Die Regierung der Freiheit innerhalb biophysischer Grenzen - Zur Notwendigkeit der Rekonzeptualisierung eines Begriffs "grüner liberaler Freiheit" ...

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Die Regierung der Freiheit innerhalb biophysischer Grenzen –
Zur Notwendigkeit der Rekonzeptualisierung eines Begriffs „grüner
liberaler Freiheit“ im Kontext neoliberaler Nachhaltigkeitspolitiken

          Carolin Bohn (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
         Tobias Gumbert (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

   27. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW)
                       „Grenzen der Demokratie / Frontiers of Democracy“
          Vom 25. bis 28. September 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

       ENTWURF: Bitte nicht ohne Erlaubnis der Autor*innen zitieren!

                                         ABSTRACT:
   Nachhaltigkeitsbestrebungen bewegen sich in liberalen Demokratien im Spannungsfeld der
   Sicherung liberaler Freiheitsrechte (wider die Eingrenzung von Wahl- und
   Entscheidungsfreiheiten) und der Nichtüberschreitung biophysischer Grenzen (wider die
   Entgrenzung des Naturverbrauchs). Um die Spannung dieser verschränkten Problemlagen
   aufzulösen, operieren politische Regierungspraktiken zunehmend über die „Regierung von
   Freiheiten“, d.h. über die Steuerung des „freiheitlichen“ Einsatzes rationaler und ökologisch
   verantwortlicher Handlungsweisen zum Erreichen gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsziele. Die
   Proliferation aktivierender und mobilisierender Politiken – die verhaltensbasierte Steuerung
   von Individuen, die Förderung sozialer Innovationen (zivilgesellschaftliche Gruppen) sowie
   der breite Rückgriff auf bürgerschaftliche Beteiligungsverfahren in Umweltbelangen – können
   als Ausdruck dieser Rationalität verstanden werden.
   Während diese Steuerungsversuche einen Ausgleich zwischen den liberal-demokratischen und
   nachhaltigkeitspolitischen Anforderungen suggerieren, d.h. gesellschaftliche Akteure
   (insbesondere Bürger*innen) vor einem „Zuviel“ an Regulierung bewahren und gleichzeitig
   negative Umweltauswirkungen stärker regulieren wollen, sind gegensätzliche Effekte
   beobachtbar: bürgerlichen Freiheiten werden subtile, vordefinierte Grenzen gesetzt, während
   Umweltregulierung im besten Fall „schwach nachhaltige“ Ausprägungen aufweist. Dieses
   Papier argumentiert, dass hier mittels eines neoliberalen Freiheitsbegriffs eine normative
   Grenzsetzung vorgenommen wird, welche auf politisch-praktischer Ebene demokratische
   Gesellschaften an ihre funktionalen Grenzen stoßen lässt. Depolitisierende Effekte durch
   bürgerschaftliche „Scheinbeteiligungen“ erschweren in der Folge die kollektive Bewältigung
   komplexer sozio-ökologischer Herausforderungen. Eine Rekonzeptualisierung des liberalen
   Freiheitsbegriffs im Kontext notwendiger Grenzsetzungen kann dabei helfen, so die zentrale
   These, das Wechselverhältnis von Demokratie und Nachhaltigkeit neu zu justieren.
   Unter Rückgriff auf die Literaturen zu Gouvernementalität, Postdemokratie und (Liberal)
   Environmental Citizenship entwickelt das Papier eine drei-schrittige Argumentation: (1) es
   zeigt auf, dass die o.g. Regierungspraktiken auf einem engen, „grenzfreien“
   Freiheitsverständnis beruhen und (2) rekonstruiert anschließend einen „grünen“ liberalen
   Freiheitsbegriff, der demgegenüber Grenzen als positives Element demokratischer
   Nachhaltigkeitspolitik begreift. Diese Zusammenhänge werden anschließend (3) über eine
   kritische Analyse gegenwärtiger mobilisierender Nachhaltigkeitspolitiken illustriert. Es wird
   deutlich: Nicht (nur) die Komplexität des Nachhaltigkeitsproblems lässt Demokratien an ihre
   funktionalen Grenzen stoßen, sondern (auch) insbesondere die neoliberale Verzerrung des
   liberalen Freiheitsbegriffs.
Bohn, Gumbert (2018) – Die Regierung der Freiheit innerhalb biophysischer Grenzen

