Post-Development: Fundamentalkritik der "Entwicklung"
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Geogr. Helv., 67, 133–138, 2012 www.geogr-helv.net/67/133/2012/ doi:10.5194/gh-67-133-2012 © Author(s) 2012. CC Attribution 3.0 License. Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ ” A. Ziai Universität Bonn, Zentrum für Entwicklungsforschung/Center for Development Research, Walter-Flex-Str. 3, 53113 Bonn, Germany Correspondence to: A. Ziai (ziai@uni-bonn.de) Zusammenfassung. The article presents the post-development school in development theory and deals with its basic lines of argument as well as with criticisms raised against the approach. Encountering these criticisms leads to a differentiation between a neo-populist and a sceptical variant of Post-Development. Subsequently the article discusses the theoretical position of the approach. Finally, the “alternatives to development” promoted here are dealt with and the conclusion argues that Post-Development has massive implications also for the North. 1 Einleitung 2 Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ ” Der in den 1980er Jahren vorwiegend im lateinamerika- nischen Raum entstandene und von Ivan Illich inspirier- Das hervorstechende Merkmal von PD-Ansätzen ist ihre te Post-Development Ansatz ist mittlerweile als entwick- grundlegende Ablehnung des Konstrukts der Entwicklung“ lungstheoretische Position anerkannt (Menzel, 2010:152f). ” wie auch der damit verbundenen Praxis. Dies qualifiziert Doch was verbirgt sich überhaupt hinter dem Terminus Post- sie als Fundamentalkritik: PD kritisiert Entwicklungszusam- Development? In diesem Beitrag soll der Post-Development menarbeit (EZ) nicht (wie üblich) aufgrund ihrer mangel- (PD) Ansatz in Grundzügen vorgestellt und als Fundamen- haften Zielerreichung, sondern stellt sie grundlegend in Fra- talkritik der Entwicklung“ charakterisiert werden. Dabei ” ge. Pointiert formuliert soll die EZ nicht verbessert, sondern werden einige grundlegende Argumentationslinien des An- abgeschafft werden. Hierbei erstreckt sich die Kritik jedoch satzes vorgestellt (Abschnitt 2). In diesem Kontext wird keineswegs nur auf die EZ im herkömmlichen Sinne, son- anschließend auf verbreitete Kritikpunkte gegenüber dem dern auf jegliche Versuche der Übertragung des westlichen PD eingegangen, die in eine Differenzierung zwischen neo- Gesellschaftmodells in den Süden. Entwicklung“ wird hier populistischem und skeptischem PD münden (Abschnitt 3). ” als eine Ideologie des Westens verstanden, die eine Fortset- Sodann wird eine theoretische Verortung des PD vorge- zung des Kolonialismus mit anderen Mitteln erlaubte (Rah- nommen, (Abschnitt 4) und schließlich geht es auch um nema, 1997a:379). die Alternativen zur Entwicklung“, die PD propagiert (Ab- ” Eine Ideologie, oder in den Worten Estevas (1991:76) ein schnitt 5). bösartiger Mythos“, sei Entwicklung“, weil das Konzept Als Vorbemerkung sei noch erwähnt, dass die Kürze des ” ” den Menschen im Süden durch ihre Eingliederung in die ka- vorliegenden Textes weder eine umfassende Darstellung der pitalistische Weltwirtschaft und die damit verknüpfte inter- einzelnen Autor innen des PD und ihrer Unterschiede, noch nationale Arbeitsteilung eine Annäherung an den Lebens- eine gründliche Aufarbeitung der wissenschaftlichen Diskus- standard der OECD-Welt versprochen habe. Faktisch ha- sion zu PD erlaubt, und er daher eher als Überblicksdarstel- be diese Eingliederung jedoch nicht zur Verringerung, son- lung gedacht ist (s. auch Ziai, 2004a, 2007). dern zur Vergrößerung der Kluft zwischen entwickelten“ ” und weniger entwickelten“ Ländern geführt (ebd.). Bis ” hierhin erscheint die Kritik starke Ähnlichkeit aufzuwei- sen mit altbekannten Argumentationen aus dem Umfeld von Dependenz- und Weltsystemtheorie, jedoch geht sie noch einen wichtigen Schritt weiter und zweifelt nicht nur an der Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
