Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit

Die Seite wird erstellt Janina Behrens
 
WEITER LESEN
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
Das Magazin zur
                                                                          Verteilungsdebatte
                                                                          ISSN: 2625-3313
                                                                          Ausgabe 50 – Juni 2020

Verschobene
Prioritäten

                                                                         © iStock.com, fpm / Pixabay / Montage: pag, Anna Fiolka

Triage                                Corona-Impfstoff                   Digitalisierung

Wer ist in der Pflicht: Der Gesetz-   Herausforderungen bei Forschung,   Bringen neue Berufe die digitale
geber oder die Ärzteschaft?           Priorisierung und Transparenz      Wende im Gesundheitswesen?
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
• Seite 2   GERECHTE GESUNDHEIT
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
Juni 2020                                                                                                 Seite 3 •

Verschobene Prioritäten

                           Corona ist eine Bewährungsprobe für das deutsche Gesundheitswesen.
                           Bisher hat es diese gut gemeistert. Aber eine fast ausschließliche
                           Fokussierung auf die Pandemie bleibt nicht ohne Nebenwirkungen.

                           Vor diesen warnen etwa Krebsmediziner. Sie haben beobachtet, dass die
                           Zahl der in Tumorkonferenzen vorgestellten Patienten mit frühen Tumor-
                           stadien sinkt. In dieser Ausgabe nennen wir die verschobenen Prioritäten der
                           Gesundheitspolitik beim Namen: Da wäre etwa die dringend reformbedürftige
                           Pflegefinanzierung, eine „tickende Zeitbombe“.

                           Lesen Sie, welche Themen vom Radar verschwunden sind und welche – Beispiel
                           Impfstoffentwicklung – plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stehen.

                           Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

                           Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin

Inhalt
Im Fokus
4       Kontroverse um Triage
        Wer ist in der Pflicht: Gesetzgeber oder Ärzteschaft?

10      Digitale Wende braucht neue Berufe
        ... und warum Corona als Katalysator wirken könnte

14      Verschobene Prioritäten
        Was wichtig war, wurde und wäre

In Kürze
20      Impfstoff: Forschung, Priorisierung, Transparenz

21      Der freie Beruf Arzt und die Ökonomisierung

22      Die stillen Opfer von Covid-19

23      KI in der Medizin: Aber wie?

24      „Alle Krebsregister sind erfolgreich aufgebaut“

25      Analysen, Berichte und Kritik zu Mindestmengen
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
• Seite 4                                              Im Fokus                                GERECHTE GESUNDHEIT

Kontroverse um Triage
Wer ist in der Pflicht: Gesetzgeber oder Ärzteschaft?

•  Berlin (pag) – Mit der Corona-Pandemie muss über Triage-Entscheidungen nachgedacht
werden. Nach welchen Regeln sollen sie getroffen werden? Und wer soll diese festlegen?
Eine Herausforderung für die Beschäftigten des Gesundheitswesens. Und auch Experten
sind sich bei diesem Thema keineswegs einig.

Die dramatischen Bilder aus Norditalien und New York        Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen zur
haben sich eingebrannt. Bisher ist die Corona-Pan-          Ressourcenzuteilung veröffentlicht. Auch der Deutsche
demie hierzulande zwar relativ glimpflich verlaufen.        Ethikrat und die Bundesärztekammer haben Stellung
Dennoch bleibt die Herausforderung, wie, gerade             bezogen. Spannend ist dabei insbesondere die Frage,
angesichts einer möglichen zweiten Welle, mit einer         wer im Pandemiefall für Triage-Entscheidungen die
Überlastung des Gesundheitswesens umzugehen ist.            Regeln festlegen sollte: Ist das eine Angelegenheit der
Wie soll triagiert, wie priorisiert werden? Dazu haben      Ärzteschaft oder ist der Gesetzgeber gefragt?
sich mittlerweile einige Initiativen geäußert. Die Deut-    Wir haben dazu vier Experten befragt: eine Philoso-
sche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und        phin, zwei Juristen und einen Mediziner. Lesen Sie im
Notfallmedizin (DIVI) hat zusammen mit weiteren             Folgenden ihre Antworten.                            •
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
© iStock.com, sudok1
Juni 2020   Im Fokus   Seite 5 •
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
• Seite 6                                          Im Fokus                                GERECHTE GESUNDHEIT

Triage-Regeln: Eine Richtigstellung zur Diskurslage
Prof. Weyma Lübbe

Gefragt ist der Gesetzgeber,          Grund, nach dem Gesetzgeber zu         Situation für die Ärzteschaft nicht
zweifellos. Die Ärzte selbst ap-      rufen. Vielmehr sind hier zunächst     so unzumutbar dar, wie es im
pellieren ja inständig an ihn, wie    die Gerichte zuständig. Solange        aktuellen Diskurs nahelegt wird.
beispielsweise Prof. Uwe Janssens     sie nicht geurteilt haben, gewiss,     Die Lage ist vielmehr diese: Die
in seinem Beitrag. Zur Frage, ob      besteht Rechtsunsicherheit. Das        Ärzteschaft vertritt – in einigen
der Gesetzgeber auch zuständig        Haftungsrisiko, um dessen Vermei-      ihrer Repräsentanten – eine be-
ist, hat vor allem der Deutsche       dung es der Ärzteschaft angeblich      stimmte Position zum Umgang mit
Ethikrat mit seiner Ad-hoc-Stel-      geht, hängt aber ausschließlich an     existentiellen Knappheiten und
lungnahme Verwirrung gestiftet.       der Position, die es für rechtens      nimmt die damit verbundenen
Er hat behauptet, „[d]er Staat“       hält, den zuerst gekommenen            Haftungsrisiken bewusst in Kauf.
dürfe „nicht vorschreiben, wel-       Patienten gegebenenfalls abzu-         Die vertretene Position mag nach
ches Leben in einer Konfliktsi-       koppeln. Wer sich an die gegen-        Ergebnis und Gründen haltbar sein
tuation vorrangig zu retten ist“.     teilige, die im Ethikrat vorgenom-     oder nicht. Dazu dürfen neben
In derselben Stellungnahme hält       mene Rechtsauslegung hält, der         Juristen und Ethikern, die das seit
der Rat fest, dass für einige der     hat – das ist unstrittig – nichts zu   Langem tun, gewiss auch Ärzte
drohenden Konfliktlagen der           befürchten.                            ihre Argumente beitragen. Was
Staat eine Aussage zum Vorrang        Dennoch haben die Ärzte ihre           Gerichte und Gesetzgeber angeht,
längst getroffen habe – nämlich       Empfehlungen nicht entsprechend        so tun sie nach meiner Auffassung
für die Fälle, in denen ein bereits   abgeändert. Das ist ein sicheres       recht daran, diesen interdiszipli-
beatmeter Patient mit einem erst      Zeichen dafür, dass es ihnen um        nären Diskurs zunächst einmal zu
später hinzukommenden Patien-         etwas anderes geht als um die          beobachten. Wenn es zwingend
ten konkurriert: „Objektiv rech-      Entlastung vom angeblich zuge-         nötig wird, sich zu äußern, werden
tens“ sei das aktive Beenden einer    muteten Haftungsrisiko. Zwar gibt      sie das wohl tun.
laufenden Behandlung zugunsten        es noch die Fälle, in denen keiner
eines Dritten nicht.                  bereits beatmet wird. Aber hier
Auf diese Teilauskunft hat die        ist die Lage ganz analog. Auch
Ärzteschaft nicht mit Dankbarkeit     hier gibt es Vorgehensweisen, die
reagiert. Warum nicht? Man kann       unstrittig ohne rechtliches Risiko
das nicht damit erklären, dass        sind. Noch kein Jurist hat davor
es andere Juristen gibt, die die      gewarnt, dass strafrechtliche oder
Position der im Ethikrat sitzenden    haftungsrechtliche Konsequenzen
Juristen nicht teilen. Meinungsver-   drohen, wenn das Prinzip „first
schiedenheiten zur Auslegung des      come, first served“ angewendet
geltenden Rechts sind an sich kein    wird. So besehen stellt sich die

                                                                             ZUR PERSON

                                                                             Prof. Weyma Lübbe hat den
                                                                             Lehrstuhl für Praktische Phi-
                                                                             losophie am Institut für Philo-
                                                                             sopie der Universität Regens-
© Universität Regensburg/Pröls

