Verschobene Prioritäten - Gerechte Gesundheit
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Das Magazin zur Verteilungsdebatte ISSN: 2625-3313 Ausgabe 50 – Juni 2020 Verschobene Prioritäten © iStock.com, fpm / Pixabay / Montage: pag, Anna Fiolka Triage Corona-Impfstoff Digitalisierung Wer ist in der Pflicht: Der Gesetz- Herausforderungen bei Forschung, Bringen neue Berufe die digitale geber oder die Ärzteschaft? Priorisierung und Transparenz Wende im Gesundheitswesen?
Juni 2020 Seite 3 • Verschobene Prioritäten Corona ist eine Bewährungsprobe für das deutsche Gesundheitswesen. Bisher hat es diese gut gemeistert. Aber eine fast ausschließliche Fokussierung auf die Pandemie bleibt nicht ohne Nebenwirkungen. Vor diesen warnen etwa Krebsmediziner. Sie haben beobachtet, dass die Zahl der in Tumorkonferenzen vorgestellten Patienten mit frühen Tumor- stadien sinkt. In dieser Ausgabe nennen wir die verschobenen Prioritäten der Gesundheitspolitik beim Namen: Da wäre etwa die dringend reformbedürftige Pflegefinanzierung, eine „tickende Zeitbombe“. Lesen Sie, welche Themen vom Radar verschwunden sind und welche – Beispiel Impfstoffentwicklung – plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stehen. Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Antje Hoppe, Chefredakteurin Inhalt Im Fokus 4 Kontroverse um Triage Wer ist in der Pflicht: Gesetzgeber oder Ärzteschaft? 10 Digitale Wende braucht neue Berufe ... und warum Corona als Katalysator wirken könnte 14 Verschobene Prioritäten Was wichtig war, wurde und wäre In Kürze 20 Impfstoff: Forschung, Priorisierung, Transparenz 21 Der freie Beruf Arzt und die Ökonomisierung 22 Die stillen Opfer von Covid-19 23 KI in der Medizin: Aber wie? 24 „Alle Krebsregister sind erfolgreich aufgebaut“ 25 Analysen, Berichte und Kritik zu Mindestmengen
• Seite 4 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Kontroverse um Triage Wer ist in der Pflicht: Gesetzgeber oder Ärzteschaft? • Berlin (pag) – Mit der Corona-Pandemie muss über Triage-Entscheidungen nachgedacht werden. Nach welchen Regeln sollen sie getroffen werden? Und wer soll diese festlegen? Eine Herausforderung für die Beschäftigten des Gesundheitswesens. Und auch Experten sind sich bei diesem Thema keineswegs einig. Die dramatischen Bilder aus Norditalien und New York Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen zur haben sich eingebrannt. Bisher ist die Corona-Pan- Ressourcenzuteilung veröffentlicht. Auch der Deutsche demie hierzulande zwar relativ glimpflich verlaufen. Ethikrat und die Bundesärztekammer haben Stellung Dennoch bleibt die Herausforderung, wie, gerade bezogen. Spannend ist dabei insbesondere die Frage, angesichts einer möglichen zweiten Welle, mit einer wer im Pandemiefall für Triage-Entscheidungen die Überlastung des Gesundheitswesens umzugehen ist. Regeln festlegen sollte: Ist das eine Angelegenheit der Wie soll triagiert, wie priorisiert werden? Dazu haben Ärzteschaft oder ist der Gesetzgeber gefragt? sich mittlerweile einige Initiativen geäußert. Die Deut- Wir haben dazu vier Experten befragt: eine Philoso- sche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und phin, zwei Juristen und einen Mediziner. Lesen Sie im Notfallmedizin (DIVI) hat zusammen mit weiteren Folgenden ihre Antworten. •
• Seite 6 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Triage-Regeln: Eine Richtigstellung zur Diskurslage Prof. Weyma Lübbe Gefragt ist der Gesetzgeber, Grund, nach dem Gesetzgeber zu Situation für die Ärzteschaft nicht zweifellos. Die Ärzte selbst ap- rufen. Vielmehr sind hier zunächst so unzumutbar dar, wie es im pellieren ja inständig an ihn, wie die Gerichte zuständig. Solange aktuellen Diskurs nahelegt wird. beispielsweise Prof. Uwe Janssens sie nicht geurteilt haben, gewiss, Die Lage ist vielmehr diese: Die in seinem Beitrag. Zur Frage, ob besteht Rechtsunsicherheit. Das Ärzteschaft vertritt – in einigen der Gesetzgeber auch zuständig Haftungsrisiko, um dessen Vermei- ihrer Repräsentanten – eine be- ist, hat vor allem der Deutsche dung es der Ärzteschaft angeblich stimmte Position zum Umgang mit Ethikrat mit seiner Ad-hoc-Stel- geht, hängt aber ausschließlich an existentiellen Knappheiten und lungnahme Verwirrung gestiftet. der Position, die es für rechtens nimmt die damit verbundenen Er hat behauptet, „[d]er Staat“ hält, den zuerst gekommenen Haftungsrisiken bewusst in Kauf. dürfe „nicht vorschreiben, wel- Patienten gegebenenfalls abzu- Die vertretene Position mag nach ches Leben in einer Konfliktsi- koppeln. Wer sich an die gegen- Ergebnis und Gründen haltbar sein tuation vorrangig zu retten ist“. teilige, die im Ethikrat vorgenom- oder nicht. Dazu dürfen neben In derselben Stellungnahme hält mene Rechtsauslegung hält, der Juristen und Ethikern, die das seit der Rat fest, dass für einige der hat – das ist unstrittig – nichts zu Langem tun, gewiss auch Ärzte drohenden Konfliktlagen der befürchten. ihre Argumente beitragen. Was Staat eine Aussage zum Vorrang Dennoch haben die Ärzte ihre Gerichte und Gesetzgeber angeht, längst getroffen habe – nämlich Empfehlungen nicht entsprechend so tun sie nach meiner Auffassung für die Fälle, in denen ein bereits abgeändert. Das ist ein sicheres recht daran, diesen interdiszipli- beatmeter Patient mit einem erst Zeichen dafür, dass es ihnen um nären Diskurs zunächst einmal zu später hinzukommenden Patien- etwas anderes geht als um die beobachten. Wenn es zwingend ten konkurriert: „Objektiv rech- Entlastung vom angeblich zuge- nötig wird, sich zu äußern, werden tens“ sei das aktive Beenden einer muteten Haftungsrisiko. Zwar gibt sie das wohl tun. laufenden Behandlung zugunsten es noch die Fälle, in denen keiner eines Dritten nicht. bereits beatmet wird. Aber hier Auf diese Teilauskunft hat die ist die Lage ganz analog. Auch Ärzteschaft nicht mit Dankbarkeit hier gibt es Vorgehensweisen, die reagiert. Warum nicht? Man kann unstrittig ohne rechtliches Risiko das nicht damit erklären, dass sind. Noch kein Jurist hat davor es andere Juristen gibt, die die gewarnt, dass strafrechtliche oder Position der im Ethikrat sitzenden haftungsrechtliche Konsequenzen Juristen nicht teilen. Meinungsver- drohen, wenn das Prinzip „first schiedenheiten zur Auslegung des come, first served“ angewendet geltenden Rechts sind an sich kein wird. So besehen stellt sich die ZUR PERSON Prof. Weyma Lübbe hat den Lehrstuhl für Praktische Phi- losophie am Institut für Philo- sopie der Universität Regens- © Universität Regensburg/Pröls burg. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Allokationsethik, Medizin- und Bioethik und ethi- schen Problemen der Gesund- heitsökonomie.