134 A. Ziai: Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ ” Erreichbarkeit, sondern an der Wünschbarkeit des universel- Die Logik dieser konzeptuellen Operation ist unüberseh- ” len Ziels einer industriellen Massenkonsumgesellschaft, wie bar; nicht die Idee Entwicklung‘ wird aufgegeben, sondern ’ in der folgenden Darstellung zentraler Argumentationslinien ihr Zuständigkeitsbereich erweitert“ (Sachs, 1995:30). Durch im PD noch deutlicher werden wird. die Fülle von unterschiedlichen oder sogar widersprüchli- chen Inhalten, die mit dem Begriff verknüpft worden seien, sei er jedoch zu einem schwammigen, qualligen, amöben- 3 Die Erfindung der Unterentwicklung“ ” ” gleichen Wort“ geworden: Wer es ausspricht, benennt gar ” nichts, doch nimmt für sich alle guten Absichten dieser Welt Entwicklung“ und Unterentwicklung“ werden im PD als ” ” in Anspruch“ (Sachs, ebd.). Konstrukte begriffen, die historisch zu verorten und mit be- Andere PD-Autor innen haben darauf hingewiesen, dass stimmten Interessen verknüpft sind. Obwohl sich die PD- durch diese begriffliche Unschärfe politische Interventio- Autor innen der weit zurückreichenden Begriffsgeschichte nen wie die Unterstützung herrschender Regime entpoliti- bewusst sind, wird der Beginn der Entwicklungsära“ mit ” siert (Ferguson, 1994) bzw. sogar gewaltförmige Maßnah- der Nachkriegszeit Mitte des 20. Jahrhunderts und insbe- men (z.B. die Vertreibung von Menschen im Rahmen von In- sondere mit der Antrittsrede von US-Präsident Truman 1949 frastrukturprojekten) legitimiert worden sind (Nandy, 1995). verknüpft. In dieser kündigte er angesichts des Elends in den unterentwickelten Regionen“ ein Programm der Ent- ” wicklungshilfe an, das Technologietransfer und Investitionen beinhalten sollte. Esteva verweist in diesem Kontext nicht 5 Das Ende der Entwicklungsära nur auf die kaum verhüllte Zielsetzung, dass es dabei v.a. auch um die Bekämpfung des Kommunismus und die Gefahr Nun sei in den 1990er Jahren die Ära der Entwicklung“, des Überlaufens unabhängig werdender Staaten ins soziali- ” die in der Nachkriegszeit begonnen habe, jedoch am Ende stische Lager ging, sondern auch auf die Implikationen dieser angelangt, so die Diagnose des PD. Ihre These stützt sich da- Klassifizierung im Hinblick auf Fragen der Identität und der bei auf folgende Argumente (vgl. Sachs, 1992): Erstens habe möglichen Gesellschaftsentwürfe. Mit der Antrittsrede von die ökologische Problematik mehr als deutlich gemacht, dass Truman, so Esteva (1992:7) wurde die Identität einer Mehr- die als entwickelt“ geltenden Industrieländer aufgrund ihres heit der Weltbevölkerung als unterentwickelt“ und somit als ” ” Ressourcenverbrauchs und ihrer Umweltverschmutzung kei- rückständiges Spiegelbild einer Minderheit definiert. nesfalls als einzuholende Vorbilder gelten könnten – ihr Ge- Bei genauerem Hinsehen sind zwei Kritikpunkte zu unter- sellschaftsmodell sei schlicht nicht universalisierbar. Zwei- scheiden: zum einen der westliche Maßstab, andere Gesell- tens sei mit dem Ende des Ost-West Konflikts die