Polylog - polylog. Zeitschrift für interkulturelles ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
43 ISSN 1560-6325 ISBN 978-3-901989-42-1 € 16,– polylog zeitschrift für interkulturelles philosophieren 2020 polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren Nr. 43 (2020) Interkulturelle und dekoloniale Perspektiven auf feministisches Denken Gefördert vom Magistrat der stadt Wien Mit Beiträgen von Patricia McFadden, Jimena Néspolo, Nkiru NzeGWu, Maria Lugones, Evert van der Zweerde, Benjamin Baumann und anderen
7 77 Patricia McFadden Evert van der Zweerde Standpunkt: Sexuelle Selbstbestimmung Zwischen Mystik und Politik als Recht der Frau Kontinuität und Grundmuster im Denken Vladimir Solov’ëvs 19 Jimena Néspolo Körper und Textualitäten 101 Subjektivierungsformen und Praktiken des benjamin baumann Widerstands gegen Gewalt gegen Frauen im Same same but different heutigen Argentinien Eine romantische Dekonstruktion des para- 35 doxografischen Trends in den gegenwärtigen Thai Studien Nkiru Nzegwu Ọkụ Extenders: Women, Sacrality, and Transformative Art 131 55 Rezensionen Maria Lugones 150 bestellen Auf dem Weg zu einem dekolonialen 152 Impressum Feminismus
benjamin baumann Same same but different Eine romantische Dekonstruktion des paradoxografischen Trends in den gegenwärtigen Thai Studien ABSTRACT: Why is the paradox such a common trope in scholarly texts discussing Thailand’s contem- porary socio-cultural configuration? Based on ethnographic fieldwork in Thailand’s lower Northeast, this article presents philosophical reflections on this omnipresence of the paradox and sets out to document a pa- radoxographical trend in contemporary Thai studies. As becomes clear in the debate on “Anthropology and the study of contradictions” initiated by David Berliner, anthropological fieldwork is a special laboratory for Benjamin Baumann, ist observing contradictions. I started my ethnographic fieldwork with the goal of documenting how the ethnic akademischer Mitarbeiter an identity of Thailand’s Khmer-speakers is reproduced through popular religious rituals. The assumption that der Universität Heidelberg und there is an ethnic group to be studied became the source of various apparently paradoxical observations that moved the question for the place of the paradox in contemporary Thai Studies into the center of my lehrt am Institut für Ethnologie. theoretical reflections. Based at the intersections of anthropology, philosophy and sociology this interdiscip- linary texts seeks out to deconstruct the paradoxographical trend that haunts contemporary Thai studies by mapping the ideological function of the paradox in naturalistic language games. KEYWORDS: Ambiguität, Paradox, Coincidentia Oppositorum, Thailand, soziale Ontologie, Gesetz der Partizipation Die kritischen Überlegungen im Kontext der Dorf in Thailands Nordosten sammelte.1 Ei- gegenwärtigen Thai Studien, die ich in diesem Artikel anstelle, sind das Ergebnis einer Reihe 1 Als Teilgebiet der Südostasienstudien gehören philosophischer Reflexionen über scheinbare die Thai Studien zum interdisziplinären Feld der Regionalwissenschaften. Die Thai Studien, eine im Paradoxien, die sich aus der Analyse empiri- anglo-amerikanischen Sprachraum gebräuchlichere schen Materials ergaben, das ich im Rahmen Bezeichnung als im Deutschen, beschäftigen sich polylog 43 einer ethnografischen Feldforschung in einem überwiegend mit Thailand und seinem historischen Seite 101
forum benjamin baumann: nerseits beruhen diese Überlegungen also auf meine Feldforschung also mit der Annahme einer ethnologischen Forschung, andererseits startete, dass es die ethnische Gruppe der Kh- spielen philosophische Theorien bei ihrer For- mer in Thailand gibt und ich sie folglich auch mulierung eine herausragende Rolle. Hieraus erforschen könnte, entwickelte sich diese aus ergibt sich auch die interdisziplinäre Perspek- der bestehenden Forschungsliteratur abgeleite- tive dieses Artikels.2 te Grundannahme zum Ausgangspunkt einer Wie in einer von David Berliner angestoße- Reihe scheinbar paradoxer Beobachtungen.4 nen Debatte zur Erforschung von Widersprü- Es waren diese Beobachtungen, die die Fra- ... stellt ethnografische chen in der Ethnologie deutlich wird, stellt ge nach der epistemologischen Funktion des Feldforschung ein besonderes ethnografische Feldforschung ein besonderes Paradox in den gegenwärtigen Thai Studien Laboratorium für die Beobach- Laboratorium für die Beobachtung scheinba- zum Mittelpunkt theoretischer Reflexionen tung scheinbarer Paradoxien dar. rer Paradoxien dar.3 Obwohl mein Dissertati- machten und meine ethnologische Arbeit onsprojekt mit dem Ziel startete, die rituelle somit in die Nähe der Philosophie rückten.5 Reproduktion einer ethnischen Khmer-Iden- Diese Transzendenz enger disziplinärer Gren- tität in Thailand zu dokumentieren, verschob zen stellt in den Neuen Regionalstudien jedoch sich die Fragestellung im Laufe der Forschung kein Problem, sondern das Ziel regionalwis- dahin, die lebensweltliche Bedeutsamkeit senschaftlicher Forschung dar.6 einer Selbstidentifikation mit der ethno-lin- Die Provinz Buriram, in der ich meine guistischen Kategorie Khmer in alltäglichen Feldforschung durchführte, befindet sich in Sprachspielen zu explizieren. Während ich einer Subregion des thailändischen Nordos- tens, die als südlicher Nordosten oder Isan Vorgänger Siam, aber auch mit Bevölkerungsgrup- Tai bezeichnet wird. Im Gegensatz zu der pen in Thailands Nachbarländern, die eine zu den regionalen Kategorie Isan, die den gesamten Tai-Sprachen zählende Sprache sprechen. Obwohl Nordosten des Landes bezeichnet und für ge- die Thai Studien ursprünglich stark philologisch und historisch ausgerichtet waren, überwiegen im Feld wöhnlich mit der ethno-linguistischen Kate- mittlerweile sozialwissenschaftliche, anthropolo- gorie Lao assoziiert wird, besteht im öffentli- gische und religionswissenschaftliche Ansätze. chen Diskurs Thailands eine enge Verbindung 2 Die Feldforschung wurde mit Mitteln der DFG finanziert und war Teil des Forschungsprojektes »Die 4 Praktische alle ethnologischen Studien zu Thai- rituelle Reproduktion von Khmerness in Thailand«. lands Khmer-Sprecher*innen nutzen Ethnizität, um Der Autor verfasste seine Dissertationsschrift »Ghosts die kollektive Identität dieser Bevölkerungsgruppe of Belonging: Searching for Khmerness in Rural Buriram« Thailands zu qualifizieren. Denes: Recovering Khmer auf Grundlage der im Projekt gesammelten Daten Ethnic Identity; dies.: The Revitalisation of Khmer Ethnic am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Identity; Vail: Thailand’s Khmer as ›Invisible Minority‹; Humboldt-Universität zu Berlin. Baumann: Ghosts of Tarr: Peasant Women. polylog 43 Belonging. 5 Baumann: Ghosts of Belonging, 37–82. Seite 102 3 Berliner et al.: Study of Contradictions. 6 Baumann et al.: Small Places.