   1. Einleitung
Aus gegenwärtigen Debatten zur politischen Bearbeitung globaler Umweltprobleme ist der
Grenzbegriff nicht mehr wegzudenken. Während die Grenzen des Wachstums bereits in den
1970er Jahren durch den mittlerweile berühmten Club of Rome Report modelliert und dadurch
thematisiert wurden (Meadows et al. 1972), ist spätestens seit Rockström et al.‘s (2009)
Berechnung der „planetary boundaries“, auf der Suche nach einem „safe operating space for
humanity“, die Diskussion biophysischer Grenzen voll entfacht. Das Überschreiten der Grenzen
beeinflusst globale ökologische Kreisläufe in einer Weise, dass, den Autor*innen zufolge, für
menschliche Gesellschaften unkontrollierbare und vor allem irreversible Folgen zu erwarten sind.
Während in den Feldern des Biodiversitätsverlustes und des Stickstoffzyklus diese Grenzen
bereits heute weit überschritten sind, nähert sich die Menschheit in großen Schritten irreversiblen
Klimafolgen (atmosphärische CO2-Konzentration) an.
Als Reaktionen auf dieses Faktum werden unterschiedliche politische Strategien erprobt bzw.
ernsthaft diskutiert, vom Schutz spezifischer Naturräume (Wildnisgebiete, Aufforstungen etc.) bis
hin zu technikoptimistischen Masterplänen (Geoengineering). Ebenso sind lokale
Anpassungsleistungen und Effizienzsteigerungen zu beobachten, die in den letzten Jahrzehnten
graduelle ökologische Verbesserungen produziert haben. Doch trotz einzelner positiver Trends
steigt der Naturverbrauch auf globaler Ebene weiter an, unter anderem, da die negativen
Externalitäten des industrialisierten Wirtschaftsmodells zunehmend in den globalen Süden
verschoben wurden (Brand/Wissen 2017, Fuchs 2017). Vor diesem Hintergrund entwickelt sich
gegenwärtig die Konstruktion von Grenzen, die politische Sicherung der Einhaltung und
gesellschaftliche Ausrichtung innerhalb von Grenzwerten zu einer umso zentraleren Umwelt-
Management-Strategie (Schlosberg 2016). Alltagsrelevante Begrenzungen werden öffentlich
diskutiert, von Fahrverboten als Reaktion auf Luftverschmutzung, über die Einführung eines
nationalen „Veggie Days“ zur Senkung des Fleischkonsums (in Deutschland) (Bauchmüller et al.
2018; o.V. 2013) bis hin zu Obergrenzen für die Nutzung von Energie in Privathaushalten (in der
Schweiz) (Sahakian/Lorek 2018). Obwohl diese öffentlichen Debatten sehr kontrovers geführt
werden ist hier zu erkennen, dass das Sprechen über Grenzen keinesfalls ein gesellschaftliches
Tabu darstellt. Dass aus diesen „Grenzdiskursen“ eine effektive Steuerung erwachsen kann,
sehen viele Autor*innen jedoch skeptisch, denn jede Diskussion um Grenzwerte provoziert
starke politische Opposition, welche gleichsam wichtige, signifikante politische Maßnahmen
untergräbt (Schlosberg 2016).
Insbesondere dem liberal-demokratischen System wird im Kontext der Einhaltung von
Grenzwerten eine „schlechte Ökobilanz“ ausgestellt: Umweltpolitiken bilden, anders als bspw.
Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, kein konstitutives Element liberal-demokratischer
Ordnungen – ihre Akzeptanz durch die Bevölkerung ist damit tendenziell schwierig einzufordern,
v.a., da das „right to act wrongly“ in den Worten Michael Walzers (1981: 385, zit. nach Ellis 2016:
507) geradezu ein Kernmerkmal von Demokratien ist. Strukturell scheint hier eine Quelle von
Skepsis gegenüber jedweder Einschränkung individueller Freiheit bereits angelegt zu sein.
Darüber hinaus führen, einerseits, der an liberal-demokratische politische Maßnahmen gerichtete

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Anspruch der Reversibilität1 (Ellis 2016: 509), kurze Legislaturperioden, die Orientierung an
kurzfristigen Management-Aufgaben, die Angst vor der Gefährdung ökonomischer
Wachstumspotenziale sowie die Abwendung der öffentlichen Identifikation von politischen
Parteien mit einer Verbots-Programmatik zu einem fehlenden politischen Wille, die
Implementation ökologischer Grenzen in liberalen Demokratien grundsätzlich und dauerhaft zu
diskutieren (de Geus 2001: 20ff; Blühdorn 2010: 8). Andererseits erklären diese Phänomene, dass
politische Regulierungsansätze (bspw. in den Bereichen Mobilität, Energie oder Ernährung)
tendenziell dem Marktprinzip Vorschub leisten und Grenzsetzungen als unzulässige
Einschränkungen individueller Freiheit betrachten.
Die Wahrnehmung, dass Grenzziehungen gleichbedeutend sind mit ungerechtfertigten
Restriktionen, Bevormundungen und dementsprechend einem „harten“ Paternalismus, verweisen
im Umkehrschluss auf eine bestimmte Auffassung von Freiheit als grundlegendem Wert liberaler
Demokratien. Gegenwärtig ist die Regierung von Freiheit beim Umgang mit biophysischen
Grenzen in liberalen Demokratien durch den Versuch geprägt, eine möglichst (scheinbar)
unbegrenzte Freiheit als den unantastbaren Kern politischer Regulierungsanforderungen zu
affirmieren, während gleichzeitig langfristige Nachhaltigkeitsziele erreicht werden sollen.
Verschiedene sich derzeit ausbreitende politische Regulierungsstrategien lassen diese Rationalität
erkennen, von verhaltensbasierten Steuerungsinstrumenten („Nudging“) in Bereichen des
nachhaltigen Konsums (Recycling, Ernährung, Energienutzung etc.), über die Verschiebung
wichtiger gesellschaftlicher Funktionen an den Dritten Sektor jenseits von Staat und Markt
(durch die Unterstützung und Förderung „sozialer Innovationen“) bis hin zur Ausweitung
bürger*innenschaftlicher Beteiligungsverfahren in Umweltbelangen (Mont et al. 2014, Newig et
al. 2011, Walk 2008). Statt den potentiell negativen Konsequenzen freiheitlicher Entscheidungen
(Überproduktion, Überkonsum etc.) Grenzen zu setzen, wird versucht, individuelle Bürger*innen
und soziale Gruppen auf eine spezifische Weise in ihrem Einsatz der Freiheit anzuleiten.
Wahlmöglichkeiten werden nicht eingeschränkt, sondern in der Regel sogar ausgeweitet (bspw.
durch andere, „bessere“ Produkte). Dabei wird individuelle Freiheit für gewöhnlich als
überwiegend unabhängig vom ökologischen Kontext konzeptualisiert, als der Erfahrung
vorgängiges, universelles Gut. Die Idee der Kontextlosigkeit des Freiheitsbegriffs, d.h. „the idea
that freedom is about the absence of contextual limitations“ (Lambacher 2016: 385), zeichnet
sich für das (scheinbar unauflösliche) Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und
Nachhaltigkeit mitverantwortlich.
Die Schwierigkeiten liberaler Demokratien dabei, Nachhaltigkeit und individuelle Freiheit stets
parallel zu denken, so unser Argument, beruhen insbesondere auf der Konzeptualisierung dieses
dominanten politisch-praktischen Freiheitsbegriffs, die dazu führt, dass liberale Demokratien bei
der Umsetzung von Nachhaltigkeit an ihre funktionalen Grenzen stoßen. Wo jede Grenzziehung
als Einschränkung persönlicher und gesellschaftlicher Entfaltungsräume und somit als
Freiheitsverlust verstanden wird, muss Politik, die sich aktiver als bislang an der Sicherung der
biophysischen Lebensgrundlagen orientiert, nahezu zwangsläufig als restriktiv, potenziell sogar als
autoritär aufgefasst werden. Was hier als liberaler Freiheitsbegriff aufgefasst wird beinhaltet zum
einen eine starke libertäre Prägung (Freiheit wird als notwendigerweise „grenzenlos“
1
  Dies geschieht mit dem Verweis darauf, dass demokratische Entscheidungen vor dem Hintergrund gegenwärtig
unsicherer Effekte und Risiken sowie bezüglich des sich ggf. ändernden politischen Willens aktuell nicht zum demos
gehörender Menschen (bspw. zukünftige Generationen) grundsätzlich zu reformieren sein müssen (Ellis 2016: 509).