                                                                             burg. Sie beschäftigt sich unter
                                                                             anderem mit Allokationsethik,
                                                                             Medizin- und Bioethik und ethi-
                                                                             schen Problemen der Gesund-
                                                                             heitsökonomie.
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
Juni 2020                                                 Im Fokus                                              Seite 7 •

Triage – rechtspolitisch betrachtet
Prof. Steffen Augsberg

Das deutsche Verfassungsrecht             jüngst noch einmal im Urteil zur Sui-   des Bundesverfassungsgerichts
wirkt sich in zweifacher Weise auf        zidassistenz bestätigte Konstante       zur Suizidassistenz verwiesen
die mögliche Regelung von Triage-         der verfassungsgerichtlichen Recht-     werden. Bei aller Unsicherheit über
Situationen aus: Erstens enthält          sprechung dar. Es ist „krisenfest“ in   die konkret mit ihr verbundenen
es verbindliche, auch durch den           dem Sinne, dass es auch in Zeiten       Folgen für eine mögliche Neu-
Gesetzgeber nicht abzuändernde            größter (innerer oder äußerer) Not      regelung der Suizidhilfe besteht
Vorgaben. Zweitens verbietet es die       nicht zur Disposition steht.            doch kein Zweifel daran, dass das
Verwendung spezifischer, mit sei-         Weil damit gesetzliche Regelun-         Gericht es dem Gesetzgeber unter-
nen Grundvorgaben nicht zu verein-        gen, die das menschliche Leben          sagt, an materielle Kriterien wie
barender Kriterien. Sedes materiae        einer wie auch immer gearteten          Alter oder Gesundheitszustand
dieser Argumentation sind neben           Bewertung unterziehen, untersagt        anzuknüpfen. Im Übrigen zeigt
der unter anderem eine egalitäre          sind, darf der Gesetzgeber keine        das Beispiel des Transplantations-
Basisgleichheit umfassenden Men-          materiellen Kriterien für eine Aus-     gesetzes, wie problematisch selbst
schenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1         wahlentscheidung in Triage-Situa-       sehr allgemein formulierte gesetz-
GG) insbesondere das Recht auf            tionen festschreiben. Daran ändert      liche Allokationskriterien sind. Dort
Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG),    der Verweis auf die gebotene            werden bekanntlich die erkenn-
das allgemeine Persönlichkeitsrecht       Rechtssicherheit nichts. Unzweifel-     bar widersprüchlichen Vorgaben
(Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)   haft brächte eine legislative Nor-      „Erfolgsaussicht und Dringlich-
sowie die Gleichheitsregeln des           mierung aus Sicht insbesondere          keit“ miteinander verbunden und
Art. 3 GG. Diese grundrechtlichen         der handelnden Ärzte zusätzliche        im Übrigen auf die Richtlinien der
Vorgaben stehen der Annahme               Klarheit und Orientierung. Rechts-      Bundesärztekammer verwiesen.
gattungsinterner Differenzierun-          sicherheit ist allerdings nicht das     Nach nahezu einhelliger Auffas-
gen entgegen. Stattdessen gilt der        höchste, andere verfassungsrecht-       sung ist dies verfassungsrechtlich
Grundsatz der Lebenswertindiffe-          liche Wertungen derogierende Gut.       unzulässig – mithin scheidet es als
renz. Demnach ist jede unmittelbare       Als Subprinzip des Rechtsstaats-        Vorbild für Triage-Situationen aus.
oder mittelbare Unterscheidung            prinzips kann sie nicht a priori        Im Unterschied zur Organallokation
nach dem Lebenswert unzulässig;           Vorrang gegenüber anderen ver-          bedeutete es zudem ein nahezu
jedes menschliche Leben genießt           fassungsnormativen Erwägungen           sicheres Todesurteil, bei der Ver-
ohne Rücksicht auf seine Dauer den        beanspruchen. Entsprechendes            gabe von Beatmungsplätzen nicht
gleichen verfassungsrechtlichen           gilt für die teilweise in Ansatz        berücksichtigt zu werden. Eine
Schutz. Dieses Verbot von Be- und         gebrachte, rechtsstaatliche mit         solche, direkt über Leben und Tod
Abwertungen menschlichen Lebens           demokratischen Erwägungen ver-          entscheidende Regelung entzieht
stellt ein Kernelement deutschen          bindende Wesentlichkeitslehre. Für      sich der legitimen Steuerungskom-
Verfassungsrechtsdenkens und eine         beide kann auf die Entscheidung         petenz des Gesetzgebers.
                                          © pag, Fiolka

   ZUR PERSON

   Prof. Steffen Augsberg ist seit
   2013 Professor für Öffentliches
   Recht an der Justus-Liebig-Uni-
   versität Gießen, zuvor hatte er
   eine Professur an der Univer-
   sität des Saarlandes. Seit 2016
   ist er Mitglied des Deutschen
   Ethikrats.
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
• Seite 8                                              Im Fokus                                  GERECHTE GESUNDHEIT

„Staat und Recht dürfen Ärzte nicht allein lassen“
Prof. Uwe Janssens

Die Deutsche Interdisziplinäre Ver-      nicht aus, muss unausweichlich          entsprechende verfassungsrecht-
einigung für Intensiv- und Notfall-      entschieden werden, welche Patien-      liche Bewertung einer solchen
medizin (DIVI) hat gemeinsam mit         ten intensivmedizinisch behandelt       tragischen Entscheidungssituation
sieben weiteren Fachgesellschaften       werden sollen – und welche nicht.       gibt, werden sich Ärztinnen und
eine klinisch-ethische Empfehlung zu     Nur in einer solchen Situation wird     Ärzte zunächst an den Empfehlun-
„Entscheidungen über die Zuteilung       es erforderlich, die sonst gebotene     gen der DIVI orientieren. Neben
intensivmedizinischer Ressourcen         patientenzentrierte Behandlungsent-     dem Schweregrad der aktuellen
im Kontext der Covid-19-Pandemie“        scheidung einzuschränken und über       Erkrankung spielen Anzahl und
ausgearbeitet. Viele Juristen, Politi-   die Verteilung der begrenzt verfüg-     Ausmaß der vorliegenden Begleit-
ker, aber auch Behindertenverbän-        baren Ressourcen zu entscheiden.        erkrankungen in der Bewertung der
de, die sich kritisch dazu geäußert      Die Priorisierungen erfolgen nicht      Erfolgsaussicht neben einer Vielzahl
haben, bleiben die Antwort schuldig,     in der Absicht, Menschenleben zu        weiterer klinischer Parameter eine
wie sich Ärztinnen und Ärzte in einer    bewerten, sondern mit dem Ziel,         wesentliche Rolle in der Bewertung
tragischen Entscheidungssituation        mit begrenzten Ressourcen mög-          der Erfolgsaussicht. Entscheidun-
angesichts knapper oder nicht mehr       lichst vielen Patienten eine Teilhabe   gen nach dem Prinzip „first come
vorhandener Kapazitäten bei einer        an der medizinischen Versorgung         – first served“ oder gar per Losver-
Überzahl schwerstkranker Patienten       unter Krisenbedingungen zu ermög-       fahren wären für Behandlungsteams
verhalten sollten. Es ist erschreckend   lichen. Dabei orientieren sich die      schwer zu ertragen und führten zu
und beschämend, dass einerseits          Behandlungsteams am Kriterium           massiven Konflikten.
Mediziner in vorderster Front ihrer      der klinischen Erfolgsaussicht. Eine    Der Gesetzgeber sollte dringend
beruflichen Verpflichtung zum            Priorisierung innerhalb der Gruppe      Vorgaben für eine solche Priorisie-
Schutz und Erhalt des Lebens nach-       der Covid-19-Erkrankten ist aufgrund    rung aufstellen. Der Staat und das
kommen sollen, gleichzeitig aber mit     des Gleichheitsgebots nicht vertret-    Recht dürfen die zur Rettung ver-
juristischen Konsequenzen nahezu         bar und außerdem nicht zulässig         pflichteten Ärzte nicht mit dem Hin-
bedroht werden, wenn sie einem           aufgrund des kalendarischen Alters,     weis auf eine individuelle Gewissens-
fundiertem Vorschlag folgend ver-        sozialer Merkmale oder bestimmter       entscheidung allein lassen, die ihnen
suchen, möglichst vielen Menschen        Grunderkrankungen oder Behinde-         die vollständige ethische Verantwor-
in einer verzweifelten Situation das     rungen.                                 tung und umfangreiche Haftungsri-
Leben zu retten.                         Die Empfehlung weist explizit dar-      siken aufbürdet. Die Entscheidungen
Die DIVI-Empfehlung betont, dass         auf hin, dass aus verfassungsrecht-     müssen zwingend von Ärzten ge-
die ärztliche Indikation und der Pa-     lichen Gründen Menschenleben            troffen werden, die Bewertung der
tientenwille die Grundlage für jede      nicht gegen Menschenleben ab-           Erfolgsaussicht einer medizinischen
patientenzentrierte Entscheidung         gewogen werden dürfen. Da es            Behandlung darf nicht in die Hände
darstellen. Reichen die Ressourcen       bis zum heutigen Tage keine             von Juristen gelegt werden.
© Thomas Weiland

