Poetik des Memoir. Gattungshybridität zwischen Autobiographie, Sachbuch und Erzählung - Ingenta Connect
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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 290–304 Carsten Rohde Poetik des Memoir. Gattungshybridität zwischen Autobiographie, Sachbuch und Erzählung I. Memoir / Memoiren. „Memoir“: Damit ist hier eine autobiographisch grundierte, orien- tierte oder strukturierte Erzählung zumeist mittleren Umfangs gemeint, in deren seman- tischem Zentrum ein Sachthema steht, das häufig eine gesellschaftspolitische, bisweilen tagesaktuelle, journalistische Relevanz besitzt. Autobiographisch grundiert: das heißt, die empirische Biographie des Verfassers bildet die Grundlage des Erzählten; autobiographisch orientiert: die Erzählung gründet nicht nur im Biographischen, sie ist Eingriff und Engage- ment in die Lebensführung unter zumeist gesellschaftspolitischen Vorzeichen; autobiogra- phisch strukturiert: die Chronologie der Erzählung folgt der Biographie des Verfassers, die eine strukturbestimmende Bedeutung hat. Missverständlich ist der Terminus des ‚Memoir‘, weil er mit dem traditionellen Begriff der ‚Memoiren‘ zusammenhängt. Doch es gilt, Singular Neutrum ‚das Memoir‘ von Plu- ral Femininum ‚die Memoiren‘ zu unterscheiden.1 Unter ‚Memoiren‘ versteht man in der deutschsprachigen Literatur und Literaturwissenschaft eine autobiographische Erzählform, die der Vermittlung primär äußerer Erfahrungen und Erlebnisse dient. Häufig handelt es sich dabei um Erinnerungen von Politikern und anderen Personen der Zeitgeschichte oder des öffentlichen Lebens. Historisch grenzt sich diese mehr nach außen gerichtete Berichts- form der Memoiren von der mehr nach innen gerichteten Form der literarischen Bekennt- nisautobiographie ab.2 Das neuartige Genre des Memoir basiert indes auf mentalitäts-, kultur- und mediengeschichtlichen Prämissen, die sich teilweise erheblich von jenen der Memoiren unterscheiden. Statt einer mehr oder weniger behaglichen Retrospektive auf zum Teil weit zurückliegende Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens und deren Zusammenhang mit überindividuellen historischen Ereignissen und Entwicklungen legt das Memoir den Fokus auf soziale und politische Probleme der Gegenwart. Das Ich tritt dabei auch nicht hinter die Ereignisse zurück, sondern wird in seiner Authentizität im Gegenteil in besonderer Weise exponiert. Es ist zwar kein bekennendes Individuum, das sein unverwechselbares Selbst bloßlegt (wie in der Tradition der Konfessionsautobiographie), aber es vertritt deutlich seinen Standpunkt und versteht es, diesen mit Hilfe biographischer Narrative im medialen Wettbewerb der Spätmoderne so zu markieren, dass er wahrgenommen wird. Nicht allein der etymologische Zusammenhang mit dem Begriff der ‚Memoiren‘ pro- duziert Unschärfen und Missverständnisse. Der Sprachgebrauch im angloamerikanischen Raum sorgt zusätzlich für Verwirrung. Dort findet ‚memoir‘ (Einzahl wie Mehrzahl) als 1 Dagegen Lahusen (2019, 626–635), die auch neuere Formen des ‚Memoir‘ in die Tradition der ‚Memoiren‘ einordnet, damit jedoch die kategorialen Differenzen überspielt. 2 Vgl. Lehmann (1988). © 2022 Carsten Rohde - http://doi.org/10.3726/92171_290 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 291 allgemein gebräuchliche Bezeichnung für eine autobiographische Erzählung Verwendung, ist mithin weitgehend synonym mit dem deutschen Wort für ‚Autobiographie‘. Formen des hier behandelten neuen autobiographischen Genres des Memoir laufen dort bisweilen unter der Überschrift „New Memoir“, werden mithin als Novität wahrgenommen, indes nicht eigens poetologisch differenziert.3 Daraus folgt, dass sich die hier angestellten Überlegungen zu einer Poetik des Memoir hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum beziehen, auch wenn häufig Übersetzungen fremdsprachiger Werke Gegenstand des Diskurses sind und vielfach als normative Vorbilder dienen oder wichtige Orientierungsmarken setzen. Mit dem Memoir als einer Ausdifferenzierung in der jüngeren Geschichte des autobiographischen Schreibens ist also weder die traditionelle Form einer primär nach außen gerichteten Erinne- rungsliteratur gemeint noch ein Allgemeinbegriff für Autobiographie, sondern vielmehr eine spezifische Form autobiographischen Schreibens im Spannungsfeld von Autobiographie, Sachbuch und Erzählung, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts im literarischen Diskurs Verbreitung und Beachtung gefunden hat. In ihr wird biographische, ‚gelebte Erfahrung‘ (‚lived experience‘) zum zentralen Kriterium moderner Identität. Als ‚Memoir‘ werden in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit seit den nuller Jahren folgende Werke markiert und diskursiv verhandelt: Didier Eribon: Retour à Reims (2009; dt.: Rückkehr nach Reims, 2016), Deborah Feldman: Unorthodox. The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots (2012; dt.: Unorthodox, 2016), J. D. Vance: Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis (2016; dt.: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise, 2017). Neben diesen Bestsellern findet der Ter- minus in Bezug auf eine Reihe weiterer Werke Anwendung: Rachel Cusk: A Life’s Work. On Becoming a Mother (2001; dt.: Lebenswerk. Über das Mutterwerden, 2019) / Aftermath. On Marriage and Separation (2012; dt.: Danach. Über Ehe und Trennung, 2020), Édouard Louis: En finir avec Eddy Bellegueule (2014; dt.: Das Ende von Eddy, 2015), Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin (2019). Hinzu kommt schließlich eine Reihe zum Teil prominenter Autorinnen und Autoren von Memoirs, die gemeinsam haben, dass sie keine literarischen Ambitionen im hochkulturellen Sinne verfolgen und daher ganz überwiegend außerhalb des Wahrnehmungsfokus der professionellen Literaturkritik und Literaturwissenschaft liegen. II. Ausdifferenzierung und Gattungshybridität. Für die literarische Moderne insgesamt ist eine Tendenz zur Ausdifferenzierung und Vermischung literarischer Gattungen charak- teristisch. In allen drei Großgattungen – Lyrik, Epik, Dramatik – sind entsprechende Entwicklungsdynamiken zu beobachten, wobei oftmals die Frühromantik als Katalysa- tor fungierte. Da es sich um eine Langzeitentwicklung handelt, bietet es sich an, von Entwicklungsschüben zu sprechen, die jeweils spezifische, zeitbedingte Voraussetzun- gen und Kontexte aufweisen. So ist im Bereich des Dramas in der Zeit um 1900 der Kontext des Ästhetizismus zu nennen, der für die Konjunktur des lyrischen Dramas von Bedeutung gewesen ist. Solche zeitspezifischen Rahmenbedingungen stellen mit Blick auf die jüngere Vergangenheit seit 1989 (die den Beginn der Epochenhilfskonstruktion 3 Vgl. Madden (2014, 222–236). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