zentrale schaften anhand ihres Bruttosozialprodukts als fortgeschrit- geopolitische Motivation für Entwicklungshilfe und das Ent- ten oder rückständig zu klassifizieren. Dem liege ein ökono- wicklungsversprechen weggefallen. Dazu ist festzuhalten, mistisches Denken zugrunde, das fälschlicherweise von der dass die Official Development Assistance (ODA) nach 1989 Unendlichkeit menschlicher Bedürfnisse und dementspre- tatsächlich deutlich gesunken ist. Seit 2000 ist im Rahmen chend von der Notwendigkeit stetigen Wirtschaftswachs- der Millennium Development Goals (MDGs) jedoch wieder tums ausgehe – und dabei unproduktiven“ Aktivitäten und ” ein moderater Aufschwung festzustellen. Als dritter Grund Fähigkeiten einen Eigenwert abspreche (Esteva, 1992:16– wird angeführt, das Projekt der Entwicklung“ habe sich als 19). Zum anderen aber wendet sich die Kritik generell ge- ” Fehlschlag erwiesen, da es keinesfalls zu einer Entwicklung gen universelle Kriterien, anhand derer ganze Gesellschaften ” der unterentwickelten Regionen“ gekommen sei, die ökono- als defizitär bezeichnet werden. Die Diagnose einer Lebens- mische Kluft zwischen den entsprechenden Ländern sei so- weise als unterentwickelt“ unterwerfe die betroffenen Men- ” gar stetig gewachsen. Dies ist bis auf wenige Ausnahmen schen einem Expertenwissen und nehme ihnen Eigenständig- zwar zutreffend, unterschlägt jedoch, dass es in den meisten keit und Selbstbestimmung (Esteva, 1995:158–160). Ländern in den Entwicklungsdekaden zu einem deutlichen Anstieg der Lebenserwartung und einem Rückgang der Kin- 4 Entwicklung“ als Amöbe dersterblichkeit gekommen ist. Schließlich wird im PD ange- ” merkt, dass dieses Scheitern auch nicht bedauernswert sei, da Selbstverständlich wird auch im PD anerkannt, dass sich der Erfolg dieses Projektes unweigerlich zu einer Verwestli- der Entwicklungsbegriff im Laufe der Geschichte der Ent- chung der Welt und einer globalen Monokultur geführt hätte. wicklungspolitik durchaus gewandelt hat. Bestritten wird Hierzu ist zu sagen, dass sich der globale Kapitalismus ei- allerdings, dass diese Neudefinitionen zu substantiellen nerseits als sehr anpassungsfähig im Hinblick auf kulturelle Veränderungen geführt hätten. Vielmehr seien die Konzep- Besonderheiten erwiesen hat (was der These widerspricht), te ländlicher, grundbedürfnisorientierter, geschlechtersensi- er andererseits natürlich auch Implikationen hat (hinsichtlich bler, nachhaltiger oder partizipativer Entwicklung“ als Re- Naturverhältnis, Warenproduktion und Lohnarbeit), die als ” aktion auf das Scheitern bisheriger Strategien und zur Legiti- kulturspezifisch interpretiert werden können (was ihr doch mation der Fortführung von Entwicklungshilfe entstanden. wieder eine gewisse Plausibilität verleiht). Geogr. Helv., 67, 133–138, 2012 www.geogr-helv.net/67/133/2012/
A. Ziai: Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ 135 ” Des weiteren sei festzustellen, so die PD-Argumentation, dere wie Escobar (1995:170) und Marglin (1990:15) machen dass immer mehr Menschen im Süden nach dem Scheitern durchaus darauf aufmerksam, dass kulturelle Traditionen oft ” der Entwicklung“ Alternativen zu ihr praktizieren würden, verdinglicht und als Unterdrückungsinstrumente eingesetzt oft unter Rückgriff auf nichtwestliche kulturelle Traditionen. werden. Auf diese wird in einem späteren Abschnitt noch einzugehen Schließlich ist dem PD-Paternalismus vorgeworfen wor- sein. den: Den Menschen im Süden werde das Recht abge- sprochen, einen