Prognose - Württembergischer Kunstverein

Die Seite wird erstellt Hella Jost
 
WEITER LESEN
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Prognose
Plakatausstellung der Künstler:innenmitglieder
des Württembergischen Kunstvereins
14. August – 19. September 2021

Werktexte (redaktionell überarbeitet)
Reihenfolge alphabetisch nach Vornamen

Abdoul-Ganiou Demani
Covidentity, 2021

Mit seiner Arbeit verweist Abdoul-Ganiou Demani auf Fragen der menschlichen Identität in den
schwierigen Zeiten der Coronavirus-Pandemie. Der Titel Covidentity setzt sich zusammen aus
den Wörtern "Covid" und "Identity" (Identität).

Andrea Zug
Gentri-Fickt Euch!, 2021

                                                                                               1
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Im Oktober 2020 wurde mit der Liebig 34 eines der letzten besetzten Häuser in Berlin geräumt.
Im Juni 2021 folgte eine gewaltsame Auseinandersetzung in bisher nie da gewesenem Ausmaß
zwischen Polizei und Hausbesetzer:innen der Rigaerstraße 94. Autonome Antifaschist:innen
errichteten an Barrikaden an beiden Straßenkreuzungen zu ihrem Haus. Dafür entwendeten sie
große Mülltonnen der umliegenden Häuser sowie Sperrmüll und setzten die so errichteten
Haufen in Brand. Zudem bewarfen sie Polizei und Feuerwehr von der Straße und von den
Hausdächern herab mit Pflastersteinen und Brandsätzen.
In Berlin werden gegenwärtig verstärkt linke, alternativ organisierte Wohnprojekte geräumt.
Beschleunigt durch überteuerte und weiter steigende Mieten wird damit die Gentrifizierung der
Stadt vorangetrieben. Trotz allen Widerstands zeugt dieser Prozess vom Ende einer Ära, in der
viele junge Künstler:innen nach Berlin zogen, um sich in den unkommerziellen Freiräumen mit
kreativen Experimenten selbst zu verwirklichen. Mit den alternativen Projekten werden die
Künstler:innen aus dem Stadtbild verschwinden und somit auch der kreative Flair, der jedes Jahr
Tourist:innenschwärme in die Stadt zieht. An der Straßenkreuzung Rigaer Straße und
Liebigstraße sind die Spuren des Protests zu sehen. Im Vordergrund Andrea Zugs Plakat.

Andreas Mayer-Brennenstuhl
SYSTEM ERROR RESET, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Angela Murr
Ja, ich BIN die Kunstlehrerin!, 2021

                                                                                              2
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Die Serie Ja, ich BIN die Kunstlehrerin! steht für die künstlerische Wiederaneignung des Bildes
der eigenen Person als Reaktion auf dessen mediale Diskreditierung. Die Künstlerin Angela
Murr verdient ihren Lebensunterhalt als Kunstlehrerin an einer Schule. 2020 wurde sie
zusammen mit anderen Akteur:innen in einem Boulevardmagazin als Täterin vermeintlicher
schulischer Unterdrückung dargestellt. Ein Rechtsverfahren ist noch anhängig.
In Folge der Darstellungen in dem Boulevardblatt wurde die Künstlerin verstärkt privat
angesprochen und beantwortete Fragen immer häufiger mit der Bestätigung: "Ja, ich bin DIE
Kunstlehrerin." Neben dem juristischen Weg bedarf es daher weiterer Strategien, um gegenüber
den zwielichtigen Boulevardmedien eigene Gegenöffentlichkeiten herzustellen. Mit den Mitteln
der Kunst eignet sich Angela Murr ihre Persönlichkeit als unbescholtene Vertreterin eines
wichtigen Berufsstandes wieder an und setzt damit ein Zeichen der souveränen und freien
Person. Dabei greift sie auf etablierte Protestmedien wie das Statement-T-Shirt zurück sowie
auf gängige typografische Stilmittel aus Boulevardpresse und Social Media zurück.

Anita Stöhr Weber
glänzende Aussichten, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

„Glänzende Aussichten“ sind Versprechen auf eine bessere Zukunft, gerade in Zeiten von
Finanzkrisen und Einschränkungen persönlicher, wirtschaftlicher, künstlerischer und kultureller
Möglichkeiten. Doch diese Aussicht beinhaltet auch ein Element des Trügerischen und der
Unsicherheit, dass der Glanz auch nur Schein sein könnte, der Tanz um das goldene Kalb
vielleicht bloßer Selbstbetrug ist. Der Schriftzug scheint in Neonleuchtschrift, die zu Beginn des
20. Jahrhunderts für Fortschritt und Erfolg stand, seit den 1940-er Jahren jedoch wirtschaftlichen
Niedergang symbolisiert. Heute wird Neonschrift nicht mehr für Reklame, sondern nur noch für
die Kunst produziert. Sie ist daher auch als Verweis auf die Situation der Kunst und Kultur sowie
auf die prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen von Künstler:innen zu verstehen.
Das Plakat zeigt Anita Stöhr Webers Arbeit o.T., 2013, in der Galerie Michael Sturm, Stuttgart.
Diese ist Teil der Werkreihe in Sicherheit, die Sicherheit, Zukunftszweifel und falsche
Hoffnungen thematisiert, Faktoren also, die die Wahrnehmung des Einzelnen und der
Gesellschaft in Zeiten des Umbruchs bestimmen.

                                                                                                 3
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Anna Huxel
Die Rettung, 2021 (2019)

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Eingeengt im Bildgeschehen sitzt eine voluminöse, fleischfarbene Figur. Ihr Blick führt aus dem
Bild heraus. Ein Rettungsring in ihrer Mitte gibt Halt und wird darüber hinaus selbst zur Quelle
für neues Wasser. Mit Die Rettung reflektiert Anna Huxel die Arbeitsweisen und -bedingungen
von Künstler:innen in der Pandemie. Der introvertierten Arbeit, aus der heraus sich neue
künstlerische Umsetzungen formieren, steht die nach außen gerichtete, interaktive Arbeit
gegenüber. Fällt letztere weg, wie durch die pandemiebedingte Isolation, kann dies Quelle für
neue, konstruktive Ideen werden. Abgeschnitten von ihrem Umfeld und eingesperrt im eigenen
Raum, lernt die menschliche Seele Formen der Inspiration kennen, welche sich aus ihrem
Inneren speisen und unabhängig von der Außenwelt an Dynamik zunehmen.