Juni 2020 Im Fokus Seite 7 • Triage – rechtspolitisch betrachtet Prof. Steffen Augsberg Das deutsche Verfassungsrecht jüngst noch einmal im Urteil zur Sui- des Bundesverfassungsgerichts wirkt sich in zweifacher Weise auf zidassistenz bestätigte Konstante zur Suizidassistenz verwiesen die mögliche Regelung von Triage- der verfassungsgerichtlichen Recht- werden. Bei aller Unsicherheit über Situationen aus: Erstens enthält sprechung dar. Es ist „krisenfest“ in die konkret mit ihr verbundenen es verbindliche, auch durch den dem Sinne, dass es auch in Zeiten Folgen für eine mögliche Neu- Gesetzgeber nicht abzuändernde größter (innerer oder äußerer) Not regelung der Suizidhilfe besteht Vorgaben. Zweitens verbietet es die nicht zur Disposition steht. doch kein Zweifel daran, dass das Verwendung spezifischer, mit sei- Weil damit gesetzliche Regelun- Gericht es dem Gesetzgeber unter- nen Grundvorgaben nicht zu verein- gen, die das menschliche Leben sagt, an materielle Kriterien wie barender Kriterien. Sedes materiae einer wie auch immer gearteten Alter oder Gesundheitszustand dieser Argumentation sind neben Bewertung unterziehen, untersagt anzuknüpfen. Im Übrigen zeigt der unter anderem eine egalitäre sind, darf der Gesetzgeber keine das Beispiel des Transplantations- Basisgleichheit umfassenden Men- materiellen Kriterien für eine Aus- gesetzes, wie problematisch selbst schenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 wahlentscheidung in Triage-Situa- sehr allgemein formulierte gesetz- GG) insbesondere das Recht auf tionen festschreiben. Daran ändert liche Allokationskriterien sind. Dort Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG), der Verweis auf die gebotene werden bekanntlich die erkenn- das allgemeine Persönlichkeitsrecht Rechtssicherheit nichts. Unzweifel- bar widersprüchlichen Vorgaben (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) haft brächte eine legislative Nor- „Erfolgsaussicht und Dringlich- sowie die Gleichheitsregeln des mierung aus Sicht insbesondere keit“ miteinander verbunden und Art. 3 GG. Diese grundrechtlichen der handelnden Ärzte zusätzliche im Übrigen auf die Richtlinien der Vorgaben stehen der Annahme Klarheit und Orientierung. Rechts- Bundesärztekammer verwiesen. gattungsinterner Differenzierun- sicherheit ist allerdings nicht das Nach nahezu einhelliger Auffas- gen entgegen. Stattdessen gilt der höchste, andere verfassungsrecht- sung ist dies verfassungsrechtlich Grundsatz der Lebenswertindiffe- liche Wertungen derogierende Gut. unzulässig – mithin scheidet es als renz. Demnach ist jede unmittelbare Als Subprinzip des Rechtsstaats- Vorbild für Triage-Situationen aus. oder mittelbare Unterscheidung prinzips kann sie nicht a priori Im Unterschied zur Organallokation nach dem Lebenswert unzulässig; Vorrang gegenüber anderen ver- bedeutete es zudem ein nahezu jedes menschliche Leben genießt fassungsnormativen Erwägungen sicheres Todesurteil, bei der Ver- ohne Rücksicht auf seine Dauer den beanspruchen. Entsprechendes gabe von Beatmungsplätzen nicht gleichen verfassungsrechtlichen gilt für die teilweise in Ansatz berücksichtigt zu werden. Eine Schutz. Dieses Verbot von Be- und gebrachte, rechtsstaatliche mit solche, direkt über Leben und Tod Abwertungen menschlichen Lebens demokratischen Erwägungen ver- entscheidende Regelung entzieht stellt ein Kernelement deutschen bindende Wesentlichkeitslehre. Für sich der legitimen Steuerungskom- Verfassungsrechtsdenkens und eine beide kann auf die Entscheidung petenz des Gesetzgebers. © pag, Fiolka ZUR PERSON Prof. Steffen Augsberg ist seit 2013 Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Uni- versität Gießen, zuvor hatte er eine Professur an der Univer- sität des Saarlandes. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.
• Seite 8 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT „Staat und Recht dürfen Ärzte nicht allein lassen“ Prof. Uwe Janssens Die Deutsche Interdisziplinäre Ver- nicht aus, muss unausweichlich entsprechende verfassungsrecht- einigung für Intensiv- und Notfall- entschieden werden, welche Patien- liche Bewertung einer solchen medizin (DIVI) hat gemeinsam mit ten intensivmedizinisch behandelt tragischen Entscheidungssituation sieben weiteren Fachgesellschaften werden sollen – und welche nicht. gibt, werden sich Ärztinnen und eine klinisch-ethische Empfehlung zu Nur in einer solchen Situation wird Ärzte zunächst an den Empfehlun- „Entscheidungen über die Zuteilung es erforderlich, die sonst gebotene gen der DIVI orientieren. Neben intensivmedizinischer Ressourcen patientenzentrierte Behandlungsent- dem Schweregrad der aktuellen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ scheidung einzuschränken und über Erkrankung spielen Anzahl und ausgearbeitet. Viele Juristen, Politi- die Verteilung der begrenzt verfüg- Ausmaß der vorliegenden Begleit- ker, aber auch Behindertenverbän- baren Ressourcen zu entscheiden. erkrankungen in der Bewertung der de, die sich kritisch dazu geäußert Die Priorisierungen erfolgen nicht Erfolgsaussicht neben einer Vielzahl haben, bleiben die Antwort schuldig, in der Absicht, Menschenleben zu weiterer klinischer Parameter eine wie sich Ärztinnen und Ärzte in einer bewerten, sondern mit dem Ziel, wesentliche Rolle in der Bewertung tragischen Entscheidungssituation mit begrenzten Ressourcen mög- der Erfolgsaussicht. Entscheidun- angesichts knapper oder nicht mehr lichst vielen Patienten eine Teilhabe gen nach dem Prinzip „first come vorhandener Kapazitäten bei einer an der medizinischen Versorgung – first served“ oder gar per Losver- Überzahl schwerstkranker Patienten unter Krisenbedingungen zu ermög- fahren wären für Behandlungsteams verhalten sollten. Es ist erschreckend lichen. Dabei orientieren sich die schwer zu ertragen und führten zu und beschämend, dass einerseits Behandlungsteams am Kriterium massiven Konflikten. Mediziner in vorderster Front ihrer der klinischen Erfolgsaussicht. Eine Der Gesetzgeber sollte dringend beruflichen Verpflichtung zum Priorisierung innerhalb der Gruppe Vorgaben für eine solche Priorisie- Schutz und Erhalt des Lebens nach- der Covid-19-Erkrankten ist aufgrund rung aufstellen. Der Staat und das kommen sollen, gleichzeitig aber mit des Gleichheitsgebots nicht vertret- Recht dürfen die zur Rettung ver- juristischen Konsequenzen nahezu bar und außerdem nicht zulässig pflichteten Ärzte nicht mit dem Hin- bedroht werden, wenn sie einem aufgrund des kalendarischen Alters, weis auf eine individuelle Gewissens- fundiertem Vorschlag folgend ver- sozialer Merkmale oder bestimmter entscheidung allein lassen, die ihnen suchen, möglichst vielen Menschen Grunderkrankungen oder Behinde- die vollständige ethische Verantwor- in einer verzweifelten Situation das rungen. tung und umfangreiche Haftungsri- Leben zu retten. Die Empfehlung weist explizit dar- siken aufbürdet. Die Entscheidungen Die DIVI-Empfehlung betont, dass auf hin, dass aus verfassungsrecht- müssen zwingend von Ärzten ge- die ärztliche Indikation und der Pa- lichen Gründen Menschenleben troffen werden, die Bewertung der tientenwille die Grundlage für jede nicht gegen Menschenleben ab- Erfolgsaussicht einer medizinischen patientenzentrierte Entscheidung gewogen werden dürfen. Da es Behandlung darf nicht in die Hände darstellen. Reichen die Ressourcen bis zum heutigen Tage keine von Juristen gelegt werden. © Thomas Weiland ZUR PERSON Prof. Uwe Janssens ist Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Als Chefarzt ar- beitet er in der Klinik für Innere Medizin und Internistische Inten- sivmedizin am St.-Antonius-Hos- pital in Eschweiler.