westlichen Lebensstil anzustreben und sich ganz orthodox für Wirtschaftswachstum und Industrialisie- 6 Kritik und zwei Varianten des Post-Development rung (und gegen die PD-Alternativen) zu entscheiden (Eriks- son Baaz, 1999:385; Peet und Hartwick, 1999:159). Auch Der PD-Ansatz ist in der entwicklungstheoretischen Debat- hier muss das Urteil zwiespältig ausfallen: Während Esteva te vehement kritisiert worden. Vier der häufigsten Kritik- und Rahnema tatsächlich eine Rückkehr zum einfachen Le- punkte sollen hier skizziert und anhand von PD-Texten über- ben in der Subsistenzgemeinschaft empfehlen, betonen Ban- prüft werden (für eine ausführlichere Darstellung siehe Ziai, uri (1990:96) und Marglin (1990:27) explizit, dass es ihnen 2004a). nicht zustehe, für Andere gesellschaftliche Zielvorstellungen Der erste Vorwurf lautet, PD romantisiere die als Alterna- zu formulieren. tiven angepriesenen lokalen Gemeinschaften und kulturellen In der Summe sehen wir uns mit zwei Varianten des PD Traditionen (z.B. Corbridge, 1998:145). Diese würden un- konfrontiert: einer neo-populistischen, die das Recht auf kul- ter Ausklammerung der dort bestehenden Machtverhältnisse turelle Differenz und Autonomie gegen den westlichen Uni- als egalitär und harmonisch verklärt. Tatsächlich ist eine sol- versalismus und das Entwicklungsprojekt reklamiert, dabei che Tendenz bei Esteva (1992) und Rahnema (1997b) fest- aber potenziell reaktionäre politische Konsequenzen hat, da stellbar, und Alvares (1992:150) spricht tatsächlich pauschal die weisen‘ PD-Expert innen die wahren Bedürfnisse der ’ von einem Zustand der Friedfertigkeit und Harmonie im Hin- Menschen kennen. Und einer gegenüber kulturellen Tradi- blick auf vorkoloniale Gesellschaften im Süden. Anderer- tionen skeptischen Variante, die das Recht auf kulturelle Dif- seits weist Escobar (1995:188) die Annahme herrschaftsfrei- ferenz und Autonomie gegen den westlichen Universalismus er ursprünglicher Gemeinschaften explizit zurück, und Nan- und das Entwicklungsprojekt, aber auch gegen jede andere dy (1992:63) und Marglin (1990:12) weisen darauf hin, dass Form von Entmündigung und Herrschaft propagiert, somit in zahlreichen kulturellen Traditionen besonders Kinder und also zu einer radikaldemokratischen Politik führt (und die Frauen demütigenden und gewalttätigen Praktiken unterwor- Entscheidung für oder gegen westliche Lebensweisen offen fen werden. Dies kann kaum als Romantisierung gelten. lässt). Weiterhin, so die Kritik, bleibe PD in einem binären Den- ken gefangen und würde Entwicklung“ sowie die gesam- ” te westliche Moderne pauschal verdammen, ohne ihre po- 7 Theoretische Verortung sitiven Aspekte zu berücksichtigen (Corbridge, 1998:144; Kiely, 1999:44f). Dem mag man durchaus zustimmen, Die Kritik führt zu der Frage nach der theoretischen Veror- wenn Rahnema (1997b:111) das Entwicklungsdenken als tung des PD. PD hat Entwicklung“ als einen eurozentri- ” kulturelle Variante von AIDS“ oder Esteva und Pra- schen und herrschaftsförmigen Diskurs verworfen (und so ” kash (1998:2) Modernisierung und die Moderne als Holo- den Weg bereitet für viele ähnlich gelagerte, aber präziser ” caust“ und Gulag“ für Menschen aus nichtwestlichen Kultu- und moderater argumentierende Analysen). Diese Charakte- ” ren bezeichnen. Weniger plausibel wirkt der Vorwurf, wenn risierung legt nahe, PD als postkolonialen Ansatz zu veror- Rist (1997:224), Marglin (1990:26), Nandy (1988:11) und ten. Viele Post-Development-Autoren verfahren