Annagreta König Dansokho
no way back, 2021

Das Schwarze Model im Bild trägt ein Kostüm, das von der Künstlerin aus "angeschwemmten"
Verpackungsmaterialien, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, angefertigt wurde. Die
Arbeit mit dem Titel no way back rekurriert damit auf die Prognose, dass die Migration von
Menschen aus ressourcenärmeren in wohlhabendere Zonen der Erde in Zukunft verstärkt
zunehmen wird sowie darauf, dass es für eine geflüchtete Person nur die Flucht nach vorne gibt,

                                                                                                   4
Prognose - Württembergischer Kunstverein
wenn Heimat, Familie und Identität bereits verloren sind. Der Schwarze Sänger Aloe Blacc
verdeutlicht die ungleiche Verteilung von Ressourcen: "If I share with you my Story, would you
share your Dollar with me?" Dabei ist beides relevant: Die Geschichte und das Geld.

Antje Fischer
Jetzt ist es Zeit, 2021

Arno van Wunder
HOPE, 2021

Hoffnung ist, was uns alle miteinander verbindet und auch durch schwere Zeiten trägt. In Arno
van Wunders Plakat steht die Hoffnung gleich mehrfach im Vordergrund. Die Buchstaben H-O-P-
E bilden sich aus Wörtern, die für vieles stehen, das uns Kraft gibt. Dabei treten Begriffe in den
Hintergrund, die wir mit Negativem verbinden, mit Entbehrungen und Einschränkungen. Die
Betrachter:innen sind eingeladen näher zu treten, um die Einzelheiten zu entziffern, die uns
Hoffnung geben und die in der Pandemie für ersehnte Veränderungen stehen. Dabei wird das
Plakat selbst zur Prognose, dass die Hoffnung bleiben und auch die Pandemie überstehen wird.

                                                                                                 5
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Beate Baumgärtner
vielleicht&wahrscheinlich, 2021 (2020)

Das Plakat vielleicht&wahrscheinlich ist Teil der Werkreihe Chatbook, in der die Künstlerin
Beate Baumgärtner ihren von Internet, sozialen Medien und Chatrooms inspirierten Ideenpool
verarbeitet. Dabei werden die non-physische Kultur, das virtuelle Lebensgefühl und die
subversive Kraft alltäglicher digitaler Kommunikation frei, wild und assoziativ in raumgreifende
Installationen mit Bannern, Plakaten und skulpturalen Objekten übersetzt. In der Hochphase der
Corona-Pandemie entstanden, spiegelt vielleicht&wahrscheinlich zugleich die Resignation ob
der lähmenden Situation und die Hoffnung auf bessere Prognosen.

Boris Kerenski
Klendathu, 2021

In seinem Plakat zeigt Boris Kerenski eine Art Kämpfer, der sich gut geschützt mit merkwürdigen
Gerätschaften einer Bedrohung annimmt. Eine solche Bedrohung erfährt die Menschheit
gegenwärtig ganz real durch die Ausbreitung eines Virus. Dieses wird häufig verbildlicht als zu
bekämpfender, schlauer Gegner dargestellt, der sich verwandeln beziehungsweise mutieren

                                                                                               6
Prognose - Württembergischer Kunstverein
kann, der aber am Ende durch technologische Überlegenheit (Impfung) in Schach gehalten oder
gar vollständig besiegt werden kann. Mit dem Titel Klendathu stellt der Künstler eine Analogie
zum gleichnamigen Planeten in Paul Verhoevens Starship Troopers her. Dieser wird von Bugs
bewohnt, einer Zivilisation von Spinnentieren, welche die Existenz der Menschheit bedrohen.

Charlie Stein
You are the Product, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Durch die Nutzung des Internets und der damit zur Verfügung gestellten Daten genererien
mathematische Modelle ein verzerrtes Bild der Nutzer:innen. Charlie Steins Arbeit liegt die
vielzitierte Medienweisheit „If you‘re not paying for it, you‘re the product being sold“ zu Grunde.
Ein Paar glänzender Schuhe wird auf einem Marmorpodest präsentiert. Aus zahlreichen Augen
erwidern die Schuhe chimärenhaft den Blick der Betrachtenden. You are the Product verhandelt
das Moment der Überwachung, der Überlegenheit des Produkts gegenüber der Nutzer:innen
und erinnert daran, wer tatsächlich zur „commodity“, also zur Ressource in der gegenwärtigen
kapitalistischen Gesellschaft wird.

Christoph Bodmer
Embajadores, 2021

                                                                                                  7
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Auf dem Weg zum Museo Reina Sofía in Madrid sah ich an einer Hauswand alte Plakate, die auf
einer Blechklappe mit Lüftungsschlitzen klebten. Das Abnehmen der Plakate erinnert
gleichermaßen an Verfahrensweisen der medizinischen Chirurgie sowie der Archäologie. Die
Passant:innen gingen vorbei, niemand interessierte sich dafür. Höchstens ein erstaunter Blick,
was da geschieht. Als ich die fertige Décollage wenig später auf Instagram postete, war das
Interesse dagegen groß. In diesen neuen Kontext versetzt, erhielt die Arbeit innerhalb von zwei
Tagen 150 Likes.

Christoph Frick
Prognose, 2021

Mit Interesse verfolge ich die Fernseh-Wettervorhersage für den nächsten Tag. Dabei rutscht
regelmäßig meine Aufmerksamkeit weg von der metrologischen Aussage hin zum Verhältnis
von 'Figur und Hintergrund'. Die Gestik, die Auswahl der Kleidung der Sprecherin steht in einem
Spannungsverhältnis zu den gezeigten Schautafeln. Am Ende der Prognose weiß ich wieder mal
nicht, ob morgen die Sonne lacht. Jedoch bin ich um ein Handybild reicher. Scheinbar wirkt die
Kraft der aktuell gezeigten Bildbotschaft bei mir stärker als die zugrunde liegende Prognose.
Und wieder hab ich am nächsten Tag prompt den Schirm vergessen, obwohl es Katzen hagelt.

Claude Horstmann
twenty-four, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

                                                                                              8
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Als Plakat im öffentlichen Raum evoziert twenty-four im Kurzschluss mit den Betrachter:innen
ein zeitliches Moment der Gegenbewegung. Es spricht sie in ihrer je eigenen Singularität an,
zielt dabei aber ebenso auf das Gemeinsame ab. Die Zahlen 1 bis 24 sind gleichermaßen
zeichnerisch wie eingebettet in eine Zweckmäßigkeit und erzeugen so eine Idee (unabhängiger)
Eigen- oder Gegenzeit.

Conny Luley
INZIDENZ vs. KUNST&KULTUR, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Das Plakat nimmt Bezug auf den Inzidenzwert, der in der Pandemie die Vorschriften – häufig
Einschränkungen – für das tägliche Leben bestimmt. Kunst und Kultur werden im Zuge dessen
stark beschränkt und bei der Festlegung von Einschränkungen und Möglichkeiten teilweise
nicht ausreichend differenziert betrachtet (Hygienekonzepte, Flächen, Besucher:innenzahlen,
Testkonzepte usw.). Die Bedeutung von Kunst und Kultur für die Gesellschaft und für die
psychische Gesundheit ihrer Mitglieder wurde anderen Kriterien nachgeordnet. Die
Auswirkungen sind bisher nicht überschaubar und bezifferbar.