Juni 2020 Im Fokus Seite 9 • „Der Gesetzgeber darf sich nicht verstecken“ Prof. Jochen Taupitz Allokationskriterien sollen darüber Die anderslautende Auffassung des lichkeit für geeignete Patienten zu entscheiden, welcher Patient an- Ethikrates zu den nur begrenzten vermitteln“. Die Bundesärztekam- stelle anderer Patienten das benö- Regelungsbefugnissen des Staates mer hat diese Vorgaben in Richt- tigte Medikament oder Beatmungs- sind offenbar geprägt durch die linien fachlich auszufüllen. Warum gerät erhält. Dieses Problem kann Entscheidung des Bundesverfas- eine vergleichbare Regelung für die Medizin nicht mit „Bordmitteln“ sungsgerichts zum Luftsicherheits- den Pandemiefall nicht zulässig sein lösen. Sie kann lediglich sagen, ob gesetz. Darin ging es jedoch um sollte, ist nicht verständlich. die Anwendung eines Arzneimittels den staatlich angeordneten Ab- Das Grundgesetz verbietet zwar bei einem Patienten „sinnvoll“ ist. schuss eines von Terroristen ent- bestimmte Begründungen für die Beim Vergleich von Patienten und führten und als Waffe missbrauch- Vorenthaltung lebensrettender der Abwägung von Zielkonflikten ten Flugzeugs. Beim Abschuss des Maßnahmen. Dies gilt etwa für ist sie auf normative Vorgaben an- Flugzeugs macht sich der Staat Geschlecht, Abstammung, Rasse, gewiesen. selbst zum „Täter“, behandelt er Glauben, religiöse oder politische Jedenfalls bezogen auf wesentliche die unschuldigen Opfer „als bloße Anschauungen und Behinderung. Entscheidungen ist eine Antwort Objekte seiner Rettungsaktion Aufgabe des parlamentarischen des Rechts gefordert – und nach zum Schutze anderer“. In einer Gesetzgebers ist es aber, den ver- der Wesentlichkeitslehre des für den Pandemiefall getroffenen bleibenden Rahmen auszufüllen. Die Bundesverfassungsgerichts sogar Regelung werden dagegen Krite- arbeitsteilige Einbeziehung anderer eine solche des parlamentarischen rien vorgegeben, nach denen in Disziplinen mit ihrer Fachkunde, Gesetzgebers. Denn Allokations- einer Mangelsituation bestimmte etwa der Medizin, ist zulässig und entscheidungen haben eine hohe Menschen vorrangig vor anderen geboten. Aber der Gesetzgeber darf Bedeutung für die Allgemeinheit, versorgt werden. In das Leben der sich nicht hinter anderen Disziplinen weisen eine hohe generelle Grund- nachrangig Versorgten wird nicht verstecken. Eine gesetzliche Rege- rechtsrelevanz auf (nämlich für aktiv eingegriffen; vielmehr bleiben lung müsste entweder inhaltlich so Leben, körperliche Unversehrtheit sie ihrem Schicksal überlassen und bestimmt sein, dass sie in der Praxis und Gesundheit der Bürger) und sterben an ihrer Krankheit. hinreichend rechtssicher umgesetzt führen zu einer intensiven indivi- Dies ist nicht anders als bei der werden könnte. Oder der Gesetz- duellen Betroffenheit der auf das Regelung der Organtransplantation geber müsste ausreichende Vor- knappe Gut angewiesenen Perso- im Transplantationsgesetz. Danach gaben zur Zusammensetzung und nen. Deshalb wäre im Hinblick auf sind vermittlungspflichtige Organe zum Verfahren eines zur Regelung die Verteilung knapper medizini- nach „Regeln, die dem Stand der zuständigen Gremiums erlassen. Je scher Güter, auch für den Fall einer Erkenntnisse der medizinischen schwächer einer der beiden Legi- Pandemie, eine Regelung durch Wissenschaft entsprechen, insbe- timationsstränge ist, umso stärker den Gesetzgeber selbst notwendig. sondere Erfolgsaussicht und Dring- muss der andere ausgestaltet sein. ZUR PERSON Prof. Jochen Taupitz hat an der Universität Mannheim die Seniorprofessur für Bürger- liches Recht, Zivilprozessrecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung. Der Jurist beschäftigt sich insbesondere mit dem Medizin- und Gesund- heitsrecht. © pag, Fiolka
• Seite 10 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT © antoniokhr / iStockphoto.com Digitale Wende braucht neue Berufe ... und warum Corona als Katalysator wirken könnte • Berlin (pag) – Eine Fachkraft, einen Prozessmanager und einen Systemarchitekt für digitale Gesundheit: Diese drei neuen Berufe hält eine Reformkommission der Stiftung Münch für erforderlich, um die Digitalisierung im Gesundheitssystem zu implementieren. Die Gesundheitsversorgung soll dadurch nachhaltig verbessert werden.