forum Same same but different zwischen der subregionalen Kategorie Isan geteilte Geschichte eigentlich eng miteinander Tai und der ethno-linguistischen Kategorie verbunden sind und Khmer-Elemente einen Khmer.7 Das liegt nicht nur daran, dass die Großteil der thailändischen Nationalkultur drei Provinzen, die die Subregion bilden, an und -sprache ausmachen, wird die Katego- Kambodscha grenzen, wo sich die Mehrheits- rie Khmer im öffentlichen Diskurs Thailands bevölkerung als Khmer bezeichnet, sondern meist als primitiv stigmatisiert, um über eine auch daran, dass ein Großteil von Thailands diskursive Distanzierung von diesem als pri- Khmer-Sprecher*innen in der Subregion lebt. mitiv konstruierten Anderen ein zivilisiertes Bei den Khmer-Sprecher*innen in der Pro- Selbst zu imaginieren.9 Die Kategorie Khmer im vinz Buriram handelt es sich jedoch nicht um Die Kompositkategorie Thai-Khmer stellt öffentlichen Diskurs Thailands Geflüchtete, die Kambodscha im Laufe des 20. in alltäglichen Sprachspielen allerdings auch wird meist als primitiv stigma- Jahrhunderts und im Schatten der Terrorherr- keine duale Identität dar. Ethnologische The- tisiert, um über eine diskursive schaft der Roten Khmer verlassen haben, son- orien dualer Identitäten nehmen für gewöhn- Distanzierung von diesem als dern um eine im wissenschaftlichen Diskurs lich an, dass zwei qualitativ unterschiedliche primitiv konstruierten Anderen weitestgehend unsichtbare ethno-linguisti- Identitäten, die auf verschiedenen ideologi- ein zivilisiertes Selbst zu sche Minderheit, die schon seit Generationen schen Ebenen des sozialen Klassifikationssys- imaginieren. in der Region siedelt.8 tems verortet sind, kombiniert werden. Für Die ursprüngliche Beobachtung, die meine Thailand bedeutet das meist die Kombination Reflexionen zu Paradoxien auslöste, war die der nationalen Thai-Identität mit einer ethni- alltägliche Selbstidentifikation vieler Dorf- schen oder regionalen Identität, die auf einer bewohner*innen mit der Kompositkatego- eingeschlossenen ideologischen Ebene veror- rie Thai-Khmer. Da die ethno-linguistischen tet wird.10 Im Falle der thailändischen Kh- Kategorien Thai und Khmer in Thailands öf- mer-Sprecher trifft diese Theorie einer hier- fentlichem Raum entgegengesetzte Pole einer archischen Differenzierung der kombinierten dualen Opposition bilden, werden die sich Identitäten aber nicht zu, da die Kompositka- daraus ableitenden kollektiven Identitäten ge- tegorie Thai-Khmer in alltäglichen Sprach- wöhnlich als sich gegenseitig ausschließend spielen genutzt wird, um eine Gleichzeitigkeit betrachtet. Diese gegenseitige Ausschließlich- von Khmer-sein und Thai-sein zum Ausdruck keit erfüllt zentrale ideologische Funktionen zu bringen, bei der beide kollektive Identitä- bei der Reproduktion nationaler Identitäten ten auf der gleichen ideologischen Ebene ver- in Thailand (Thai) und Kambodscha (Khmer). ortet werden. Khmer-sein und Thai-sein sind Obwohl die beiden Nachbarstaaten über eine für die thailändischen Khmer-Sprecher*innen 7 Die Transkription von Thai Wörtern folgt dem qualitativ gleichwertige Formen sozio-kultu- Rachabanditsathan System des Royal Institute of Thailand. 9 Baumann: The Khmer Witch Project. polylog 43 8 Vail: Thailand’s Khmer as ›Invisible Minority‹. 10 Jory: From »Melayu Patani« to »Thai Muslim«. Seite 103
forum benjamin baumann: reller Zugehörigkeit, die sich dennoch nicht mögliche Lösungsansätze für das prinzipielle gegenseitig ausschließen. Nach Herzfeld ent- Problem interkultureller und -disziplinärer steht in thailändischen Sprachspielen kein Forschung zu formulieren, eine spezifische Gefühl von Inkonsistenz durch Zugehörig- soziale Ontologie in ein Sprachspiel zu über- keitsbekundungen zu multiplen Identitäten in setzen, das nicht im Rahmen dieser sozialen Form von Selbstidentifikationen mit Kompo- Ontologie entstanden ist.12 Um dieses zentra- sitkategorien. Dennoch spricht er von einem le Argument, das auch für die interkulturel- Schlüsselparadox der Loyalität zu multiplen le Philosophie äußerst relevant erscheint, zu Dieser Artikel ist daher ein Ver- Identitätsebenen, das die Bildung sozio-kul- erläutern, gehe ich in diesem Artikel auf drei such, mögliche Lösungsansätze tureller Zugehörigkeiten im gegenwärtigen Punkte ein, die sich im Berührungsfeld von für das prinzipielle Problem in- Thailand prägen würde.11 Ethnologie, Philosophie und den Sozialwis- terkultureller und -disziplinärer Die Auswertung meiner Feldtagebücher senschaften bewegen: Forschung zu formulieren, eine und Interviewtranskripte, sowie der Versuch, 1. Die Häufigkeit von Paradoxien und ihre spezifische soziale Ontologie in den alltäglichen Sinn sozialer Kollektivität ideologische Funktion in Studien, die Thai- ein Sprachspiel zu übersetzen, im Rahmen einer analytischen Sprache und lands gegenwärtige sozio-kulturelle Konfigu- das nicht im Rahmen dieser auf Grundlage von vermeintlich universellen ration beschreiben. sozialen Ontologie Konzepten eines wissenschaftlichen Common 2. Die sozio-ontologische Multiplizität der entstanden ist. Sense zu beschreiben, ließ aus meinen empi- thailändischen Gegenwartsgesellschaft und rischen Beobachtungen schließlich epistemo- wie die daraus entstehende epistemologische logische Fragen entstehen, die sich im inter- Multiplizität die Übersetzung alltäglicher in disziplinären Feld zwischen Philosophie und analytische Sprachspiele erschwert. Ethnologie bewegen. Im Sinne des klassischen, 3. Die theoretischen Prämissen der ontologi- aber letztendlich unerreichbaren, Ideals der schen Wende und ihr Potenzial für die Rekon- Ethnologie, die Welt aus den Augen des An- struktion eines alltäglichen Sinns kollektiver deren zu sehen, wurden diese epistemologi- Zugehörigkeit und dessen lebensweltliche Be- schen Fragen beim Verfassen meines Disserta- deutsamkeit in Thailands südlichem Nordosten. tionsmanuskripts letztendlich zu praktischen Problemen. Die meisten analytischen Kon- zepte eines ethnologischen Common Sense Sprache und kollektive Identität schienen unangebracht, um die lebenswelt- Die linguistische Wende in den Geistes- und liche Bedeutsamkeit alltäglicher Zugehörig- Sozialwissenschaften schrieb der Sprache eine keitskonzepte und die soziale Qualität des Khmer-seins der Dorfbewohner*innen zu 12 Aus sozialwissenschaftlicher Sicht bezeichnet soziale Ontologie das verkörperte und oft auch in- fassen. Dieser Artikel ist daher ein Versuch, stitutionalisierte Verständnis sozialer Kollektivität. polylog 43 Baumann/Rehbein: Rethinking the Social; Baumann/ Seite 104 11 Herzfeld: Paradoxes of Order, 155. Rehbein: Soziale Ontologie.