                                                                                 ZUR PERSON

                                                                                 Prof. Uwe Janssens ist Präsident
                                                                                 der Deutschen Interdisziplinären
                                                                                 Vereinigung für Intensiv- und
                                                                                 Notfallmedizin. Als Chefarzt ar-
                                                                                 beitet er in der Klinik für Innere
                                                                                 Medizin und Internistische Inten-
                                                                                 sivmedizin am St.-Antonius-Hos-
                                                                                 pital in Eschweiler.
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
Juni 2020                                              Im Fokus                                             Seite 9 •

„Der Gesetzgeber darf sich nicht verstecken“
Prof. Jochen Taupitz

Allokationskriterien sollen darüber    Die anderslautende Auffassung des      lichkeit für geeignete Patienten zu
entscheiden, welcher Patient an-       Ethikrates zu den nur begrenzten       vermitteln“. Die Bundesärztekam-
stelle anderer Patienten das benö-     Regelungsbefugnissen des Staates       mer hat diese Vorgaben in Richt-
tigte Medikament oder Beatmungs-       sind offenbar geprägt durch die        linien fachlich auszufüllen. Warum
gerät erhält. Dieses Problem kann      Entscheidung des Bundesverfas-         eine vergleichbare Regelung für
die Medizin nicht mit „Bordmitteln“    sungsgerichts zum Luftsicherheits-     den Pandemiefall nicht zulässig sein
lösen. Sie kann lediglich sagen, ob    gesetz. Darin ging es jedoch um        sollte, ist nicht verständlich.
die Anwendung eines Arzneimittels      den staatlich angeordneten Ab-         Das Grundgesetz verbietet zwar
bei einem Patienten „sinnvoll“ ist.    schuss eines von Terroristen ent-      bestimmte Begründungen für die
Beim Vergleich von Patienten und       führten und als Waffe missbrauch-      Vorenthaltung lebensrettender
der Abwägung von Zielkonflikten        ten Flugzeugs. Beim Abschuss des       Maßnahmen. Dies gilt etwa für
ist sie auf normative Vorgaben an-     Flugzeugs macht sich der Staat         Geschlecht, Abstammung, Rasse,
gewiesen.                              selbst zum „Täter“, behandelt er       Glauben, religiöse oder politische
Jedenfalls bezogen auf wesentliche     die unschuldigen Opfer „als bloße      Anschauungen und Behinderung.
Entscheidungen ist eine Antwort        Objekte seiner Rettungsaktion          Aufgabe des parlamentarischen
des Rechts gefordert – und nach        zum Schutze anderer“. In einer         Gesetzgebers ist es aber, den ver-
der Wesentlichkeitslehre des           für den Pandemiefall getroffenen       bleibenden Rahmen auszufüllen. Die
Bundesverfassungsgerichts sogar        Regelung werden dagegen Krite-         arbeitsteilige Einbeziehung anderer
eine solche des parlamentarischen      rien vorgegeben, nach denen in         Disziplinen mit ihrer Fachkunde,
Gesetzgebers. Denn Allokations-        einer Mangelsituation bestimmte        etwa der Medizin, ist zulässig und
entscheidungen haben eine hohe         Menschen vorrangig vor anderen         geboten. Aber der Gesetzgeber darf
Bedeutung für die Allgemeinheit,       versorgt werden. In das Leben der      sich nicht hinter anderen Disziplinen
weisen eine hohe generelle Grund-      nachrangig Versorgten wird nicht       verstecken. Eine gesetzliche Rege-
rechtsrelevanz auf (nämlich für        aktiv eingegriffen; vielmehr bleiben   lung müsste entweder inhaltlich so
Leben, körperliche Unversehrtheit      sie ihrem Schicksal überlassen und     bestimmt sein, dass sie in der Praxis
und Gesundheit der Bürger) und         sterben an ihrer Krankheit.            hinreichend rechtssicher umgesetzt
führen zu einer intensiven indivi-     Dies ist nicht anders als bei der      werden könnte. Oder der Gesetz-
duellen Betroffenheit der auf das      Regelung der Organtransplantation      geber müsste ausreichende Vor-
knappe Gut angewiesenen Perso-         im Transplantationsgesetz. Danach      gaben zur Zusammensetzung und
nen. Deshalb wäre im Hinblick auf      sind vermittlungspflichtige Organe     zum Verfahren eines zur Regelung
die Verteilung knapper medizini-       nach „Regeln, die dem Stand der        zuständigen Gremiums erlassen. Je
scher Güter, auch für den Fall einer   Erkenntnisse der medizinischen         schwächer einer der beiden Legi-
Pandemie, eine Regelung durch          Wissenschaft entsprechen, insbe-       timationsstränge ist, umso stärker
den Gesetzgeber selbst notwendig.      sondere Erfolgsaussicht und Dring-     muss der andere ausgestaltet sein.

  ZUR PERSON

  Prof. Jochen Taupitz hat an
  der Universität Mannheim die
  Seniorprofessur    für   Bürger-
  liches Recht, Zivilprozessrecht,
  internationales Privatrecht und
  Rechtsvergleichung. Der Jurist
  beschäftigt sich insbesondere
  mit dem Medizin- und Gesund-
  heitsrecht.
                                       © pag, Fiolka
Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
• Seite 10                                    Im Fokus                  GERECHTE GESUNDHEIT

             © antoniokhr / iStockphoto.com

Digitale Wende braucht
neue Berufe
... und warum Corona als Katalysator wirken könnte

• Berlin (pag) – Eine Fachkraft, einen Prozessmanager und einen Systemarchitekt für
digitale Gesundheit: Diese drei neuen Berufe hält eine Reformkommission der Stiftung
Münch für erforderlich, um die Digitalisierung im Gesundheitssystem zu implementieren.
Die Gesundheitsversorgung soll dadurch nachhaltig verbessert werden.
Juni 2020                                                                        Im Fokus                                               Seite 11 •

In einem 13-seitigen Papier hat die Kommission Kompetenzprofile erstellt, Anforderungen für die Entwicklung
der Curricula entwickelt und Voraussetzungen für die Implementierung skizziert. Die neuen Berufe werden wie
folgt beschrieben:

•                              Die Fachkraft für digitale Gesundheit ist ein patientennaher Beruf. Sie betreut unmittelbar jeweils einzelne
                               Patienten und sucht nach individuellen Wegen zur bestmöglichen Versorgung in ihrer konkreten Situation.
                               Die Fachkraft leistet klassische analoge Hilfe und Routineversorgung und greift bei Bedarf auf digitale
                               Technologien zurück, an die sie die Patienten heranführt. Ein relevanter Teil ihrer Arbeit wird die Pflege der
                               Gesundheitsdaten und der elektronischen Patientenakte sein.

•                              Der Prozessmanager für digitale Gesundheit ist für die Implementierung und Aufrechterhaltung innovativer
                               Versorgungsabläufe zuständig. Er entwickelt medizinische und pflegerische Abläufe durch die Einführung
                               digitaler Gesundheitstechnologien, die sich an einem Patientenkollektiv und ihren Behandlungsanforderun-
                               gen orientieren. Eingesetzt wird der Manager sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor, aber
                               auch intersektoral an Schnittstellen verschiedener Einrichtungen des Gesundheitssystems.