Constantin Pack
T-Rex‘s Breakfast Forecast: Overheating of the housing market?, 2021

                                                                                              9
Prognose - Württembergischer Kunstverein
Mit den Mitteln der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie setzt sich Constantin Pack mit dem
knapp werdenden Wohnungsmarkt in Stuttgart auseinander. Eine mögliche Frage des
sozialkritischen Denkens lautet dabei: Macht die Masse an Prognosen blind?

Dörte Behn
Notbehelf/Prognose, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Dörte Behn erkundet den Klappstuhl in seiner Funktion als idealer Notbehelf für
unvorhersehbare Situationen. Dabei stellt sie fest: Das Image des Klappstuhls könnte besser
sein.

Eva Schmeckenbecher
GEMCO, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Auf einen Traum von durch und durch roten Figuren folgt wenige Tage darauf der Fund einer
roten Plastikpuppe. Beide Geschehnisse wurden protokolliert (QR-Code) und die Puppe
eingescannt zur Protagonistin des Plakates gemacht. GEMCO ist eine unfertige Arbeit, eine

                                                                                              10
Skizze. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf das selbst erlebte Phänomen, dass ein Traum etwas
aus der Wirklichkeit vorwegnimmt, nichts weiter.

Frank Aumüller
Pleasureland, 2021 (2010)

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Die Pandemie hat Grenzen des globalen Handelns aufgezeigt. Doch unabhängig von den
pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen verursachen von Menschen willkürlich gesetzte
Beschränkungen wie Grenzen, Zäune und Mauern die Ausgrenzung beziehungsweise
Abschottung bestimmter Personengruppen. Der kunstvolle Schriftzug auf einer abweisenden
Fassade wirkt als verheißungsvolle Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Das fotografierte
Gebäude steht in Johannesburg, Südafrika, wo Kontaktbeschränkungen aus
gesellschaftspolitischen Gründen zum täglichen Leben dazugehören. Was das Pleasureland
tatsächlich ist, konnte der Künstler nicht herausfinden, da ihm als Nicht-Mitglied der Zutritt
verwehrt wurde.

Gabriele Zeller-Kramer
Was bringt die Zukunft?, 2021

Gabriele Zeller-Kramers Plakat beruht auf einem ihrer Gemälde, in dem ein Schaf fragend die
Betrachter:innen anblickt: Was bringt die Zukunft?

                                                                                                 11
Gala Goebel
Künstler_innen, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Zwischen Autokorrektur, Abkürzungen und Tippfehlern entsteht eine neue Sprache. Bedingt
durch tradierte Grammatik, gleichzeitig offen für Experimente und im andauernden kritischen
Diskurs, zeigen sich die Möglichkeiten durch geschriebene und gesprochene Worte, unseren
Blick auf die Welt zu verändern und immer wieder zu hinterfragen. In der Auto-Korrektur steckt
eine Bewertung, die einen Moment zwischen einem Jetzt und einem Morgen, zwischen richtig
und falsch, zwischen Manifestation und Möglichkeit digital festschreibt.

Georg Heller
Produzenten Konsumenten II, 2021

Neue Technologien wie Quantencomputer, Virtual Reality und Kernfusionsenergie als Mittel der
Kunst ermöglichen der Menschheit sich von der momentanen unheilvollen Vernetzung von
Produktion und Konsum zu lösen, die sich am Hedonismus der Gesellschaft orientiert. Als
Abbildung des chaotischen Jetztzustands ist Georg Hellers Plakat Produzenten Konsumenten II
als mahnendes Werk zur Neuausrichtung zu verstehen.

                                                                                                 12
Georg Ozory
change to a new saddle, 2021

Der Fahrradsattel auf Georg Ozorys Plakat ist abgenutzt und hat offensichtlich ausgedient. Dies
veranlasst zum titelgebenden Ruf nach Erneuerung, nach einem Wechsel der Ansichten und
Aussichten, nach einer Korrektur der Handlungen. Was genau damit gemeint ist, das obliegt der
Auffassung der Einzelnen, ganz wie es gerade zur jeweiligen Weltlage und persönlichen
Lebenssituation passt.

Geraldine Frisch
WELTVERMASSUNG, 2021

Eine leerstehende Holzhütte dient als Schutzraum bei Regen oder Unwetter. Doch mit dem
zerrissenen Vorhang im Eingang wird die Hütte auch zum Symbol für die gegenwärtige
Situation, in der sich Maß und Werte der Welt eklatant verschieben. Die Pandemie bringt
unwiederbringliche Veränderungen hervor. Selbst für Errungenschaften der modernen
Werbetechnik scheint das Gehäuse ungeeignet: Plakatieren verboten.

                                                                                             13
Götz Wintterlin
ohne Titel, 2021

Mit seiner Arbeit verweist Götz Wintterlin auf das stets bleibende Restrisiko aller
wissenschaftlichen Analysen und Prognosen, dass es bei Anwendung von variierenden
Kriterien und Denkweisen zu gänzlich anderen Ergebnissen kommen kann.

Hartmut Hörmann
WYSIWYS (WHAT YOU SEE IS WHAT YOU SEE), 2021

Autonome Systeme wie von der Automobilindustrie entwickelt, geben vor mittels komplexer
Algorithmen und Messsysteme mögliche Verkehrshindernisse zuverlässig vorhersagen oder
vorhersehen zu können. In welchem Verhältnis vertraut der Mensch hingegen seiner eigenen
Sehkraft? Sieht er denn, was er sieht? Das abgebildete Pattern, entwickelt vom Max-Planck-
Institut für intelligente Systeme in Tübingen, trickst den Algorithmus aus – die Maschine fährt
gegen den Baum. So steht es sinnbildlich für die Entwicklungen der Technologie sowie für die
Skepsis, die sie hervorrufen, und für die von Menschen veranlassten Gegenmaßnahmen.
Hartmut Hörmann nimmt es zum Anlass mit dem Muster zu spielen, es zu appropriieren und zu
verändern.