forum Same same but different außerordentliche Bedeutung für die Kons- nisierten Vorrat an Deutungsmustern reprä- truktion sozialer Welten zu. Auch wenn die sentiert« gedacht werden.15 In dieser lebens- Betonung der Sprache unter dem Eindruck weltformenden Rolle der Sprache schwingt der performativen Wende und anderer Para- zumindest eine schwache Form linguistischer digmenwechsel über die letzten Jahre stetig Relativität mit. Theorien linguistischer Re- abgenommen hat, bleiben Sprache und Kom- lativität gehen davon aus, dass das Denken munikation für die intersubjektive Konstruk- durch kulturelle Unterschiede in den lexikali- tion sinnhafter Welten essentiell. Ich nähere schen, syntaktischen, semantischen und prag- mich der Bedeutsamkeit lokalisierter Zuge- matischen Aspekten der Sprache bestimmt »Das Wort »Sprachspiel« soll hörigkeitsgefühle im ländlichen Nordosten wird.16 Die ontologische Dimension linguis- hier hervorheben, daß das Thailands daher durch ein lebensweltliches tischer Relativität wird aber in Wittgensteins Sprechen der Sprache ein Teil Sprachverständnis, bei dem die Struktur und Gleichsetzung von Sprachspielen und Lebens- ist einer Tätigkeit, oder einer der Inhalt der Sprache, die üblicherweise im formen am deutlichsten.17 Lebensform. [...] Richtig und Alltag gebraucht wird, die Art und Weise »Das Wort »Sprachspiel« soll hier hervor- falsch ist, was Menschen sagen, bestimmen, in der die soziale Welt wahrge- heben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil und in der Sprache stimmen nommen wird. Dieses Verständnis von Spra- ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. [...] die Menschen überein. Dies che, als mitentscheidend für die Wahrneh- Richtig und falsch ist, was Menschen sagen, ist keine Übereinstimmung mung der Welt, geht zurück auf Benjamin und in der Sprache stimmen die Menschen der Meinungen, sondern der Lee Whorf, Ernst Cassirer und Wilhelm von überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Lebensform.« Humboldt und bricht explizit mit Searles na- Meinungen, sondern der Lebensform.«18 turalistischem Verständnis sozialer Ontologi- Da menschliche Lebensformen immer sozi- L. Wittgenstein (Fn. 18) en.13 al sind und Bedeutsamkeit auf Intersubjektivi- Luckmann und Schütz definieren die all- tät und der Einverleibung sozialer Ontologien tägliche Lebenswelt als jenen Wirklichkeits- basiert, impliziert Wittgensteins Gleichset- bereich, »den der wache und normale Er- zung von Sprachspielen und Lebensformen, wachsene in der Einstellung des gesunden dass die Grenzen von Sprachspielen auch die Menschenverstandes als schlicht gegeben Grenzen sozialer Kollektive sind.19 Diese Idee vorfindet.«14 Bei der Betonung von Sprache wird auch schon in Aphorismus Nr. 5.6 des für die Analyse alltäglicher Zugehörigkeits- Tractatus formuliert, in dem Wittgenstein aus- gefühle könnte auch auf Habermas rekurriert werden und »die Lebenswelt durch einen 15 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 189. kulturell überlieferten und sprachlich orga- 16 Hunt/Agnoli: The Whorfian Hypothesis. 13 Baumann/Rehbein: Rethinking the Social; Cas- 17 Chatterjee: Reading Whorf, 84. sirer: Philosophie der Symbolischen Formen; Whorf: Lan- 18 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 28, 139. guage, Thought, and Reality; Schütz: Language. 19 Baumann: Ghosts of Belonging; Baumann/Reh- polylog 43 14 Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, 29. bein: Rethinking the Social. Seite 105
forum benjamin baumann: führt, dass die Grenzen einer Sprache auch Die Deixis thailändischer die Grenzen einer Welt sind.20 Wittgensteins Sprachspiele sprachphilosophische Beobachtungen sind von zentraler Bedeutung für ein lebensweltli- Der deiktische Charakter thailändischer ches Verständnis der Deixis sozio-kultureller Sprachspiele manifestiert sich sehr anschau- Identitäten und alltäglicher Zugehörigkeitsge- lich im Topos kala thesa, der ein zutiefst rela- fühle in Thailands südlichem Nordosten. Hier tionales Verständnis der Welt ausdrückt und sind die meisten Akteure nicht nur bi- oder meist mit Zeit und Ort übersetzt wird. Der To- Kala thesa regelt die trilingual aufgewachsen und wechseln kon- pos schreibt im Alltagsleben vor, wie man in Angemessenheit sozialer textuell zwischen Sprachen und regionalen bestimmten Situationen zu sprechen, sich zu Interaktionen im Rahmen von Dialekten, sondern hier existiert auch ein na- bewegen und zu verhalten hat. Thailands sozialer Ontologie. turalistisches Sprachspiel, das Teil des inter- »Kala thesa is a Thai concept of great anti- nen Kolonialismus des thailändischen Staates quity constructed from Pali and Sanskrit roots. ist und von staatlichen Institutionen und na- … Kala refers to the kind of time that fortune tionalen Massenmedien getragen wird, neben tellers are interested in. Thesa refers to space, den animistischen Sprachspielen des Alltags- or locality and is part of the word Phrathet lebens.21 Ein praktisches Wissen um die deik- Thai, Thailand. Kala thesa is very much linked tische Angemessenheit von Sprachspielen und to language. Speaking properly demonstrates deren Grenzen ist daher für die Bedeutsam- one’s knowledge of kala thesa.« 23 keit alltäglicher Formen kollektiver Identität Kala thesa regelt die Angemessenheit sozi- essentiell.22 aler Interaktionen im Rahmen von Thailands sozialer Ontologie und reproduziert ihre im- manent relationale Logik, bei der sich eine Person niemals unter Gleichen, sondern im- 20 Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, 61. mer zwischen Höhergestellten und Unterge- 21 Smalley: Linguistic Diversity; ders.: Multilingualism. benen befindet.24 Das einverleibte Wissen um Baumann: Das animistische Kollektiv; ders.: Reconceptu- alizing the Cosmic Polity. kala thesa führt zu geordneten sozialen Bezie- 22 Auch wenn die thailändischen Khmer-Sprecher hungen. Ein Zustand, der als khwam riap roi im Zentrum meiner Forschung standen, sprechen beschrieben wird und der vorrangig die per- fast alle Dorfbewohner*innen unter sechzig Jahren formative Aufrechterhaltung eines rigiden Hi- fließend Thai und ich führte die meisten meiner In- terviews daher auf Thai. Dennoch ist es wahrschein- 23 Van Esterik: Materializing Thailand, 36. (Die lich, dass die Ergebnisse zur kollektiven Selbstidenti- Transkription wurde dem in diesem Artikel verwen- fikation anders aussähen, wenn ich meine Interviews deten System angepasst.) ausschließlich im lokalen Khmer-Dialekt geführt hät- 24 Hanks: The Thai Social Order, 198; Baumann: polylog 43 te. Dagegen sprachen jedoch forschungspragmatische Ghosts of Belonging; ders.: Reconceptualizing the Cosmic Seite 106 Zwänge. Polity.