diskursana- Escobar (1995:218) betonen, dass es ihnen um Hybridisie- lytisch, um aus postkolonialer Perspektive das Dispositiv der rung und die kreative Aneignung von traditionellen und mo- Entwicklung herauszuarbeiten. dernen Elementen gehe. Tatsächlich sind PD und postkoloniale Studien in den Ein verwandter Vorwurf ist, der statische und relativisti- 1980ern eher unabhängig voneinander entstanden. Während sche Kulturbegriff im PD (siehe dazu auch Hauck, 2007) letztere v.a. anfangs stark von den Literaturwissenschaften legitimiere Unterdrückungsverhältnisse und die Behauptung geprägt waren, war PD zunächst von Ivan Illichs autono- kultureller Differenzen zur Zurückweisung universeller Men- mieorientierter Kritik der industriellen Gesellschaft inspi- schenrechte. In der Tat sehen Esteva und Prakash (1998:118) riert und entsprang einer praktischen Auseinandersetzung das Konzept der Menschenrechte als unvereinbar mit zen- mit der Entwicklungszusammenarbeit (Esteva, 1995). In bei- tralen Ideen ihrer eigenen Kultur (argumentieren dabei aller- den Theoriesträngen finden sich jedoch häufig Bezugnahmen dings, dass in jeder Kultur Normen über menschliches Ver- auf Foucault und bisweilen auf antikoloniale Intellektuelle halten auffindbar seien), und Alvares (1992:159) kontrastiert wie Gandhi und Fanon. Wenn wir mit der weiten Definition oft essentialistisch die schädlichen Einflüsse aus dem We- von Conrad und Randeria (2002:24) übereinstimmen, dass sten mit den positiv konnotierten kulturellen Wurzeln. An- das Anliegen postkolonialer Ansätze . . . in der Thematisie- ” www.geogr-helv.net/67/133/2012/ Geogr. Helv., 67, 133–138, 2012
136 A. Ziai: Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ ” rung des Fortbestehens und Nachwirkens einer Vielzahl von logie kritisiert, deren Wohlstandsversprechen für den größten Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft“ be- Teil der Menschheit unerfüllt bleibt. Die Kritik an der Nich- steht, dann können wir PD durchaus als einen auf Entwick- terfüllung ist jedoch schwer zu vereinbaren mit der ande- ” lung“ fokussierten postkolonialen Ansatz ansehen. rerseits geübten Kritik an den ökonomistischen und euro- Die Fokussierung auf den Diskurs der Entwicklung“ hat zentrischen Wohlstandskriterien. Offensichtlich ist jedoch, ” oftmals zu einer Einordnung des PD als Foucault’sche Dis- dass PD nicht generell sozialen Wandel ablehnt, der zu ei- kursanalyse geführt (z.B. Storey, 2000:40). Damit verbunden ner Verbesserung von Lebensverhältnissen führt (was viele war gelegentlich der Vorwurf einer unzureichenden Berück- heute auch als Entwicklung“ bezeichnen), sondern primär ” sichtigung von materiellen Strukturen und Akteuren (Velt- das v.a. nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Entwick- ” meyer, 2001; Korf, 2004). Allerdings ist in der Debatte her- lungsprojekt“ und den damit verknüpften Diskurs (Matt- ausgearbeitet worden, dass im PD von einer theoretischen hews, 2004:375f). Einen solchen positiven Wandel verbinden und methodischen Orientierung an Foucaults Diskursanalyse sie mit den Alternativen zur Entwicklung“. ” nur sehr bedingt die Rede sein kann und PD besser als Ideo- logiekritik zu beschreiben ist (Nederveen Pieterse, 2000:180; Ziai, 2006 – für eine konsequentere Umsetzung siehe Brigg, 8 Alternativen zur Entwicklung“ ” 2002 oder Ziai, 2004b und 2011a). Die dieser Diagnose (u.a.) zugrundeliegende mangelnde Einer der umstrittensten Punkte im PD sind die hier propa- Reflexivität