292 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir ‚Gegenwartsliteratur‘ markiert) insbesondere mediengeschichtliche Umbrüche dar. Sie verstärken die ohnehin in der Moderne vorhandene Tendenz zur Ausdifferenzierung und Formenvermischung, indem die Zunahme und Akzeleration medialer Formen zwangs- läufig die Frage nach dem Verhältnis dieser Formen untereinander aufwerfen. Jedenfalls ist auffällig, dass in der jüngeren Selbstreflexion von Gesellschaft und Kultur häufig Be- griffen eine herausgehobene Bedeutung zukommt, die das Ineinander oder Dazwischen bereits im Wort selbst anzeigen. In Wortzusammensetzungen mit ‚inter-‘, ‚trans-‘, ‚multi-‘, ‚poly-‘ determinieren diese Morpheme buchstäblich die auf sie folgenden Wortteile und signalisieren so die für die symbolisch-semantische Ordnung grundlegende Bedeutung der in ihnen wirksamen Semantiken. Eine inter- oder transkulturelle Annäherung an kul- turelle Phänomene sensibilisiert automatisch den Blick für Zwischenräume und Über- gangszonen. Dies gilt für Wissenschaften mit ihrem interdisziplinären Selbstverständnis ebenso wie für literarische Formen und Gattungen. Hier wie dort lässt sich für die Gegen- wart eine Konjunktur von Formen des Hybriden, des In-between feststellen.4 Um erneut ein Beispiel aus dem Bereich der dramatischen Gattung heranzuziehen: Das sogenannte ‚postdramatische Theater‘ bewegt sich in einem Zwischenraum, indem es dramatische mit epischen, dokumentarischen und journalistischen Formen kombiniert. Formen biographischen und autobiographischen Erzählens sind in der jüngeren Vergangenheit in besonderer Weise zum Schauplatz von Ausdifferenzierung und Gat- tungshybridität geworden. Ein Blick in ein neueres Standardwerk der Autobiographiefor- schung, das Handbook of Autobiography/Autofiction,5 informiert über die immense Breite und Heterogenität an Formen und Themen dieser Gattung: Nicht mehr nur klassische autobiographische Textsorten wie Memoiren, Brief, Tagebuch usw. firmieren darunter, sondern so unterschiedliche hybride Formen wie die Graphic Novel, der Weblog oder das Tanztheater. Es scheint, als sei es von zwei Seiten aus simultan zu einer Ausdifferenzierung, Pluralisierung und Hybridisierung der Formen gekommen. Einmal ist dies der Fall auf dem Feld der biographischen und autobiographischen Texttypen selbst, das eine immense Aus- weitung erfahren hat. Zum zweiten weisen inzwischen zahlreiche literarische Textformen, insbesondere im Bereich der Prosa, aber auch nicht-textuelle Formen eine biographisch-au- tobiographische Schlagseite auf. Das Biographische ist in der Kultur der Gegenwart ein so wichtiges Dispositiv geworden, dass es in zahlreiche Formen ‚eingewandert‘ ist und diese Formen wesentlich mitbestimmt. Beispiele hierfür sind der ‚new journalism‘ bzw. ‚poetische Journalismus‘, in dem bereits seit den 1970er Jahren Texte entstanden sind, die in bewusster Gegenwendung zum Gebot journalistischer Objektivität Elemente des Subjektiven und auch Biographischen adaptiert haben.6 Gattungsvermischung betreiben zuletzt vermehrt auch wissenschaftliche Texttypen, teilweise unter der Überschrift der Autoethnographie.7 Biographische Narration verknüpft sich hier mit szientifischen Formen von Diskursivität und führt zu einem Hybrid aus Erzählung und Argumentation. Steffen Maus vielbeachtete 4 Vgl. Bathrik, Preusser (2012, 7–29). 5 Wagner-Egelhaaf (2019). 6 Vgl. Zymner (2007, 75 ff.). 7 Vgl. Moser (2019, 232–240). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 293 soziologische Studie über die „ostdeutsche Transformationsgesellschaft“8 ist ein Beispiel für diese Form von Gattungshybridität. Wie hier übernimmt das biographische Element zumeist die Funktion eines Authentizitätsmarkers, der die diskursive Argumentation zu- sätzlich stützt. Autobiographische Texte der Gegenwart vereinen des Öfteren heterogene Traditions- linien miteinander. Exemplarisch hierfür stehen einige Werke der britischen Autorin Rachel Cusk, die sich mit ihrer Literatur häufig im Grenzbereich von Autobiographie und Fiktion bewegt (A Life’s Work. On Becoming a Mother, 2001; Aftermath. On Marriage and Separation, 2012). Einerseits handelt es sich um autobiographische Texte, wie schon der Titel A Life’s Work andeutet. Andererseits artikuliert sich in den Buchtiteln auch bereits das sachlich-thematische Zentrum der Werke: On Becoming a Mother bzw. On Marriage and Separation. Die Texte sind sowohl Bericht als auch Erzählung: Sie berichten, informieren über ein Thema, eine Sache, und sie erzählen aus einem privat-intimen Blickwinkel das eigene Leben. Während die Berichtsform die Texte in die Nähe von Sachbuch und Me- moiren rückt, führt das autobiographisch-erzählerische Moment in ein diffuses Feld der faktual-fiktionalen Selbstrepräsentation. Autobiographie war zwar schon immer Erzählung, doch ist der literarische Diskurs der Spätmoderne in besonderem Maße sensibel für die konstruktivistisch-inventorischen Aspekte dieser Form. Leben und Identität werden über Erzählung hergestellt, ja erfunden. Wir sind, was wir (von uns) erzählen. Daher zeigt Er- zählung prinzipiell eine Nähe zur Autobiographie. Zugleich aber verschaltet der Diskurs über das Memoir das erzählerische und autobiographische Dispositiv mit dem Gebot der Authentizität: Wir sind, was wir (von uns) unter der Maßgabe des authentischen Aussa- gegebots erzählen. Im Ergebnis kommt es zu einer gattungshybriden Zusammenführung von Autobiographie, Sachbuch (Bericht) und Erzählung. Eine gewisse Nähe besteht zudem zum autobiographischen Essay, wobei diesem notorisch zwitterhaften Genre von Anfang an hybride Züge eingeschrieben sind. Nicht nur die Essais (1580/88) des Gattungsgründers Michel de Montaigne, auch neuere Vertreter, etwa Werke wie Michael Rutschkys Erfah- rungshunger (1980), weisen eine deutlich erkennbare autobiographische Tendenz auf. Rachel Cusks Texte wiederum ließen sich zwar auch einfach als autobiographische Erzählungen bezeichnen. Doch berücksichtigt diese Bezeichnung weder das journalistisch-thematische Interesse (On Becoming a Mother / On Marriage and Separation), noch verrät sie etwas über den Willen zur Authentizität, der diese Erzählform in besonderer Weise kennzeichnet und der in gewisser Weise den faktual-fiktionalen Aussagemodus synthetisiert. Denn zwar wer- den A Life’s Work und Aftermath in der Selbstbeschreibung der Autorin und ihres Verlags als „non-fiction“ deklariert. Doch ist die faktual-biographische Substanz dieser Werke durch die erzählerische Dramaturgie und die Konstruktion von Identität unauflöslich mit Elementen des Fiktionalen und Akten des Fingierens verbunden. III. Der außerwissenschaftliche Diskurs I: Buchmarkt. Es sind im Wesentlichen drei Dis- kursfelder, in denen der Begriff des ‚Memoir‘ zu Beginn des 21. Jahrhunderts verwendet und verhandelt wird: in der Wissenschaft, im Feuilleton und auf dem Buchmarkt bzw. 8 Mau (2019). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