forum Same same but different erarchieverständnisses im öffentlichen Leben bezeichnet ein Gefühl körperlichen Unwohl- beschreibt.25 Die Ausrichtung des Verhaltens seins, das davon ausgelöst wird, nicht genau an dieser einverleibten Logik kontextueller zu wissen, in welchem Verhältnis man zu sei- Angemessenheit ist essentiell, um ein als kreng nem Gegenüber steht und sich daher eventuell chai bezeichnetes Gefühl sozialer Unangemes- unangemessen verhält. Genauso bezeichnet es senheit zu vermeiden und so einen Gesichts- aber auch ein Gefühl der Fremdscham, wenn verlust zu verhindern.26 man Zeuge einer sozialen Interaktion wird, in So wie kala thesa gehört auch kreng chai zu der sich in Anbetracht der sozialen Positio- einer Klasse unübersetzbarer Thai topoi, die nen der Involvierten unangemessen verhalten das soziale Leben in Thailand strukturieren wurde. Es ist für außenstehende Beobachter, und einer relationalen Epistemologie fol- die nicht in thailändischen Sprachspielen so- gen.27 Nurit Bird-David erörtert, wie Wis- zialisiert wurden, außerordentlich schwierig, sen in relationalen Epistemologien aus einer die sozialen Grenzen wahrzunehmen, die Dividuierung der Umwelt, anstelle ihrer Di- durch den als kala thesa bezeichneten Wert chotomisierung, wie sie naturalistische Epi- der kontextuellen Angemessenheit gezogen stemologien kennzeichnet, entsteht. An die werden. Die Ethnologin Penny van Esterik Stelle des cartesianischen »ich denke, also beschreibt ihre Schwierigkeiten, einen Sinn bin ich« des Naturalismus tritt in relationalen für die Deixis thailändischer Sprachspiele zu Epistemologien ein »ich gehe Beziehungen ein, entwickeln, mit den folgenden Worten: also bin ich« und ein »ich weiß, dadurch dass »But even after many years in Thailand, ich mich in Bezug setze.« 28 Kreng chai setzt sich one seldom knows when boundaries are cros- aus den Wörtern für »Angst vor etwas haben« sed, when one has phit kala thesa, only that the (kreng) und »Geist« (chai) zusammen.29 Es coming together of time and space and re- lationships is not quite right, that either the 25 Jackson: The Thai Regime of Images, 184; ders.: Be- knowledge of contexts or persons was incom- yond Hybridity and Syncretism. plete or inaccurate.«30 26 Mulder: Everyday Life in Thailand, 62–84. Die Schwierigkeiten, die Grenzen thailän- 27 Emily Apter definiert etwas Unübersetzbares discher Sprachspiele zu erkennen, werden da- als »a term that is left untranslated as it is transfer- durch gesteigert, dass sie nur als einverleibte red from language to language … or that is typically subject to mistranslation and retranslation«. Apter: Gefühle bezeichnen. All diese Gefühle sind Reakti- Preface, vii. onen auf etwas, das außerhalb des menschlichen Kör- 28 Bird-David: »Animism« Revisited, 78. pers passiert, aber im Körper wahrgenommen wird. 29 Das Wort chai ist an sich schon unübersetzbar, da Es geht dabei also immer um die Beziehung von Äu- es je nach Kontext »Herz« oder »Geist« (im Sinne ßerlichkeit und Innerlichkeit, bzw. um eine Nichtre- von mind) bezeichnen kann und als Suffix etliche an- nnbarkeit von Außen und Innen. polylog 43 dere Kompositwörter bildet, von denen die meisten 30 Van Esterik: Materializing Thailand, 39. Seite 107
forum benjamin baumann: Aspekte eines Thai Habitus existieren. Ihre mer-Sprecher*innen gibt, sondern die aus der Einverleibtheit erschwert auch ihre Expli- Widersprüchlichkeit entstehende Ambiguität, zierbarkeit. Aufgrund dieser Einverleibtheit die eine Selbstidentifikation als Thai-Khmer haben thailändische Gesprächstpartner*in- im Alltagsleben bedeutsam macht. nen häufig Schwierigkeiten, die Gültigkeitsbe- reiche bestimmter Sprechakte zu definieren, wenn sie darum gebeten werden. Teilneh- Kollektivvorstellungen in mende Beobachtung ist der einzige Weg, ein modernen und nicht-modernen Obwohl das Konzept der Gefühl für kala thesa zu entwickeln. Um den Epistemologien Kollektivvorstellungen zum Topos zu verstehen, muss er in der Praxis be- Obwohl das Konzept der Kollektivvorstel- klassischen Repertoire der herrscht werden. Beides ist vermutlich nur lungen zum klassischen Repertoire der Sozi- Sozialwissenschaften gehört, ist nach längerer aktiver Teilnahme an thailän- alwissenschaften gehört, ist die sprachliche die sprachliche Ambiguität des dischen Sprachspielen möglich. Gerd Spittler Ambiguität des Konzepts selten Gegenstand Konzepts selten Gegenstand beschreibt diesen Prozess als dichte Teilnahme. theoretischer Reflexionen. Klassischerweise theoretischer Reflexionen. Dichte Teilnahme erfordert eine aktive Teil- werden mit dem Konzept überindividuelle habe am Alltagsleben der zu untersuchenden Wissensbestände bezeichnet, die ein soziales sozialen Kollektive, um so ein einverleibtes Kollektiv als Diskursgemeinschaft fundieren. Verständnis für die Sinnhaftigkeit alltäglicher Dieses von Durkheim und Lévy-Bruhl umris- Praxis zu entwickeln.31 Dies ist auch im Zu- sene Grundverständnis wurde in der Wissens- sammenhang mit scheinbaren Widersprüchen, soziologie weiterentwickelt, um zu betonen, wie sie hier behandelt werden, relevant: So dass Kollektivvorstellungen nicht nur gedacht besteht für Hastrup und Elsass beispielswei- werden, sondern, dass es sich dabei um hand- se das Ziel der Ethnologie genau darin, einen lungsleitende Wissensordnungen handelt, in Grad des Verständnisses zu erreichen, das denen wir leben.33 Kollektivvorstellungen über Sprache hinausgeht und so in der Lage sind somit keineswegs nur kognitiv, sondern ist, Kontexte zu erkennen, in denen selbst wi- erlangen ihre praktische Sinnhaftigkeit erst dersprüchliche Aussagen Sinn ergeben.32 Wie daraus, dass sie an einen Leib gebunden sind. ich in diesem Artikel zeigen werde, ist es aber Da dieser Leib in Sprachspielen sozialisiert nicht nur die Kontextualität der Selbstidenti- wird, sind die jeweiligen Kollektivvorstellun- fikationen mit den sich gegenseitig ausschlie- gen essentielle Bestandteile der Lebensform ßenden Kategorien Thai und Khmer, die der und daher im Alltagsleben kaum hinterfrag- Kompositkategorie Thai-Khmer ihre prakti- bar. Spezifischer gefasst, kann das Konzept der sche Bedeutsamkeit im Alltagsleben der Kh- Kollektivvorstellungen aber auch die Art und Weise beschreiben, wie Kollektivität in spe- polylog 43 31 Spittler: Teilnehmende Beobachtung. Seite 108 32 Hastrup/Elsass: Anthropological Advocacy, 306. 33 Bohnsack: Milieu als Erfahrungsraum, 21.