•                              Der Systemarchitekt für digitale Gesundheit ist ein Change-Manager, der die großen Linien für die digitale
                               Transformation seiner Einrichtung vorgibt. Er verantwortet die Konnektivität der Systeme, die Einhaltung
                               der Datenstandards, die Aufsicht über Dutzende Einzelprozesse und erschließt Synergiepotenziale. Für seine
                               Tätigkeit benötigt der Systemarchitekt hohes medizinisches und technologisches Wissen sowie hohe strate-
                               gische und kommunikative Fähigkeiten.

Ausbildung wie zu Virchows Zeiten                                                     se würden Mediziner und andere Gesundheitsberufe
„Wir müssen die Aus-, Fort- und Weiterbildung von                                     noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet. Ärzte und
Ärzten und Gesundheitsberufen komplett neu den-                                       Angehörige anderer medizinischer Fachberufe, so der
ken“, fordert die „Reformkommission Gesundheits-                                      Befund, seien nach ihrer Ausbildung oft nur unzurei-
berufe der Zukunft“. Viele Ausbildungen erfolgten                                     chend auf ihr Berufsleben in einem sich radikal wan-
immer noch weitgehend ohne die demographischen                                        delnden Gesundheitssystem vorbereitet. Außerdem
und medizinisch-technologischen Veränderungen wie                                     würden in einem vorwiegend arztzentrierten Versor-
Ambulantisierung, Personalisierung, Automatisierung                                   gungs- und Vergütungssystem die Potenziale einzel-
oder Künstliche Intelligenz zu berücksichtigen. Teilwei-                              ner Gesundheitsberufe nur unzureichend genutzt. Die
© Wellcome Images, CC BY 4.0

Werden Studenten noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet? Historische Aufnahme von Rudolf Virchow, eine Schädeloperation beobachtend, Paris 1900
• Seite 12                                         Im Fokus                                         GERECHTE GESUNDHEIT

derzeitige Digitalisierungswelle mit dem Ziel, Aufgaben   Patientenversorgung als auch die Innovationsfähig-
und Zuständigkeiten besser zu koordinieren, erfordere     keit im Gesundheitssystem stärken.
die existierenden Berufe weiterzuentwickeln. Das allein   Stichwort Implementierung: Während Prozessmanager
reiche als Antwort auf die damit verbundenen Umwäl-       und Systemarchitekt vor allem aus den bestehenden
zungen jedoch nicht aus. Vielmehr sind nach Ansicht       Institutionen heraus entwickelt werden könnten, mah-
der Experten neue Berufe notwendig.                       nen die Experten eine breite Zusammenarbeit von
                                                          Politik und Verbänden an, um die Fachkraft für digitale
                                                          Gesundheitsversorgung im System zu installieren. Weil
Pandemie als Katalysator                                  bei diesem Beruf ein vieltausendfacher Bedarf voraus-
Die Kommission ist überzeugt, dass spätestens seit        gesetzt werden könne, muss seine standes- und sozial-
SARS-CoV-2 für viele Menschen die Vorteile digitaler      rechtliche Anerkennung und die damit verbundene
Anwendungen spürbar werden. Auch der Sachver-             Finanzierung im Rahmen einer digitalen Bildungsstrate-
ständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im          gie für das Gesundheitswesen abgesichert sein.        •
Gesundheitswesen habe im April die Digitalisierung
als einen der Schlüssel zur Überwindung der Corona-
krise benannt. „Die Pandemie wird zum Katalysator         Weiterführender Link

für die digitale Transformation“, ist Privatdozent        Der Projektbericht der Experten „Neue Gesundheits-
                                                          berufe für das digitale Zeitalter“ kann im Internet
Sebastian Kuhn, federführender Leiter der Kommis-         nachgelesen werden:
sion, überzeugt. Die vorgeschlagenen Berufe hätten        https://www.stiftung-muench.org/wp-content/up-
dadurch an Bedeutung gewonnen, da sie sowohl die          loads/2020/05/NB_Final.pdf

                                                                                     Die Reformkommission

                                                                                     Der Kommission gehören an
                                                                                     (siehe Foto, von links): der
                                                                                     Mediziner Dr.Sebastian Kuhn,
                                                                                     Dr. Bernadette Klapper, Leite-
                                                                                     rin des Bereichs Gesundheit
                                                                                     der Robert Bosch Stiftung,
                                                                                     Uwe Schwenk, Direktor des
                                                                                     Programms „Versorgung ver-
                                                                                     bessern – Patienten infor-
                                                                                     mieren“ bei der Bertelsmann
                                                                                     Stiftung, und Dr. Franz Bart-
                                                                                     mann, ehemaliger Präsident
© Stiftung Münch

                                                                                     der Ärztekammer Schleswig-
                                                                                     Holstein.

„Ich rechne mit deutlichen Widerständen“
Nachgefragt bei PD Dr. Sebastian Kuhn

Braucht es gleich drei neue Be-        wicklung der etablierten Profes-           system nicht ausreichend.
rufe, um die Digitalisierung im        sionen ist dringend notwendig. In
Gesundheitswesen sinnstiftend          diesem Punkt stimme ich Ihnen              Warum?
zu gestalten oder reichen dafür        ganz zu und ich entwickle und
nicht fundierte Fort- und Wei-         implementiere hierzu bereits seit          Kuhn: Die aktuelle Covid-19-Krise
terbildungen für die etablierten       mehreren Jahren entsprechende              zeigt besonders deutlich, wie kom-
Professionen aus?                      Bildungskonzepte. Trotzdem ist             plex die Schaffung neuer Behand-
                                       dies zur effektiven Gestaltung des         lungsabläufe unter Einbeziehung
Kuhn: Die fundierte Weiterent-         digitalen Wandels im Gesundheits-          digitaler Technologien ist. Vieles,
Juni 2020                                                      Im Fokus                                            Seite 13 •

was technisch möglich und medi-         den Systemarchitekten für digitale             allem Politik, Selbstverwaltung und
zinisch sinnhaft ist, wird derzeit      Gesundheit zu implementieren?                  Kostenträger gefordert. Weitere
noch nicht genutzt.                     Wer muss handeln?                              wichtige Schritte umfassen eine
                                                                                       gezielte Innovationsförderung.
Zum Beispiel?                           Kuhn: Als Teil der Digitalisierungs-
                                        strategie muss die Politik drin-               Wie hat diese auszusehen?
Kuhn: Konkrete Beispiele wären          gend den Qualifizierungsbedarf
das „Home-Monitoring“ mit Smart         der Fachkräfte adressieren. Dies               Kuhn: Die Institutionen des Ge-
Devices oder der effektive intersek-    umfasst insbesondere auch die                  sundheitssystems sollen Strukturen
torale Austausch relevanter Be-         Schaffung neuer Berufe. Die Politik            und Anreizsysteme schaffen, um
handlungsdaten. Hierzu sind viele       und die Kostenträger haben hierbei             Aktivitäten für digitale Innova-
Einzelschritte notwendig, von der       die Finanzierung zu gewährleisten.             tionsarbeit zu fördern. Inkubatoren
Unterstützung einzelner Patienten,      Gleichzeitig müssen Bildungsinsti-             und Innovation-Hubs ermöglichen
der Ausgestaltung der Prozesse          tutionen die notwendigen organi-               hierbei einen Dialog zwischen den
hin zur Integration in das Gesund-      satorischen, personellen und finan-            Stakeholdern und sind für die drei
heitssystem. Diese benötigen hohe       ziellen Maßnahmen in die Wege                  genannten Berufe ideale Wirkungs-
Kompetenzen für Gesundheit, Di-         leiten. Für die Fachkraft für digitale         stätten, um die Implementierungs-
gitalisierung und die damit einher-     Gesundheit muss eine standes-                  prozesse effektiv voranzutreiben. •
gehenden medizinischen, techni-         und sozialrechtliche Anerkennung
schen, rechtlichen und ethischen        abgesichert sein. Hierbei sind vor
Implikationen.