hinsichtlich der Perspektivität des eigenen Wis- gierten Alternativen zur Entwicklung“. Während die PD- ” sens führt im Extremfall sogar dazu, dass die Strukturen des Autor innen die These vertreten, dass nach dem Ende der ” Entwicklungsdiskurses im PD reproduziert werden: Wenn Entwicklungsära“ sich in sozialen Bewegungen und lokalen wir mit durch die PD-Kritik geschärftem Blick die Struk- Gemeinschaften im Süden Alternativen zum westlichen Ge- turen des Entwicklungsdiskurses betrachten, dann lässt sich sellschaftsmodell herausbilden würden, entgegnen viele ihrer sein zentraler Mechanismus als ein universeller sozialtechno- Kritiker innen, dass es den dortigen Akteuren gerade nicht logischer Blick bezeichnen. Anhand eines universellen Maß- um die Abkehr von, sondern um den Zugang zur westlichen stabs werden bestimmte Gesellschaften als defizitär ( unter- Moderne und ihrer Errungenschaften gehen würde (z.B. Sto- ” entwickelt“) identifiziert, und auf der Grundlage von uni- rey, 2000:42). versellem Expertenwissen werden ihnen bestimmte Inter- Konzeptionell relevant ist in diesem Kontext v.a. die Fra- ventionen zur Behebung dieser Defizite verordnet (Moder- ge nach dem Unterschied zwischen alternativer Entwicklung nisierung, Industrialisierung, Wirtschaftswachstum). Diese und Alternativen zur Entwicklung. An dieser Stelle sei er Kombination von Diagnose und Therapie erinnert an den so definiert, dass es in ersterer um andere Wege zum glei- ärztlichen Blick“ (Foucault, 1988). Genau dieser ärztliche chen Ziel (eine entwickelte“, säkular-aufgeklärte, liberal- ” ” Blick erscheint jedoch auch im neo-populistischen PD selbst kapitalistische, parlamentarisch-demokratische, technologi- am Werk zu sein. Wenn Rahnema (1997b) Entwicklung“ sierte und industrialisierte Gesellschaft nach dem Vorbild ” als sozio-kulturelle Variante von AIDS identifiziert, die das Nordamerikas oder Westeuropas), in letzteren aber um ein Immunsystem vernakulärer Gemeinschaften mit dem Virus anderes Ziel geht. Dieses andere Ziel soll durch Praktiken des Homo Oeconomicus infiziert, dann liegt implizit eben- erreicht werden, die auf die Wiederaneignung der Politik ge- falls ein universeller Maßstab und eine diagnostische und genüber dem Staat und den Parteien, die Wiederaneignung therapeutische Expertenkompetenz vor. Nur, dass hier eine der Ökonomie gegenüber dem Weltmarkt und die Wiederan- Umkehrung der konkreten Werte und Urteile vorgenommen eignung des Wissens gegenüber der Wissenschaft abzielen. wird: Die Industriegesellschaften erscheinen als krank, tra- Als Beispiele für solche Alternativen verweisen die PD- ditionelle Subsistenzgemeinschaften jedoch als universelles Autor innen auf die Prozesse der Selbstorganisation schwar- Vorbild. zer Gemeinschaften in Kolumbien (Escobar, 2008) oder dörf- Dabei ist die Empörung über solche abwertenden Zu- licher Gemeinschaften auf den Philippinen (Gibson-Graham, schreibungen und die Ablehnung darauf aufbauender sozi- 2005) oder von Stadtteilen in Mexico-City (Esteva, 1995) (zu altechnologischer Interventionen im Namen der ”Entwick- weiteren Beispielen siehe Latouche, 1993; Rahnema, 1997a; lung” ein zentrales Merkmal des PD. Nederveen Pieter- Esteva und Prakash, 1998; Curry, 2003). Das am häufigsten se (2000:182) bezeichnet dies als anti-managerialism“ und genannte Beispiel sind jedoch die zapatistischen indigenen ” verortet den Ansatz folgerichtig als anti-autoritär und anar- Gemeinden in Chiapas (Mexiko), die sich seit 1994 im