forum Same same but different zifischen Wissensordnungen vorgestellt und lektivität des Alltagslebens hervorbringt. Ich Kollektivzugehörigkeiten leiblich erfahren unterscheide hier zwischen zeitgenössischen werden. Es sind diese Kollektivvorstellungen Wissensordnungen, die auf Grundlage car- und ihre Nichthinterfragbarkeit, die eine so- tesianischer Prämissen operieren (modern), zialwissenschaftliche Interpretation des philo- und solche, die das nicht tun (nicht-modern). sophischen Begriffs der sozialen Ontologie zu Ich benutze nicht-modern damit nicht im Sin- fassen versucht.34 ne eines teleologischen Fortschrittsdenkens, Moderne Kollektivvorstellungen, wie Na- also im Sinne von vormodern, wie es den tionalität, »Rasse« oder Ethnizität, werden westlichen Alltagsverstand auszeichnet.36 Da- Trotz der Hegemonie dieser in Thailands institutionellem Diskurs genutzt, bei folge ich Philippe Descola, der die episte- modernen Wissensformen und um kollektive Zugehörigkeiten zuzuschreiben. mische Essenz der Moderne in einer Geistes- ihrer Institutionalisierung im Obwohl sie Thailands semi-kolonialer Begeg- strömung verortet, die ihren Ursprung bei öffentlichen Raum, haben alter- nungen mit den Kolonialmächten entstam- René Descartes nahm und schließlich vom native Kollektivvorstellungen men, wurden diese Kollektivvorstellungen im französischen Rationalismus assimiliert wur- ihre praktische Bedeutsamkeit Laufe des 20. Jahrhunderts als Instrumente de. Der Rationalismus strebt danach, Natur im ländlichen Alltagsleben eines internen Kolonialismus zu hegemonia- von Kultur, Körper von Geist sowie Sinn von behalten. len Wissensformen und so auch zu sinnhaften Wahrnehmung zu trennen. Dazu objektiviert Aspekten alltäglicher Lebenswelten im länd- er das Denken und die kulturellen Instituti- lichen Nordosten.35 Trotz der Hegemonie onen außereuropäischer Gesellschaften auf dieser modernen Wissensformen und ihrer Basis binärer Oppositionen, die genauso ab- Institutionalisierung im öffentlichen Raum, strakt wie nicht verifizierbar sind.37 Descola haben alternative Kollektivvorstellungen ihre bezeichnet die fundierende Epistemologie praktische Bedeutsamkeit im ländlichen All- dieses Paradigmas als naturalistisch und Mor- tagsleben behalten. Die Sinnhaftigkeit dieser ris Berman beschreibt dessen grundlegende Kollektivvorstellungen gründet in einer rela- Methode als Atomismus. Wissen besteht im tionalen Epistemologie, die der Bedeutsam- Naturalismus daher darin, »ein Ding in seine keit alltäglicher Sprachspiele zugrunde liegt. kleinsten Bestandteile zu zerlegen. Das We- Die relationale Verfasstheit dieser Epistemo- sen des Atomismus, ob materiell oder philoso- logie fußt in einer animistischen Ontologie, phisch, liegt darin, daß ein Ding aus der Sum- die die nicht-modernen Formen sozialer Kol- me seiner Teile besteht, nicht mehr und nicht weniger.«38 Wissen entsteht im Naturalismus 34 Baumann/Rehbein: Rethinking the Social; dies.: also aus der Distanzierung. Etwas zu erken- Soziale Ontologie. 35 Jackson: The Performative State; ders.: Semicoloni- 36 Dumont: Individualismus. ality, Translation and Excess; ders.: The Thai Regime of Images; ders.: Thai Semicolonial Hybridities; Streckfuss: 37 Descola: The Two Natures of Lévi-Strauss, 114. polylog 43 The Mixed Colonial Legacy; Thongchai: The Other Within. 38 Berman: Wiederverzauberung der Welt, 32. Seite 109
forum benjamin baumann: nen heißt, es zu zerlegen, zu quantifizieren Moderne wird hier also als eine Reproduk- und dann wieder zusammenzufügen. Wahr- tion ungleicher Machtverhältnisse verstanden, heit wird im Naturalismus mit Nützlichkeit die sich über die Hegemonie einer natura- gleichgesetzt und das eigentliche Erkenntnis- listischen Wissensordnung legitimieren, die ziel ist nach Berman nicht das Verstehen, son- auf Cartesianischen Prämissen beruhen und dern Herrschaft.39 deren proklamierte Universalität in moder- Eine der wichtigsten logischen Prämissen nen Gesellschaftsformen institutionalisiert dieser rationalistischen Epistemologie ist der ist.43 Obwohl die Hegemonie des cartesia- Moderne wird hier also als aristotelische Satz vom Widerspruch, der be- nischen Dualismus und der ontologische Im- eine Reproduktion ungleicher sagt, dass etwas nicht gleichzeitig es selbst [A] perialismus naturalistischer Epistemologien Machtverhältnisse verstanden, und nicht es selbst [¬A] sein kann ¬[A∧¬A]. insbesondere von dekolonialen Autor*innen die sich über die Hegemonie Gemeinsam mit dem dazugehörigen Satz vom hervorgehoben werden44, gibt es in den Thai einer naturalistischen ausgeschlossenen Dritten, der besagt, dass Studien bisher kaum Versuche, Thailands ge- Wissensordnung legitimieren, jede Aussage entweder wahr oder falsch ist genwärtige sozio-kulturelle Konfiguration auf die auf Cartesianischen und keine dritte Möglichkeit existiert [A∨¬A], Grundlage einer relationalen Epistemologie Prämissen beruhen und deren bildet der Satz vom Widerspruch das logische zu deuten. proklamierte Universalität in Fundament des Naturalismus und damit un- Nicht-cartesianische Perspektiven werden modernen Gesellschaftsformen seres wissenschaftlichen Alltagsverstandes.40 in den Geistes- und Sozialwissenschaften für institutionalisiert ist. Die Einverleibung dieser logischen Prämis- gewöhnlich mit phänomenologischen Ansät- sen im Zuge einer Sozialisation in naturalis- zen und der Semiotik Charles Sanders Peirces tischen Sprachspielen ontologisiert die Bina- assoziiert. Obwohl der Peircesche Anti-Car- rität Cartesianischer Typologien und macht tesianismus einen wichtigen Hintergrund des sie zu grundlegenden Aspekten des modernen interpretativen Paradigmas in der Sozial- und Selbstverständnisses.41 Die Nichthinterfrag- Kulturanthropologie darstellt, wird die Hege- barkeit des cartesianischen Dualismus, die monie des Naturalismus derzeit insbesondere daraus erwächst, gilt sowohl für alltägliche in solchen Arbeiten thematisiert, die sich auf als auch wissenschaftliche Sprachspiele in der die ontologische Wende und den damit as- Moderne.42 soziierten Neuen Animismus berufen.45 Ob- wohl dieser rezente Anti-Cartesianismus in 39 Ebd., 46–47; Stengers: The Challenge of Ontologi- 43 Stengers: The Challenge of Ontological Politics. cal Politics. 44 Santos: Epistemologien des Südens; Anzaldúa: Light 40 Münnix: Kategorien und Begriffe; dies.: Kontradik- in the Dark. tion und Komplementarität; Shweder: Anthropology’s Ro- 45 Holbraad/Perdersen: The Ontological Turn; Bau- mantic Rebellion. mann: Das animistische Kollektiv; Bird-David: »Ani- polylog 43 41 Dumont: Individualismus – Zur Ideologie der Moderne. mism« Revisited; Hofner: The South against the Destroy- Seite 110 42 Grathoff: Grenze und Übergang. ing Machine.