                                                                                                  14
Heike Patrizia Doll
ohne Titel, 2021

Heike Patrizia Doll befasst sich mit den Bedeutungen von Liebe und Wissenschaft in der
Zukunft. Beide haben in der Vergangenheit wesentliche Veränderungen erfahren und werden
sich auch in der Zukunft auf unvorhersehbare Weise weiterentwickeln. Der Verlauf der Zukunft
hängt heute stärker denn je von der Wissenschaft ab. Doch sind Wissenschaftler:innen und
Entscheider:innen ihrer Macht und Fähigkeiten würdig? Was die Zukunft bringen wird, ist
unbekannt. Fortschrittliche wissenschaftliche Entwicklungen sind für viele Menschen nicht
nachvollziehbar oder vorstellbar. Die Auseinandersetzung mit Zukunftsvisionen tut jedoch not,
auch wenn es unbequem ist alte Muster loszulassen und sich an der Gestaltung der Zukunft, mit
all ihren ungeahnten positiven und negativen Möglichkeiten zu beteiligen.
Gleichzeitig ist nicht zu vergessen, dass das Leben sich im Moment abspielt und von
Optimismus und Pessimismus, von Liebe und Vertrauen geprägt ist, welche unsere jeweiligen
Zukunftsängste und Zukunftswünsche im persönlichen Leben wesentlich stärker bestimmen als
es Wissenschaft und Technik vermögen.

Hildegard Esslinger
Hurra!, 2021

Hildegard Esslingers Plakat drückt auf euphorisch übertriebene Weise die Erleichterung
darüber aus, dass ein Ende der Pandemie in Sicht scheint – Hurra!

                                                                                           15
Hyang-Hee ANN
Life goes on, 2021

Als Ausdruck der Zuversicht wurden im Laufe des Lockdowns selbstgemalte Bilder von
Regenbögen in die Fenster von Wohnungen gehängt. Sie spendeten Trost in einer Zeit, in der
alles stillstand und nicht klar war, wann es enden würde. Viele Menschen litten seelisch
und/oder körperlich unter der Pandemie. Doch das Träumen von den schönen Momenten, ob
vor oder nach der Pandemie, hilft dabei die schwere Zeit zu überdauern. Regenbogen verbinden
sich in der Arbeit von Hyang-Hee ANN mit einer Strophe aus einem Beatles-Song zu Zeichen
der Hoffnung: "Ob-la di, ob-la da, Life goes on, bra".

Ingrid Pohl
KUNST BRENNT LICHTERLOH, 2021

Das hier adressierte Brennen der Kunst ist in einem doppelten Sinne zu verstehen: Es ist
einerseits Ausdruck des Bedrängnisses, in das die Kunst durch die pandemiebedingten
Einschränkungen gerät sowie einer durch digitale Technologien drohenden Auflösung in NFT-
Formate und dergleichen. Andererseits steht die lodernde Kraft des Feuers für die Fähigkeit der
Kunst, in die dunkelsten Gegenden von Innen- und Außenwelten hineinzuleuchten und allen
Verbrennungen brennend zu widerstehen.

                                                                                              16
Iris Alvarenga
Selbstportrait nach der Katastrophe, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Sich unsichtbar zu machen – eine solche Isolierung würde nicht nur zum Schutz vor Ansteckung
mit gefährlichen Krankheiten dienen, sondern auch der Ausgesetztheit der eigenen
Persönlichkeit entgegenwirken. Durch Rückzug und schützende Kleidungsschichten wird
unkenntlich, wer hier portraitiert wird. Anorak, Mütze und Schal bewahren die eigene Identität
vor den Blicken anderer und vor der Kälte, ob von innen oder außen.

Isa Dahl
grow, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Die Serie grow visualisiert einfache, sich organisiert entwickelnde dynamische Grundformen.
Eine wichtige Rolle spielen dabei Prozesse des Wachsens. Gleichzeitig drängt uns die
Gegenwart zu einem neuen Denken über Wachstum.

                                                                                              17
Joachim Kupke
In Lockdown-Zeiten sich mit der Welt zu Hause gemütlich machen. (Wissenschaftler befürchten
4. Welle der Corona-Epidemie), 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Johannes Zorell
Pandemie, 2021

Bei Pandemie: zuhause kochen, backen, essen.

                                                                                          18
Jörg Buchmann
Die Weizenernte, weltweit, ein ganzes Jahr, tausendfach, 2021

Das exponentielle Wachstum, ein Hauptmerkmal der COVID-19-Pandemie, kommt im
menschlichen Erfahrungsschatz nicht vor und kann somit ohne mathematische Erkenntnis nicht
erfasst werden. Im Zuge der Pandemie hat sich gerade die wissenschaftliche im Vergleich zur
intuitiven Prognose als zutreffender erwiesen. Der Mensch tut sich generell schwer im Umgang
mit extremen Krisensituationen. Er pendelt zwischen dem Leugnen und dem Bedürfnis, einen
Schuldigen zu finden. Die Auswüchse zeigen sich aktuell in sich an der Pandemie
entzündenden Verschwörungserzählungen, Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit.
Hier entfaltet die Intuition gepaart mit Feindbildern eine destruktive pseudoaufklärerische
Wirkung.
In seiner Arbeit greift Jörg Buchmann die verführerische Kraft auf, die in der Fehleinschätzung
exponentiellen Wachstums liegt. Als anschauliches Beispiel gilt eine Legende, nach der der
indische Herrscher Shihram einwilligte, den Erfinder des Schachspiels in Weizenkörnern zu
entlohnen, für das erste Feld des Schachpiels mit einem Weizenkorn und für die restlichen 63
Felder jeweils die doppelte Menge des vorangegangenen Feldes (2, 4, 8, 16, 32, 64, ...). Was
zunächst eine überschaubare Summe zu sein scheint, wächst zu einer unvorstellbar großen
Menge von 18 Trilliarden 446 Billiarden 744 Billionen 73 Milliarden 709 Millionen 551 Tausend
615 Weizenkörnern an. Diese Zahl entspricht der weltweiten Weizenernte von insgesamt etwa
tausend Jahren.

Jorge Garzón Pérez
Alles was fest ist, wird nicht in der Luft schmelzen, 2021

                                                                                             19
Jorge Garzón Pérez interpretiert den berühmten Satz von Karl Marx um, der im Original lautet:
„Alles, was fest ist, schmilzt in der Luft.“ Der Künstler hinterfragt so, wie Marx Prognose vom
Ende des Kapitalismus und die damit verbundene Konstruktion neuer Utopien in der
gegenwärtigen Zeit zur Dystopie wird, in denen jene vorausgesagte, vermeintlich glückliche
Welt sich immer weiter entfernt.

Julia Wirth
Trickster, 2021

Die Figur des Tricksters ist ein archetypischer Narr, der in der Mythologie vieler Kulturen dafür
zuständig ist die kosmologische Ordnung zu stören und damit Raum für Veränderung zu
schaffen. Bei Julia Wirth kommt dem Trickster die symbolträchtige Funktion zu, den Selbstbetrug
des Menschen aufzudecken, indem er kommende Entwicklungen scheinbar vorhersehen und
messen kann. Er erscheint ohne genauere Bestimmung als Tintenklecks auf dem Bild einer
Überwachungskamera. Auch die projektive Methode des Rohrschach-Tests, dem das Bild des
Tintenkleckses entstammt, ist seit knapp 100 Jahren eine streitbare Prognose möglicher
Störungs- und Persönlichkeitsmuster.