Das deutsche Gesundheitswesen
ist nicht besonders innovations-
freudig. Das gilt auch für neue
Berufe wie den Physician Assis-
tant, mit dem sich etwa noch vie-
le Ärzte schwertun. Mit welchen
Widerständen rechnen Sie bei der
Etablierung von neuen Digitalbe-
rufen?

Kuhn: Mit Widerstand rechne ich
vor allem bei der Implementierung
der Fachkraft für digitale Gesund-
heit. Sie trägt als Bindeglied zwi-
schen Patienten, Fachpersonal und
technologischen Anwendungen zur
Erhöhung der Versorgungsquali-
                                        © pag, Fiolka

tät vor Ort bei. Weil bei diesem
Beruf ein vieltausendfacher Bedarf
vorausgesetzt werden kann und
ein patientennahes Handeln statt-
findet, rechne ich mit deutlichen
Widerständen. Mit weniger Wider-
ständen rechne ich beim Prozess-                    ZUR PERSON
manager für digitale Gesundheit,
der für die Implementierung und                     Privatdozent Dr. Sebastian Kuhn hat einen Master of Medical Edu-
Aufrechterhaltung innovativer Ver-                  cation. Er ist Oberarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Ausbil-
sorgungsabläufe zuständig ist, und                  dungsforscher und Hochschuldidaktiker an der Universitätsmedizin
beim Systemarchitekt für digitale                   der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Außerdem hat Kuhn
Gesundheit, der als Change-Ma-                      die M3D.digital GmbH gegründet, deren Geschäftsführer er ist.
nager innerhalb der jeweiligen
Institution die großen Linien für die
digitale Transformation vorgibt.

Wie müssten die konkreten
Schritte aussehen, um die Fach-
kraft, den Prozessmanager und
• Seite 14                                         Im Fokus                                     GERECHTE GESUNDHEIT

                                                                  © iStock.com, fpm / Pixabay / Montage: pag, Anna Fiolka

Verschobene Prioritäten
Was wichtig war, wurde und wäre

• Die Pandemie wirbelt die Prioritäten in der deutschen Gesundheitspolitik komplett
durcheinander. Themen, die zuvor die Gemüter erhitzten, laufen jetzt unter ferner liefen.
Dafür stehen einige Randthemen nun ganz oben auf der Agenda. Wo Experten Handlungs-
bedarf anmelden – eine Übersicht.

Ein momentan komplett abgeschriebenes Thema ist         bedingt mehr als ruhig geworden. Dabei wird die Zeit
das angestrebte europäische Bewertungsverfahren         knapp, denn die Legislatur hat ein konkretes Ablauf-
für neue Gesundheitstechnologien (EU-HTA), ein          datum, Corona nicht.
ewiger Zankapfel. Schon lange wird darum gerungen.      Andere Themen haben dagegen ungeahnten Aufwind
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte wichtige     erhalten: Die Impfstoffentwicklung etwa bewegt die
Impulse setzen. Daraus wird jetzt nichts, denn in der   Gemüter wie nie zuvor. Auch Labortests, bisher eine
von Corona geprägten Präsidentschaft wurde das          Nischenangelegenheit für Spezialisten, sind in den
Projekt kurzerhand von der Agenda gestrichen. Dieses    öffentlichen Fokus gerückt. Lesen Sie im Folgenden,
Schicksal teilen die seltenen Erkrankungen. Auch um     welche Themen plötzlich vom Radar verschwunden
die Finanzierung der hiesigen Pflegeversicherung, die   sind, welche Schlagzeilen machen und welcher Zoff in
dringend reformiert werden müsste, ist es pandemie-     die nächste Runde geht.
Juni 2020                                                 Im Fokus                                                                 Seite 15 •

In der Warteschleife
                                                                                Pflegekostenfinanzierung – eine „tickende

                                                     © iStock.com, aydinmutlu
                                                                                Zeitbombe“
                                                                                „Wir wären eigentlich mitten in einer Pflegefinanzie-
                                                                                rungsdebatte“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens
                                                                                Spahn vor der Presse Ende April. Diese wäre auch
                                                                                dringend angezeigt, denn der Pflegeversicherung geht
                                                                                die Luft aus. Das angekündigte Reformkonzept für die
                                                                                Finanzierung lässt auf sich warten. Die zu Pflegenden
                                                                                sollen möglichst nicht mit höheren Eigenanteilen be-
                                                                                lastet werden, Pflegekräfte sollen mehr verdienen – so
                                                                                der einhellige politische Wille. Der GKV-Spitzenver-
                                                                                band fordert einen jährlichen Bundeszuschuss von drei
                                                                                Milliarden Euro und eine Investitionskostenübernahme
                                                                                der Pflegeheime durch die Bundesländer.

Wie lange hält die Pflegeversiche-    Entwicklung deutlich zunehmen,                              Die Zeit
rung ohne staatliche Unterstützung    bei zugleich eher schrumpfendem                             drängt. Das
noch durch?                           Erwerbspersonenpotenzial. Wir                               Geld in
                                      müssen Pflege verlässlich besser                            den Pfle-
Prof. Jürgen Wasem, Gesundheits-      bezahlen. Auch wenn es wehtut:                              gekassen
ökonom: Die Pflegekostenfinanzie-     Wir müssen jetzt die Weichen dafür                          reicht nur
rung ist eine tickende Zeitbombe.     stellen. Die Problematik haben wir                          bis zum
Der Bedarf nach Altenpflegekräften    schon zu lange ausgesessen. Und                             Ende der
wird wegen der demographischen        um die Frage klar zu beantworten:                           Legislatur.

                                                                                Europäische Union – Krebs und seltene
                                                                                Erkrankungen unter ferner liefen?
                                                                                Verschobene Prioritäten bei der deutschen EU-Ratsprä-
                                                                                sidentschaft: Ganz oben steht alles rund um die Pan-
                                                                                demiebewältigung. Maßnahmen, die die Souveränität
                                                                                der EU in puncto Arzneimittel und Schutzausrüstung
                                                                                stärken, rücken in den Mittelpunkt, dafür fallen seltene
                                                                                Erkrankungen wohl hinten runter. Thema Krebs: In dem
© jpgon- Fotolia.com

                                                                                im Mai publizierten „Bundesbericht Forschung und
                                                                                Innovation 2020“ betont die Regierung ihre Absicht,
                                                                                im Rahmen der Präsidentschaft die Krebsforschung auf
                                                                                europäischer Ebene voranzubringen. Der von der Kom-
                                                                                mission Anfang 2020 angekündigte Masterplan Krebs
                                                                                steht coronabedingt vorerst unter keinem guten Stern.

In der Warteschleife steht der EU-    gab es in den letzten Wochen nur                             Gesundheits-
Masterplan zur Bekämpfung von         begrenzte Tagungsmöglichkeiten im                            bereich ist,
Krebs. Auch die Bemühungen um         Europäischen Parlament. Auch wenn                            und dann
seltene Erkrankungen werden zu-       wir viel gearbeitet haben, war es                            kann das
rückgeworfen. Was heißt das für die   nicht möglich, den Sonderausschuss                           am Ende
Betroffenen?                          zu installieren. Das muss sich aber                          vielleicht
                                      jetzt schnell ändern. Das Gleiche gilt                       sogar
Peter Liese, MEP (CDU): Der Mas-      für die Bemühung, seltene Krankhei-                          für alle
terplan zur Bekämpfung von Krebs      ten zu bekämpfen. Insgesamt hoffe                            Patienten
ist nach wie vor eine große Priori-   ich, dass durch die Coronakrise viele                        positiv sein.
tät für die Europäische Kommission    Menschen erkennen, wie wichtig
und auch für meine Fraktion. Leider   europäische Zusammenarbeit im                                   © Foto-AG Gymnasium Melle-CC BY-SA 3.0
• Seite 16                                    Im Fokus                                               GERECHTE GESUNDHEIT

                                                            Notfallversorgung – vorsichtiger Optimismus
© iStockphoto, huettenhoelscher

                                                            Kaum ein Thema hat die Gesundheitspolitik so in
                                                            Atem gehalten wie die Reform der Notfallversorgung.
                                                            Der Sachverständigenrat hat dafür weitreichende Vor-
                                                            schläge auf den Tisch gelegt. Es folgten ein Arbeits-
                                                            papier und zuletzt im Januar ein Referentenentwurf
                                                            aus dem Bundesgesundheitsministerium. Begleitet
                                                            wurde das Ganze von hitzigen Debatten über Integ-
                                                            rierte Notfallzentren und einen dritten Sektor. Dann
                                                            blieb es lange ruhig. Mit dem Konjunkturpaket und
                                                            der darin enthaltenen Investitionsspritze für moderne
                                                            Notfallkapazitäten kommt wieder Bewegung in die
                                                            Sache, oder?