forum Same same but different den Thai Studien noch kaum wahrgenommen vom Cartesianismus durchdrungen ist, zeigt wird, denke ich, dass es an der Zeit ist, die sich aber nicht nur in der Trennung von Din- heuristische Relevanz dieses kritischen Ansat- gen, Menschen und zugeschriebenen Seelen, zes für die Thai Studien und darüber hinaus sondern insbesondere in der Idee einer Natur auszuloten. »da draußen«, die unabhängig vom Menschen existiert und der der Mensch eine analoge In- nerlichkeit zuschreibt.49 Neuer Animismus und Im Rahmen der ontologischen Wende stellt ontologische Wende der Animismus jedoch keine Religion oder Bei der Verwendung des Be- Bei der Verwendung des Begriffs Animismus eine Vorstufe dazu dar, sondern ist selbst griffs Animismus ist es wichtig, ist es wichtig, zwischen dem evolutionisti- eine Ontologie. In diesem Sinne geht es im zwischen dem evolutionis- schen Animismusverständnis unseres wissen- Animismus also nicht um eine Beseeltheit der tischen Animismusverständnis schaftlichen Alltagsverstandes und dem als Natur oder einen Glauben an übernatürliche unseres wissenschaftlichen Teil der ontologischen Wende entworfenen Wesen. Im Zentrum steht das in-der-Welt- Alltagsverstandes und dem als Neuen Animismus zu unterscheiden.46 Das sein dieser Wesen. Der Neue Animismus Teil der ontologischen Wende herkömmliche Animismusverständnis ist dem transzendiert die binären Gegensätze, die in entworfenen Neuen Animismus modernen Mythos des Fortschritts und sei- naturalistischen Sprachspielen ontologisiert zu unterscheiden. ner Teleologie verpflichtet. Der Begriff wird werden. Es wird argumentiert, dass es sich gewöhnlich dazu verwendet, Theorien über bei animistischen Sprachspielen um relatio- Religion und ihrer Entwicklung zu entwerfen, nale Epistemologien handelt, in denen ontolo- wobei der Animismus zur einfachsten Form gischer Status keine feste Größe ist, sondern des religiösen Denkens erklärt wird. Ein erst aus Interaktionen und Relationen heraus Glaube an die Beseeltheit der Natur wird da- entsteht.50 bei mit einer vormodernen Mentalität gleich- Als Teil der ontologischen Wende geht es gesetzt, die nicht in der Lage sei, zwischen beim Neuen Animismus nicht darum, die Dingen und Menschen oder Traum und Reali- wahre Natur der Welt zu ergründen oder um tät zu unterscheiden.47 In diesem Sinne dient ähnlich metaphysische Projekte. Für Holbraad der Animismus als Kontrastfigur, um das und Pedersen ist die ontologische Wende ein rationale Selbst der Moderne über eine Ab- rein methodologisches Unterfangen, das on- grenzung vom irrationalen Anderen zu ima- tologische Fragen stellt, um epistemologische ginieren.48 Dass diese Idee des Animismus Probleme zu lösen und in ethnografischem Material etwas sichtbar zu machen, das sonst 46 Harvey: Animism. 47 Århem: Southeast Asian Animism; Tylor: Primitive 49 Berman: Wiederverzauberung der Welt, 34. Culture, 377–453. 50 Baumann: Das animistische Kollektiv; Bird-David, polylog 43 48 Franke: Much Trouble, 15. »Animism« Revisited; Sprenger: Graded Personhood. Seite 111
forum benjamin baumann: unsichtbar bleiben würde.51 Alan Klima defi- nanten Produktionsweise und der hierarchi- niert die ontologische Wende daher auch als schen Ausdifferenzierung sozialer Kollektive. einen Versuch, Dinge in den akademischen Während der egalitäre Animismus besonders Diskurs aufzunehmen, die im Naturalismus in Jäger- und Sammlergemeinschaften anzu- als ontologisch unzulässig gelten, um darüber treffen ist, findet sich der hierarchische Ani- starre und klassische ontologische Annahmen mismus eher in Feldbau betreibenden Kollek- zu hinterfragen und den Wissenschaftsbetrieb tiven mit ausgeprägten Ahnenkulten. zu destabilisieren. Das Ziel der ontologischen Aus dem hierarchischen Animismus Süd- Aus dem hierarchischen Wende ist es, festgefahrene Denkmuster und ostasiens leiten sich soziale Ontologien ab, die Animismus Südostasiens leiten die Hierarchien, die sie reproduzieren, auf- hierarchisch strukturierte Kollektive hervor- sich soziale Ontologien ab, zubrechen und Raum für neue Möglichkeiten bringen, die gleichzeitig von menschlichen die hierarchisch strukturierte des wissenschaftlichen Denkens und Schrei- und nicht-menschlichen Wesenheiten gebildet Kollektive hervorbringen, die bens zu schaffen.52 werden. In Anlehnung an Rudolf Ottos Phä- gleichzeitig von menschlichen Die ontologische Wende ist stark von De- nomenologie des Mystischen, bezeichne ich und nicht-menschlichen Wesen- scolas Modell ontologischer Multiplizität be- diese Nicht-Menschen als numinöse Wesen.56 heiten gebildet werden. einflusst, in dem vier Ontologien unterschie- Menschen und numinöse Wesen sind im hi- den werden.53 Descola stellt in diesem Modell erarchischen Animismus über Beziehungen den Animismus der naturalistischen Ontolo- miteinander verbunden, die auf dem Prinzip gie der Moderne diametral gegenüber.54 In der Gegenseitigkeit beruhen.57 Aus dem Prin- Bezug auf Thailand ist dabei zu berücksich- zip der Gegenseitigkeit folgt, dass Menschen tigen, dass der lokale Animismus eher eine und Nicht-Menschen, obwohl diese analyti- Mischform zweier Ontologien ist, die Descola sche Trennung in animistischen Sprachspielen als Animismus und Analogismus voneinander eigentlich keinen Sinn ergibt, ontologisch an- unterscheidet. Kaj Århem bezeichnet diese einander partizipieren. So entstehen animisti- Mischform als hierarchischen oder transzen- sche Kollektive unterschiedlicher Reichweite denten Animismus und unterscheidet ihn vom und Inklusivität, die auch die prinzipiellen egalitären amerindischen Perspektivismus.55 Einheiten des sozialen Lebens im ländlichen Obwohl es sich in beiden Fällen um animis- Buriram darstellen.58 tische Ontologien handelt, unterscheiden sich Trotz dieser Identifikation einer im lokalen beide Konfigurationen besonders in der domi- Animismus fußenden sozialen Ontologie des Alltags behaupte ich nicht, dass der Naturalis- 51 Holbraad/Pedersen: The Ontological Turn, 4–5. 52 Klima: Ethnography #9, 19–22. 56 Otto: Das Heilige. 53 Skafish: The Descola Variations. 57 Sahlins: What Kinship Is – and Is Not. polylog 43 54 Descola: Jenseits von Natur, 301. 58 Baumann: Das animistische Kollektiv; ders.: Ghosts Seite 112 55 Århem: Southeast-Asian Animism. of Belonging; ders.: Reconceptualizing the Cosmic Polity.
forum Same same but different mus und die sich daraus ableitenden Sprach- Ort variiert, sondern auch dessen Sinn. Diese spiele im gegenwärtigen Thailand unbekannt Kontextabhängigkeit des sozialen Sinns ist für oder in ländlichen Kontexten nicht bedeut- Menschen, die in naturalistischen Sprachspie- sam wären. Wie im Verweis auf die alltägliche len sozialisiert wurden, nur schwer fassbar, da Bedeutsamkeit moderner Kollektivvorstel- der Glaube an eine kontexttranszendierende lungen schon angedeutet, basiert das zentrale Wahrheit nicht nur einen kulturellen Wert Argument dieses Artikels auf der Feststellung darstellt, sondern auch den Kern des eigenen einer epistemologischen Multiplizität, die die Selbstverständnisses. Dies ist vermutlich mit thailändische Gegenwartsgesellschaft aus- ein Grund, warum so viele westliche Beob- Der oben skizzierte Wert der zeichnet. Epistemologische Multiplizität be- achter*innen für den Wert der kontextuel- kontextuellen Angemessenheit schreibt ein einverleibtes Nebeneinander mul- len Angemessenheit und die epistemologi- bestimmt also nicht nur, wie tipler Sprachspiele, was auch die gleichzeitige sche Multiplizität thailändischer