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verabsolutiert), kann aber zum anderen auch als neoliberal verstanden werden, wenn die
„Regierung der Freiheit“ den Raum des Politischen verlässt: Bürger*innen werden, durch die
gezielte Ausrichtung an ökologischen Benchmarks, zu Mitteln nachhaltiger, extern definierter
Zwecke. Indem dieser verengte Begriff als der liberale Freiheitsbegriff ausgegeben wird - und
dieser wiederum als zentrales Element liberaler Demokratien - scheint jede Hinterfragung
gleichzeitig eine Infragestellung der liberalen Demokratie als solche zu bedeuten; gleichzeitig
erscheint durch ihn auch eine vermeintlich grundsätzliche Unvereinbarkeit von Freiheit und
Grenzziehungen als unumstößliches Element liberalen Denkens. An dieser Stelle wird eine für
die politische Umsetzung von Nachhaltigkeit prägende normative Grenzziehung vorgenommen:
aus den konfligierenden Anforderungen, Bürger*innen vor einem „Zuviel“ an Regulierung
bewahren zu wollen, und trotzdem die Überschreitung biophysischer Grenzen als reale Gefahr
zu begreifen, resultieren Techniken zur Aktivierung und Mobilisierung individuellen und
kollektiven Verhaltens, die Freiheit zwar suggerieren, ihr jedoch durch Anleitung und Führung
subtile, vordefinierte Grenzen setzen (Rosol/Schipper 2014: 272; Ronge 2015: 89). In der
Konsequenz werden progressivere Formen der Umweltregulierung, d.h. strukturelle
Veränderungen nicht-nachhaltiger Konsummuster und Produktionsweisen, zugunsten
ökologischer Modernisierungssstrategien (Effizienz- und Technologiefokus) aufgegeben.
Ökonomisch zu rechtfertigende Zielvorstellungen drängen die demokratische Organisation eines
gesellschaftlichen Lebens innerhalb biophysischer Grenzen in den Hintergrund.
Die vermeintliche Inkompabilität von liberalem Denken und (ökologischen) Grenzziehungen ist
gerade aus liberaler Sichtweise jedoch nicht haltbar. Insbesondere Vertreter*innen der liberal
environmental citizenship verweisen darauf, dass grundlegende Werke des Liberalismus verschiedene
Auffassungen von Freiheit enthalten, die stets das Verhältnis zu Begrenzungen thematisieren. Sie
weisen zudem in Teilen einen expliziten Naturbezug auf oder können in einen solchen gesetzt
werden, wie bspw. Rawls‘ Prinzip des gerechten Sparens oder die Vorbehalte der Lock’schen
Eigentums-Theorie (Stephens 2016: 64). Vor diesem Hintergrund korrespondiert die aktuelle
Konzeptualisierung und politisch-praktische Manifestation von Freiheit in liberalen Demokratien
nicht mit „dem“ liberalen Freiheitsbegriff, sondern entpuppt sich vielmehr als eine neoliberale
Verzerrung bestimmter liberaler Auffassungen von Freiheit. Erst dieser verzerrte Freiheitsbegriff,
der Grenzziehungen als grundsätzlich antidemokratisch und –freiheitlich erscheinen lässt, führt
zu der Notwendigkeit, zur Umsetzung von Nachhaltigkeit Steuerungstechniken zu nutzen, die
der Regulierung von Freiheit subtile Grenzen setzen. Dadurch werden sowohl eine Politik der
Begrenzung des Naturverbrauchs als auch die Fähigkeit der Bürger*innenschaft, über sozial-
ökologische Anpassungsleisten öffentlich zu deliberieren und einer schleichenden
Ökonomisierung des Nachhaltigkeitsdiskurses entgegen zu wirken, simultan gefährdet.
Das hier grob skizzierte Argument soll in diesem Artikel in zwei Schritten ausführlich begründet
und anhand zweier Fälle illustriert werden. In Abschnitt 2 („Dekonstruktion“) wird unter
Hinzuziehung unterschiedlicher (liberaler) Konzeptionen des Freiheitsbegriffs seine sich im
politischen Diskurs vollziehende Verengung demonstriert, um anschließend mit Rückgriff auf die
Literaturen zu Postdemokratie und Gouvernementalität zu erläutern, dass die aus dieser
Verengung folgenden politisch-praktischen Konsequenzen als neoliberale Verzerrung des
liberalen Freiheitsbegriffs gelesen werden können. In Abschnitt 3 („Rekonstruktion“) wird auf
der Basis von Ideen des green liberalism und der liberal environmental citizenship sowie mit Rückgriff
auf den sacrifice-Diskurs die Entwicklung eines alternativen Begriffes „grüner liberaler Freiheit“