294 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir in der allgemeinen literarischen Öffentlichkeit. Dass alle drei Bereiche inzwischen Teil eines globalen digitalen Kommunikationszusammenhangs sind, vervielfacht zusätzlich das Maß an Komplexität und Unschärfe. Der wissenschaftliche Diskurs reagiert häufig mit Verzögerung auf aktuelle gesellschafts- politische Phänomene. So auch im Falle des Memoir, das in der wissenschaftlichen Literatur zum autobiographischen Schreiben bis dato nur wenige Spuren hinterlassen hat. Allerdings findet man im Internet Hinweise darauf, dass sich dies bald ändern könnte. Wie einem Bericht des geisteswissenschaftlichen Informationsportals H-Net zu entnehmen ist, befasste sich ein Beitrag auf der Tagung Wozu das ganze Schreiben, die im Jahr 2018 vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm veranstaltet wurde, mit dem „Begriff des Depressionsmemoirs“. Die Referentin untersuchte, so ist hier zu lesen, anhand von rezenten Depressionsmemoiren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das ‚Warum?‘ des Schreibens. Die meisten Autor*innen fokussierten auf Motive wie Erinnerung oder Ablenkung, Erkenntnis oder Katharsis. In den meisten der von ihr exemplarisch behandelten Me- moiren erscheine das Schreiben im Sinn einer Pathographie als performativer Akt der Genesung.9 Bezeichnend für die Unschärfe in diesem Diskursfeld ist wiederum, dass die beiden Ver- fasser des Tagungsberichts nicht zwischen den Begriffen ‚das Memoir‘ und ‚die Memoiren‘ unterscheiden. Einer größeren Verbreitung und Beliebtheit erfreut sich das Genre auf dem Buchmarkt, da es offenkundig vielfach den Publikumsgeschmack trifft und entsprechende kommerzi- elle Erfolge erzielt. Ort dieses Diskurses über das Memoir ist ebenfalls hauptsächlich das Internet, und es beteiligen sich an ihm Akteure, die eine gewisse Affinität zur oder ein Interesse an der Buchbranche zeigen, wie zum Beispiel Agenten, Verlagslektoren, (Hobby-) Autoren und, last but not least, Leser. Ob sich das Memoir als Gattungsbegriff auf dem Literatur- und Buchmarkt auf lange Sicht etablieren wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer prognostizieren. Auffällig ist, dass der Terminus insbesondere im po- pulärliterarischen Publikumssegment als Marketingbegriff verwendet wird, um ihn von der offenkundig als antiquiert empfundenen Bezeichnung ‚Autobiographie‘ abzugrenzen. Als neudeutscher Anglizismus umgibt das Wort ‚Memoir‘ eine Aura von Modernität und Unverbrauchtheit, die in der Aufmerksamkeitsökonomie des Buchmarkts eine wichtige Größe darstellt. Dieser Mehrwert macht den Begriff auch für den journalistischen Diskurs attraktiv, wo er ebenfalls mitunter als modisches Schlagwort Verwendung findet. Im Falle von Verena Lugerts Die Irren mit dem Messer. Mein Leben in den Küchen der Haute Cuisine (2017) artikuliert sich die modernistische Marketingsprache bereits in der Titelformulierung und setzt sich dann im Klappentext fort, in dem dieser Erlebnisbericht als „vielgelobte[s] auto-biographische[s] Sachbuch-Memoir“ angepriesen wird.10 Präsen- tation, Sprache und intellektueller Anspruch sind bei Didier Eribon oder Rachel Cusk selbstverständlich ganz verschieden. Dennoch ähneln sich die Werke grundsätzlich in ihrer 9 Bauer, Ursin (2021). 10 , zuletzt: 11.6.2021. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 295 Überlagerung von Autobiographie und Sachbuch. Allerdings weisen als Memoir deklarierte Werke im Segment der bestsellerorientierten Publikumsliteratur häufig keinen gesellschafts- politischen Fokus auf. Was hier einzig zählt, ist die ‚Interessantheit‘ der Lebensgeschichte, wobei sich die Semantik von ‚interessant‘ an den Vorgaben massenmedialer Leitinstitutionen wie z. B. Websites, soziale Medien, populäre Talkshows usw. bemisst. Schließlich findet das Memoir im literarischen Leben der Gegenwart in einem Bereich Resonanz, der sich an der Schnittstelle von Literatur und Leben, Pädagogik und Therapie befindet. Gemeint ist das weite und diffuse Feld von Schreibwerkstätten, Biographie-Semi- naren und sonstigen Dienstleistungs- und Kursangeboten, die Lebensarbeit im weitesten Sinne betreiben.11 Solche Formen gesellschaftlicher Biographiearbeit stellen zweifellos ein Affluenzphänomen westlicher Wohlstandsgesellschaften dar und lassen sich als Teil der postmaterialistischen Sorge um sich selbst kategorisieren.12 Sie gehören zudem in den Kon- text der soziokulturellen Bewegung seit den 1970er Jahren, die unter der Devise ‚Kultur für alle‘ Sozialarbeit als Kulturarbeit begreift. Die Auseinandersetzung mit fremden Biographien und mit der eigenen Biographie besitzt hier einen kulturellen Wert, der zwar keinen hoch- kulturell-bildungsbürgerlichen Ansprüchen genügt, dafür aber unter demokratisch-emanzi- patorischen Vorzeichen von Bedeutung ist. In Form von Lehrpersonal, Büchern, Workshops usw., die zum Teil an staatliche bzw. kommunale Bildungs- und Kultureinrichtungen angeschlossen sind, ist hier mit den Jahren eine Infrastruktur entstanden, die das postma- terialistische biographische Dispositiv auch institutionell verankert und somit verstetigt. Hierzu zählt auch die Aufnahme von entsprechenden Ausbildungsgängen in die Curricula höherer Schulen; in den USA ist biographisches Schreiben seit Längerem Bestandteil von universitären Creative-Writing-Studiengängen, an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin wird seit 2006 der Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ angeboten. Diese Ausdifferenzierung des biografischen Schreibens steht deutlich im Zeichen des sozialpädagogischen Imperativs, der die westlichen Gesellschaften seit der Spätphase der organisierten industriellen Moderne und der Etablierung eines menschheitsgeschichtlich singulären Wohlstandsniveaus massiv geprägt hat. Das biographische Narrativ dient hier hauptsächlich der Ausformung und Konsolidierung von sozialer Identität unter emanzi- patorischen Vorzeichen, wobei sich die ‚Kultur-für-alle‘-Bewegung gewissermaßen post- materialistisch anpasst, indem althergebrachte kollektive Klassenidentitäten transformiert werden in eine Form von individueller Identität für jedermann, die sich dann u. a. in der je individuell gefassten Biographie niederschlägt. Letztlich fungiert hier das Biographische als Generator für Bedeutsamkeit. Die Zuwendung zum Selbst, die Reflexion über die eigene Vergangenheit, gegebenenfalls unter Anleitung eines Mentors oder Coaches, und schließlich die Niederschrift bezeugen, dass es sich bei dieser Biographie um etwas Besonderes und Bedeutsames handelt, um etwas Singuläres. Ähnlich wie im Feuilleton wird das ‚Memoir‘ als Genrebegriff in diesen Zusammenhängen häufig als Schlagwort gebraucht, das Mo- dernität und Zeitgemäßheit signalisieren soll. Die Fokussierung auf gesellschaftspolitische 11 Vgl. etwa Seiten wie: , oder , zuletzt: 11.6.2021. 12 Vgl. Inglehart (1998, 189 ff.), Abschnitt „Der postmaterialistische Wertewandel 1970–1994“. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
296 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir Brennpunktthemen gerät dabei völlig aus dem Blick. Die Sorge ums Selbst geht einher mit einer Verengung aufs Private, Klassenidentitäten spielen keine Rolle. Zwar lässt sich diese Art des Memoir in die Tradition der Schreibaktivitäten der Arbeiterbewegung und anderer gesellschaftlicher Randgruppen einordnen, indem sie traditionell literaturfernen Akteuren zu Stimme und Sichtbarkeit verhilft. Doch das Ziel ist nicht kollektive Identität, genährt wird vielmehr die Massenillusion von Einzigartigkeit und Distinktion in einer demokratisch-liberalen Gesellschaft, und zwar Einzigartigkeit sowohl der Person als auch der Biographie. Diese Formen biographischen Schreibens führen in ein Gebiet der literarischen Kultur der Jahrtausendwende, das bei Kritik und Wissenschaft in der Regel wenig Beachtung findet, da die betreffenden Werke ganz überwiegend keine literarästhetisch-intellektuellen Ambitionen im traditionellen Sinne verfolgen und ihre Verfasser nicht-prominent sind. Dennoch sind diese Texte, deren ästhetischer und semantischer Gehalt in den meisten Fällen nicht sehr komplex ist, in der Gegenwart nicht nur in einem engeren literatursoziologischen Sinne bemerkenswert. Sie geben Aufschluss über die Virulenz des Biographischen als einem allge- meinen Dispositiv in der Gesellschaft der Gegenwart, als einem geistig-imaginär wirksamen Baustein bei der Konstituierung von individuellem und kollektivem Sinn. Ein Blick in die populärliterarische (Auto-)Biographik verrät etwas über Mentalität und Identität breiter Bevölkerungsschichten. Solche biographischen Erzählungen lenken die Aufmerksamkeit auf Dinge und Werte, Abschnitte und Strukturen in der Biographie, denen in der allgemeinen Selbstreflexion und Selbstbeschreibung ein erhöhter Wert zukommt. IV. Der außerwissenschaftliche Diskurs II: Feuilleton. Am 2. Januar 2017 erschien auf den Kulturseiten der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Ideen aus dem Jahr 2016, die bleiben ein Rückblick verschiedener Feuilletonredakteure. Christopher Schmidt betitelte seinen Einzelbeitrag mit den Worten „Das Memoir als Genrebegriff“ und nannte als Bei- spiele „Bücher von Benjamin von Stuckrad-Barre (‚Panikherz‘), Didier Eribon (‚Rückkehr nach Reims‘) oder Thomas Melle (‚Die Welt im Rücken‘)“. Schmidts Artikel ist ein gutes Beispiel für die teils modisch-modernistische und häufig unscharfe Verwendung des Be- griffs ‚Memoir‘ im feuilletonistischen Diskurs. Zwar wird dem Leser eine auf den ersten Blick durchaus erhellende Kurzdefinition des Genres an die Hand gegeben: Es handele sich um „[e]rzählende Sachbücher, die in Ich-Form von einem schicksalhaften Erlebnis berichten“. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich die Bezeichnung ‚erzählendes Sachbuch‘ mit Blick auf den Inhalt zumindest in zwei Fällen (Stuckrad-Barre, Melle) als fragwürdig, weil irreführend. Auch steht in keinem der drei Bücher ein einzelnes ‚schick- salhaftes Erlebnis‘ im Mittelpunkt. Diese Unschärfen und die weitgreifende, verallgemei- nernde Verwendung von ‚Memoir‘ nähren den Verdacht, dass der Terminus ‚Memoir‘ hier lediglich als modernistisches Synonym für ‚autobiographische Erzählung‘ gebraucht wird und keinerlei darüber hinausgehenden Informations- und Erkenntniswert enthält. Zuweilen dient der Begriff ‚Memoir‘ aber auch als Bezeichnung für neuartige Text- und Schreibformen im digitalen Zeitalter. So beschreibt Sarah Brouillette in einem Text für die Zeitschrift Merkur den Karriereweg zweier US-amerikanischer Jung-Autorinnen, die hauptsächlich auf Social-Media-Kanälen publizieren. Die eine wird mit den Worten zitiert: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 297 Ich glaubte, dass Caroline und ich die Form des Nichtfiktionalen sprengten. Instagram ist ein Memoir in Echtzeit. Die Posts sind ein Memoir ohne den Akt des Erinnerns. Instagram hebt die Distanz zwischen Autorin, Leser und Kritikerin auf, und gerade deshalb handelt es sich um wahres feministisches Erzählen, erklärte ich Caroline und versuchte sie davon zu überzeugen, dass es der Gipfel der Radikalität war, wenn ein weißes Mädchen lernte, an sich selbst zu glauben (was mir durchaus gelegen kam, da ich selbst ja auch ein weißes Mädchen war, das lernte, an sich selbst zu glauben).13 Allerdings handelt es sich bei diesem Text um eine Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch. Im Original lautet die betreffende Passage: „Instagram is memoir in real time. It’s memoir without the act of remembering. It’s collapsing the distance between writer and reader and critic, which is why it’s true feminist storytelling.