Juni 2020 Im Fokus Seite 11 • In einem 13-seitigen Papier hat die Kommission Kompetenzprofile erstellt, Anforderungen für die Entwicklung der Curricula entwickelt und Voraussetzungen für die Implementierung skizziert. Die neuen Berufe werden wie folgt beschrieben: • Die Fachkraft für digitale Gesundheit ist ein patientennaher Beruf. Sie betreut unmittelbar jeweils einzelne Patienten und sucht nach individuellen Wegen zur bestmöglichen Versorgung in ihrer konkreten Situation. Die Fachkraft leistet klassische analoge Hilfe und Routineversorgung und greift bei Bedarf auf digitale Technologien zurück, an die sie die Patienten heranführt. Ein relevanter Teil ihrer Arbeit wird die Pflege der Gesundheitsdaten und der elektronischen Patientenakte sein. • Der Prozessmanager für digitale Gesundheit ist für die Implementierung und Aufrechterhaltung innovativer Versorgungsabläufe zuständig. Er entwickelt medizinische und pflegerische Abläufe durch die Einführung digitaler Gesundheitstechnologien, die sich an einem Patientenkollektiv und ihren Behandlungsanforderun- gen orientieren. Eingesetzt wird der Manager sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor, aber auch intersektoral an Schnittstellen verschiedener Einrichtungen des Gesundheitssystems. • Der Systemarchitekt für digitale Gesundheit ist ein Change-Manager, der die großen Linien für die digitale Transformation seiner Einrichtung vorgibt. Er verantwortet die Konnektivität der Systeme, die Einhaltung der Datenstandards, die Aufsicht über Dutzende Einzelprozesse und erschließt Synergiepotenziale. Für seine Tätigkeit benötigt der Systemarchitekt hohes medizinisches und technologisches Wissen sowie hohe strate- gische und kommunikative Fähigkeiten. Ausbildung wie zu Virchows Zeiten se würden Mediziner und andere Gesundheitsberufe „Wir müssen die Aus-, Fort- und Weiterbildung von noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet. Ärzte und Ärzten und Gesundheitsberufen komplett neu den- Angehörige anderer medizinischer Fachberufe, so der ken“, fordert die „Reformkommission Gesundheits- Befund, seien nach ihrer Ausbildung oft nur unzurei- berufe der Zukunft“. Viele Ausbildungen erfolgten chend auf ihr Berufsleben in einem sich radikal wan- immer noch weitgehend ohne die demographischen delnden Gesundheitssystem vorbereitet. Außerdem und medizinisch-technologischen Veränderungen wie würden in einem vorwiegend arztzentrierten Versor- Ambulantisierung, Personalisierung, Automatisierung gungs- und Vergütungssystem die Potenziale einzel- oder Künstliche Intelligenz zu berücksichtigen. Teilwei- ner Gesundheitsberufe nur unzureichend genutzt. Die © Wellcome Images, CC BY 4.0 Werden Studenten noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet? Historische Aufnahme von Rudolf Virchow, eine Schädeloperation beobachtend, Paris 1900
• Seite 12 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT derzeitige Digitalisierungswelle mit dem Ziel, Aufgaben Patientenversorgung als auch die Innovationsfähig- und Zuständigkeiten besser zu koordinieren, erfordere keit im Gesundheitssystem stärken. die existierenden Berufe weiterzuentwickeln. Das allein Stichwort Implementierung: Während Prozessmanager reiche als Antwort auf die damit verbundenen Umwäl- und Systemarchitekt vor allem aus den bestehenden zungen jedoch nicht aus. Vielmehr sind nach Ansicht Institutionen heraus entwickelt werden könnten, mah- der Experten neue Berufe notwendig. nen die Experten eine breite Zusammenarbeit von Politik und Verbänden an, um die Fachkraft für digitale Gesundheitsversorgung im System zu installieren. Weil Pandemie als Katalysator bei diesem Beruf ein vieltausendfacher Bedarf voraus- Die Kommission ist überzeugt, dass spätestens seit gesetzt werden könne, muss seine standes- und sozial- SARS-CoV-2 für viele Menschen die Vorteile digitaler rechtliche Anerkennung und die damit verbundene Anwendungen spürbar werden. Auch der Sachver- Finanzierung im Rahmen einer digitalen Bildungsstrate- ständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im gie für das Gesundheitswesen abgesichert sein. • Gesundheitswesen habe im April die Digitalisierung als einen der Schlüssel zur Überwindung der Corona- krise benannt. „Die Pandemie wird zum Katalysator Weiterführender Link für die digitale Transformation“, ist Privatdozent Der Projektbericht der Experten „Neue Gesundheits- berufe für das digitale Zeitalter“ kann im Internet Sebastian Kuhn, federführender Leiter der Kommis- nachgelesen werden: sion, überzeugt. Die vorgeschlagenen Berufe hätten https://www.stiftung-muench.org/wp-content/up- dadurch an Bedeutung gewonnen, da sie sowohl die loads/2020/05/NB_Final.pdf Die Reformkommission Der Kommission gehören an (siehe Foto, von links): der Mediziner Dr.Sebastian Kuhn, Dr. Bernadette Klapper, Leite- rin des Bereichs Gesundheit der Robert Bosch Stiftung, Uwe Schwenk, Direktor des Programms „Versorgung ver- bessern – Patienten infor- mieren“ bei der Bertelsmann Stiftung, und Dr. Franz Bart- mann, ehemaliger Präsident © Stiftung Münch der Ärztekammer Schleswig- Holstein. „Ich rechne mit deutlichen Widerständen“ Nachgefragt bei PD Dr. Sebastian Kuhn Braucht es gleich drei neue Be- wicklung der etablierten Profes- system nicht ausreichend. rufe, um die Digitalisierung im sionen ist dringend notwendig. In Gesundheitswesen sinnstiftend diesem Punkt stimme ich Ihnen Warum? zu gestalten oder reichen dafür ganz zu und ich entwickle und nicht fundierte Fort- und Wei- implementiere hierzu bereits seit Kuhn: Die aktuelle Covid-19-Krise terbildungen für die etablierten mehreren Jahren entsprechende zeigt besonders deutlich, wie kom- Professionen aus? Bildungskonzepte. Trotzdem ist plex die Schaffung neuer Behand- dies zur effektiven Gestaltung des lungsabläufe unter Einbeziehung Kuhn: Die fundierte Weiterent- digitalen Wandels im Gesundheits- digitaler Technologien ist. Vieles,
Juni 2020 Im Fokus Seite 13 • was technisch möglich und medi- den Systemarchitekten für digitale allem Politik, Selbstverwaltung und zinisch sinnhaft ist, wird derzeit Gesundheit zu implementieren? Kostenträger gefordert. Weitere noch nicht genutzt. Wer muss handeln? wichtige Schritte umfassen eine gezielte Innovationsförderung. Zum Beispiel? Kuhn: Als Teil der Digitalisierungs- strategie muss die Politik drin- Wie hat diese auszusehen? Kuhn: Konkrete Beispiele wären gend den Qualifizierungsbedarf das „Home-Monitoring“ mit Smart der Fachkräfte adressieren. Dies Kuhn: Die Institutionen des Ge- Devices oder der effektive intersek- umfasst insbesondere auch die sundheitssystems sollen Strukturen torale Austausch relevanter Be- Schaffung neuer Berufe. Die Politik und Anreizsysteme schaffen, um handlungsdaten. Hierzu sind viele und die Kostenträger haben hierbei Aktivitäten für digitale Innova- Einzelschritte notwendig, von der die Finanzierung zu gewährleisten. tionsarbeit zu fördern. Inkubatoren Unterstützung einzelner Patienten, Gleichzeitig müssen Bildungsinsti- und Innovation-Hubs ermöglichen der Ausgestaltung der Prozesse tutionen die notwendigen organi- hierbei einen Dialog zwischen den hin zur Integration in das Gesund- satorischen, personellen und finan- Stakeholdern und sind für die drei heitssystem. Diese benötigen hohe ziellen Maßnahmen in die Wege genannten Berufe ideale Wirkungs- Kompetenzen für Gesundheit, Di- leiten. Für die Fachkraft für digitale stätten, um die Implementierungs- gitalisierung und die damit einher- Gesundheit muss eine standes- prozesse effektiv voranzutreiben. • gehenden medizinischen, techni- und sozialrechtliche Anerkennung schen, rechtlichen und ethischen abgesichert sein. Hierbei sind vor Implikationen. Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht besonders innovations- freudig. Das gilt auch für neue Berufe wie den Physician Assis- tant, mit dem sich etwa noch vie- le Ärzte schwertun. Mit welchen Widerständen rechnen Sie bei der Etablierung von neuen Digitalbe- rufen? Kuhn: Mit Widerstand rechne ich vor allem bei der Implementierung der Fachkraft für digitale Gesund- heit. Sie trägt als Bindeglied zwi- schen Patienten, Fachpersonal und technologischen Anwendungen zur Erhöhung der Versorgungsquali- © pag, Fiolka tät vor Ort bei. Weil bei diesem Beruf ein vieltausendfacher Bedarf vorausgesetzt werden kann und ein patientennahes Handeln statt- findet, rechne ich mit deutlichen Widerständen. Mit weniger Wider- ständen rechne ich beim Prozess- ZUR PERSON manager für digitale Gesundheit, der für die Implementierung und Privatdozent Dr. Sebastian Kuhn hat einen Master of Medical Edu- Aufrechterhaltung innovativer Ver- cation. Er ist Oberarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Ausbil- sorgungsabläufe zuständig ist, und dungsforscher und Hochschuldidaktiker an der Universitätsmedizin beim Systemarchitekt für digitale der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Außerdem hat Kuhn Gesundheit, der als Change-Ma- die M3D.digital GmbH gegründet, deren Geschäftsführer er ist. nager innerhalb der jeweiligen Institution die großen Linien für die digitale Transformation vorgibt. Wie müssten die konkreten Schritte aussehen, um die Fach- kraft, den Prozessmanager und
• Seite 14 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT © iStock.com, fpm / Pixabay / Montage: pag, Anna Fiolka Verschobene Prioritäten Was wichtig war, wurde und wäre • Die Pandemie wirbelt die Prioritäten in der deutschen Gesundheitspolitik komplett durcheinander. Themen, die zuvor die Gemüter erhitzten, laufen jetzt unter ferner liefen. Dafür stehen einige Randthemen nun ganz oben auf der Agenda. Wo Experten Handlungs- bedarf anmelden – eine Übersicht. Ein momentan komplett abgeschriebenes Thema ist bedingt mehr als ruhig geworden. Dabei wird die Zeit das angestrebte europäische Bewertungsverfahren knapp, denn die Legislatur hat ein konkretes Ablauf- für neue Gesundheitstechnologien (EU-HTA), ein datum, Corona nicht. ewiger Zankapfel. Schon lange wird darum gerungen. Andere Themen haben dagegen ungeahnten Aufwind Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte wichtige erhalten: Die Impfstoffentwicklung etwa bewegt die Impulse setzen. Daraus wird jetzt nichts, denn in der Gemüter wie nie zuvor. Auch Labortests, bisher eine von Corona geprägten Präsidentschaft wurde das Nischenangelegenheit für Spezialisten, sind in den Projekt kurzerhand von der Agenda gestrichen. Dieses öffentlichen Fokus gerückt. Lesen Sie im Folgenden, Schicksal teilen die seltenen Erkrankungen. Auch um welche Themen plötzlich vom Radar verschwunden die Finanzierung der hiesigen Pflegeversicherung, die sind, welche Schlagzeilen machen und welcher Zoff in dringend reformiert werden müsste, ist es pandemie- die nächste Runde geht.
Juni 2020 Im Fokus Seite 15 • In der Warteschleife Pflegekostenfinanzierung – eine „tickende © iStock.com, aydinmutlu Zeitbombe“ „Wir wären eigentlich mitten in einer Pflegefinanzie- rungsdebatte“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor der Presse Ende April. Diese wäre auch dringend angezeigt, denn der Pflegeversicherung geht die Luft aus. Das angekündigte Reformkonzept für die Finanzierung lässt auf sich warten. Die zu Pflegenden sollen möglichst nicht mit höheren Eigenanteilen be- lastet werden, Pflegekräfte sollen mehr verdienen – so der einhellige politische Wille. Der GKV-Spitzenver- band fordert einen jährlichen Bundeszuschuss von drei Milliarden Euro und eine Investitionskostenübernahme der Pflegeheime durch die Bundesländer. Wie lange hält die Pflegeversiche- Entwicklung deutlich zunehmen, Die Zeit rung ohne staatliche Unterstützung bei zugleich eher schrumpfendem drängt. Das noch durch? Erwerbspersonenpotenzial. Wir Geld in müssen Pflege verlässlich besser den Pfle- Prof. Jürgen Wasem, Gesundheits- bezahlen. Auch wenn es wehtut: gekassen ökonom: Die Pflegekostenfinanzie- Wir müssen jetzt die Weichen dafür reicht nur rung ist eine tickende Zeitbombe. stellen. Die Problematik haben wir bis zum Der Bedarf nach Altenpflegekräften schon zu lange ausgesessen. Und Ende der wird wegen der demographischen um die Frage klar zu beantworten: Legislatur. Europäische Union – Krebs und seltene Erkrankungen unter ferner liefen? Verschobene Prioritäten bei der deutschen EU-Ratsprä- sidentschaft: Ganz oben steht alles rund um die Pan- demiebewältigung. Maßnahmen, die die Souveränität der EU in puncto Arzneimittel und Schutzausrüstung stärken, rücken in den Mittelpunkt, dafür fallen seltene Erkrankungen wohl hinten runter. Thema Krebs: In dem © jpgon- Fotolia.com im Mai publizierten „Bundesbericht Forschung und Innovation 2020“ betont die Regierung ihre Absicht, im Rahmen der Präsidentschaft die Krebsforschung auf europäischer Ebene voranzubringen. Der von der Kom- mission Anfang 2020 angekündigte Masterplan Krebs steht coronabedingt vorerst unter keinem guten Stern. In der Warteschleife steht der EU- gab es in den letzten Wochen nur Gesundheits- Masterplan zur Bekämpfung von begrenzte Tagungsmöglichkeiten im bereich ist, Krebs. Auch die Bemühungen um Europäischen Parlament. Auch wenn und dann seltene Erkrankungen werden zu- wir viel gearbeitet haben, war es kann das rückgeworfen. Was heißt das für die nicht möglich, den Sonderausschuss am Ende Betroffenen? zu installieren. Das muss sich aber vielleicht jetzt schnell ändern. Das Gleiche gilt sogar Peter Liese, MEP (CDU): Der Mas- für die Bemühung, seltene Krankhei- für alle terplan zur Bekämpfung von Krebs ten zu bekämpfen. Insgesamt hoffe Patienten ist nach wie vor eine große Priori- ich, dass durch die Coronakrise viele positiv sein. tät für die Europäische Kommission Menschen erkennen, wie wichtig und auch für meine Fraktion. Leider europäische Zusammenarbeit im © Foto-AG Gymnasium Melle-CC BY-SA 3.0