Jürgen Kleinmann
WGLF (Wild Game Liberation Front), 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

                                                                                                  20
Jürgen Liefmann
ohne Titel, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Das Plakat von Jürgen Liefmann dokumentiert die Abfolge unterschiedlicher Schutzmaßnahmen
in einem zeitlichen Verlauf. Zwei Personen treffen sich und unterhalten sich angeregt über einen
längeren Zeitraum hinweg. Dabei lassen sie sich weder von den Passant:innen noch vom
Regen stören. Mit dem Aufhören des Regens werden die schützenden Schirme zugeklappt und
es wird ein Mundschutz angelegt, der vor Ansteckung mit dem Corona-Virus schützen soll.
Zeitgleich scheint das Gespräch nun beendet zu sein und die Personen setzen sich in
Bewegung.

Karla Fischer
One Night Stand – More Than Meets the Eye, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Mit der in Plakatform präsentierten Collage erinnert Karla Fischer an New Yorks berühmteste
Sozialarbeiterin, Geschäftsfrau und Reformerin Josephine Shaw Lowell (1843-1905). Sie
engagierte sich zu Lebzeiten für obdachlose, misshandelte Frauen, für die Ausbildung von
Afroamerikanerinnen und war Stifterin der Public Library in New York City. Eine ihrer
einflussreichsten Organisationen war die New Yorker Consumer ́s League (NCL), die sie 1890
gegründet hatte, um die Löhne und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen in New York (später
im ganzen Land) zu verbessern. Josephine Shaw veröffentlichte in einer – zunächst denkbar

                                                                                              21
kurzen – „Weißen Liste“ alle Geschäfte, die ihre Arbeiterinnen fair entlohnten und gut
behandelten.
Das im öffentlichen Raum verortete Gedenken an eine selbstbewusste, entschlossene und
engagierte Frau, die als beispielhafte Vorkämpferin für entrechtete, benachteiligte Frauen zu
sehen ist, verweist zugleich mahnend auf die gegenwärtig fortbestehende und zunehmende
häusliche Gewalt, gesellschaftliche Benachteiligung und wirtschaftliche Ausbeutung, von der
Frauen weltweit betroffen sind.

Katharina Dörr
Ich hab‘s gewußt, 2021

Die Stickschrift als eine sorgfältig kultivierte und über den langen Zeitraum des Stickens
ausgeführte Geste wird hier zur Verbildlichung einer wohl gehüteten und zurückgehaltenen
Prognose, die dem Umfeld erst präsentiert wird, wenn sie sich ihrer Bestätigung durch
eingetretenes Missliches bereits versichern konnte. „Ich hab‘s gewußt“ erscheint als Aussage
eines Menschencharakters, der im Stillen mitdeutet, ahnt, befürchtet und somit erwartet – aber
eben wartet. Er harrt aus und bleibt still, investiert keine Energie in Auseinandersetzung oder
Partizipation, bis er mit diesem Satz wieder Luft holt und sich mitteilt, sich dabei aber
ausgesprochen sorgfältig separiert, alleinstellt und sich selbst genügt.

Katrin Kinsler
Bedingung, 2021

                                                                                                22
Schwarz auf Weiß, das signalisiert: Eines ist sicher, so wird es kommen. Wenn wir uns alle
anstrengen und unser Bestes geben, um die Welt zum Besseren zu ändern, dann wird alles gut –
oder? Eines bedingt das Andere – Aktion und Reaktion.

Kerstin Schaefer
„too much“, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Lene Rose Gruner
KOMM, GANG IMPFA, 2021

In Stuttgarter Dialektform des Schwäbischen fordert das Plakat die Menschen im Ländle dazu
auf, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen. Wie die Wahl der Mundart, so spricht auch
die Form der händischen Zeichnung und Schrift die Betrachter:innen auf direkte und
persönliche Weise an.

                                                                                               23
Madeleine Schwinge
The Psychedelic Chicks, Cyborgs‘n Angels (Imagine, we could be the ones to change it all), 2021

Unter dem Label Seek Tomorrow Productions veröffentlicht Madeleine Schwinge seit 2016
Alben, Konzertplakate und Fanartikel ihrer fiktiven Rockband The Psychedelic Chicks. In
verschiedenen Medien verarbeitet sie Bild- und Textfragmente aus sozialen Medien und
internationalen Print-Magazinen. So werden äußerliche Veränderungen, innere Zerrbilder,
menschliche Ängste und Träume, der Wandel von Werten, Imagination und Spekulation sowie
die Überlagerungen von Zeit und Raum verhandelt.
Das Plakat Cyborgs’n Angels fragt nach modernen Erlösungsmythen und der
Folgenabschätzung technologischen Fortschritts, der auf einem trans- und posthumanistischen
Weltbild beruht. Wie können fluide, nachhaltige und faire Utopien für das 21. Jahrhundert
aussehen? Welche Antworten auf unsere Zukunfts- oder Entscheidungsfragen können wir
erwarten? Handelt es sich hier um die Anrufung eines Orakels?

Martina Kimmerle
Grow, 2021

Mit dem titelgebenden Aufruf „Grow!“ verbindet die Arbeit die persönliche Aufgabe, über eigene
unbewusste Verhaltensmuster hinauszuwachsen, um zu einer möglichst rapiden Evolution der
Menschheit hin zum Wohle aller beizutragen. Die Arbeit beruht auf der Auseinandersetzung der
Künstlerin mit der Integralen Theorie Ken Wilbers. In seinem jüngsten Werk The Religion of

                                                                                             24
Tomorrow (2017) verbindet dieser gegenwärtige Wissenschaften, die Weisheit der
Weltreligionen und die Möglichkeiten menschlichen Seins.

Martina Staudenmayer
warten, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Das Warten, ob an einer öden Straße am Waldrand oder anderswo, steht hier sinnbildlich für
das Ausharren in der Unsicherheit ob das Vorhergesagte auch eintreffen wird.

Martina Vogt
Die Uhr tickt …, 2021

Im Generationenvertrag für das Klima der Bundesregierung heißt es: „Mit der Änderung des
Klimaschutzgesetzes verschärft die Bundesregierung die Klimaschutzvorgaben und verankert
das Ziel der Treibhausneutralität bis 2045.“ Die großen Pläne erweisen sich häufig als bloße
Lippenbekenntnisse. Denn bei allem gibt es Einschränkungen, sobald der eigene Betrieb, die
Familie oder die eigene Person betroffen sind. Vor der Abkehr der ewigen Gewinnmaximierung,
werden die Augen geschlossen. Wenn alle wegschauen, wird die Prognose zur
Terminverschiebung, Jahr um Jahr um Jahr.