Auf- chistisch geprägt. Das erwähnte Beispiel von Rahnema of- stand gegen die Regierung befinden. fenbart jedoch die Widersprüche des neo-populistischen PD, Diese Gemeinden haben in Abgrenzung zum mexikani- die ja auch in einer größeren Tradition der Linken zu finden schen Staat tatsächlich in vielen Bereichen autonome Struk- sind: die einer Herrschaftskritik, die selbst herrschaftsförmi- turen aufgebaut: Schulen, in denen der Unterricht in indige- ge Züge trägt. ner Sprache stattfindet und eine lebensnahe, weniger akade- Die Widersprüchlichkeit der PD-Fundamentalkritik zeigt mische Bildung vermittelt wird. Kooperativen, in denen kol- sich auch daran, dass sie einerseits Entwicklung“ als Ideo- lektiv für den Eigenbedarf produziert wird, z.T. auf Land, ” Geogr. Helv., 67, 133–138, 2012 www.geogr-helv.net/67/133/2012/
A. Ziai: Post-Development: Fundamentalkritik der Entwicklung“ 137 ” das zuvor besetzt wurde, und eine eigene Gesundheitsver- ge von Expertenwissen vermeintlich demokratische Regie- sorgung, die primär mit Gesundheitspromotor innen arbei- rungen Infrastrukturprojekte gegen den ausdrücklichen Wil- tet und auf indigener Heilkunde und einem ganzheitlichen len der betroffenen Bevölkerung durchgesetzt werden, dann Verständnis beruht. Sogenannte Räte der guten Regierung“ werden gewisse Parallelen deutlich zwischen z.B. dem Belo- ” mit basisdemokratischen Entscheidungsprozessen, bei denen Monte-Staudammprojekt in Brasilien und Stuttgart 21 – nur politische Ämter an ein imperatives Mandat gebunden und dass hierzulande nicht im Namen der nationalen Entwick- ” unentgeltlich sind und zudem rotieren, und erfolgreicher Wi- lung“ argumentiert wird, sondern im Namen des Wirtschafts- derstand gegen Großgrundbesitzer und transnationale Kon- standorts. zerne – und all dies unter den Bedingungen von Repression und Kooptationsversuchen durch die Regierung. Diese Autonomie ist keineswegs frei von Ambivalenzen: Literatur Bei schweren Fällen wird doch auf die staatlichen Kran- kenhäuser zurückgegriffen, wirtschaftliche Unterstützung Alvares, C.: Science, Development and Violence. The Revolt von außen z.B. durch international vertriebenen Kaffee spielt against Modernity, Oxford University Press, Delhi, 1992. durchaus eine Rolle, die Frauenbewegung kämpft immer Banuri, T.: Modernization and its Discontents: A Critical Perspec- tive on the Theories of Development, in: Dominating Knowled- noch gegen patriarchale Strukturen, und die Migration in die ge: Development, Culture and Resistance, Herausgeber: Apffel- USA scheint für manche Jugendliche erstrebenswerter als Marglin, F. und Marglin, S., Oxford, 73–101, 1990. das Leben in den autonomen zapatistischen Gemeinden (Mo- Brigg, M.: Post-development, Foucault, and the Colonisation Meta- ser, 2009; Kerkeling, 2006; Munoz Ramı́rez, 2003). Dennoch phor, Third World Q., 23, 421–436, 2002. liefern die – hier aus Platzgründen nur angedeuteten Beispie- Conrad, S. und Randeria, S. (Herausgeber): Jenseits des Eurozen- le – hinreichend Belege dafür, dass die Post-Development- trismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kul- Alternativen keineswegs unrealistisch und zum Scheitern turwissenschaften, Campus, Frankfurt a.M., 2002. verurteilt sein müssen, dass andere Welten durchaus möglich Corbridge, S.: “Beneath the Pavement only Soil”: The Poverty of sind. An PD anknüpfend ließe sich im Hinblick auf entspre- Post-Development, J. Dev. Stud., 34, 138–148, 1998. chende Probleme bzw. Ziele hier der Vorschlag