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skizziert, der eine Vereinbarkeit von Nachhaltigkeitspolitik, Grenzziehung und Freiheit
rechtfertigt. Anhand der Beispiele verhaltensbasierter Steuerung und kollektiver
Beteiligungsformate illustriert der Artikel in Abschnitt 4, wie sich die Verengung des
Freiheitsbegriffes und die Vermeidung von offensichtlichen Grenzziehungen konkret darstellen
und welche Probleme bzgl. des Verhältnisses von Demokratie und Nachhaltigkeit daraus
resultieren. Im Schlussteil wird der Mehrwert eines Begriffes „grüner liberaler Freiheit“, der von
einer Vereinbarkeit zwischen Freiheit und Grenzziehung ausgeht und Grenzen als ein positives
Element demokratischer Nachhaltigkeitspolitik begreift, abschließend diskutiert, um zu einer
Neuverhandlung des Verhältnisses von liberaler Demokratie und Nachhaltigkeit beizutragen.

   2. Dekonstruktion
Die in diesem Artikel angestrebte Rekonstruktion eines Begriffes grüner liberaler Freiheit setzt
die vorherige Dekonstruktion des aktuell dominanten Freiheitsbegriffes im Sinne eines positiv
verstandenen Aufzeigens der grundsätzlich äußerst vielfältigen möglichen Konzeptualisierungen
des Freiheitsbegriffes voraus. Bereits 1816 unterscheidet Benjamin Constant eine sog. liberty of
ancients, die sich v.a. durch die Teilhabe der Bürger*innen an kollektiver, direkter Ausübung von
Souveränität auszeichne, individuelle Unabhängigkeit aber nicht wertschätze, von einer sog. liberty
of moderns, die Individuen völlige private Unabhängigkeit zuspräche, dabei aber nur eingeschränkte
Souveränität im öffentlichen Leben (Constant 1816: 5ff.). Wesentlich prominenter ist allerdings
Isaiah Berlins (1969) Unterscheidung negativer und positiver Freiheit. Er beschreibt die
Abwesenheit von Zwang, die Freiheit von Anderen und externen Einflüssen als negative Freiheit,
während positive Freiheit Selbstbestimmung und –verwirklichung im Sinne der Freiheit zur
Verfolgung persönlicher Ziele und Lebensentwürfe zum Ziel hat. In der Lesart Berlins, als
Verfechter einer negativen Konzeption, hat der positive Freiheitsbegriff in der Vergangenheit
dazu gedient, „allerlei paternalistische und illiberale Politiken zu rechtfertigen“ (Strecker 2011:
185); nur die Garantie eines Handlungsraums, in dem Individuen ungehindert freiheitlich agieren
können, sichere demnach Freiheiten vor Übergriffen und nicht zu rechtfertigenden
Interventionen ab. Trotz der größeren Bekanntheit der Berlin’schen Gegenüberstellung ist der
Blick auf diejenige Constants insofern interessant, als dass er bereits früh vor einer inhärenten
Gefahr der liberal geprägten liberty of moderns warnt, die sich mit Blick auf die Entstehung
postdemokratischer Zustände als wichtig erweisen wird: die Fokussierung auf private
Unabhängigkeit und Interessenverwirklichung könne Bürger*innen dazu bewegen, zu bereitwillig
komplett auf politische Einflussnahme zu verzichten (Constant 1816: 15; später weist u.a. auch
Schuck [2002: 137] auf diese Gefahr hin).
Dichotom anmutende Unterscheidungen wie die Constants und Berlins wurden in der Folge aus
unterschiedlichen Gründen problematisiert: Dierksmeier u. a. kritisieren bspw., dass es negative
Freiheit im Sinne des Schutzes bestimmter Güter nie ohne eine vorherige Bestimmung dieser im
Sinne positiver Freiheit geben könne (Dierksmeier 2016: 41), während Philip Pettit auf die
Möglichkeit eines dritten Verständnisses von Freiheit verweist, das in der republikanischen
Tradition wurzele (Pettit 1997: 9 &18f). Pettit unterscheidet Freiheit als „non-limitation“, als

