ marginalen zu einem zentralen Faktor innerhalb der (insgesamt
geschrumpften) rechtsextremistischen Gesamtszene angewachsen. In den Jahren
2003 bis 2011 entkoppelte sich die personelle Entwicklung der Neonaziszene in
Bund und Land sogar konsequent über Jahre hinweg von der personellen Entwick-
lung der rechtsextremistischen Szene insgesamt und verlief in die entgegengesetzte
Richtung. Ein Grund dafür liegt darin, dass etwa seit dem Jahr 2003 die neonazisti-

37
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 17.
38
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, S. 78.
39
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 144.
40
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 70.
                                                                                             11
schen „Autonomen Nationalisten“ (AN) in Erscheinung treten, die 2011 schon über
ein Drittel der baden-württembergischen Neonazis stellten.41 Während die Zahl aller
Rechtsextremisten in Baden-Württemberg sich zwischen den Jahren 2002 und 2011
mehr als halbierte (von ca. 4.20042 auf ca. 2.00043), wuchs die Teilmenge der Neo-
nazis im selben Zeitraum von etwa 27044 auf rund 51045 an. Auf Bundesebene voll-
zog sich währenddessen fast dieselbe Entwicklung: Hier halbierte sich die Zahl der
Rechtsextremisten insgesamt von etwa 45.000 im Jahr 200246 auf etwa 22.400 im
Jahr 201147, während sich die Zahl der Neonazis von etwa 2.60048 auf etwa 6.00049
mehr als verdoppelte.
Erst nach dem Jahr 2011 scheint sich die Neonaziszene dem allgemeinen Trend im
Rechtsextremismus angeschlossen zu haben; sie hat auf Bundes- wie auch auf Lan-
desebene Angehörige eingebüßt.

1.2.4 Das rechtsextremistische Parteienspektrum
In Baden-Württemberg sind bzw. waren verschiedene rechtsextremistische Parteien
aktiv, die zumindest teilweise auch im Landtag vertreten waren. Besonders auffällig
ist, dass mit der NPD und der neuen Partei „Die Rechte“ noch heute zwei Parteien
aktiv sind, die eine hohe Extremismusintensität aufweisen.

„Die Republikaner“ (REP)
Die im Jahr 1983 gegründete Partei „Die Republikaner“ (REP) wurde seit Dezember
1992 durch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobach-
tet.50 Diese Entscheidung hatte schon im folgenden Jahr einen erheblichen statisti-