                                                                                             25
Michael Jochum
je est un'autre, Fotografie, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Myriam Lutz
M., 2021

Eine private Fotografie schafft es, ein kleines Stück Papier für ihren Besitzer in einen
Gegenstand von besonderem Wert zu verwandeln. Gleichzeitig besitzen private Fotografien
jedoch auch eine allgemeine Wiedererkennbarkeit und Lesbarkeit durch typische Situationen
und Bildkompositionen. Die private, analoge Fotografie als persönlicher und einzigartiger
Speicher von Zeitgeschehen zieht das besondere Interesse der Künstlerin Myriam Lutz auf sich.
Schnappschüsse, Passfotos, Studioaufnahmen und andere Erinnerungsstücke aus
vergangenen Zeiten vermitteln nur Hinweise auf das wirkliche Geschehen vor und hinter der
Kamera. Anhand dessen ergänzen wir es um unsere eigenen Bilder und Geschichten.

                                                                                           26
NERZ-KG (Brigitte Braun und Betina Panek)
DASS NICHT NICHTS IST – Nimm den Teppich und fliege!, 2021

Angesichts der pandemiebedingt eingeschränkten Möglichkeiten des Entwickelns,
Präsentierens und Vermittelns von Kunst, hinterfragt und erprobt NERZ-KG neue Räume des
direkten Erlebens von Kunst und kommunikativer Prozesse. Wie sollen Präsentationen, die
Raum und Zeit benötigen, zukünftig aussehen? Welche Formen braucht es, um unter den
veränderten Gegebenheiten einen Diskurs in Gang zu setzen? Und wie kann künstlerische
Intervention dem Individuum neue Ansätze im Denken und Handeln eröffnen? Das Plakat DASS
NICHT NICHTS IST versammelt einige Werkzeuge (Tools), die der Auseinandersetzung mit
diesen Fragen dienen sollen, an einem „Un-Ort“ unter einer Straßenbrücke. Der QR-Code führt
zu einer Website mit weiteren Informationen. Die Betrachter:innen des Plakats und
Besucher:innen der Website sind dazu eingeladen, sich an der Aktion zu beteiligen. Handlungen
im öffentlichen Raum, gestaltete Orte, Gedankenspielräume, Interventionen, Experimente,
Ideen, Bilder, Installationen und dergleichen mehr können unter Verwendung der
vorgeschlagenen oder selbst hinzugefügter Tools umgesetzt und per E-Mail an NERZ-KG
gesandt werden. Auf der Website erhalten sie ihren eigenen Raum, ihre Plattform, ihr Forum.

Patricia Otte
gnosis*proLIBERTAS, 2021

                                                                                           27
In der Corona-Krise prognostizierten Wissenschaftler:innen einen signifikaten Anstieg der mit
dem Covid-Virus infizierten Menschen, wenn die Bevölkerung ihr Verhalten nicht ändert. Durch
die erhöhte Sterbezahl durch Covid und den notwendigen Schutz insbesondere alter und
kranker Menschen rückt Absatz 1 des Grundgesetzes in den Fokus gesellschaftspolitischer
Verhandlungen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Um die Ausbreitung des Virus
einzudämmen, ordnen Politiker:innen Abstandsregelungen, die Schließung von Geschäften und
weitere Formen der sozialen Isolation durch Maßnahmen des Lockdowns an. Diese
Anordnungen sind als maßgebliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit zu sehen, wenn
sie auch dem Schutz des Lebens anderer dienen. Die Einhaltung der Vorgaben wurde durch die
Polizei als ausführendes Organ kontrolliert und sanktioniert. Somit zeigt die Covid-Pandemie
deutlich, dass der Schutz sowohl der Gesundheit als auch der persönlichen Freiheiten der
Bevölkerung unter stetiger Berücksichtigung und sorgfältiger Abwägung der Grundrechte zu
gewährleisten ist. Diese spannungsgeladene Aufgabe, die auch in Zukunft bestehen bleiben
wird, erfordert die gesellschaftliche und politische Diskussion der grundrechtlichen
Rahmenbedingungen. Nur so können gesellschaftlich tragfähige Wege gefunden werden, wie
die Welt in Zukunft mit dem Virus leben kann.
Prognose (pro gnosis)
gnosis*proLIBERTAS (Kenntnis/Wissen über den Covid-Virus*für unsere FREIHEIT)

Peter Dannenhauer
Komm den Narren zuhören, 2021

In Komm den Narren zuhören setzen sich einzelne Wörter, wie sie uns im öffentlichen Raum
begegnen, in einem neuen Kontext zusammen. Im Gegensatz zu Flyern und Postkarten, die
immer auch für ein konkretes Produkt oder ein Angebot werben, stellt die hier neu gebildete
Aussage lediglich Zukunft in Frage und hat einen uneindeutigen Appellcharakter. Denn es bleibt
unklar, was genau zu tun ist. Sind die früheren Hofnarren gemeint, die scharfe Beobachter des
Zeitgeschehens waren und auch Unangenehmes aussprechen durften? Sind diejenigen
gemeint, die Zukunftsszenarien entwickeln, vor bedrohlichen Entwicklungen warnen und die die
politischen Entscheidungsträger kritisieren und auch beraten? Und deren Meinung und
Erkenntnis, wenn zu unpassend ist, als Narretei abgetan wird? Gleichen heutige
Inszenierungen von Wissenschaft und Forschung in den Medien und Talkshows manchmal
selbst einem Narrenspiel und wem lohnt es sich dann zuzuhören? Was würde sich ändern,
wenn wir tatsächlich den „Narren“ zuhören würden?

                                                                                            28
Peter Geisselmeier
COVID 21, 2021 (2020)

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Die Entwicklung neuartiger Viren geht auf die Handlungen und Verhaltensweisen der
Menschen zurück. Solange die Menschen zerstörerische Konsum- und Essgewohnheiten an
den Tag legen, Urwälder und Ökosysteme zerstören und die Meere mit Müll zuschütten, wird es
Covid 21, 22, 23, … geben.

Peter Helm
Und immer wieder geht die Sonne auf, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Peter Helms Arbeit plädiert dafür, alle Herausforderungen des Lebens mit Empathie anzugehen.
Sind nicht Optimismus und ein positiver Blick auf das, was das Leben anzubieten hat, wichtiger
als Grübeln und Theorien, die doch zu keinen Lösungen führen?