“14 Als angloamerikanisches Äquivalent für autobiographische Texte im Allgemeinen weist die Bezeichnung ‚memoir‘ hier zunächst nicht in Richtung des ‚neuen Memoir‘ mit seiner spezifischen Mischung aus Gesellschaftskritik und Authentizität. Dennoch trifft die originelle Charakterisierung von Instagram als „memoir in real time“ bzw. „Memoir in Echtzeit“ in gattungshistorischer und -ästhetischer Hinsicht einen wichtigen Punkt: Mit ihr distanziert sich dieses digitale Medium von traditionellen Formen des autobiographischen Schreibens und recodiert die- ses neu unter den Prämissen des digitalen Zeitalters. Wenn die deutsche Übersetzung die Akzentuierung zusätzlich durch den Gebrauch des Neologismus ‚das Memoir‘ markiert, so unterstreicht das den Umstand, dass dieser Ausdruck in der Welt der Medien und des Marketing in Abgrenzung zu klassischen Bezeichnungen verwendet wird. Die Bezeichnung ‚Memoir‘ signalisiert deutlicher als andere Begriffe, dass es sich um einen autobiographischen Text handelt, der unter den Voraussetzungen des digitalen Zeitalters entstanden ist. V. Memoir und Identitätspolitik. Entstehung und Verbreitung des Memoir stehen nicht zufällig in zeitlicher Nähe zu Veränderungen, die unter dem Oberbegriff der Identitäts- politik Kulturen und Gesellschaften des Westens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts massiv verändert haben.15 Identität wird mehr und mehr zu einer unsicheren und umstrit- tenen Größe, die teilweise Gegenstand politisch-ideologischer Kämpfe ist. Memoirs sind in diesem Zusammenhang diskursiv-narrative Identitätsmarker. Sie definieren Inhalte von Identität und verleihen damit einer Biographie Konturen, die sie von anderen Bio- graphien und Identitäten abgrenzen. Einschlägige Beispiele hierfür sind Didier Eribons Retour à Reims und Édouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule, die in besonderer Weise die geschlechtlich-sexuelle, in diesem Falle homosexuelle, sowie die klassenmäßig-sozia- le Identität des autobiographischen Ich exponieren. Festhalten lässt sich, dass Memoirs im Unterschied zu klassischen autobiographischen Erzählformen eine stärker ausgeprägte politische Wirkungsintention und Appellfunktion besitzen. Sie funktionalisieren das Au- tobiographische für das Politische, indem sie die Authentizität und ‚Härte‘ biographischer Erfahrung als Argument für politische Zwecke benutzen. Das Politische bezieht sich dabei 13 Brouillette (2021, 17). 14 Beach (2019). 15 Vgl. zuletzt etwa Fukuyama (2018). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
298 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir vor allem auf die individuelle und soziale Identität. Selbstbestimmung und Emanzipati- on sind in den liberaldemokratischen Gesellschaften des Westens häufig Leitwerte, die auch die biographische Narration strukturieren. Beispielhaft illustriert Deborah Feldmans Memoir Unorthodox diesen Zusammenhang: Die autobiographische Erzählung der New Yorker Jüdin zeichnet den ebenso mutigen wie schmerzhaften Prozess der Selbstbefreiung der Protagonistin aus einem ultrakonservativen Sozialmilieu nach. Das exklusiv für die deutsche Übersetzung geschriebene Nachwort endet mit den Worten: Die Menschen wollen wissen, ob wir [gemeint sind Feldman und ihr kleiner Sohn Isaac, mit dem sie dem chassidischen Milieu schließlich nach Berlin entflohen ist] Glück gefunden haben; doch was wir gefunden haben, ist besser: Authentizität. Ich bin frei, ich selbst zu sein, und das fühlt sich gut an. Wenn irgendwer jemals versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.16 Obwohl die Biographien stark individualistisch bzw. singularistisch ausgerichtet sind, bilden Autoren und Leser häufig „Neogemeinschaften“,17 in denen sich die Teilnehmer sowohl ihrer politisch-sozialen Identitäten versichern als auch die soziale Konstruktivität und Narrativität von Identität diskutieren. In einer „Gesellschaft der Singularitäten“18 sind die narrativ-hermeneutischen Qualitäten, die den Einzelnen mit seinen Mitmenschen verbinden, ihn aber auch distinguieren und somit profilieren (wie es Pierre Bourdieu in seiner Soziologie der ‚feinen Unterschiede‘ beschreibt) von besonderer Wichtigkeit. Sie werden zu einem Bestandteil auch des politischen Selbstverständnisses, ja zu einem Teil der politischen Öffentlichkeit, was gelegentlich kulturkritisch als Privatisierung des Politischen beklagt wird. Narrative Konstruktion von biographischer Identität ist dabei in der Moderne häufig in ein dichotomisches Schema gefasst. Der Titel einer literaturwissenschaftlichen Monographie aus dem Jahr 1970 fasst einen verbreiteten Ansatz gut zusammen: Das autobiographische Ich steht zwischen „Identität und Rollenzwang“.19 Im Hintergrund ist hier die rousseauistische Vorstellung eines Gegensatzes von Wahrhaftigkeit und Entfremdung (moi intime vs. moi sociale) wirksam. Die autobiographische Erzählung wird so zum Medium der Wahrheit, der Authentizität, das das wahre Ich jenseits des Rollenzwangs zeigt. Im autobiographischen Schreiben zu Beginn des 21. Jahrhunderts finden solche Modelle von Subjektivität und Narrativität vereinzelt nach wie vor Anwendung. Doch unternimmt das Memoir einen Versuch, der aus Sicht des rousseauistischen Authentizitätskults paradox erscheint: Es sucht und behauptet Wahrhaftigkeit nicht außerhalb, sondern inmitten der Gesellschaft, indem das autobiographische Ich sich wesentlich im Sozialen und Politischen verortet und diesbezüglich sogar programmatische Ansichten und Forderungen in die Textur der autobiographischen Schrift integriert. 16 Feldman (122017, 371). 17 Reckwitz (32020, 63 u. ö.). 18 Reckwitz (32020). 19 Neumann (1970). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 299 Die identitätspolitischen Prämissen der Postmoderne scheint das Memoir sowohl zu bestätigen als auch zu widerlegen. Denn auch nach dem Ende der Postmoderne ist Identität in den westlichen Gesellschaften nach dem Dafürhalten der allermeisten Teilnehmer in den kulturellen und wissenschaftlichen Diskursen konstruktivistisch, nicht essentialistisch verfasst. Zusammensetzung und Ausrichtung des Ich sind kontingent, nicht teleologisch finalisiert. Doch das Moment des Bunten und Spielerischen, das viele Texte der postmo- dernen Literatur und Kulturtheorie vertreten, ist einer neuen Ernsthaftigkeit gewichen in Bezug auf politische und soziale Standpunkte. Das Memoir mit seinem sozialpolitischen Bekenntnischarakter ist ein Genre, das inmitten von Transitorik, Kontingenz und Komple- xität die Unhintergehbarkeit bestimmter Faktoren (Herkunft, Klasse, Geschlecht u. a. m.), aber auch politischer Überzeugungen behauptet, die in der Biographie des Einzelnen eine maßgebliche Rolle spielen. Das Memoir verdeutlicht somit exemplarisch, dass sich im autobiographischen Diskurs allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Problemlagen widerspiegeln. Zur Diskussion stehen auch die wahrheitspolitischen Grundlagen der symbolisch-semantischen Ordnung. Eine Front verläuft in dieser Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern von Eindeutigkeit bzw. Identität (in einer ohnehin mehrdeutigen, komplexen Welt) und den Anhängern von Mehr- oder Uneindeutigkeit, Ambiguität und Komplexität, die die strukturelle subjekt- und identitätspolitische Überforderung durch die Moderne trotz aller Schattenseiten letzten En- des bejahen.20 Obwohl das Memoir mit seiner Betonung identitätspolitischer Positionierung zu Eindeutigkeit neigt, kann das autobiographische Schreiben der Moderne insgesamt in seiner Vielfalt der Formen und Gegenstände sowie in der Tendenz zur Problematisierung von erzählerischer und semantischer Eindeutigkeit gleichermaßen als Reflexion wie Ka- talysator einer unhintergehbar pluralistischen Wahrheitskonstellation betrachtet werden. VI. Memoir und soziale Identität. Das Memoir ist auch zu verstehen als Antwort auf Wi- dersprüchlichkeiten im Selbstverständnis und in der Lebensführung des spätmodernen Selbst, wie sie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschrieben hat.21 Die Neigung vie- ler Memoirs zur Thematisierung sozialer Probleme (der Herkunft aus unterprivilegiertem Milieu, der Prägung durch Klasse und andere soziale Gegebenheiten) lässt sich im soziolo- gischen Sinne als Beispiel für das Sich-Abarbeiten des spätmodernen Subjekts an „existen- ziellen Unverfügbarkeiten“22 begreifen. Darunter versteht Reckwitz „Tod und Krankheit“, „Unglücks- und Katastrophenfälle“, aber auch „psychische Grundgegebenheiten“, die „Familienkonstellation“ und das „Herkunftsmilieu“.23 Alle diese Dinge stehen in einem Widerspruch zum neoliberal-spätmodernen Leitbild der Selbstverwirklichung durch Selbstgestaltung. Während in der industriellen Moderne die Enttäuschungserfahrun- gen mit den Unverfügbarkeiten von ‚sozialen Systemen‘ aufgefangen und prozessualisiert werden, delegiert die singularisierte, kulturalisierte Spätmoderne diese an das ‚Subjekt‘. 20 Vgl. Bauer (2018). 21 Vgl. Reckwitz (32020, 342 ff.), Abschnitt „Spannungsfelder der Lebensführung: Das Ungenügen an der Selbstverwirklichung“. 22 Reckwitz (32020, 348). 23 Reckwitz (32020, 347 f.). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
300 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir Das „Projekt einer subjektiven Selbstentgrenzung und -optimierung stößt zwangsläufig in jenen Fällen an Grenzen, die sich der Gestaltung entziehen, ohne dass die Kultur der erfolgreichen Selbstverwirklichung für eine Verarbeitung von Enttäuschungserfahrungen gewappnet scheint.“24 So betrachtet ist das Memoir der Versuch, mit existenziell unverfügbaren Elementen der Biographie umzugehen. Es gleicht in seiner Wirkung einem literarischen Anti-Depressi- vum, indem es dem Verstummen das Erzählen, der nicht verbalisierbaren Frustration die diskursiv-narrative Erklärung entgegensetzt. Einmal mehr zeigt sich hier die Nähe dieser autobiographischen Gattung zum therapeutischen Diskurs der Spätmoderne. Der Autor des Memoir und die Leserschaft bilden nicht nur eine ‚Neogemeinschaft‘, sondern auch eine therapeutische Gruppe, die sich von ihrem Diskurs eine ‚Heilung‘ der ‚Wunden‘ er- hofft, die ihr von den negativen Aspekte spätmoderner Existenz zugefügt wurden. Dabei ist ‚Heilung‘ dann ein missverständlicher Terminus, wenn er im engeren medizinischen Sinne als abschließender Vorgang begriffen wird. Das Memoir als ‚weiches‘ narratives The- rapeutikum zeichnet demgegenüber vielmehr eine prozessuale Wirksamkeit aus. Es fügt sich ein in das lebenslange Bemühen um Selbstsorge qua Geschichtenerzählen.25 Zumal in autobiographischer Hinsicht bildet das Ich eine „narrative Identität“ aus, gleicht das Leben einem „Gewebe erzählter Geschichten“.26 Von diesem mehr nach innen gerichteten, privat-persönlichen biographischen Selbst-Gespräch, das das Ich begleitet und vervielfacht, unterscheidet sich das Memoir wiederum durch seine Öffentlichkeit: Dieses Selbst-Gespräch ist nach außen gerichtet, und entsprechend markiert es bestimmte politisch-gesellschaftliche und lebensweltlich-biographische Positionen. Es macht einen Unterschied, ob man ethnische Identität mit einer privaten Imago diskutiert oder ob sie zum Gegenstand eines öffentli- chen Diskurses wird, der sich notwendigerweise in einem Feld konkreter politisch-sozialer Konstellationen und Kämpfe ereignet. Ob auf der Ebene des Individuums oder des Kollektivs: Memoirs können allgemein als Indiz für die Repolitisierung der Literatur seit 9/11 begriffen werden. Sie zeichnet aus, dass sie das Biographische oft mit einer politischen Programmatik verknüpfen. Damit aber greifen zwei Erzähl- und Diskursformen ineinander, die tendenziell konträr zueinan- der stehen. Das Biographische produziert Vieldeutigkeit, während das Politische als eine öffentliche Entscheidungs- und Handlungslogik notwendigerweise Positionen beziehen und somit Eindeutigkeit herstellen muss. Biographie wird so letzten Endes von der Politik vereinnahmt, denn es ist diese Erzählung, die aufgrund ihres öffentlich-politischen Cha- rakters von größerer Prägekraft ist für den Leser. Im Gedächtnis haften bleibt denn auch zum Beispiel im Falle von Didier Eribons biographischer Erzählung Retour à Reims von 2009 das politische Programm einer ‚neuen‘ neuen Linken, die sich wieder an der Klasse orientiert. Es entsteht der Eindruck, dass Eribons Biographie weniger um ihrer selbst willen erzählt ist, sondern hauptsächlich der Formulierung einer politischen Programmatik dient. Biographie wird zum Argument in der Kritik sozialer Verhältnisse (der Kritik an den herrschenden neoliberalen bzw. linksliberalen Eliten) und im Entwurf eines alternativen 24 Reckwitz (32020, 348). 25 Vgl. Schapp (1953). 26 Ricoeur Bd. 3 (1988–1991, 395 f.). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 301 Programms (der Rückkehr zur Klasse). Das Ergebnis ist eine Entindividualisierung der Biographie, denn biographische Identität speist sich hier im Wesentlichen aus klassen- und geschlechterpolitischen Standpunkten in einer allgemeinen sozialen Auseinandersetzung. VIII. Memoir und Erinnerungskultur. Memoirs erfahren in der Zeit um das Jahr 2000 auch deshalb eine Hochkonjunktur, weil sie in Zusammenhang stehen mit einem zent- ralen Dispositiv spätmoderner Gesellschaften des Westens, der Erinnerungskultur. Teil der postmaterialistischen Wende seit den 1970er Jahren ist eine Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe unter dezidiert liberalen Vorzeichen, d. h. eine von Selbstrefle- xion, Empathie und Authentizität geprägte Hinwendung insbesondere zu den jüngeren zeitgeschichtlichen Überlieferungen, wie sie in Form von Erzählungen und Diskursen den geistigen Raum und die Öffentlichkeit einer Nation oder Kommunität maßgeblich prägen. Subjektive Empfindungen und Ansichten, die der Einzelne mit der Vergangenheit verbindet, rücken ins Zentrum. Es kommt zu einer Individualisierung der ‚Erfindung der Tradition‘. Deborah Feldmans Memoir Unorthodox und auch die Nachfolgebücher Exodus (2014) und Überbitten (2017) handeln nicht zuletzt von dem Versuch, das kulturelle Ge- dächtnis der jüdischen Tradition aus der Perspektive eines Individuums (oder mehrerer, in Exodus und Überbitten ist die Großmutter der Autorin zeitweise eine weitere Protagonis- tin) neu zu erzählen. Gleichzeitig führen Feldmans drei Bücher eindrücklich vor Augen, wie die erinnerungspolitische Perspektive untrennbar mit subjektpolitischen Prämissen verklammert ist: Gegenstand der Texte sind der altruistische Kampf um Emanzipation und universalistische Menschenrechte innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft und die postmaterialistisch grundierte, narzisstisch motivierte Suche nach einem authentischen Selbst. Das Memoir trägt dazu bei, dass sich die Erinnerungskultur gleichsam nicht monoli thisch, sondern differenziert nach verschiedenen sozialen Ebenen und Teilbereichen entfaltet. Wie Aleida Assmann, eine der maßgeblichen Theoretikerinnen des kulturellen Gedächtnis- ses, im Kontext der Debatte um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe betont hat, resultieren gegenwärtige soziale und kulturelle Auseinandersetzungen im Feld der Erinnerungskultur häufig aus einer „Verabsolutierung der eigenen Erinnerung“ und komple- mentär dazu der Exklusion von Erinnerungen anderer.27 Wichtig ist vor allem der Hinweis auf das „Konzept des ‚Mehrwegsgedächtnisses‘“,28 das Assmann mit dem amerikanischen Historiker Michael Rothberg der polarisierenden Form von Erinnerungskultur entgegen- hält. Es lässt sich nicht nur auf politische Kämpfe um den Status des Holocaustgedenkens beziehen, sondern öffnet den Blick allgemein für die Vielgestaltigkeit von Erinnerung in den spätmodernen postmaterialistischen Gesellschaften des Westens. Erinnerung ist ein zentrales Element der symbolisch-semantischen Ordnung in diesen Gesellschaften, also der Art und Weise, wie Bedeutung und Sinn hergestellt und Geschichten erzählt werden. Die Ausformungen dieser Sinnproduktion sind jedoch in sich höchst differenziert und komplex. Und hierzu zählen auch literarische Formen des kulturellen Gedächtnisses, literarische Praktiken des sozialen Erinnerns. Das Memoir übernimmt hier insofern eine 27 Vgl. Assmann (2021, 18). 28 Assmann (2021, 18). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
302 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir wichtige Funktion, als es häufig das Individuelle mit dem Kollektiven verknüpft. Es er- wächst aus individueller, persönlicher Erinnerung, versteht sich indes als Beitrag zu einem kollektiven Erinnerungsstrom, indem es häufig Gruppenidentitäten zum Gegenstand hat. Damit verbunden sind auch politische Ansprüche auf Teilhabe und Repräsentation, im Rahmen der spätmodernen Kultur und Politik der Anerkennung.29 Das Memoir ist ein Genre, das der Vielförmigkeit spätmoderner Erinnerungskultur Raum gewährt: Ein Ich findet in ihm die Möglichkeit, auf private, intime Weise und unter Fokussierung auf eine bestimmte Problematik sein biographisches Schicksal darzustellen. Gleichzeitig trägt es gerade dadurch, durch die Perspektive der Intimität, die öffentlich wird und somit ein Teil des allgemeinen Erinnerungsdiskurses, zu dieser Vielfältigkeit bei. Es schafft somit Sinn und Identität nicht nur auf der persönlichen Ebene, sondern auch in kollektiver sozialer und kultureller Hinsicht. Exemplarisch ließe sich J. D. Vances Hillbilly Elegy heranziehen, eine autobiographische Erzählung, die sachlich-thematisch auch darauf zielt, eine Kommunität (die im Amerikanischen als ‚Hillbilly‘ bezeichneten Bewohner einer ländlich-provinziellen Region in den Appalachen zwischen Pennsylvania im Norden und Alabama im Süden) und deren kulturelles Gedächtnis zu rehabilitieren. Ein anderes Beispiel ist Katja Oskamps autobiographisch grundierte Erzählung Marzahn, mon amour, die in zahlreichen Kapiteln von den Erinnerungen der zumeist älteren, betagten Kunden einer Fußpflegepraxis im Ostteil Berlins handelt und auf diese Weise erinnerungs- und gedächtnispolitische Stimmen zu Wort kommen lässt, die im offiziellen Diskurs wenig Gewicht haben. VIII. Resümee. Gattungen sind, darauf hat Wilhelm Voßkamp bereits in den 1970er Jah- ren hingewiesen, niemals nur literarästhetische Phänomene im engeren Sinne. Vielmehr enthalten und formulieren sie „historische Problemstellungen bzw. Problemlösungen“30 und erfüllen bestimmte Funktionen in Kultur und Gesellschaft. Ähnlich wie soziale In- stitutionen (Elternhaus, Schule usw.) stellen sie basales Orientierungswissen für die sym- bolisch-semantische Ordnung bereit. Sie strukturieren Wissen und schlagen Sinnmuster vor. Gattungen sind somit stets „kommunikative Ereignisse innerhalb eines bestimmten sozialen Rahmens“.31 Dieser soziale Rahmen lässt sich mit Andreas Reckwitz als „Gesell- schaft der Singularitäten“ kennzeichnen.32 In ihr ist die autobiographische Untergattung des Memoir Teil des biographischen Dispositivs, das als Wissen die postmaterialistischen Gesellschaften des Westens durchdringt und darüber hinaus durch den Export dieser Gesellschaftsform von weltweitem Einfluss ist. Im Bereich des Höhenkamms der Literatur – also in jenem Segment von Literatur, das Wissenschaft und Kritik allgemein als kulturell wertvoll und wegweisend einstufen – er- füllt das Memoir vor allem eine identitätspolitische Funktion, indem es Biographien als unausweichlich politisch markiert, wobei politisch hier im erweiterten, foucaultianischen Verständnis zu begreifen ist. Das aufgeschriebene Leben ist Gegenstand politischer Verhand- lungen und Kämpfe in dem Sinne, dass die Ordnung dieses Diskurses nicht natürlich oder 29 Vgl. Honneth (1992). 