  Fällt die Notfallreform unter den Tisch oder wird es damit noch etwas vor dem
  Ende der Legislatur?

  Sabine Dittmar, MdB (SPD):       zu verbessern. Im Augen-                        nicht abgeschlossen,
  Die Reform der Notfallver-       blick geht es aber in erster                    sodass der Entwurf
  sorgung ist natürlich nicht      Linie darum, die Pandemie zu                    noch keine Kabi-
  vom Tisch. Klar ist, dass es     überwinden. Alle gesetzgebe-                    nettsreife hat. Ich
  Handlungsbedarf gibt, um         rischen Maßnahmen fokussie-                     hoffe allerdings,
  die Patientenströme besser       ren sich darauf. Zudem sind                     dass wir bald einen
  zu leiten und die indikations-   die Gespräche zwischen Bund                     abgestimmten
  abhängige Versorgung der         und Ländern über die Reform                     Gesetzentwurf vor-
  Patientinnen und Patienten       der Notfallversorgung noch                      liegen haben.

  Karin Maag, MdB (CDU):           dienstlichen Notfallversor-                     komplexes Zusammenwirken
  Die Reform der Notfallver-       gung zu einem integrierten                      von Bund, Ländern und
  sorgung ist ein zentrales        System weiterzuentwickeln.                      Kommunen und wird
  Vorhaben dieser Legislatur-      Diese Reform ist überfällig                     nun auch an die Er-
  periode, das sowohl im Bun-      und notwendig, um eine                          fahrungen der Pan-
  desgesundheitsministerium        bessere Orientierung für Pa-                    demie angepasst
  als auch in unserer Fraktion     tienten, kürzere Wartezeiten,                   werden müssen.
  mit hoher Priorität behandelt    einen effizienteren Einsatz                     Ich bleibe dennoch
  wird. Das Gesetz soll dafür      von Personal und Geld sowie                     vorsichtig optimis-
  sorgen, die bisher weitge-       insgesamt eine höhere Quali-                    tisch, dass es in die-
  hend getrennt organisierten      tät der medizinischen Not-                      ser Legislaturperiode
  Bereiche der ambulanten,         fallversorgung zu erreichen.                    noch umgesetzt wird.
  stationären und rettungs-        Allerdings erfordert dies ein

  Verschobenes EU-HTA – „Zeit sinnvoll nutzen“
                                                             © iStock.com, z_wei

  Seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten darüber,
  wie eine europäische Zusammenarbeit bei der Bewer-
  tung neuer Gesundheitstechnologien, namentlich von
  Arzneimitteln, organisiert werden kann. Die Industrie
  befürwortet eine Harmonisierung, während Länder wie
  Deutschland und Frankreich fürchten, dass dabei ihre
  nationalen Standards unterlaufen werden. Eigentlich
  sollte EU-HTA bei der deutschen EU-Ratspräsident-
  schaft eine wichtige Rolle spielen, jetzt ist das Thema
  gestrichen.
Juni 2020                                              Im Fokus                                                    Seite 17 •

Können wir es uns leisten, EU-HTA weiter auf die lange Bank zu schieben?
Wie soll es jetzt weitergehen?

Prof. Josef Hecken, G-BA-Vorsit-         dass wissenschaftliche Fragen – bei-
zender: Ein Mehrwert kann nur            spielsweise in Bezug auf Studienan-
entstehen, wenn es klare Regeln für      forderungen, Methodik, Endpunkte
gemeinsame und nationale Bewer-          oder Surrogatparameter – einheit-
tungen von zentral zugelassenen          lich beantwortet werden. Dabei
Arzneimitteln und Medizinproduk-         steht das notwendige abschließende
ten gibt, um evidenzbasierte Emp-        Resümee aus dem EuNetHTA-Pro-
fehlungen zur Verwendung dieser          gramm noch aus. Auch wenn der
Technologien auf nationaler Ebene        Bundesgesundheitsminister die
zu treffen. Die Aufbereitung dieser      geänderten Schwerpunkte für die
Evidenz muss den Anforderungen           deutsche EU-Ratspräsidentschaft              noch ein
der jeweiligen Mitgliedstaaten für       politisch begründet, so besteht auch         Jahr länger
eine Entscheidungsfindung genü-          aus wissenschaftlich-fachlicher Sicht        dauert, so kann und sollte diese
gen. Hierzu ist es jedoch essenziell,    noch Beratungsbedarf. Wenn es nun            Zeit sinnvoll genutzt werden.

Sektorenübergreifende Versorgung –
                                                             © bht2000, Fotolia.com

Information ist alles

Laut Koalitionsvertrag soll Schwarz-Rot „nachhaltige
Schritte“ für eine sektorenübergreifende Versorgung
einleiten. Tatsächlich wurde eine Bund-Länder-Arbeits-
gruppe ins Leben gerufen, die vor einem Jahr ein
Eckpunkte-Papier veröffentlicht hat. Auch der Sachver-
ständigenrat hat in seinem Gutachten von 2018 „Zu-
kunftsperspektiven einer bedarfsgerechten sektoren-
übergreifenden Versorgung entwickelt“. Ein Stichwort
lautet etwa sektorenübergreifende Versorgungsplanung.

Wird die Regierung das Thema             Prof. Christof von Kalle: Die baldige
sektorenübergreifende Versor-            Einführung einer wirklich aussage-
gung noch anpacken?                      kräftigen ePA, die alle Bereiche der
                                         Gesundheitsversorgung abdeckt:
Prof. Christof von Kalle, Onkologe:      die haus- und fachärztliche Versor-
Meiner Meinung nach ist eine sek-        gung ebenso wie die durch Kran-
torenübergreifende Versorgung in         kenhäuser – stationär, teilstationär
allererster Linie ein Thema der In-      oder ambulant – sowie die wesent-
formationstransparenz und Informa-       lichen Aspekte wie Pflege und Me-
tionsflüsse. Diese Bundesregierung,      dikation. Das ist der entscheidende
namentlich Minister Spahn, ist sehr      Schritt. In der Pandemie ist deutlich
offensichtlich intensiv damit befasst,   geworden, dass unsere Unfähigkeit,
in Sachen sektorenübergreifender         Gesundheitsdaten auszutauschen,              Unfähigkeit und unsere Untätigkeit
ePA mit bisher nie da gewesener Ge-      auszuwerten, den Patienten mit               nicht länger als Datenschutz schön-
schwindigkeit voranzukommen, und         diesen zu begleiten und die Erkran-          reden. Datenschutz bedeutet Pa-
hat insofern nach meiner Einschät-       kung des Patienten ganzheitlich              tientenschutz, und das bedeutet in
zung einen sehr wesentlichen, wenn       zu verstehen, Menschen das Leben             erster Linie einmal, dass Patienten
nicht den wesentlichsten Schritt für     kostet. Es ist uns mit Mühe ge-              über alle Sektorengrenzen hinweg
eine Verbesserung der sektorenüber-      lungen, die verfügbaren Betten zu            Anspruch auf eine für ihr eigenes
greifenden Versorgung in Deutsch-        zählen. Auch die Nachauswertung              Wohlergehen optimale Auswertung
land in Angriff genommen.                wird vor erheblichen Hindernissen            ihrer Daten haben. Dabei ist die
                                         stehen. Diese bestehen vielfach              Datensicherheit von herausragen-
Welches müssten erste Schritte           durch einen missverstandenen,                der Bedeutung.
zur Überwindung der Sektoren-            verabsolutierten und zersplitterten
grenze sein?                             Datenschutz. Wir dürfen uns diese
• Seite 18                                               Im Fokus                               GERECHTE GESUNDHEIT

Leitlinien – erster Rechercheauftrag ans                                                         © freshidea, Fotolia.com

IQWiG im Juli
Neue Akzente bei der Leitlinienarbeit sieht das
Digitale-Versorgung-Gesetz vor: Zum einen soll die
Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien
über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen
Bundesausschusses gefördert werden. Zum anderen
kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlich-
keit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit ins Boot: Es
soll im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums
Evidenzrecherchen zu einzelnen klinisch relevanten
Fragestellungen in Leitlinien übernehmen.