                                                                                            29
Raúl López García
CORODNA, 2021

Im Zuge technologischen Wandels entstehen immer auch neue Rechtfertigungen zur
Überwachung einer Gesellschaft, in der ohnehin bereits freiwillig Daten über soziale und
ökonomische Gegebenheiten zur Verfügung gestellt werden. Mit neuartigen Maßnahmen zur
Kontrolle der Ausbreitung der Corona-Pandemie scheint nun eine neue Form des Tracking
legitimiert und verbreitet zu werden. Sie entsteht nicht aus einem Bedürfnis nach
Bequemlichkeit heraus, sondern baut auf Angst und Unsicherheit auf – Faktoren, die
vermeintlich gute Gründe für noch mehr Kontrolle zu liefern scheinen. Das Plakat CORODNA ist
Teil einer während des Lockdowns entstandenen Serie.

Reinhold Adt
Geschenkpapier 5, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Das Plakat versammelt die beruflichen Erfahrungen Reinhold Adts in Form von Zitaten anderer
Künstler, Schriftsteller:innen, Musiker, Philosophen, Architekten und weiterer Personen des
öffentlichen und kulturellen Lebens.

                                                                                              30
REIZ
Schwarzwald 2030, 2021

Die unzähligen schweren Waldbrände der letzten Jahre sind vielleicht eines der
eindrücklichsten Zeichen des Klimawandels. Gleichzeitig verweisen die Bilder von brennenden
Wäldern rund um den Globus auf Brandrodungen und andere Verbrechen an der Natur. Im Jahr
2030, das im Pariser Klimaabkommen explizit als Ziel genannt wird, könnte es unabhängig von
den bisherigen, unzureichenden Bemühungen, schon zu spät sein. Wie genau dieses „zu spät“
auch in Deutschland aussehen kann, zeigt das Plakat am Beispiel des Schwarzwalds.

Rolf Hausberg
Das kann ja heiter werden ..., 2021

                                                                                          31
Ruth Rosa Stützle-Kaiser
ohne Titel, 2021

Die Natur ist weit komplexer, als es Menschen begreifen und berechnen können. Das äußert
sich in all ihren Erscheinungen, sowohl im ästhetischen Reichtum wie auch in den von
Menschen verursachten Auswirkungen auf das Klima und die Artenvielfalt. Diese Komplexität,
aber auch Fragilität zeigt sich selbst in den kleinsten Dingen, wie etwa der Feuerbohne. Jede
Bohne ist in Form, Farbe und Zeichnung einzigartig. Der Anblick einer Seite der Bohne lässt
keinen voraussagenden Schluss auf die Zeichnung auf der anderen Seite zu. Das Plakat zeigt
Exemplare der regionalen Sorte Schwabenbohne.

Serge de Waha
Freibier, 2021

Beim Pyramidenbau im alten Ägypten wurde die arbeitende Bevölkerung mit Bier und Brot
entschädigt, und vielleicht auch bei Laune gehalten. Im 19. Jahrhundert verhinderten Ludwig der
I. und sein Bruder Carl in München aufkommende Unruhen durch den Ausschank von Freibier.
Um die Immunisierungsquote zu erhöhen und Impfanreize zu schaffen, werden die Bürger:innen
der US-Staaten derzeit mit Freibier und Joints gelockt. Im Zentrum Stuttgarts eröffnet das
Lautenschlager den Sommer mit 200 Liter Freibier.

                                                                                                32
Siegfried Zwicker
wann wird dieses spiel endlich nur noch ein spiel sein, 2021

Siegfried Zwicker betrachtet Politik als Interaktion zwischen Menschen, so wie Spiel Interaktion
ist. Auch Politik kann als Spiel verstanden werden, doch ist es leider meistens ein eher
unerfreuliches und unerquickliches, ein starres Spiel, das ängstlich, dogmatisch und nur auf
den eigenen Vorteil lauernd strukturiert ist. Dann hat es die Bezeichnung Spiel also gar nicht
verdient! Denn wirkliches Spiel ist erquicklich, erfreulich, gemeinschaftlich und undogmatisch.

Sibylle Burr
never give up, 2021

In der S-Bahn in Berlin sitzen der Künstlerin zwei Mädchen gegenüber. Am Saum des Rocks der
einen ist ein Spruchband angenäht mit der Formel: „never give up never give up never give up
never give up never give up“. Diese Form der Prognose entspricht dem Überlebenswillen sowie
dem Fortbestand durch Anpassung der verschiedenen Kreaturen der Erde, seien es Pflanzen,

                                                                                              33
Tiere, Menschen, Viren oder Bakterien. So passen Kakteen sich durch Mutation und Selektion
an extreme Hitze an, wenn sie Speicherorgane für Wasser generieren oder ihre Oberfläche
durch Ausbildung von Stacheln verkleinern.

Sigrid Herold
ES BLÜHT!, 2021

Simon Herkner
L'ARRACHE COEUR, 2021

Ankündigung des Arbeitsvorhabens L'ARRACHE COUER: Unter diesem Titel finden 2022 bis
2023 diverse Projekte des Künstlers statt – so die Prognose des Künstlers.

                                                                                             34
Stefan Reinhardt
Zukunft Selber Malen / Mal Dich Reich, 2021

Anhand von Kursverläufen ausgewählter börsennotierter Unternehmen, die in besonderer und
unterschiedlicher Weise vom Verlauf der Corona-Krise betroffen waren/sind, verhandelt Zukunft
Selber Malen / Mal Dich Reich beispielhaft Vorgänge während der Pandemie. Auf dem
Hintergrund der Kacheln des westdeutschen Galeria Kaufhof Unternehmens werden 21 Drei-
Jahres-Graphen, die auf Daten der Börse Stuttgart beruhen, präsentiert. Die händisch
angefertigten Linien folgen annähernd den ursprünglichen Kurven, weisen jedoch eine
Differenz zwischen Verlauf und Nachzeichnung auf. Was wäre eine Prognose der Kurse? Die
Betrachter:innen sind dazu eingeladen in die Zukunft zu malen.

Stefan Tümpel
Take it or leave it, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

                                                                                           35
Stefanie Reling-Burns
Twinkle Twinkle Litte Star, 2021

Stefanie Reling-Burns widmet das Plakat Twinkle Twinkle Little Star all jenen Menschen, für die
das Leben gegenwärtig aufgrund einer Wahrnehmungsstörung besonders bedrohend oder
verwirrend erscheint, sowie insbesondere ihrem Sohn. Dieser ist Autist und kann die
Geschehnisse der letzten Monate nicht nachvollziehen. Er lebt ausschließlich im Jetzt, kann
mental nur den aktuellen Zeitpunkt und Aussichten höchstens bis zum nächsten Tag
verarbeiten. Prognosen als vage Zukunftsvisionen, die nicht real im jeweiligen Moment
existieren, sind für ihn daher ungreifbare Konzepte. Der Verlust des gewohnten Alltags und die
Angst vor ständigen Veränderungen gleicht täglicher Trauerbewältigung. Wenn der innere
Schmerz zu stark wird, kompensiert er diesen mit äußerem Schmerz. Wut und Verzweiflung
entladen sich dann an seiner Kinderzimmerwand. Die hinterlassenen Spuren stehen
sinnbildlich für die gegenwärtige Gesamtsituation, in der die Menschen einer globalen
Katastrophe ausgesetzt sind und auf die Weitsichtigkeit der Entscheidungsträger:innen
vertrauen müssen. Die eigene Hilf- und Ratlosigkeit verstärkt dabei die Spirale aus Angst und
Resignation. Was jedoch hoffnungsvoll stimmt, sind Energien aus der Gesellschaft, die in
Krisenzeiten Initiative ergreifen, um in Not geratene Menschen zu unterstützen. Wie die
Sternchen an der Zimmerwand glänzen diese Energien aus der Düsternis und schenken
Optimismus und das Vertrauen in bessere Zeiten.