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„non-interference“ sowie als „non-domination“ (Pettit 2003).2 Freiheit als „non-domination“
könne dabei nicht als positiv oder negativ charakterisiert werden, da sie zugleich eine Abwesenheit
von domination und einen Schutz gegen willkürliche interference fordere (Pettit 1997: 51). Freiheit als
„non-domation“ und Freiheit als „non-limitation“ ließen sich weiterhin zwei Begriffen sozialer
Freiheit zuordnen: Freiheit als „non-domination“ beruhe auf einem Begriff von „agency-
freedom“, der Absicherung und dem Schutz sowie der Ermöglichung des Auslebens individueller
Freiheiten, die allen gewährt und von allen anerkannt werden. „Non-limitation“ hingegen, also
Freiheit als Abwesenheit jedweder Grenzsetzung, beruhe auf „option-freedom“, der Ausweitung
von Optionen des individuellen Denk- und Handlungsraumes. Dieser Freiheitsbegriff bemisst
sich Pettit zufolge nach der Anzahl und Diversität der Optionen und der Art des Zugangs zu
selbigen (2003: 393). Beide Begriffe („non-limitation“ und „option-freedom“) können nach
Dierksmeier als quantitative Konzeptualisierungen negativer Freiheit aufgefasst werden, nach
denen Freiheit sich in der Abwesenheit von Beschränkungen, der Beachtung ihres „äußeren
Umfangs [sowie] der Menge der darin eingeschlossenen Optionen“ (Dierksmeier 2016: 55)
äußert. Freiheit beruht diesem Verständnis nach auf einer Maximierung von Wahlmöglichkeiten,
das korrespondierende Staatsverständnis reduziert den Staat auf eine von normativen Vorgaben
unberührte Maximierungsmaschine individueller Freiheit (ebd.: 55f). Den Gegenentwurf bildet
nach Dierksmeier die positiv geprägte qualitative Freiheit, der es „weniger um das Maximieren von
Optionen, als um deren Optimierung, d.h. um das Ausweiten und Ausleben besonders
geschätzter Freiheiten“ (ebd.: 56) ginge.
Trotz ihrer Vielfalt streben verschiedene Freiheitskonzeptionen, von liberalen über
republikanischen bis hin zu Entwürfen, die in der kritischen Tradition stehen, im Kern eine
Verhältnisbestimmung von individueller und sozialer Freiheit an. (Individuelle) Freiheit, so wird
hier deutlich, ist ein Gut, das über Theoriegrenzen hinweg zwar unterschiedlich gewichtet, aber
grundsätzlich geteilt wird. Auch liberale Theorien gehen von einem bürgerlichen Recht auf
größtmögliche individuelle Freiheit aus, aus dem sich die Grenzen staatlicher Eingriffe ableiten
lassen; es bildet ihren gedanklichen Ausgangspunkt. Aber: Wie kann dieses Recht begründet und
operationalisiert werden? Wo verläuft die Grenze individueller Freiheit, wo darf der liberale Staat
bürgerlichem Handeln Grenzen setzen? Genau diese Fragen werden von verschiedenen liberalen
Strömungen durchaus unterschiedlich beantwortet. Für John Locke geht individuelle Freiheit
über die bloße Abwesenheit äußerer Beschränkungen hinaus und bedeutet auch, dass der Staat
nicht willkürlich Gesetze implementieren darf – diese müssen vom Individuum mitgetragen
werden (Schuck 2002: 133). Der Staat muss außerdem das Recht auf Privateigentum achten, das
für Locke zentraler Bestandteil individueller Freiheit ist.3 Noch deutlicher stellen Individualität
und die Verwirklichung von Eigeninteressen bei John Stuart Mill Wege zu individuellem (und
kollektivem) Fortschritt und Wohlstand dar (Schuck 2002: 133). Trotz der Bedeutung
individueller Freiheit geht jedoch auch Mill auf die Grenzen dieser Freiheit und das

2
  An dieser Stelle ist Pettits Verständnis des Begriffs domination entscheidend. Domination liegt dann vor, wenn ein
Akteur willkürlich in das Leben und die Entscheidungen eines anderen eingreifen kann – unabhängig davon, ob er es
tatsächlich tut. Es kann domination und interference (die tatsächliche Intervention) unabhängig voneinander geben (Pettit
1997: 22 ff.).
3
  Diese Idee hat zur Prägung des Begriffes eines Lock’schen possessiven Individualismus geführt, nach dem
Privateigentum, Märkte und Verträge entscheidend für sozialen Status seien (Macpherson 1962, zitiert nach Schuck
2002: 133).

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korrespondierende Recht des Staates auf entsprechende Grenzziehungen ein. Während staatliche
Einmischung grundsätzlich immer zu begrenzen sei, gäbe es bestimmte Situationen, in denen
individuelle Freiheit durch staatliches Eingreifen vergrößert werden könne, z.B. durch die
Bereitstellung öffentlicher Güter im Sinne einer positiv verstandenen Freiheit. Staatliche
Einmischung sei weiterhin dann gerechtfertigt, wenn individuelle Handlungen bestimmter
Bürger*innen den Interessen ihrer Mit-Bürger*innen schaden. Vertreter*innen des Libertarismus
wie bspw. Robert Nozick würden hier widersprechen: Obwohl er die liberale Annahme eines
Rechtes auf Freiheit teilt und sich dabei explizit (und eng) auf Locke bezieht, stellen
sozialstaatliche Maßnahmen für ihn kein legitimes Eingreifen des Staates dar (Bratu/ Dittmeyer
2017: 148ff), er setzt dem legitimen staatlichen Handeln hier ausgehend von einem bestimmten
Freiheitsverständnis also andere Grenzen als bspw. Mill. Während sich aus Nozicks Position
gegenüber staatlichen Eingriffen auf ein eher negativ geprägtes Verständnis
bürger*innenschaftlicher Freiheit schließen lässt, zeigen Bratu und Dittmeyer auf, dass viele
zentrale Vertreter*innen unterschiedlicher liberaler Strömungen (u.a. Locke, Rousseau und
Rawls) Freiheit im Sinne eines positiven Möglichkeitskonzeptes4 verstehen, d.h. „sie alle räumen
dem Staat [insofern] eine umfassendere Rolle ein als die eines bloßen Nachtwächterstaates“
(2017: 58) als dass die „Gesetzgebung den Handlungsspielraum der Bürger*innen beschränken
darf, sofern den Bürger*innen dadurch nur wertlose Handlungsmöglichkeiten genommen
werden“ (ebd.: 57 f). Hier stoßen wir auf einen zentralen Gegenstand kontroverser Diskussionen
zwischen liberalen Freiheitsverständnissen: Während nämlich der Liberalismus allgemein den
individuellen Bürger*innen größtmögliche Freiheiten zugestehen und staatliche Eingriffe
begrenzen will, bleibt umstritten „welche Handlungen als wertvoll anzusehen sind, so dass der
liberale Staat sie seinen Bürger*innen nicht unmöglich machen darf“ (Bratu/ Dittmeyer 2017:
58). In der Theorie ist folglich klar, dass der Liberalismus ausgehend von unterschiedlichen
Festlegungen von Handlungen, deren Ausübung Bürger*innen freistehen muss, stärkeres oder
schwächeres staatliches Eingreifen für legitim halten kann; wichtig ist dabei die bspw. durch
öffentliche Deliberation zu erreichende Rechtfertigbarkeit staatlicher Eingriffe vor den
Bürger*innen. In der politisch-praktischen Ausformung des Liberalismus, so die weitere
Argumentation, spiegelt sich dies jedoch aktuell kaum wider – hier wird der Liberalismus
überwiegend mit möglichst minimalem staatlichen Eingreifen assoziiert, sodass der Grenzsetzung
durch den Staat selbst enge Grenzen gesetzt sind.
Wie wir gesehen haben, ist in der liberalen Theorie eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher
Freiheitsbegriffe angelegt. Politisch-praktisch bildet hingegen aktuell eine spezifische
Ausformung des Begriffs den Kern der politischen Rationalität, die liberal-demokratisches
Regierungshandeln anleitet: Freiheit wird im Sinne der „non-limitation“ bzw. „option-freedom“
verstanden, und erscheint damit abhängig von der Abwesenheit von Grenzsetzungen und
möglichst minimalen Eingriffen des liberalen Staates. Politisch wird hier ein negativer
Freiheitsbegriff wirksam. Vor diesem Hintergrund können im politischen Diskurs Maßnahmen
zur Reduktion des Naturverbrauchs, welche auch nur ansatzweise individuelle