• Seite 16 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Notfallversorgung – vorsichtiger Optimismus © iStockphoto, huettenhoelscher Kaum ein Thema hat die Gesundheitspolitik so in Atem gehalten wie die Reform der Notfallversorgung. Der Sachverständigenrat hat dafür weitreichende Vor- schläge auf den Tisch gelegt. Es folgten ein Arbeits- papier und zuletzt im Januar ein Referentenentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium. Begleitet wurde das Ganze von hitzigen Debatten über Integ- rierte Notfallzentren und einen dritten Sektor. Dann blieb es lange ruhig. Mit dem Konjunkturpaket und der darin enthaltenen Investitionsspritze für moderne Notfallkapazitäten kommt wieder Bewegung in die Sache, oder? Fällt die Notfallreform unter den Tisch oder wird es damit noch etwas vor dem Ende der Legislatur? Sabine Dittmar, MdB (SPD): zu verbessern. Im Augen- nicht abgeschlossen, Die Reform der Notfallver- blick geht es aber in erster sodass der Entwurf sorgung ist natürlich nicht Linie darum, die Pandemie zu noch keine Kabi- vom Tisch. Klar ist, dass es überwinden. Alle gesetzgebe- nettsreife hat. Ich Handlungsbedarf gibt, um rischen Maßnahmen fokussie- hoffe allerdings, die Patientenströme besser ren sich darauf. Zudem sind dass wir bald einen zu leiten und die indikations- die Gespräche zwischen Bund abgestimmten abhängige Versorgung der und Ländern über die Reform Gesetzentwurf vor- Patientinnen und Patienten der Notfallversorgung noch liegen haben. Karin Maag, MdB (CDU): dienstlichen Notfallversor- komplexes Zusammenwirken Die Reform der Notfallver- gung zu einem integrierten von Bund, Ländern und sorgung ist ein zentrales System weiterzuentwickeln. Kommunen und wird Vorhaben dieser Legislatur- Diese Reform ist überfällig nun auch an die Er- periode, das sowohl im Bun- und notwendig, um eine fahrungen der Pan- desgesundheitsministerium bessere Orientierung für Pa- demie angepasst als auch in unserer Fraktion tienten, kürzere Wartezeiten, werden müssen. mit hoher Priorität behandelt einen effizienteren Einsatz Ich bleibe dennoch wird. Das Gesetz soll dafür von Personal und Geld sowie vorsichtig optimis- sorgen, die bisher weitge- insgesamt eine höhere Quali- tisch, dass es in die- hend getrennt organisierten tät der medizinischen Not- ser Legislaturperiode Bereiche der ambulanten, fallversorgung zu erreichen. noch umgesetzt wird. stationären und rettungs- Allerdings erfordert dies ein Verschobenes EU-HTA – „Zeit sinnvoll nutzen“ © iStock.com, z_wei Seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten darüber, wie eine europäische Zusammenarbeit bei der Bewer- tung neuer Gesundheitstechnologien, namentlich von Arzneimitteln, organisiert werden kann. Die Industrie befürwortet eine Harmonisierung, während Länder wie Deutschland und Frankreich fürchten, dass dabei ihre nationalen Standards unterlaufen werden. Eigentlich sollte EU-HTA bei der deutschen EU-Ratspräsident- schaft eine wichtige Rolle spielen, jetzt ist das Thema gestrichen.
Juni 2020 Im Fokus Seite 17 • Können wir es uns leisten, EU-HTA weiter auf die lange Bank zu schieben? Wie soll es jetzt weitergehen? Prof. Josef Hecken, G-BA-Vorsit- dass wissenschaftliche Fragen – bei- zender: Ein Mehrwert kann nur spielsweise in Bezug auf Studienan- entstehen, wenn es klare Regeln für forderungen, Methodik, Endpunkte gemeinsame und nationale Bewer- oder Surrogatparameter – einheit- tungen von zentral zugelassenen lich beantwortet werden. Dabei Arzneimitteln und Medizinproduk- steht das notwendige abschließende ten gibt, um evidenzbasierte Emp- Resümee aus dem EuNetHTA-Pro- fehlungen zur Verwendung dieser gramm noch aus. Auch wenn der Technologien auf nationaler Ebene Bundesgesundheitsminister die zu treffen. Die Aufbereitung dieser geänderten Schwerpunkte für die Evidenz muss den Anforderungen deutsche EU-Ratspräsidentschaft noch ein der jeweiligen Mitgliedstaaten für politisch begründet, so besteht auch Jahr länger eine Entscheidungsfindung genü- aus wissenschaftlich-fachlicher Sicht dauert, so kann und sollte diese gen. Hierzu ist es jedoch essenziell, noch Beratungsbedarf. Wenn es nun Zeit sinnvoll genutzt werden. Sektorenübergreifende Versorgung – © bht2000, Fotolia.com Information ist alles Laut Koalitionsvertrag soll Schwarz-Rot „nachhaltige Schritte“ für eine sektorenübergreifende Versorgung einleiten. Tatsächlich wurde eine Bund-Länder-Arbeits- gruppe ins Leben gerufen, die vor einem Jahr ein Eckpunkte-Papier veröffentlicht hat. Auch der Sachver- ständigenrat hat in seinem Gutachten von 2018 „Zu- kunftsperspektiven einer bedarfsgerechten sektoren- übergreifenden Versorgung entwickelt“. Ein Stichwort lautet etwa sektorenübergreifende Versorgungsplanung. Wird die Regierung das Thema Prof. Christof von Kalle: Die baldige sektorenübergreifende Versor- Einführung einer wirklich aussage- gung noch anpacken? kräftigen ePA, die alle Bereiche der Gesundheitsversorgung abdeckt: Prof. Christof von Kalle, Onkologe: die haus- und fachärztliche Versor- Meiner Meinung nach ist eine sek- gung ebenso wie die durch Kran- torenübergreifende Versorgung in kenhäuser – stationär, teilstationär allererster Linie ein Thema der In- oder ambulant – sowie die wesent- formationstransparenz und Informa- lichen Aspekte wie Pflege und Me- tionsflüsse. Diese Bundesregierung, dikation. Das ist der entscheidende namentlich Minister Spahn, ist sehr Schritt. In der Pandemie ist deutlich offensichtlich intensiv damit befasst, geworden, dass unsere Unfähigkeit, in Sachen sektorenübergreifender Gesundheitsdaten auszutauschen, Unfähigkeit und unsere Untätigkeit ePA mit bisher nie da gewesener Ge- auszuwerten, den Patienten mit nicht länger als Datenschutz schön- schwindigkeit voranzukommen, und diesen zu begleiten und die Erkran- reden. Datenschutz bedeutet Pa- hat insofern nach meiner Einschät- kung des Patienten ganzheitlich tientenschutz, und das bedeutet in zung einen sehr wesentlichen, wenn zu verstehen, Menschen das Leben erster Linie einmal, dass Patienten nicht den wesentlichsten Schritt für kostet. Es ist uns mit Mühe ge- über alle Sektorengrenzen hinweg eine Verbesserung der sektorenüber- lungen, die verfügbaren Betten zu Anspruch auf eine für ihr eigenes greifenden Versorgung in Deutsch- zählen. Auch die Nachauswertung Wohlergehen optimale Auswertung land in Angriff genommen. wird vor erheblichen Hindernissen ihrer Daten haben. Dabei ist die stehen. Diese bestehen vielfach Datensicherheit von herausragen- Welches müssten erste Schritte durch einen missverstandenen, der Bedeutung. zur Überwindung der Sektoren- verabsolutierten und zersplitterten grenze sein? Datenschutz. Wir dürfen uns diese
• Seite 18 Im Fokus GERECHTE GESUNDHEIT Leitlinien – erster Rechercheauftrag ans © freshidea, Fotolia.com IQWiG im Juli Neue Akzente bei der Leitlinienarbeit sieht das Digitale-Versorgung-Gesetz vor: Zum einen soll die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Zum anderen kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlich- keit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit ins Boot: Es soll im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Evidenzrecherchen zu einzelnen klinisch relevanten Fragestellungen in Leitlinien übernehmen. Wann wird es konkret mit der neuen Leitlinienarbeit oder ist das Verfahren gegenwärtig on hold? Von der Arbeitsgemeinschaft der abstimmung im vollen Gange sei und dem Ministerium, zu welcher wissenschaftlichen medizinischen (ein ausführlicher Bericht folgt in Fragestellung wir aktiv werden sol- Fachgesellschaften (AWMF), die einer der nächsten Ausgaben). Das len. Wir rechnen damit, im Juli den die Leitlinienarbeit koordiniert, IQWiG teilt mit: „Aktuell läuft die ersten Auftrag zu erhalten.