Stephan Köperl
Stephan kommt in die Hölle, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

                                                                                              36
Gerade des Schreibens fähig, prognostiziert der Bruder des Künstlers ihm, in die Hölle zu
kommen.

Sylvia Winkler
Statistanz, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

Ein Foto aus der Serie Tanztee (2012-2015) der Künstlerin Andrea Grützner hat Sylvia Winkler
berührt: Ausschnitthaft sind zwei ältere Frauen in bunt gemusterten Kleidern zu sehen, eng
umschlungen beim Paartanz. Aspekte des Alterns, Partnerverlusts und der Einsamkeit
verbinden sich mit Freundschaft, Vertrautheit und Lebenslust. Und was sagt die Statistik?

Thomas Ulm
Infinitiv, 2021

Trotz der Prognosen von Expert:innen, die beratend für die Politik tätig sind, arbeiten
Politiker:innen selbst gerne mit Versprechen. Die Währung beider ist vermeintlich das
tatsächliche Eintreffen in der Zukunft. Ihr großer Unterschied ist jedoch die kategorisch positive
Ausrichtung des Versprechens. Mit einer ambitionierten grammatikalischen Konstruktion
verweist der Bundesgesundheitsminister im Mai 2021 auf etwas, das in einer ungewissen

                                                                                                 37
Zukunft abgeschlossen sein wird. Diese Formulierung im Futur II wird in der Arbeit von Thomas
Ulm in vier Infinitive transformiert. Dabei repräsentiert der Infinitiv die Bedeutung des
Unbestimmten: eine hinsichtlich Zeit, Subjekt und Objekt fehlende, nicht vorbestimmte
Festlegung, die dazu einlädt, jegliche Vielfalt an möglichen Bezügen zu reflektieren und zu
gestalten.

Tim Stefan Heger
ohne Titel (Frosch eine Treppe hinaufsteigend), 2021

Es ist ein sehr alter Wunsch der Menschheit, verlässliche Vorhersagen der Zukunft treffen zu
können. Doch welchen Einfluss hat dabei die Erwartung auf das Handeln? Wie beeinflusst das
Handeln die Entwicklung von Gegenwart und Zukunft? Wirkt sich der Flügelschlag des Falters
auf die Zukunft aus?

Tobias Dusche
ORDNUNG DER DINGE (Arbeitstitel), 2021

Um die durch den anhaltenden Ausnahmezustand sowie zahlreiche Klimanotstände dramatisch
verschärften sozialen Konflikte zu überwinden, wird die Umwandlung des Stadtgebiets in eine
rurale Zone vorangetrieben. Die Hänge werden terrassiert, um Reisanbau zu ermöglichen. Das

                                                                                               38
komplizierte Bewässerungssystem, das allen Feldern und allen Lagen die gleiche
Wassermenge garantiert, erzwingt eine tiefgreifende Umgestaltung der materiellen und
sozialen Verhältnisse.

U!!i Berg
Kann nicht nichts sinnlos sein?, 2021

Auch das, worin wir keinen Sinn erkennen, kann durchaus einen Sinn enthalten. U!!i Berg sucht
immer wieder den Sinn im Unsinn oder Nonsense im Sinn, nicht nur in der Kunst wie bei Dada,
sondern auch im Alltag. So können wir glauben zu verstehen und Botschaften zu erkennen, wo
eine außergewöhnliche Wortschöpfung, ein besonderer Einfall oder kluger Witz uns erstaunen.
Traumdeutungen halfen und helfen – nicht erst seit Sigmund Freud – bei der
Lebensorientierung, in Krisen und bei kranker Psyche. Oder ist es allein der Glaube an die
Traumdeutung, der hilft? Hier zeigt sich vielleicht vorsichtig, warum der Mensch auf Fake-News
hereinfällt oder der Vorstellung eines Götterhimmels anhängt. Und gleichzeitig beginnen wir
Kassandras Deutungen und unsere heutigen Prognosen zu hinterfragen…

Uwe Schäfer
we did it wrong, 2021

© VG Bildkunst, Bonn 2021

                                                                                             39
Valentin Mackh
ohne Titel, 2021

Eine Figuration verschiedenster Möglichkeiten zu einem gegebenen Zeitpunkt lässt eine Art
Fabelwesen entstehen, das gleichzeitig in verschiedene Richtungen agiert und simultan
unterschiedliche Bewegungen suggeriert.

Wolfgang Knauss
Schöner Schein, 2021

Die Arbeit Schöner Schein lenkt den Blick auf achtlos weggeworfenes Verpackungsmaterial in
geschichtetem, gefaltetem, geknittertem, gerissenem Zustand, auf reliefhafte Fragmente der
Zivilisations- und Konsumgesellschaft. Die gefundenen Gegenstände zeigen ihr erstaunliches
ästhetisches Potenzial und erzählen Geschichten des Überflusses und der unglaublichen
Abfallberge. Die Augen der Betrachter:innen werden durch die fotografische Inszenierung ganz
nah an das Objekt herangeführt. Doch wie ist die Distanz und Gleichgültigkeit von Regierungen
und Gesellschaft zu ändern?

                                                                                            40
Yvonne P. Doderer
EXTINCTION, 2021

Bereits heute sind Lebewesen, insbesondere Pflanzen und Tiere, vom Aussterben bedroht
(Stichwort: mass extinction). In Zukunft werden sich diese Prozesse noch verstärken. Damit
bricht zunehmend auch die Lebensgrundlage für viele Menschen weg. Auf diese Sterblichkeit
der Menschen, insbesondere aber auch auf die ihr zugrundeliegenden monetär-kapitalistischen
Ursachen verweist Yvonne P. Doderers Plakat.

Yvonne Schenk
Verbrannte Erde I, 2021

Im Zyklus Verbrannte Erde – auf zu den Sternen verbinden sich die Themen Klimapolitik,
Intuition, Mahnen und utopisches Denken miteinander.

                                                                                         41
Sie können auch lesen