30 Vosskamp (1977, 32). 31 Zymner (2003, 202). 32 Reckwitz (32020). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Carsten Rohde: Poetik des Memoir | 303 sonst wie essentialistisch vorgegeben ist, sondern vielmehr den symbolisch-semantischen Zuschreibungs- und Valorisierungspraktiken im Diskurs selbst entspringt. In der Politik der (Auto-)Biographie, die dem Memoir programmatisch eingeschrieben ist, geht es weniger um ‚harte‘ politische Herrschafts- und Machtinteressen als um ‚weiche‘ identitätspolitische Faktoren wie Anerkennung und Respekt, Sichtbarkeit und Empathie, um sozialmentale Werte, die in den liberalen Gesellschaften der Spätmoderne von zentraler Bedeutung sind. Das Memoir kann somit insgesamt als eine Form der Politisierung des biographischen Diskurses verstanden werden, was sich äußerlich in der Nähe zu gesellschaftspolitisch re- levanten Themen artikuliert, tiefergehend jedoch im beschriebenen Junktim von Ich und politischer Positionierung Ausdruck findet. Inwiefern diese Politisierung eines Teilbereichs des biographischen Erzählens mittel- und langfristig Auswirkungen hat auf die literarische Substanz der Biographik und Autobiographik als Ganzes, lässt sich noch nicht absehen. Festhalten kann man jedoch, dass Memoirs mit ihrer Kombination hybrider Formen das literarische Spektrum erweitern und die Ausdrucksmöglichkeiten des biographischen und autobiographischen Erzählens zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereichern. Literaturverzeichnis Assmann, Aleida (2021, 5–19): Polarisieren oder solidarisieren? Ein Rückblick auf die Mbembe-Debat- te. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Bd. 75, H. 860. Bathrik, David, Heinz-Peter Preusser (2012, 7–29): In Between – Das mediale ‚Dazwischen‘. Text, Bild und Ton im audiovisuellen Zeitalter. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Literatur inter- und transmedial. Inter- and Transmedial Literature. Amsterdam. Bauer, Aurelia, Frank Ursin (2021): TAGB: Wozu das ganze Schreiben? (04.–06.12.2018, Ulm), , zuletzt: 25.8.2021. Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Viel- falt. Stuttgart. Beach, Natalie (2019): I Was Caroline Calloway. In: The Cut, Sept. 10, 2019, , zuletzt: 25.8.2021. Brouillette, Sarah (2021, 16–27): Die talentierte Ms. Calloway. In: Merkur. Zeitschrift für europä- isches Denken, Bd. 75, H. 862. Feldman, Deborah (122017): Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung. Aus dem amerik. Engl. v. Ch. Ruzicska. München. Fukuyama, Francis (2018): Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. New York. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. Inglehart, Ronald (1998): Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften. Frankfurt a. M., New York. Lahusen, Christiane (2019, 626–635): Memoirs. In: Wagner-Egelhaaf (2019), Bd. 1. Lehmann, Jürgen (1988): Bekennen − Erzählen − Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen. Madden, Patrick (2014, 222–236): The „New Memoir“. In: M. DiBattista, E. O. Wittman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Autobiography. Cambridge. Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin. Moser, Christian (2019, 232–240): Autoethnography. In: Wagner-Egelhaaf (2019), Bd. 1. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
304 | Carsten Rohde: Poetik des Memoir Neumann, Bernd (1970): Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a. M. Reckwitz, Andreas (32020): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin. Ricoeur, Paul (1988–1991): Zeit und Erzählung, 3 Bde. Aus dem Französischen v. R. Rochlitz, A. Knop. München. Schapp, Wilhelm (1953): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Hamburg. Vosskamp, Wilhelm (1977, 27–42): Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: W. Hinck (Hrsg.): Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg. Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.) (2019): Handbook of Autobiography/Autofiction, 3 Bde. Berlin, Boston. Zymner, Rüdiger (2003): Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn. – (2007, 25–80): Texttypen und Schreibweisen. In: T. Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar. Abstract Das Memoir bezeichnet eine autobiographische Erzählform, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der literarischen Öffentlichkeit Verbreitung findet. Ein zentrales Gattungsmerkmal ist die Verknüpfung von autobiographischer Erzählung und Identität mit politisch-sozialen Themen und Standpunkten. Darüber hinaus findet der Terminus gelegentlich im literaturkritischen und allgemeinen literarischen Diskurs als lediglich modernistisches Synonym für ‚autobiographische Erzählung‘ Verwendung. Derlei Unschärfen tragen dazu bei, dass Aussagen über die Sinnhaftigkeit und Lebensdauer dieses Genrebe- griffs noch wenig valide sind. Der Beitrag plädiert für eine Verwendung bei solchen autobiographischen Texten, die am Schnittpunkt von Autobiographie, Erzählung und Sachbuch liegen und zudem einen markanten gesellschafts- oder identitätspolitischen Fokus aufweisen. The German term ‚Memoir‘ refers to an autobiographical narrative form that is becoming widespread among the literary public at the beginning of the 21st century. A central feature of the genre is linking autobiographical narrative and identity with political-social themes and viewpoints. The term is also occasionally used in literary criticism and general literary discourse merely as a modernist synonym for ‚autobiographical narrative‘. Such vagueness contributes to the fact that statements about the meaning- fulness and longevity of this genre term are currently not very valid. This article argues for its use in autobiographical texts that lie at the intersection of autobiography, narrative, and non-fiction and also have a distinctive socio-political or identity-political focus. Keywords: Autobiographie, Erzählung, Gattungspoetik, Gegenwartsliteratur Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Carsten Rohde, Sun Yat-sen University, School of Foreign Languages, Xingang Xilu 135, Guangzhou 510275, Volksrepublik China, Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
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