Sprachspiele man sich zu verhalten hat, Einverleibung der diese Sprachspiele fundie- »blind« bleiben. Sie partizipieren nicht lange sondern auch die Angemes- renden Ontologien bedeutet. Obwohl dieses genug am Alltagsleben, um einen verkör- senheit epistemischer und Nebeneinander gegenwärtige Thai Habitus perten Sinn von kala thesa zu entwickeln und ontologischer Prämissen. Es ist auszeichnet, entscheidet dennoch hauptsäch- identifizieren daher Paradoxien, wo viele also nicht nur das Verhalten, lich das soziale Milieu der Primärsozialisation Thais sinnhafte Praxis sehen. das in Abhängigkeit von Zeit über die einverleibte Konfiguration epistemi- »Children are taught from birth to recog- und Ort variiert, sondern auch scher Prämissen und die Ausdifferenzierung nize kala thesa, lest they phit kala thesa (make dessen Sinn. alltäglicher Typologien und Relevanzstruk- an error in kala thesa). But in my experience turen.59 Das sinnhafte Nebeneinander mo- the concept is rarely talked about or written derner und nicht-moderner Epistemologien about, except to correct children. It is so in gegenwärtigen Thai Habitus und die da- deeply taken for granted among Thais that I hinterliegende ontologische Multiplizität sind knew the concept years before I learned the entscheidend, um die scheinbar paradoxen word.« 60 Phänomene zu verstehen, die von westlichen Beobachter*innen in Thailand so häufig doku- mentiert werden. Der paradoxografische Trend in Der oben skizzierte Wert der kontextuel- den gegenwärtigen Thai Studien len Angemessenheit bestimmt also nicht nur, Bernhard Waldenfels hat festgestellt, dass wie man sich zu verhalten hat, sondern auch »Paradoxien heute eine besondere Konjunktur die Angemessenheit epistemischer und onto- haben. Paradoxien sind, wörtlich genommen, logischer Prämissen. Es ist also nicht nur das Ansichten, die gegen die landläufige Ansicht ... Verhalten, das in Abhängigkeit von Zeit und verstoßen. Wie alle »›Para‹-Fälle (vgl. Parasit, polylog 43 59 Baumann/Rehbein: Rethinking the Social, 167. 60 Van Esterik: Materializing Thailand, 38. Seite 113
forum benjamin baumann: Parästhesie, Paralogie oder Parapsychologie) • The Evolution of Educational Reform in Thai- setzen Paradoxien eine Normalität der Dinge land: The Thai Educational Paradox66 voraus.« 61 Auch wenn Waldenfels’ Beobach- • Paradoxes of Order in Thai Community Politics67 tung sicher für das gesamte Feld der Geistes- • Limits to Neoliberal Authoritarianism in the und Sozialwissenschaften zutrifft, scheint sie Politics of Land Capitalization in Thailand: Be- besonders angebracht, um das gegenwärtige yond the Paradox68 Feld der englischsprachigen Thai Studien zu • Ascendant Doctrine and Resurgent Magic in Ca- beschreiben. Peter Jackson hat zutreffend pitalist Southeast Asia: Paradox and Polarisation Ich verstehe unter bemerkt, dass Thailand in Texten von west- as 21st Century Cultural Logic69 Paradoxografie eine Form des lichen Beobachter*innen häufig als Ort des • The Paradox of Thailand’s 1997 People’s Consti- Schreibens, die einem orienta- »Exzesses«, »Paradoxen« und »Widersprüch- tution«: Be Careful What You Wish For 70 listischen Hang zur Dokumenta- lichen« dargestellt wird.62 Bei einer genaue- • Sacred Tourism and the State: Paradoxes of Cross- tion von Kuriositäten folgt. ren Betrachtung des gegenwärtigen Diskurses Border Religious Patronage in Southern Thai- in den Thai Studien kann man tatsächlich den land71 Eindruck bekommen, dass sich hier ein para- • Khon Rai Sanchat: Resident Aliens and the Para- doxografischer Trend abzeichnet, wobei ich dox of National Integration in Thailand72 unter Paradoxografie eine Form des Schrei- • Kings in the Age of Nations: The Paradox of Lèse- bens verstehe, die einem orientalistischen Majesté as Political Crime in Thailand73 Hang zur Dokumentation von Kuriositäten • The Thai Political Paradox 74 folgt.63 • Democratic Paradox: What Has Gone Wrong in »With the development of the paradoxogra- Thailand?75 phical tradition associated in its origin with the poet Callimachus (fl. 270 B. C.), … [t]he tuelle Funktion des Paradox in den einzelnen Quellen eingehen. Zentral ist, dass sich alle Autor*innen dazu encyclopedic tradition became inextricably entschieden haben, das Paradoxe im Titel zu betonen. wedded to the quest for the exotic, the mar- 66 Fry Hui Bi: The Evolution of Educational Reform. velous, the anomalous, the strange.« 64 67 Herzfeld: Paradoxes of Order. Die folgende Liste enthält einige Titel von aktuellen Artikeln und Buchbeiträgen zu 68 Hirsch: Limits to Neoliberal Authoritarianism. Thailand, die alle den Begriff des Paradoxes 69 Jackson: Ascendant Doctrine. im Titel führen.65 70 Martinez Kuhonta: The Paradox of Thailand’s 1997 People’s Constitution«. 61 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie, 24. 71 Maud: Sacred Tourism and the State. 62 Jackson: Semicoloniality, Translation and Excess, 30. 72 Mukdawan/Prasit/Panadda: Khon Rai Sanchat. 63 White: Myths of the Dog-Man, 16. 73 Streckfuss: Kings in the Age of Nations. polylog 43 64 Smith: Map Is Not a Territory, 251. 74 von Feigenblatt: The Thai Political Paradox. Seite 114 65 Ich werde im Folgenden nicht genauer auf die tex- 75 Wei: Democratic Paradox.
forum Same same but different Die Aktualität dieser meist politikwissen- muss, um dann die ideologische Funktion des schaftlichen Beiträge zeigt, dass der parado- paradoxografischen Trends in den Thai Studi- xografische Trend in den gegenwärtigen Thai en aufdecken zu können. Studien Schwung aufzunehmen scheint. Der Die ideologische Nähe, die zwischen einer Versuch, sich Thailand analytisch über das Identifikation von Paradoxien und einem ba- Paradoxe zu nähern, hat jedoch eine längere nalen Exotismus besteht, wurde kürzlich vom Tradition. So wurde eine paradoxografische Ethnologen Bruce Kapferer nachgezeichnet. Tendenz bereits in den 1990er Jahren von Erik Kapferers Definition des Exotischen als »the Cohen bemerkt. Als Grund für die Häufigkeit appearance of a previously unknown pheno- Das im Naturalismus wurzelnde des Paradoxen in Texten zu Thailand identifi- menon of existence or else a perturbation in humanistische Ideal eines ziert Cohen zwei fundamentale Dichotomien, the behavior, creation, or formation of pheno- universellen Menschenver- die im thailändischen Alltagsleben offensicht- mena that deviates from expectations or pre- standes ist in der deutschen lich seien. Erstens, eine Gleichzeitigkeit von dictions based on current knowledge, opinion, Übersetzung als »gesunder Lockerheit und Starrheit, die die Sozialstruk- or theory« 77, kann praktisch wortwörtlich Menschenverstand« besonders tur Thailands kennzeichnen würde. Zweitens, übernommen werden, um das alltägliche Ver- normativ und ethnozentristisch. die Langlebigkeit und der gleichzeitige Wan- ständnis eines Paradoxes zusammenzufassen. del sozialer Institutionen, die Thailands Mo- Wie schon aus Waldenfelds’ Eingangszitat dernisierungsprozess prägen würden.76 hervorgeht, ist die Identifikation eines Para- Auch wenn Cohen der Erste war, dem eine doxes immer auch eine Aussage über ein nicht paradoxografische Tendenz in den Thai Stu- hinterfragtes Verständnis des Normalen und dien auffiel, so reflektierte er dennoch nicht daher nur im Rahmen einer Sozialisation in über das implizite Fortschrittsdenken, das spezifischen Wissensordnungen sinnhaft. Das der Sinnhaftigkeit dieser Rhetorik zugrun- Zusammenwirken von Sozialisation und do- de liegt. Cohens Diagnose reproduziert den minanter Ideologie produziert ein spezifisches Fortschrittsdiskurs sogar, in dem die beiden In-der-Welt-Sein, das als lebensweltlicher fundamentalen Dichotomien, die er für die Alltagsverstand bezeichnet werden kann. thailändische Gegenwartsgesellschaft identifi- »If common sense is as much an interpreta- ziert, auf der binären Gegenüberstellung von tion of the immediacies of experience, a gloss Tradition und Moderne basieren. In den fol- on them, as are myth, painting, epistemology, genden Passagen werde ich jedoch nicht disku- or whatever, then it is, like them, historically tieren, ob Cohens Diagnose korrekt ist, son- constructed and, like them, subjected to his- dern argumentieren, dass die zivilisatorische torically defined standards of judgment.« 78 Rhetorik des naturalistischen Alltagsverstan- des zunächst einmal rekonstruiert werden 77 Kapferer: How Anthropologists Think. polylog 43 76 Cohen: Sociocultural Change in Thailand. 78 Geertz: Common Sense as a Cultural System, 76. Seite 115