“ ist zu hören, dass die Verfahrens- Abstimmung zwischen der AWMF Anwendungsbegleitende Datenerhebung – Verfahrensregeln in Arbeit Stichwort AMNOG-Prozess: Insbesondere für die Nutzenbewertung von Orphan Drugs kann der Gemein- same Bundesausschuss (G-BA) vom Hersteller eine anwendungsbegleitende Datenerhebung (AbD) ver- langen, um Evidenzlücken zu schließen. Die Diskussion über Fallstricke und Vorteile des mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung einge- führten Instruments blieb 2019 zunächst etwas theore- tisch – bis das IQWiG zum Jahresanfang einen Report zur Generierung und Auswertung versorgungsnaher Daten vorlegt. Noch konkreter wird es, als der G-BA- Chef Prof. Josef Hecken ankündigt, dass die Genthe- rapie Zolgensma die Ehre des ersten Durchlaufs habe. © iStock.com, elenabs Das Präparat ist nun in der EU zugelassen. Wie ist der aktuelle Stand? Wie der bedingten Zulassung in Kontakt geht es mit Zolgensma weiter? steht. Dies halten wir für sehr sinn- voll. Nähere Informationen zu den Prof. Josef Hecken: Derzeit werden Inhalten haben wir jedoch nicht, da vom G-BA die Verfahrensregeln für der G-BA in diese Gespräche nicht eine AbD erarbeitet, um eine Grund- eingebunden ist. Mit Markteintritt lage für die Erstellung von Konzep- von Zolgensma in Deutschland wird ten zur anwendungsbegleitenden der pharmazeutische Unternehmer Datenerhebung zu schaffen. An der dem G-BA sein Dossier mit den zu- Erstellung eines Konzeptes zur AbD lassungsrelevanten Studien vorle- sollen alle relevanten Beteiligten, gen und – sofern vorhanden – auch unter anderem auch Registerbetrei- den Auflagen der EMA hinsichtlich ber, beteiligt werden. Wir wissen, der Durchführung von Register- raten. Und selbstverständlich wird dass der Hersteller von Zolgensma studien. Auf dieser Basis wird der es hierbei dann auch darum gehen, mit den Zulassungsbehörden zur G-BA dann für den deutschen inwiefern eine Befristung des Be- grundsätzlichen Frage einer wei- Versorgungskontext die Frage des schlusses mit der Auflage einer AbD teren Datenerhebung im Rahmen Zusatznutzens von Zolgensma be- angezeigt ist.“
Juni 2020 Im Fokus Seite 19 • Im Rampenlicht Auch der Impfnationalismus treibt bisweilen seltsame Blüten. Wer macht das Rennen? Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Pharma-Unternehmen, fühlt sich gemüßigt, zu unterstreichen: „Europa ist in der Medizingüter made in Europe Entwicklung von Corona-Impfstoffen auf Augenhöhe Warnungen vor Arzneimittelengpässen gibt es schon mit den drei anderen großen Akteuren des internatio- länger, doch erst mit der Coronakrise rücken die nalen Geschehens: den USA, China und Indien.“ Folgen der globalisierten Herstellung von Arznei- mitteln und Medizinprodukten wirklich ins öffentliche Bewusstsein. „Medizingüter made in Europe“ lautet Der Öffentliche Gesundheitsdienst – aus die Krisenerkenntnis von Merkel und Macron. Das Kon- der Versenkung junkturprogramm der Bundesregierung enthält folge- Dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) über richtig ein „Programm zur Förderung der flexiblen Jahrzehnte kaputtgespart wurde, ist kein Geheimnis. und im Falle einer Epidemie skalierbaren inländischen Darum geschert hat sich kaum jemand. Jetzt zeigt der Produktion wichtiger Arzneimittel“, Umfang: eine Mil- Pandemieausbruch, wie wichtig die vorderste Pub- liarde Euro. „Die Produktion von Medizingütern nach lic-Health-Front ist. Mit dem zweiten Bevölkerungs- Europa zurückzuholen, ist eine Frage der Zahlungs- schutzgesetz reagiert die Politik: Für den ÖGD wer- bereitschaft der Gesellschaft für Versorgungssicher- den rund 50 Millionen Euro lockergemacht. Das Geld heit“, sagt Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem. soll in die digitale Aufrüstung der 375 Gesundheits- Die durch die Verlagerung der Produktion nach Asien ämter gesteckt werden. Beim Robert Koch-Institut erzielten Einsparungen seien nämlich durchaus bei- wird eine Kontaktstelle für den ÖGD eingerichtet. Der tragssatzrelevant. Opposition geht das nicht weit genug. „Es ist nicht damit getan, dass die Gesundheitsämter jetzt ein paar neue Computer erhalten“, sagen Maria Klein-Schmeink Labormedizin – Tests, Tests, Tests und Fraktionskollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis Für gewöhnlich zählen Laborärzte nicht zu denjenigen 90/Die Grünen. Dr. Ute Teichert, Vorstandsvorsitzende Medizinern, die im Rampenlicht stehen. Ihre Arbeit des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des verläuft im Hintergrund. In Zeiten von Corona ist das ÖGD, findet: „Es ist nur ein Tropfen auf den heißen anders. Woche für Woche schalten sich mehrere Dut- Stein.“ Bleibt abzuwarten, ob die im Konjunkturpaket zend Medienvertreter dazu, wenn die Experten vom vorgesehene Förderung nachhaltiger ist. Verein Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) zur virtuellen Pressekonferenz einladen. Seit Ende März berichten Vorstandschef Dr. Michael Müller und seine Mitstreiter in diesem Format immer dienstags über Alles bleibt anders das aktuelle Geschehen in den Laboren des Landes – und natürlich über das Thema, das gerade alle inter- essiert: Tests. Die ALM-Experten stehen Rede und Strukturwandel im stationären Sektor – Antwort, egal ob es um PCR- und Antikörpertests, ja, nein, vielleicht? den Ausbau der Kapazitäten in den Laboren oder Gibt es hierzulande zu viel Klinikbetten oder nicht? mögliche Materialknappheit geht. Bisher ist das Inter- Ist Dänemark ein Vorbild oder hinkt der Vergleich? esse von Fach- und Publikumsmedien ungebrochen. Zu hoffen ist, dass diese bisweilen sehr zäh geführte Der Bundesgesundheitsminister will die Finanzierung Debatte durch die Coronakrise neue Impulse be- der Tests über die Liquiditätsreserve des Gesundheits- kommt. Für den Hauptgeschäftsführer der Deutschen fonds abwickeln und hat Ende Mai eine Verordnung Krankenhausgesellschaft ist die Sachlage klar. Georg dazu veröffentlicht. Baum sagt: „Warum kommen wir durch diese erste Welle so gut durch? Weil wir mehr Kapazitäten haben.“ Für den Gesundheitsökonom Prof. Jonas Impfstoffentwicklung – das Ticket zur Schreyögg hat die Krise dagegen aufgezeigt, „wie Normalität wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Struktur- Kaum ein Thema wird derzeit so emotional und in- reformen ist“. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender tensiv verfolgt wie die Entwicklung eines möglichen des AOK-Bundesverbandes, wird grundsätzlicher. Impfstoffes gegen das Coronavirus, denn: Vakzine Er sieht als eine Folge der Coronakrise, dass „das Ziel gelten als Ticket zurück in die Normalität. Dem Impfen der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird“. Und werde mittlerweile eine größere Wertschätzung ent- auch die Diskussion um die notwendige Modernisie- gegengebracht, zeigt sich Gesundheitsminister Spahn rung der deutschen Krankenhauslandschaft würde überzeugt. Für ihn selbst sei es „eine der größten Er- von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt rungenschaften der Menschheit“. Das sehen Impfgeg- werden. Das bleibt abzuwarten. • ner anders, die sich schon jetzt lauthals gegen eine derzeit nicht geplante Impfpflicht in Stellung bringen.