4
  Nach Bratu und Dittmeyer (2017) ist für ein Möglichkeitskonzept entscheidend, dass eine Person nicht daran
gehindert wird, bestimmte Handlungen auszuführen. Ob sie diese tatsächlich ausführt oder nicht ist für
Möglichkeitskonzepte irrelevant, für Ausübungskonzepte hingegen zentral. Ein positives Möglichkeitskonzept
begreift darüber hinaus nur bestimmte Handlungen als wertvoll und damit „freiheitsrelevant“ (ebd.: 32 ff).

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Wahlmöglichkeiten (also die „option-freedom“) berühren, als illiberal und folglich illegitim
bezeichnet werden.
Diese Beobachtung einer politisch-praktischen Verzerrung bzw. Verengung des umfassenden
und vielfältigen liberalen Freiheitsverständnisses ist erklärungsbedürftig, und es sind insbesondere
postdemokratische Ansätze und Gouvernementalitäts-Studien, die die Entstehung des aktuell
politisch manifesten Freiheitsbegriffes erhellen können. Während die Postdemokratie-Diagnose
die meist als krisenhaft bewerteten Veränderungen des gesamten Institutionensettings westlich-
liberaler Demokratien in den letzten Jahrzehnten fokussiert, befassen sich Gouvernementalitäts-
Studien stärker mit den vorherrschenden Regierungsrationalitäten, den daraus folgenden
konkreten Strategien und Programmen sowie politischen Subjektivierungsprozessen. Beiden
Literaturen zufolge stellt die Ausbreitung und Hegemonialisierung neoliberaler Rationalitäten eine
zentrale Ursache typischer postdemokratischer Krisensymptome dar, welche eine fundamentale
Gefährdung für verschiedene Elemente liberal-demokratischer Systeme und damit für diese
Systeme an sich darstellen.
Vertreter der Postdemokratie-These wie Colin Crouch, Jacques Rancière und Sheldon Wolin
hätten, Claudia Ritzi zufolge, ein in einzelnen Punkten abweichendes Verständnis des
Neoliberalismus-Begriffes, beurteilten jedoch geschlossen „den Neoliberalismus als ideologischen
Hintergrund und wichtigste Ursache dieser Entwicklung“ (Ritzi 2014: 101). Crouch sieht dessen
Kern in der Priorisierung wirtschaftlicher Interessen und dem Vertrauen in bestmögliche
Interessenbefriedigung durch den freien Markt (Crouch 2008), während Rancière
Neoliberalismus in erster Linie mit dem „politische[n] Streben nach einem ‚small government‘
(Rancière 1999: 109) und nach wirtschaftlichem Wohlstand gemäß den Regeln ökonomischer
Effizienz“ (Ritzi 2014: 51) verbindet. Wolin versteht ihn wiederum als eine bestimmte Variante
kapitalistischen Denkens, die zur Verbreitung wirtschaftlicher Logiken und in der Konsequenz
zur Ersetzung der Bürgerin/des Bürgers durch den homo oeconomicus führe (Ritzi 2014: 82).
Ingolfur Blühdorn stellt eine ähnliche Veränderung des Selbstverständnisses postdemokratischer
Bürger*innen fest: Sie hielten es für wünschenswert und notwendig die Freiheiten der
wettbewerbsorientierten „opportunity-society“ (Blühdorn 2013: 27) auszunutzen, was nur durch
eine Befreiung von als restriktiv empfundenen demokratischen Normen möglich sei, die in
modernen Gesellschaften für die Verteidigung sozial exkludierender und umweltschädlicher
Präferenzen und Lebensstile instrumentalisiert würden (ebd.: 30). Gleichzeitig, ergänzt er, wollten
Bürger*innen weiterhin sich selbst und anderen als autonome Subjekte gelten und zumindest
dem Anschein nach als demokratischer Souverän agieren. Der Umgang mit diesem „post-
democratic paradox“ (ebd.: 27) führe schließlich zu einer Ausweitung von Entpolitisierung,
Effizienzorientierung und Expert*innenherrschaft (Blühdorn 2010:12; 2006: 77).
Aus gouvernementaler Perspektive führen neoliberale Rationalitäten u.a. zu neuen Formen und
Instrumenten politischer Steuerung, etwa zur Erreichung „grüner“ Ziele, die weniger durch
Deliberation und Gerechtigkeitsanliegen als vielmehr mit Problemlösungsansätzen und
Programm-Implementation, „Benchmarking“ und „Best Practices“ charakterisiert werden
(Brown 2015, Luke 2016). Für Wendy Brown ist neoliberale Gouvernementalität u.a. dadurch
gekennzeichnet, dass die Legitimität des Staates von seiner erfolgreichen Förderung des
Wirtschaftswachstums abhängt – Wirtschaftswachstum wird zur Staatsräson und der Staat selbst
insofern „responsibilisiert“, als dass er die Verantwortung für das Wachstum der Wirtschaft