41
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2011, S. 189. Vgl. zu den AN relativ aktuell: Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfas-
     sungsschutzbericht Baden-Württemberg 2013, S. 169–175. Und aus wissenschaftlicher Sicht: Ru-
     dolf van Hüllen, „Autonome Nationalisten“ zwischen politischer Produktpiraterie und „Nähe zum
     Gegner“. Eine Analyse zu Sprachcodes, Widerstandsverständnis und Gewaltrituale als Brücken zu
     den linksextremistischen Autonomen, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremis-
     mus- und Terrorismusforschung 2009/2010, Brühl 2010, S. 191–210. Christian Menhorn, „Autono-
     me Nationalisten“ – Generations- und Paradigmenwechsel im neonationalsozialistischen Lager?,
     in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 19. Jahrgang 2007,
     Baden-Baden 2008, S. 213–225.
42
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2002, S. 21.
43
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2011, S. 153.
44
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2002, S. 21.
45
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2011, S. 153.
46
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2002, S. 23.
47
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011, S. 57.
48
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2002, S. 23.
49
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011, S. 57.
50
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1992, S. 21.
                                                                                                  12
schen Effekt: Dass die Verfassungsschutzbehörden für das Jahr 1993 sowohl in Ba-
den-Württemberg als auch in ganz Deutschland die bis heute höchste Zahl an
Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung auswiesen, war fast ausschließlich
darauf zurückzuführen, dass für dieses Jahr erstmals die REP-Mitglieder in diese
Statistik einbezogen wurden. Denn mit ca. 2.500 REP-Mitgliedern im Land und
ca. 23.000 im Bund handelte es sich bei den REP damals – wie übrigens auch bei
der „Deutschen Volksunion“ (DVU) mit ihren 26.000 Mitgliedern51 – für rechtsextre-
mistische Verhältnisse um eine „Massenorganisation“. Im Jahr 1993 stellten die REP
damit je über ein Drittel der ca. 7.04052 baden-württembergischen bzw. der
ca. 64.50053 deutschen Rechtsextremisten. Umgekehrt hatte der sukzessive perso-
nelle Niedergang der REP in den folgenden Jahren (REP-Mitgliederzahl im Jahr
2006 bundesweit etwa 6.00054, in Baden-Württemberg etwa 90055) und das Ende
ihrer Beobachtung durch das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg
(LfV BW) am 21. März 2010 als letztes Bundesland großen Anteil daran, dass die
von      den   Verfassungsschutzbehörden      ermittelte    Anzahl   der    baden-
württembergischen bzw. deutschen Rechtsextremisten heute so weit unter den Ver-
gleichswerten des Jahres 1993 liegen.
Zumindest parlamentarisch musste Baden-Württemberg in den 1990er Jahren als
„Hochburg“ der REP gewertet werden. Nur hier gelang es der Partei, zweimal in Fol-
ge in das Landesparlament einzuziehen: Im Jahr 1992 mit 10,9 Prozent und im Jahr
1996 mit 9,1 Prozent der Stimmen, so dass sie erst im Jahr 2001 mit 4,4 Prozent der
Stimmen wieder aus dem baden-württembergischen Landtag ausschied. Außerdem
hatte die Partei seit Ende des Jahres 1994 einen Bundesvorsitzenden aus Baden-
Württemberg.
Im Falle der REP, so die Einschätzung des Brühler Soziologen und Politologen Ar-
min Pfahl-Traughber im Jahr 2012, konnte „allenfalls von einem geringen Intensitäts-
grad von Extremismus“ gesprochen werden.56 Dieser Tatsache trugen die Verfas-
sungsschutzbehörden in ihrer Berichterstattung über die REP auch Rechnung. Bei-
spielsweise wurde im Verfassungsschutzbericht des Bundes über das Jahr 1993 die
Entscheidung, die REP-Mitglieder bei der Berechnung des rechtsextremistischen
Personenpotenzials noch nicht zu berücksichtigen, wie folgt begründet: „Es liegen

51
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1993, S. 76.
52
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 17.
53
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, S. 78. Der Verfas-
     sungsschutzbericht des Bundes bezog erst ab diesem Jahresbericht das Mitgliederpotenzial der
     REP in das rechtsextremistische Personenpotenzial mit ein, nunmehr aber auch rückwirkend bis
     einschließlich 1992.
54
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2006, S. 52.
55
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2006, S. 172.
56
     Vgl. zum Begriff der Extremismusintensität bereits oben (Fußnote 11).
                                                                                              13
zwar Anhaltspunkte für rechtsextremistische Bestrebungen dieser Partei vor […],
dies reicht jedoch nicht aus, um alle Mitglieder als Rechtsextremisten einzustufen.“57
Auch der Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg betonte immer wieder:
„Schon seit Jahren gilt: Nicht jedes einzelne REP-Mitglied verfolgt verfassungsfeind-
liche Ziele.“ Außerdem wurde im Verfassungsschutzbericht 2006, als den REP letzt-
mals ein eigenes Unterkapitel gewidmet wurde, dieses Unterkapitel zur Abgrenzung
von eindeutig rechtsextremistischen Parteien mit der Überschrift „Parteien mit An-
haltspunkten für eine rechtsextremistische Zielsetzung“ versehen.58 Klagen der Par-
tei gegen die Beobachtung durch das LfV BW in den 1990er Jahren blieben erfolg-
los.59 Angesichts dieser Fakten kann folgendes Fazit gezogen werden:

• Quantitativ hätte es ohne die REP – und die nachfolgend dargestellte DVU – im
  wiedervereinigten Deutschland und in Baden-Württemberg weder den von den
  Verfassungsschutzbehörden konstatierten Höchstwert des Jahres 1993 beim
  rechtsextremistischen Personenpotenzial noch den anschließenden Rückgang in
  diesen Dimensionen gegeben.

• Qualitativ indes hat die rechtsextremistische Szene angesichts der tendenziell
  eher geringen Extremismusintensität der REP mit den REP nichts von ihrem har-
  ten Kern verloren. Es brach nur ein großes Stück vom Rand ab.