• Seite 20 © iStock.com, MicroStockHub In Kürze GERECHTE GESUNDHEIT Impfstoff: Forschung, Priorisierung, Transparenz • Berlin (pag) – Um die Impfstoffentwicklung zu beschleunigen, stellt die Bundesregierung bis zu 750 Millionen Euro zur Verfügung. Damit sollen Studien- und Herstellungskapazitä- ten erweitert bzw. gesichert werden. Wissenschaftler mahnen, dass dabei die Transparenz nicht auf der Strecke bleiben darf. Auch an Priorisierungskonzepten wird mittlerweile ge- arbeitet: Wer soll zuerst geimpft werden, lautet die spannende Frage. Es sei nicht damit zu rechnen, dass unmittelbar aus- Tempo bei der Erforschung eines Corona-Impfstoffes reichend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zur bedeutet: Die verschiedenen Phasen der klinischen Verfügung stehe, schreibt die Bundesregierung in einer Studien werden teilweise nicht wie bisher nacheinan- Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Daher der durchgeführt, sondern gekoppelt. Dadurch wird werde es erforderlich sein, Bevölkerungsgruppen zu der erfolgversprechende Impfstoffkandidat schneller definieren, die von einer Impfung besonders profitieren an vielen Freiwilligen getestet, wovon sich die Forscher würden, etwa vulnerable Personen oder medizinisches wichtige Erkenntnisse erhoffen. Die Regierung will kein Personal. Die Ständige Impfkommission beim Robert- Bremsklotz sein. „Wir wollen größere Probandenzahlen Koch-Institut sei beauftragt worden, ein „risikoorien- ermöglichen“, sagt Karliczek. Früher als gewöhnlich tiertes Priorisierungskonzept“ zu entwickeln. sollen beispielsweise Gesundheitspersonal oder Risiko- gruppen in die Studien eingeschlossen werden –„natür- lich auf freiwilliger Basis“, wie die Ministerin betont. Regierung will kein Bremsklotz sein Angesichts der beschleunigten Zulassungsverfahren Unterdessen drückt Anja Karliczek bei der Entwick- fordern Wissenschaftler des Instituts für Qualität und lung der Vakzine auf die Tube: „Wo wir beschleunigen Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Coch- können, wollen wir beschleunigen“, sagt die Bundesfor- rane Collaboration, dass alle klinischen Studienberichte schungsministerin bei der Vorstellung des „Sonderpro- zu Covid-19-Arzneimitteln und -Impfstoffen mit dem gramms Impfstoffentwicklung und -herstellung“. Mehr Tag der Marktzulassung veröffentlicht werden. In einem
Juni 2020 In Kürze Seite 21 • Brief an die Europäische Arzneimittelagentur heißt es, beschafft oder Abfüll-Verträge mit Dienstleistern früh- dass rasche und vollständige Verfügbarkeit der Infor- zeitig geschlossen werden. Laut Karliczek ergänzt das mationen wichtig sei, „um diese Präparate weiter zu nationale Sonderprogramm die internationalen An- bewerten und die Entwicklung weiterer Wirkstoffe zu strengungen Deutschlands bei der Entwicklung eines beschleunigen“. Impfstoffes. Auf der sogenannten Geberkonferenz der Für die Impfstoffentwicklung und Herstellung stellt der EU Anfang April hat die Bundesregierung zugesagt, Bund mit dem Sonderprogramm 750 Millionen Euro 525 Millionen Euro bereitzustellen. • zur Verfügung. Bis zu 500 Millionen Euro aus dem Haushalt können von Entwicklern für die Ausweitung der Studienkapazitäten abgerufen werden. Der Rest Weiterführender Link ist für die Schaffung der dafür nötigen Herstellungs- Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine kapazitäten reserviert. Mit dem Geld können etwa Anfrage der AfD: https://dip21.bundestag.de/dip21/ Ausgangsmaterialien für die Impfstoffe rechtzeitig btd/19/190/1919097.pdf Der freie Beruf Arzt und die Ökonomisierung • Berlin (pag) – 15 ärztliche Verbände, darunter der Spitzenverband der Fachärzte Deutsch- lands, der Hartmannbund und der Berufsverband der Frauenärzte, haben ein Memorandum zum freiem Beruf Arzt „im Konflikt von Medizin und Ökonomie“ veröffentlicht. Sie fordern darin: Krankenhausärzte sollen wieder wirtschaftlich unabhängiger vom Klinikträger werden. Der Medizinbetrieb werde immer Die Ärzteverbände fordern, das nen Nebeneinnahmen nicht mehr mehr durch ökonomische Rah- Prinzip des freien Berufs zu stär- vertraglich abgedungen werden menbedingungen gesteuert, das ken, indem der Krankenhausarzt in dürfen, wenn diese Leistungen Patientenwohl drohe damit unter seiner medizinischen Indikations- höchstpersönlich erbracht werden die Räder zu geraten, wird in dem stellung, der Wahl der Therapie, müssen“. • Papier konstatiert. Garant dafür, aber auch wirtschaftlich wieder dass Patienten möglichst unabhän- unabhängiger vom Klinikträger Weiterführender Link gig von ökonomischen Einflüssen wird. Konkretisiert wird nur Letzte- Memorandum zum freiem Be- behandelt werden, sei die freie res: Bis hinein in die Berufsordnung ruf Arzt „im Konflikt von Me- dizin und Ökonomie“: https:// Berufsausübung des Arztes. Freie sei zu regeln, „dass die rechtlichen www.spifa.de/memorandum- Berufe, wird ausgeführt, unterlie- Grundlagen für die beschriebe- medizin-okonomie/ gen einer grundsätzlichen Bindung an das Gemeinwohl. Die Autoren stellen klar: „Auch der angestellte Arzt im Krankenhaus ist freiberuflich tätig und hat sich kon- sequent an seine Berufsordnung zu halten.“ Tatsächlich aber sei der freie Beruf durch die wirtschaft- liche Abhängigkeit zum Arbeitge- ber Krankenhaus infrage gestellt worden – unter anderem durch das „Abdingen des Rechts auf direkte © stock.adobe.com, Ridofranz eigenverantwortliche Liquidation beim Patienten an den Träger des Krankenhauses“. Früher seien auch leitende Ärzte unabhängiger ge- wesen, weil sie durch persönliche Ermächtigungen bei der vertrags- ärztlichen Versorgung beteiligt oder ambulant oder stationär privatärztlich tätig waren.
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