forum benjamin baumann: In dieser Passage argumentiert Clifford weile auch im ländlichen Buriram die Regel ist, Geertz gegen die Annahme eines »gesunden dass Eltern zuerst eine*n Schulmediziner*in Menschenverstandes«, der von allen Men- aufsuchen und erst wenn diese Behandlung schen auf der Welt geteilt werden würde. Das nicht die gewünschte Wirkung zeigt, zu den im Naturalismus wurzelnde humanistische Mitteln der auf dem Animismus basierenden Ideal eines universellen Menschenverstandes Volksmedizin greifen. Diese Priorisierung der ist in der deutschen Übersetzung als »gesun- Schulmedizin deutet nicht nur die Hegemonie der Menschenverstand« besonders normativ des Naturalismus im ländlichen Alltagsleben ... zeigt auch, dass sich ani- und ethnozentristisch.79 Jede Abweichung an, sondern zeigt auch, dass sich animistische mistische und naturalistische von diesem »gesunden« Menschenverstand und naturalistische Ätiologien nicht zwangs- Ätiologien nicht zwangsläufig wird in deutschen Sprachspielen fast automa- läufig ausschließen müssen. Was als »gesun- ausschließen müssen. tisch pathologisiert. der« Menschenverstand betrachtet wird, ist Die meisten Leser*innen würden sicher immer ein sozio-kulturell kontingentes Phä- darin übereinstimmen, dass es gegen den nomen. Jedoch ist diese kulturelle Kontingenz »gesunden Menschenverstand« verstößt, den selten Gegenstand analytischer Reflexionen, Grund für das plötzlich auftauchende Fieber wenn das Paradox als Trope gebraucht wird, eines Kleinkindes im Ehebruch der Tante des um Aspekte des thailändischen Alltagslebens Kindes zu suchen. Dennoch ist diese Erklärung zu beschreiben. Anstatt zu betonen, dass die sehr bedeutsam in den alltäglichen Sprach- als paradox identifizierten Phänomene Ab- spielen des ländlichen Buriram. Wenn diese weichungen von ihrem nicht hinterfragten Erklärung dem Aberglauben und der unzurei- Alltagsverstand darstellen, behandeln die chenden Schulbildung der ländlichen Bevöl- meisten Autor*innen die von ihnen beschrie- kerung zugeschrieben wird, wie es übrigens benen Paradoxien als objektive Fakten, deren häufig in thailändischen Massenmedien ge- Identifikation auf einer universellen Ordnung schieht, wird vergessen, dass es sich bei einem der Welt beruht, auf die sie als Wissenschaft- Großteil unseres alltäglichen medizinischen ler*innen einen direkteren Zugriff haben als Wissens ebenso um eine kulturelle Konstruk- ihre thailändischen Gesprächspartner*innen. tion handelt, wie es bei der im Animismus Vor diesem Hintergrund argumentiert Kapfe- wurzelnden thailändischen Volksmedizin der rer, dass das Problem nicht so sehr in der Iden- Fall ist. Darüber hinaus gründen auch westli- tifikation von Paradoxien liege, sondern in der che Schulmediziner*innen ihre Diagnosen in ideologischen Funktion, die das Exotische/ so unspezifischen Fällen wie Fieber häufiger Paradoxe in wissenschaftlichen Sprachspielen in ihrer Intuition, als in harten wissenschaft- erfüllt und wo es zu einem Aspekt moderner lichen Fakten. Hinzukommt, dass es mittler- Identitätspolitik wird. In wissenschaftlichen polylog 43 79 Die Normativität des deutschen Konzepts wird Texten markieren Paradoxien pathologische Seite 116 von Schütz und Luckmann übrigens nicht hinterfragt. Abweichungen von einer verbindlichen Norm,
forum Same same but different die das wissenschaftliche Selbst in einer Epi- Ontologie ableitet, trägt also nicht nur zur stemologie zentriert, die wir Wissenschaft anhaltenden Exotisierung unserer thailändi- nennen und die als universell imaginiert wird. schen Gesprächspartner*innen bei, sondern Das Sprachspiel »Wissenschaft« reguliert so- mindert auch die Fähigkeit, die praktische ziale Praxis somit dadurch, dass es das Wahre Bedeutsamkeit sozialer Kollektivität in loka- vom Falschen, das Vernünftige vom Unver- len Sprachspielen zu verstehen. Um die Selb- nünftigen und das Normale vom Anormalen stidentifikation mit sozialen Kategorien in all- trennt.80 Als soziale Wahrheit schafft das täglichen Sprachspielen verstehen zu können, Sprachspiel der Wissenschaft das »Anorma- muss rekonstruiert werden, wie Kollektivität Rein textuell funktioniert das le« als ein Anderes und steuert die Produkti- gelebt und wie Zugehörigkeit praktisch erfah- Paradox also analog zu den on des rationalen Selbst in einem Prozess der ren wird. Kategorien ‘primitiv’, ‘irrational’ Distanzierung von diesem diskursiv erschaf- und ‘wild’, die jedoch aufgrund fenen Antagonisten. Das Paradoxe als Mani- ihres offensichtlichen Orien- festation des Anormalen wird so zu einem Epistemologische Multiplizität talismus im gegenwärtigen konstitutiven Aspekt des rationalen »Selbst« Der einzige Weg, Sprachspiele zu verstehen, Diskurs nicht mehr salonfähig in wissenschaftlichen Sprachspielen.81 deren Logik vom naturalistischen Alltags- sind. Rein textuell funktioniert das Paradox also verstand der Moderne abweicht, ohne sie im analog zu den Kategorien »primitiv«, »irrati- Vertrauten oder Pathologischen aufgehen zu onal« und »wild«, die jedoch aufgrund ihres lassen, liegt für Kapferer darin, epistemo- offensichtlichen Orientalismus im gegen- logische Multiplizität zu denken. Demnach wärtigen Diskurs nicht mehr salonfähig sind. würden auch in einer globalisierten Welt, mit Dem Paradox hingegen begegnet man in wis- zunehmend homogenisierten Lebenswelten, senschaftlichen Texten wie oben gezeigt noch nicht-moderne und moderne Epistemologien sehr häufig. Dabei zieht das Paradox seine an- nebeneinander existieren.82 Kapferers Ver- haltende Legitimität aus dem Glauben an die weis auf die epistemologische Multiplizität Universalität der aristotelischen Logik und der globalisierten Welt öffnet Anknüpfungs- der Hegemonie des Positivismus, die nach wie punkte zu einer aufschlussreichen, aber meist vor das Verständnis von Wissenschaftlichkeit übersehenen Strömung in den Thai Studien. in der westlichen Moderne und Postmoder- Beiträge zu dieser Strömung betonen, auf die ne prägen. Ein wissenschaftliches Beharren eine oder andere Weise, die parallele Existenz auf einer singulären und universellen Epis- und praktische Bedeutsamkeit relationaler temologie, die sich aus einer naturalistischen Epistemologien im gegenwärtigen Thailand. Diese Beiträge bieten einen alternativen Blick 80 Foucault: Die Anormalen. auf Thailands alltägliche Lebenswelten als 81 Bublitz et al.: Diskursanalyse, 12–13; Giesen: Zwi- polylog 43 schenlagen. 82 Kapferer: How Anthropologists Think, 823–25. Seite 117
Sie können auch lesen