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Bohn, Gumbert (2018) – Die Regierung der Freiheit innerhalb biophysischer Grenzen

übernehmen und dieses fördern muss, ohne über umfassende Kontrolle der wirtschaftlichen
Sphäre zu verfügen. Vor diesem Hintergrund wird außerdem die Produktivität wichtiger als das
Produkt an sich oder sein Konsum – es erfolgt ein Ersatz von Produktion durch
Unternehmertum (Brown 2015: 65ff). Die Inhalte von Governance-Programmen beziehen sich
in der Nachhaltigkeitspolitik zunehmend auf Konsum, verantwortungsvolle Entscheidungen und
Lebensstilfragen statt auf bürgerliche Pflichten oder Solidarität (Soneryd/Uggla 2015: 917). Dabei
werden bestimmte Konzeptionen des Menschen (der Bürgerin, der Kundin, der Konsumentin
etc.) problematisiert, Markteilnehmer*innen im Sinne eines Ersatzes von Arbeit durch
„Humankapital“ als Kapital behandelt und politische Interventionen entwickelt, die die
problematisierten Aspekte moderner Subjektivität korrigieren sollen (Dean 1999,
Lövbrand/Stripple 2013: 112; Brown 2015: 65ff). Die Art der Machtausübung ist diesbezüglich
„not so much a matter of imposing constraints upon citizens as of ‘making up’ citizens capable of
bearing a kind of regulated freedom.” (Rose/Miller 1992: 174).
Durch diesen kurzen Abriss wird bereits deutlich, dass die durch neoliberale Entwicklungen
hervor gebrachten Prozesse der Transformation des Staates sowie der Transformation des
bürgerlichen Subjekts in einem Bedingungsverhältnis stehen. Eine Dominanz von Freiheit als
„non-limitation“, die jegliche Begrenzung individueller Freiheit als Zumutung erscheinen lässt,
korrespondiert mit der Individualisierung gesellschaftlicher Risiken als wachsende Verantwortung
des Einzelnen (z.B. für Umweltfolgen) und der Ökonomisierung der Gesellschaft als Diffusion
ökonomischer Kriterien in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Die beschriebene Dominanz
einer ökonomisch geprägten Denkweise ist u.a. insofern demokratietheoretisch problematisch, als
dass eine funktionierende Demokratie sich „gerade in der Vermittlung und Abwägung zwischen
verschiedenen Interessen, Perspektiven und Werten“ (Ritzi 2014: 20) zeigt. Insgesamt lassen sich
die Diagnosen beider hier diskutierter Denkrichtungen als eine Schwächung der normativen
Grundprinzipien und –werte liberaler Demokratien deuten – darunter auch Freiheit: Die
neoliberalen Entwicklungen verzerren die normative Substanz des liberalen Freiheitsbegriffs
welcher theoretisch sinnvolle Grenzsetzungen ermöglicht, und führen dadurch Demokratien an
die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit, indem das Verhältnis von Staat und Bürger*innenschaft
zunehmend entkoppelt wird. In der Folge erscheinen Demokratien als „defizitär und
transformationsbedürftig“, was „ihre normative Geltung und faktische Akzeptanz“ (Schaal/ Ritzi
2012: 7) schwächt.

   3. Rekonstruktion
Die Dekonstruktion des liberalen Freiheitsbegriffs, das heißt das Situieren des liberalen
Freiheitsverständnisses im Kontext einer existierenden Bandbreite unterschiedlicher (liberaler)
Freiheitsbegriffe, sowie die Demonstration einer neoliberalen Verengung, ermöglichen im
folgenden Abschnitt die Öffnung von Möglichkeiten, liberale Freiheit unter den Bedingungen der
notwendigen Einhaltung biophysischer Grenzen neu zu denken. „Neu“ heißt an dieser Stelle
nicht, dass die Ausführungen nicht in einer intellektuellen Tradition stehen würden: die
Vereinbarkeit liberaler Demokratien und ökologisch progressiver Politiken ist bereits seit einiger
Zeit Gegenstand umfangreicher Debatten, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen
den Institutionen des liberalen Staates und seinen Bürger*innen (Barry 2001, de Geus 2001,
Wissenburg 2001, Eckersley 2004, Hailwood 2004 Wissenburg/Levy 2004, Bell 2005, Stephens