„Deutsche Volksunion“ (DVU)
Die im Jahr 1987 gegründete „Deutsche Volksunion“ (DVU) ging in den Jahren 2010
bis 2012 in einem Fusionsprozess in der NPD auf. Während ihrer rund zweieinhalb
Jahrzehnte währenden Existenz war die eindeutig rechtsextremistische DVU im We-
sentlichen durch vier Faktoren geprägt:

• Durch die – nicht zuletzt finanzielle – Dominanz ihres Gründers und bis zum Jahr
  2009 amtierenden Bundesvorsitzenden Dr. Gerhard Frey (1933–2013).

• Durch ihre Erfolge an der Wahlurne: Die DVU war phasenweise die erfolgreichste
  rechtsextremistische Wahlpartei in Deutschland. So konnte sie beispielsweise bei
  den Landtagswahlen in Bremen im Jahr 1991 mit 6,2 Prozent, in Schleswig-
  Holstein im Jahr 1992 mit 6,3 Prozent, in Sachsen-Anhalt im Jahr 1998 mit
  12,9 Prozent und in Brandenburg in den Jahren 1999 und 2004 mit 5,3 Prozent
  bzw. 6,1 Prozent der Stimmen in die jeweiligen Landesparlamente einziehen. Da-

57
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1993, S. 74.
58
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2006, S. 172–173.
59
     Vgl. hierzu Hans-Jürgen Doll, Der organisierte Rechtsextremismus, in: Thomas Fliege/Kurt Möller
     (Hrsg.), Rechtsextremismus in Baden-Württemberg. Verborgene Strukturen der Rechten, Freiburg
     i. Br. 2001, S. 49 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 26. Mai 2000 – Az. 18 K 5658/93.
                                                                                                 14
nach wurde sie als erfolgreichste rechtsextremistische deutsche Wahlpartei von
     der NPD abgelöst.

• Durch ihre Bedeutung als personell-quantitativer Faktor innerhalb des deutschen
  Rechtsextremismus: In der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatte die Partei nach
  Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden einen sehr hohen Mitgliederstand.
  Der Höchstwert im Bund betrug in den Jahren 1992 und 1993 etwa 26.000 Mit-
  glieder.60 Dieser Mitgliederstand schmolz jedoch bis zum Untergang der Partei
  immer drastischer ab. So hatte die Partei im Jahr 2011 bundesweit nur noch etwa
  1.000 Mitglieder.61

• Qualitativ zeichnete sich diese phasenweise große DVU-Mitgliederschaft jedoch
  immer wieder durch Passivität und schließlich auch Überalterung aus.

Der baden-württembergische DVU-Landesverband zählte innerhalb der Partei zu den
unbedeutenderen und inaktiveren Landesverbänden. Dies zeigte sich schon darin,
dass die Partei nicht zu einer einzigen baden-württembergischen Landtagswahl an-
trat. Schon seit dem Jahr 2009, also noch vor Beginn des Fusionsprozesses mit der
NPD, begann der Landesverband zu zerfallen. Allerdings stellte die DVU besonders
in den 1990er Jahren auch hierzulande einen teils extrem hohen Anteil am rechtsext-
remistischen Personenpotenzial. Dieser Anteil lag im Jahr 1992 bei annähernd zwei
Drittel (etwa 2.900 von 4.560 Personen, demnach 63,6 Prozent). Angesichts dieser
Fakten bleibt festzuhalten:

• Quantitativ hätte es ohne die DVU – wie auch ohne die REP – im wiedervereinig-
  ten Deutschland und in Baden-Württemberg weder den von den Verfassungs-
  schutzbehörden konstatierten Höchstwert des Jahres 1993 beim rechtsextremisti-
  schen Personenpotenzial noch den anschließenden Rückgang in dieser Größen-
  ordnung gegeben. In der Summe stellte die DVU zusammen mit den REP in Ba-
  den-Württemberg im Jahr 1993 noch über drei Viertel des rechtsextremistischen
  Personenpotenzials.62 Im Jahr 2013 waren beide Parteien aus bekannten Grün-
     den aus dieser Statistik verschwunden.

• Qualitativ verlor die rechtsextremistische Szene mit der DVU zwar einerseits eine
  ihrer phasenweise erfolgreichsten Wahlparteien, andererseits jedoch eine passive
  und schließlich auch überalterte DVU-Mitgliederschaft.

„Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD)
60
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1993, S. 125.
61
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011, S. 57.
62
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 17.
                                                                                             15
Die im Jahr 1964 gegründete „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) ist
eine nicht nur außergewöhnlich langlebige rechtsextremistische Organisation, son-
dern vor allem auch seit Jahren die bedeutendste rechtsextremistische Kernorgani-
sation in der Bundesrepublik Deutschland und die einzige rechtsextremistische Partei
mit bundesweiter Bedeutung. So ist sie seit Jahren die mit Abstand mitgliederstärkste
rechtsextremistische Partei auf gesamtdeutscher Ebene und in Baden-Württemberg,
was aber im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass zwei Parteien, die noch
vor wenigen Jahren weit mehr Mitglieder hatten als die NPD, mittlerweile nicht mehr
existieren (DVU) bzw. nicht mehr der Beobachtung durch die Verfassungsschutzbe-
hörden unterliegen (REP). Die NPD in Baden-Württemberg hatte im Jahr 1991 et-
wa 1.200 Mitglieder63, womit der hiesige Landesverband knapp ein Fünftel der bun-
desweit damals etwa 6.100 NPD-Mitglieder64 stellte. Zugleich wiesen die Verfas-
sungsschutzberichte dieses Jahres für die DVU ca. 2.90065 (Baden-Württemberg)
bzw. ca. 24.00066 Mitglieder (Bund) aus. Obwohl ungefähr mit der Wiedervereinigung
ein über Jahre anhaltender, in der Summe drastischer personeller Niedergang der
NPD eingesetzt hatte, änderte sich an diesem quantitativen Abstand zur DVU (und
später auch zu den REP) im Grundsatz nichts, weil auch diese Parteien deutliche
Mitgliederrückgänge zu verbuchen hatten. Im Jahr 1996, nach dem Ende der Ära des
baden-württembergischen Bundesvorsitzenden Günter Deckert (1991–1995) und zu
Beginn der Ära Udo Voigts in diesem Amt (1996–2011), war die Partei an einem
Tiefpunkt angelangt: Sie hatte bundesweit nur noch ca. 3.500 Mitglieder67, in Baden-
Württemberg nur noch etwa 44068. Zum Vergleich: DVU und REP hatten im Jahr
1996 bundesweit beide jeweils ca. 15.00069 bzw. ca. 1.900 Mitglieder70 in Baden-
Württemberg. Doch während diese beiden Parteien in den Folgejahren tendenziell
weiter an Mitgliedern verloren, erlebte die NPD ihren „zweiten Frühling“:71