formulieren, Curry, G.: Moving Beyond Postdevelopment: Facilitating Indige- anstelle von Entwicklung“ z.B. von globalen Ungleichheits- nous Alternatives for “Development”, Econ. Geogr., 79, 405– ” 423, 2003. verhältnissen bzw. Gerechtigkeit oder einem guten Leben“ ” Eriksson Baaz, M.: Culture and the Eurocentrism of Development: zu sprechen (Hacker, 2011; Fatheuer, 2011; Ziai, 2011b). The Noble Third World versus the Ignoble West and Beyond, J. Int. Rel. Dev., 2, 380–390, 1999. Escobar, A.: Encountering Development. The Making and Unma- 9 Ausblick king of the Third World, Princeton University Press, Princeton, 1995. PD lässt sich, so das Fazit der obigen Ausführungen, als wi- Escobar, A.: Territories of Difference: Place, Movements, Life, Re- dersprüchliche anti-autoritäre und anti-eurozentrische, post- des, Duke University Press, Durham and London, 2008. koloniale Kritik am Entwicklungsdiskurs und damit ver- Esteva, G.: Preventing Green Redevelopment, Development – Jour- knüpften Praktiken und Machtverhältnissen begreifen. Die nal of SID, 1991, 74–78, 1991. skeptische Variante bietet darüber hinaus wichtige Anregun- Esteva, G.: Development, in: The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power, Herausgeber: Sachs, W., London, 6–25, gen für radikaldemokratische Alternativen jenseits des Be- 1992. stehenden. Esteva, G.: FIESTA – jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik, Konsequent zu Ende gedacht, beziehen sich diese Anre- Brandes & Apsel, Frankfurt a.M., 1995. gungen nicht nur auf den Süden: Die PD-Kritik bezieht sich Esteva, G. und Prakash, M. S.: Grassroots Post-Modernism. Rema- nicht nur auf die EZ, sondern stellt implizit oder explizit auch king the Soil of Cultures, Zed Books, London, 1998. Kapitalismus, Staat und Wissenschaft in Frage, zumindest Fatheuer, T.: Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas in ihrer vorherrschenden Ausprägung. Wie sähe eine Welt- neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur, wirtschaft aus, in der zunächst für die lokalen Bedürfnis- Heinrich-Böll-Stiftung, Schriften zur Ökologie Bd. 17, available se produziert wird? Eine Technologie, die wirklich für Alle at: http://www.boell.de/downloads/Endf Buen Vivir.pdf, 2011. zugänglich und nicht auf die Ausbeutung von Mensch und Ferguson, J.: The Anti-Politics Machine. “Development”, Depoliti- Natur angewiesen ist? Eine Politik, in der die Souveränität cization and Bureaucratic Power in Lesotho, University of Min- nesota Press, Minneapolis, 1994. der Beherrschten in höherem Maße verwirklicht ist als in Foucault, M.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztli- derzeit existierenden politischen Systemen? PD bietet hier chen Blicks, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1988. keine gänzlich überzeugenden, fertigen Lösungen, aber wirft Gibson-Graham, J. K.: Surplus possibilities. Post-development and (erneut) Fragen auf, die auch für Gesellschaften im Norden community economies, Singapore J. Trop. Geo., 26, 4–26, 2005. zentral sind (vgl. auch Habermann und Ziai, 2007). Und be- Habermann, F. und Ziai, A.: Development, internationalism and stimmte im PD kritisierte Muster sind uns aus einer ande- social movements. A view from the North, in: Exploring Post- ren Perspektive durchaus vertraut: Wenn auf der Grundla- Development. Theory and Practice, Problems and Perspectives, www.geogr-helv.net/67/133/2012/ Geogr. Helv., 67, 133–138, 2012
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