Wann wird es konkret mit der neuen Leitlinienarbeit oder ist das Verfahren gegenwärtig on hold?

Von der Arbeitsgemeinschaft der       abstimmung im vollen Gange sei            und dem Ministerium, zu welcher
wissenschaftlichen medizinischen      (ein ausführlicher Bericht folgt in       Fragestellung wir aktiv werden sol-
Fachgesellschaften (AWMF), die        einer der nächsten Ausgaben). Das         len. Wir rechnen damit, im Juli den
die Leitlinienarbeit koordiniert,     IQWiG teilt mit: „Aktuell läuft die       ersten Auftrag zu erhalten.“
ist zu hören, dass die Verfahrens-    Abstimmung zwischen der AWMF

                                                              Anwendungsbegleitende Datenerhebung –
                                                              Verfahrensregeln in Arbeit
                                                              Stichwort AMNOG-Prozess: Insbesondere für die
                                                              Nutzenbewertung von Orphan Drugs kann der Gemein-
                                                              same Bundesausschuss (G-BA) vom Hersteller eine
                                                              anwendungsbegleitende Datenerhebung (AbD) ver-
                                                              langen, um Evidenzlücken zu schließen. Die Diskussion
                                                              über Fallstricke und Vorteile des mit dem Gesetz für
                                                              mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung einge-
                                                              führten Instruments blieb 2019 zunächst etwas theore-
                                                              tisch – bis das IQWiG zum Jahresanfang einen Report
                                                              zur Generierung und Auswertung versorgungsnaher
                                                              Daten vorlegt. Noch konkreter wird es, als der G-BA-
                                                              Chef Prof. Josef Hecken ankündigt, dass die Genthe-
                                                              rapie Zolgensma die Ehre des ersten Durchlaufs habe.
                                      © iStock.com, elenabs
                                                              Das Präparat ist nun in der EU zugelassen.

Wie ist der aktuelle Stand? Wie       der bedingten Zulassung in Kontakt
geht es mit Zolgensma weiter?         steht. Dies halten wir für sehr sinn-
                                      voll. Nähere Informationen zu den
Prof. Josef Hecken: Derzeit werden    Inhalten haben wir jedoch nicht, da
vom G-BA die Verfahrensregeln für     der G-BA in diese Gespräche nicht
eine AbD erarbeitet, um eine Grund-   eingebunden ist. Mit Markteintritt
lage für die Erstellung von Konzep-   von Zolgensma in Deutschland wird
ten zur anwendungsbegleitenden        der pharmazeutische Unternehmer
Datenerhebung zu schaffen. An der     dem G-BA sein Dossier mit den zu-
Erstellung eines Konzeptes zur AbD    lassungsrelevanten Studien vorle-
sollen alle relevanten Beteiligten,   gen und – sofern vorhanden – auch
unter anderem auch Registerbetrei-    den Auflagen der EMA hinsichtlich
ber, beteiligt werden. Wir wissen,    der Durchführung von Register-            raten. Und selbstverständlich wird
dass der Hersteller von Zolgensma     studien. Auf dieser Basis wird der        es hierbei dann auch darum gehen,
mit den Zulassungsbehörden zur        G-BA dann für den deutschen               inwiefern eine Befristung des Be-
grundsätzlichen Frage einer wei-      Versorgungskontext die Frage des          schlusses mit der Auflage einer AbD
teren Datenerhebung im Rahmen         Zusatznutzens von Zolgensma be-           angezeigt ist.“
Juni 2020                                            Im Fokus                                            Seite 19 •

Im Rampenlicht                                            Auch der Impfnationalismus treibt bisweilen seltsame
                                                          Blüten. Wer macht das Rennen? Han Steutel, Präsident
                                                          des Verbands forschender Pharma-Unternehmen, fühlt
                                                          sich gemüßigt, zu unterstreichen: „Europa ist in der
Medizingüter made in Europe                               Entwicklung von Corona-Impfstoffen auf Augenhöhe
Warnungen vor Arzneimittelengpässen gibt es schon         mit den drei anderen großen Akteuren des internatio-
länger, doch erst mit der Coronakrise rücken die          nalen Geschehens: den USA, China und Indien.“
Folgen der globalisierten Herstellung von Arznei-
mitteln und Medizinprodukten wirklich ins öffentliche
Bewusstsein. „Medizingüter made in Europe“ lautet         Der Öffentliche Gesundheitsdienst – aus
die Krisenerkenntnis von Merkel und Macron. Das Kon-      der Versenkung
junkturprogramm der Bundesregierung enthält folge-        Dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) über
richtig ein „Programm zur Förderung der flexiblen         Jahrzehnte kaputtgespart wurde, ist kein Geheimnis.
und im Falle einer Epidemie skalierbaren inländischen     Darum geschert hat sich kaum jemand. Jetzt zeigt der
Produktion wichtiger Arzneimittel“, Umfang: eine Mil-     Pandemieausbruch, wie wichtig die vorderste Pub-
liarde Euro. „Die Produktion von Medizingütern nach       lic-Health-Front ist. Mit dem zweiten Bevölkerungs-
Europa zurückzuholen, ist eine Frage der Zahlungs-        schutzgesetz reagiert die Politik: Für den ÖGD wer-
bereitschaft der Gesellschaft für Versorgungssicher-      den rund 50 Millionen Euro lockergemacht. Das Geld
heit“, sagt Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem.         soll in die digitale Aufrüstung der 375 Gesundheits-
Die durch die Verlagerung der Produktion nach Asien       ämter gesteckt werden. Beim Robert Koch-Institut
erzielten Einsparungen seien nämlich durchaus bei-        wird eine Kontaktstelle für den ÖGD eingerichtet. Der
tragssatzrelevant.                                        Opposition geht das nicht weit genug. „Es ist nicht
                                                          damit getan, dass die Gesundheitsämter jetzt ein paar
                                                          neue Computer erhalten“, sagen Maria Klein-Schmeink
Labormedizin – Tests, Tests, Tests                        und Fraktionskollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis
Für gewöhnlich zählen Laborärzte nicht zu denjenigen      90/Die Grünen. Dr. Ute Teichert, Vorstandsvorsitzende
Medizinern, die im Rampenlicht stehen. Ihre Arbeit        des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des
verläuft im Hintergrund. In Zeiten von Corona ist das     ÖGD, findet: „Es ist nur ein Tropfen auf den heißen
anders. Woche für Woche schalten sich mehrere Dut-        Stein.“ Bleibt abzuwarten, ob die im Konjunkturpaket
zend Medienvertreter dazu, wenn die Experten vom          vorgesehene Förderung nachhaltiger ist.
Verein Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) zur
virtuellen Pressekonferenz einladen. Seit Ende März
berichten Vorstandschef Dr. Michael Müller und seine
Mitstreiter in diesem Format immer dienstags über         Alles bleibt anders
das aktuelle Geschehen in den Laboren des Landes –
und natürlich über das Thema, das gerade alle inter-
essiert: Tests. Die ALM-Experten stehen Rede und          Strukturwandel im stationären Sektor –
Antwort, egal ob es um PCR- und Antikörpertests,          ja, nein, vielleicht?
den Ausbau der Kapazitäten in den Laboren oder            Gibt es hierzulande zu viel Klinikbetten oder nicht?
mögliche Materialknappheit geht. Bisher ist das Inter-    Ist Dänemark ein Vorbild oder hinkt der Vergleich?
esse von Fach- und Publikumsmedien ungebrochen.           Zu hoffen ist, dass diese bisweilen sehr zäh geführte
Der Bundesgesundheitsminister will die Finanzierung       Debatte durch die Coronakrise neue Impulse be-
der Tests über die Liquiditätsreserve des Gesundheits-    kommt. Für den Hauptgeschäftsführer der Deutschen
fonds abwickeln und hat Ende Mai eine Verordnung          Krankenhausgesellschaft ist die Sachlage klar. Georg
dazu veröffentlicht.                                      Baum sagt: „Warum kommen wir durch diese erste
                                                          Welle so gut durch? Weil wir mehr Kapazitäten
                                                          haben.“ Für den Gesundheitsökonom Prof. Jonas
Impfstoffentwicklung – das Ticket zur                     Schreyögg hat die Krise dagegen aufgezeigt, „wie
Normalität                                                wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Struktur-
Kaum ein Thema wird derzeit so emotional und in-          reformen ist“. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender
tensiv verfolgt wie die Entwicklung eines möglichen       des AOK-Bundesverbandes, wird grundsätzlicher.
Impfstoffes gegen das Coronavirus, denn: Vakzine          Er sieht als eine Folge der Coronakrise, dass „das Ziel
gelten als Ticket zurück in die Normalität. Dem Impfen    der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird“. Und
werde mittlerweile eine größere Wertschätzung ent-        auch die Diskussion um die notwendige Modernisie-
gegengebracht, zeigt sich Gesundheitsminister Spahn       rung der deutschen Krankenhauslandschaft würde
überzeugt. Für ihn selbst sei es „eine der größten Er-    von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt
rungenschaften der Menschheit“. Das sehen Impfgeg-        werden. Das bleibt abzuwarten.                       •
ner anders, die sich schon jetzt lauthals gegen eine
derzeit nicht geplante Impfpflicht in Stellung bringen.
• Seite 20
© iStock.com, MicroStockHub
                                                     In Kürze                                  GERECHTE GESUNDHEIT