63
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1991, S. 111.
64
     Vgl. Bundesminister des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, S. 112.
65
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1991, S. 111.
66
     Vgl. Bundesminister des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, S. 110.
67
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1996, S. 90.
68
     Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1996, S. 80.
69
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1996, S. 90.
70
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1996, S. 24.
71
     Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD zwischen Aktion und Politik, in: Uwe
     Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie 11 (1999), Baden-Baden
     1999, S. 146–166. Teils wortgleich, aber etwas aktueller zu demselben Thema von demselben Au-
     tor: Die ideologische, strategische und organisatorische Entwicklung der NPD in der zweiten Hälfte
     der neunziger Jahre, in: Heinz Lynen von Berg/Hans-Jochen Tschiche (Hrsg.) im Auftrag von Mit-
     einander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e. V., NPD - Herausfor-
     derung für die Demokratie?, Berlin 2002, S. 13–30.
                                                                                                   16
Bis zum Jahr 2007 stieg ihre Mitgliederzahl im Bund wieder auf etwa 7.20072 an, eine
Entwicklung, die nur zu Beginn des neuen Jahrtausends aufgrund des ersten NPD-
Verbotsverfahrens kurzfristig durch deutliche personelle Einbußen unterbrochen
wurde. Nach dem Jahr 2007 begab sich die NPD-Mitgliederzahl wieder in einen sich
zuletzt beschleunigenden Sinkflug. Im Jahr 2013 lag sie bundesweit nur noch bei
ca. 5.50073, womit sie jedoch im Rahmen des verbliebenen rechtsextremistischen
Parteien- und sonstigen Organisationsspektrums konkurrenzlos hoch ist.
Im Rahmen ihres „zweiten Frühlings“ gelang es der NPD auch, die DVU nach dem
Jahr 2004 als erfolgreichste rechtsextremistische Wahlpartei in Deutschland abzulö-
sen. In den Jahren 1966 bis 1968 war sie schon einmal bei sieben aufeinanderfol-
genden Landtagswahlen in sieben westdeutsche Landesparlamente eingezogen,
darunter im Jahr 1968 mit 9,8 Prozent – dem höchsten Landtagswahlergebnis der
bisherigen Parteigeschichte – in den Landtag von Baden-Württemberg. Zwischen
den Jahren 2004 und 2011 gelang es ihr, jeweils zweimal in Folge in die Landtage
von Sachsen (2004: 9,2 Prozent; 2009: 5,6 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern
(2006: 7,3 Prozent; 2011: 6,0 Prozent) einzuziehen. Nach der Landtagswahl vom
31. August 2014 ist die NPD nicht mehr im sächsischen Landtag vertreten (4,9 Pro-
zent). Zuvor scheiterte sie bei Landtagswahlen im Saarland (2004: 4,0 Prozent), Thü-
ringen (2009: 4,3 Prozent) und Sachsen-Anhalt (2011: 4,6 Prozent) relativ knapp an
der 5 Prozent-Hürde.
Die Verfassungsfeindlichkeit der NPD steht außer Frage: Ihre ideologische Ausrich-
tung ist entschieden rechtsextremistisch, in Teilen sogar neonazistisch74. Seit Jahren
übt die Partei den Schulterschluss mit Neonazis, die sie auch in ihre Reihen auf-
nimmt und teils in hohe Parteifunktionen aufrücken lässt. Die NPD ist also eine
rechtsextremistische Partei von hoher Extremismusintensität, mit – zudem häufig
relativ jungen – Mitgliedern, die oft einen hohen Fanatisierungsgrad und einen damit
verbundenen Aktionismus aufweisen. Dieser Befund relativiert auch, dass die NPD
früher weniger Mitglieder hatte als die damals weit weniger extremismusintensiven
REP oder als die von der Überalterung und der Passivität ihrer Mitglieder geprägte
DVU. Ideologisch zählt die NPD ähnlich wie die Neonaziszene eindeutig zum harten
Kern des deutschen Rechtsextremismus.
Der baden-württembergische NPD-Landesverband ist innerhalb der Gesamtpartei –
im Vergleich zu anderen, mitgliederstärkeren, aktiveren oder bei Wahlen erfolgrei-
cheren Landesverbänden – von untergeordneter Bedeutung. Der „zweite Frühling“
der NPD wurde eindeutig eher von anderen Landesverbänden getragen als von dem

72
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2007, S. 52.
73
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 91.
74
     Vgl. Walter Jung, Neonazismus in der „Deutschen Stimme“. Eine ideologietheoretische Analyse
     der NPD-Parteizeitung, in: Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terro-
     rismusforschung 2008, Brühl/Rheinland 2008, S. 193–246.
                                                                                                17
hiesigen. So gehört Baden-Württemberg nicht zu den Bundesländern, in denen die
Partei seit dem Jahr 2004 Landtagswahlerfolge erringen konnte oder auch nur in die
Nähe der 5 Prozent-Hürde gekommen wäre. Auch personell-quantitativ ging der
„zweite Frühling“ der NPD am baden-württembergischen Landesverband weitgehend
vorbei: Während die Zahl der NPD-Mitglieder bundesweit trotz der Rückgänge der
allerletzten Jahre immer noch deutlich höher liegt als im Jahr 1996, ist sie in Baden-
Württemberg im Vergleich zu damals noch einmal zurückgegangen (1996: ca. 44075;
2013: ca. 41076). Vergleicht man die relativ aktuellen Mitgliederzahlen des Jahres
2013 mit denen des Jahres 1993, als die Verfassungsschutzberichte die höchste
Zahl an Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung auswiesen, bleibt als Ergeb-
nis, dass die Partei im Bund heute etwas besser dasteht als damals (ca. 5.500 Mit-
glieder77 im Vergleich zu ca. 5.00078), in Baden-Württemberg im Gegensatz dazu
aber regelrecht eingebrochen ist (von ca. 750 bis 80079 auf ca. 41080).
Alles in allem weist der baden-württembergische Landesverband der NPD lediglich
eine Besonderheit auf, die ihn von manch anderem Landesverband deutlich zu sei-
nem Vorteil unterscheidet: Seit Jahren zählt der baden-württembergische Landes-
verband der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) gemessen
an der Zahl seiner Mitglieder und seiner regionalen „Stützpunkte“ zu den stärksten
JN-Landesverbänden bundesweit, wenn er nicht sogar der stärkste ist. Die JN sind
die größte rechtsextremistische Jugendorganisation in Deutschland. Im Jahr 2013
lebten ca. 7081 und damit knapp ein Fünftel der bundesweit ca. 380 JN-Mitglieder82 in
Baden-Württemberg. In früheren Jahren war der Anteil des JN-Landesverbandes am
NPD-Landesverband und an den Bundes-JN sogar noch deutlich größer: Im Jahr
2008 lebten sogar noch ca. 11083 der damals bundesweit ca. 400 JN-Mitglieder84 in
Baden-Württemberg, also mehr als ein Viertel. Damit waren auch knapp ein Viertel
der damals ca. 450 baden-württembergischen NPD-Mitglieder85 der eigenen Ju-
gendorganisation zuzurechnen, auch wenn damals wie heute die einzelnen JN-
75
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1996, S. 80.
76
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 144.
77
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 91.
78
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1993, S. 130.
79
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 53.
80
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 144.
81
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 190.
82
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 104.
83
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2008, S. 160.
84
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2008, S. 96.
85
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2008, S. 160.
                                                                                             18
„Stützpunkte“ unterschiedlich aktiv waren. Der NPD-Landesverband war also – und
ist in gewisser Weise auch heute noch – demographisch relativ jung. Im Ergebnis ist
festzuhalten:

• Durch den Wegfall von DVU und REP ist die NPD seit Jahren die einzige rechts-
  extremistische Partei von bundesweiter Bedeutung.

• Auch wenn sie ihre Mitgliederzahlen von Anfang der 1990er Jahre im Bund wie im
  Land Baden-Württemberg nicht halten bzw. nicht wieder erreichen konnte, hat sie
  ihre Existenz trotz mittlerweile zweier gegen sie angestrengter Verbotsverfahren
  bislang behaupten können.

• Seit Jahren ist sie innerhalb einer geschrumpften rechtsextremistischen Gesamt-
  szene die bedeutendste Kernorganisation. In den letzten zehn Jahren hatte sie
  sogar wieder vereinzelte, allerdings im Wesentlichen auf Ostdeutschland be-
  schränkte Landtagswahlerfolge zu verbuchen, was ihr zuvor 36 Jahre lang nicht
     gelungen war.

• Mit ihrer eindeutig rechtsextremistischen, teils bis ins Neonazistische tendierenden
  ideologischen Ausrichtung, ihrem in Teilen der Partei festzustellenden Aktionismus
  und ihrer relativen Jugendlichkeit ist die NPD – zusammen mit der Neonaziszene
  – ein deutlicher Beweis dafür, dass vom quantitativen Niedergang der rechtsext-
  remistischen Szene in der Bundesrepublik weit weniger deren extremismusinten-
  sivere, aktivere und jüngere Teile, also deren harter Kern betroffen war.

• Im Jahr 1993 stellten NPD und Neonaziszene zusammen keine 15 Prozent des
  rechtsextremistischen Gesamtpersonenpotenzials in Baden-Württemberg (1.005
  bis 1.055 von 7.04086). Im Bund betrug dieser Anteil gerade einmal etwas mehr als
  ein Zehntel (ca. 7.450 von ca. 64.50087). Bis zum Jahr 2013 hatte sich das Bild
  komplett gewandelt: In Baden-Württemberg war zwar „nur“ knapp die Hälfte der
  Rechtsextremisten der NPD oder der Neonaziszene zurechnen (ca. 820 von
  ca. 1.80088), was der relativen Schwäche des NPD-Landesverbandes geschuldet
  war. Im Bund jedoch stellten diese beiden Faktoren zusammen sogar mehr als die
  Hälfte der deutschen Rechtsextremisten (ca. 11.300 von ca. 21.70089).
• Der quantitative Schrumpfungsprozess der rechtsextremistischen Szene hat deren
  qualitativ am eindeutigsten rechtextremistischen Teile am wenigsten oder gar nicht
  betroffen. Die „weichen“ Ränder schmelzen ab, der „harte“ Kern ist weitgehend

86
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     1993, S. 17, 53.
87
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1994, S. 78.
88
     Vgl. Innenministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg
     2013, S. 144.
89
     Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, S. 70.
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