Impfstoff: Forschung, Priorisierung, Transparenz
• Berlin (pag) – Um die Impfstoffentwicklung zu beschleunigen, stellt die Bundesregierung
bis zu 750 Millionen Euro zur Verfügung. Damit sollen Studien- und Herstellungskapazitä-
ten erweitert bzw. gesichert werden. Wissenschaftler mahnen, dass dabei die Transparenz
nicht auf der Strecke bleiben darf. Auch an Priorisierungskonzepten wird mittlerweile ge-
arbeitet: Wer soll zuerst geimpft werden, lautet die spannende Frage.

Es sei nicht damit zu rechnen, dass unmittelbar aus-       Tempo bei der Erforschung eines Corona-Impfstoffes
reichend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zur         bedeutet: Die verschiedenen Phasen der klinischen
Verfügung stehe, schreibt die Bundesregierung in einer     Studien werden teilweise nicht wie bisher nacheinan-
Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Daher           der durchgeführt, sondern gekoppelt. Dadurch wird
werde es erforderlich sein, Bevölkerungsgruppen zu         der erfolgversprechende Impfstoffkandidat schneller
definieren, die von einer Impfung besonders profitieren    an vielen Freiwilligen getestet, wovon sich die Forscher
würden, etwa vulnerable Personen oder medizinisches        wichtige Erkenntnisse erhoffen. Die Regierung will kein
Personal. Die Ständige Impfkommission beim Robert-         Bremsklotz sein. „Wir wollen größere Probandenzahlen
Koch-Institut sei beauftragt worden, ein „risikoorien-     ermöglichen“, sagt Karliczek. Früher als gewöhnlich
tiertes Priorisierungskonzept“ zu entwickeln.              sollen beispielsweise Gesundheitspersonal oder Risiko-
                                                           gruppen in die Studien eingeschlossen werden –„natür-
                                                           lich auf freiwilliger Basis“, wie die Ministerin betont.
Regierung will kein Bremsklotz sein                        Angesichts der beschleunigten Zulassungsverfahren
Unterdessen drückt Anja Karliczek bei der Entwick-         fordern Wissenschaftler des Instituts für Qualität und
lung der Vakzine auf die Tube: „Wo wir beschleunigen       Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Coch-
können, wollen wir beschleunigen“, sagt die Bundesfor-     rane Collaboration, dass alle klinischen Studienberichte
schungsministerin bei der Vorstellung des „Sonderpro-      zu Covid-19-Arzneimitteln und -Impfstoffen mit dem
gramms Impfstoffentwicklung und -herstellung“. Mehr        Tag der Marktzulassung veröffentlicht werden. In einem
Juni 2020                                                              In Kürze                                                      Seite 21 •

Brief an die Europäische Arzneimittelagentur heißt es,                       beschafft oder Abfüll-Verträge mit Dienstleistern früh-
dass rasche und vollständige Verfügbarkeit der Infor-                        zeitig geschlossen werden. Laut Karliczek ergänzt das
mationen wichtig sei, „um diese Präparate weiter zu                          nationale Sonderprogramm die internationalen An-
bewerten und die Entwicklung weiterer Wirkstoffe zu                          strengungen Deutschlands bei der Entwicklung eines
beschleunigen“.                                                              Impfstoffes. Auf der sogenannten Geberkonferenz der
Für die Impfstoffentwicklung und Herstellung stellt der                      EU Anfang April hat die Bundesregierung zugesagt,
Bund mit dem Sonderprogramm 750 Millionen Euro                               525 Millionen Euro bereitzustellen.                  •
zur Verfügung. Bis zu 500 Millionen Euro aus dem
Haushalt können von Entwicklern für die Ausweitung
der Studienkapazitäten abgerufen werden. Der Rest
                                                                             Weiterführender Link
ist für die Schaffung der dafür nötigen Herstellungs-
                                                                             Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
kapazitäten reserviert. Mit dem Geld können etwa                             Anfrage der AfD: https://dip21.bundestag.de/dip21/
Ausgangsmaterialien für die Impfstoffe rechtzeitig                           btd/19/190/1919097.pdf

Der freie Beruf Arzt und die Ökonomisierung

• Berlin (pag) – 15 ärztliche Verbände, darunter der Spitzenverband der Fachärzte Deutsch-
lands, der Hartmannbund und der Berufsverband der Frauenärzte, haben ein Memorandum
zum freiem Beruf Arzt „im Konflikt von Medizin und Ökonomie“ veröffentlicht. Sie fordern
darin: Krankenhausärzte sollen wieder wirtschaftlich unabhängiger vom Klinikträger werden.

Der Medizinbetrieb werde immer          Die Ärzteverbände fordern, das                               nen Nebeneinnahmen nicht mehr
mehr durch ökonomische Rah-             Prinzip des freien Berufs zu stär-                           vertraglich abgedungen werden
menbedingungen gesteuert, das           ken, indem der Krankenhausarzt in                            dürfen, wenn diese Leistungen
Patientenwohl drohe damit unter         seiner medizinischen Indikations-                            höchstpersönlich erbracht werden
die Räder zu geraten, wird in dem       stellung, der Wahl der Therapie,                             müssen“.                       •
Papier konstatiert. Garant dafür,       aber auch wirtschaftlich wieder
dass Patienten möglichst unabhän-       unabhängiger vom Klinikträger                                Weiterführender Link
gig von ökonomischen Einflüssen         wird. Konkretisiert wird nur Letzte-                         Memorandum zum freiem Be-
behandelt werden, sei die freie         res: Bis hinein in die Berufsordnung                         ruf Arzt „im Konflikt von Me-
                                                                                                     dizin und Ökonomie“: https://
Berufsausübung des Arztes. Freie        sei zu regeln, „dass die rechtlichen                         www.spifa.de/memorandum-
Berufe, wird ausgeführt, unterlie-      Grundlagen für die beschriebe-                               medizin-okonomie/
gen einer grundsätzlichen Bindung
an das Gemeinwohl.
Die Autoren stellen klar: „Auch der
angestellte Arzt im Krankenhaus ist
freiberuflich tätig und hat sich kon-
sequent an seine Berufsordnung
zu halten.“ Tatsächlich aber sei der
freie Beruf durch die wirtschaft-
liche Abhängigkeit zum Arbeitge-
ber Krankenhaus infrage gestellt
worden – unter anderem durch das
„Abdingen des Rechts auf direkte
                                        © stock.adobe.com, Ridofranz

eigenverantwortliche Liquidation
beim Patienten an den Träger des
Krankenhauses“. Früher seien auch
leitende Ärzte unabhängiger ge-
wesen, weil sie durch persönliche
Ermächtigungen bei der vertrags-
ärztlichen Versorgung beteiligt
oder ambulant oder stationär
privatärztlich tätig waren.
Sie können auch lesen