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2006). Vielmehr ist es unser Anliegen, einen Begriff „grüner liberale Freiheit“ aus dieser Tradition
heraus – entgegen seiner gegenwärtigen neoliberalen Prägung – zu rekonstruieren. Denn nur auf
diese Weise lässt sich letztlich zeigen, so soll im Folgenden argumentiert werden, dass politisch
konstruierte Grenzen zum Schutze der biophysischen Integrität kein „notwendiges Übel“ für die
Gestaltung individueller und sozialer Freiheit darstellen, sondern die positive Ausgangsbedingung
für die Entwicklung und Kultivierung liberaler Freiheiten bilden.
Die scheinbare Unvereinbarkeit von Liberalismus und Nachhaltigkeit oder Umweltschutz wird
seit Beginn der 1990er Jahre deutlich intensiver als zuvor diskutiert (Stephens 2016: 64). Im Zuge
dieser Diskussion entwickelten verschiedene Wissenschaftler*innen das Konzept einer liberal
environmental citizenship (für eine Übersicht, siehe Bell 2005) und darüberhinausgehende Ideen eines
„greenings“ (Barry 2001) des gesamten liberal-demokratischen Institutionensettings. Die
entsprechende Literatur zeigt u.a. auf, dass liberale Werke und Ideen zahlreiche
Anknüpfungspunkte zu einer Konzeptualisierung von Freiheit und Grenzsetzung bieten, die im
Einklang mit der Grenzsetzung erfordernden Organisation eines gemeinschaftlichen Lebens
innerhalb biophysischer Grenzen stehen. Piers Stephens und Marcel Wissenburg verweisen
übereinstimmend darauf, dass bereits John Locke in seiner Eigentumstheorie der Aneignung von
natürlichen Gütern durchaus Grenzen gesetzt habe (Stephens 2016: 61ff; Wissenburg 2001: 195).
Sie sei nur dann möglich, wenn noch „genug und gleich gutes“ (zitiert nach Wissenburg 2001:
195; Übersetzung der Verf.) für andere übrigbliebe und das der Natur entnommene Gut für die
Befriedigung von Grundbedürfnissen, Subsistenz oder das Gemeinwohl genutzt würde
(Wissenburg 2001: 195). Diese Einschränkung sei in einer Welt mit endlichen Ressourcen
potenziell sehr weitreichend; lasse gleichzeitig aber viel Interpretationsspielraum bzgl. der
Definition von „genug und gleicht gut“ (s.o.) offen (Wissenburg 2001: 195).5 Hayward führt ein
verwandtes Argument im Rückgriff auf Rawls‘ erstes Prinzip der distributiven Gerechtigkeit an:
„[…] each person is to have an equal right to the most extensive total system of equal basic
liberties compatible with a similar system of liberty for all“ (Rawls 1972: 250, zit. n. Hayward
2001: 123). Ihm zufolge könne dieses Prinzip auch das Recht umfassen, (kollektiv oder
individuell) frei von Beeinträchtigungen durch Umweltschäden zu leben (Hayward 2001: 12).
Diese Interpretation des o.g. Rawl’schen Prinzips würde erfordern zu diskutieren, was genau als
zu vermeidende „Umweltschäden“ definiert wird und was in Kauf zu nehmende Kosten wären.
Zwei korrespondierende Prinzipien, die in eine ähnliche Richtung argumentieren, sind zum einen
das wiederum auf Rawls zurückgehende savings principle, welches die Idee einer Verpflichtung des
Sparens für zukünftige Generationen beschreibt (Wissenburg 2001: 197), sowie das sogenannte
restraint principle. Letzteres besagt in aller Kürze, dass niemand das Recht darauf habe, ein
bestimmtes natürliches Gut zu zerstören und somit die Freiheit zu und die Möglichkeiten anderer
auf dessen Nutzung einzuschränken. Eine Ausnahme bestünde, wenn die Zerstörung unbedingt
notwendig sei. Wissenburg hält diese Einschränkung für unumgänglich, merkt aber selbst an, dass
sie eine Schwachstelle des restraint principles darstelle. Dessen Reichweite hänge davon ab, wo die
Grenze der Notwendigkeit gezogen würde (Wissenburg 2001: 200ff). Hier deutet sich bereits an,
dass liberale Ansätze dort, wo Umweltschäden oder –zerstörungen individuelle oder soziale

5 Unter diese Güter fallen z.B. nach Marius de Geus nicht bloß unbegrenzte Wahl- und Konsumfreiheiten, sondern
(ebenfalls von Locke ausgehend) auch das Recht auf politische Teilhabe und der Schutz vor dem Staat (de Geus
2001: 32). Diese Kombination negativer und positiver Freiheit würde durch aktives Eingreifen und regulative
Maßnahmen des Staates zur Umsetzung von Nachhaltigkeit nicht notwendigerweise verletzt.

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Freiheiten gefährdet sehen, aktive Grenzziehungen ausdrücklich rechtfertigen; wonach sich diese
Grenzen jedoch genau bemessen sollen – darüber besteht ebenso Einigkeit – muss Gegenstand
gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein.
Die Themen Freiheit und Grenzsetzung erweisen sich auch im Zusammenhang mit der
Konzeptualisierung eines neuen liberalen Naturverhältnisses relevant. So kritisiert Derek Bell,
dass in gegenwärtigen liberalen Entwürfen ein „concern for bodily survival [.] less central“ sei
und dass die Freiheit, Konzeptionen des Guten zu entwerfen und zu verfolgen, auch die
Möglichkeit abdecken müsse, „to live a life in which [individuals] are connected to their physical
environment“ (Bell 2005: 183). Aus diesem Grund müsse, erstens, ein kohärenter Liberalismus
die Umwelt als „provider of basic needs“ (ebda.) begreifen: der liberale Staat müsse dort Grenzen
ziehen, wo die Umwelt im Sinne ihrer Überlebensnotwendigkeit für Menschen gefährdet sei.
Diese Grundlage müsse Bells Ansicht nach durch den Liberalismus stärker gewichtet werden als
das Recht auf die Inbesitznahme der physischen Umwelt. Zweitens sollte der Liberalismus die
Umwelt als Gegenstand begreifen, über den „reasonable disagreement“ (ebd.: 186) bestünde.6
Bell verweist hier auf den von Rawls betonten „reasonable pluralism“ (Rawls 2001: 3, zitiert nach
Bell 2005: 184), der es verbiete, eine Gesellschaft entsprechend einer partikularen kontroversen
Moralvorstellung zu regieren. Daraus folgt, dass der liberale Staat seinen Bürger*innen die
Freiheit gewähren muss, in öffentlichen Räumen Deliberation über vielfältige, vernünftig
begründbare Konzeptualisierungen von Natur zu betreiben. Die Politik des liberalen Staates
dürfe nur Konzeptualisierungen Ausdruck verleihen, die sich im Zuge dieser Deliberation und in
demokratischen Prozessen durchgesetzt hätten – er selbst muss neutral bleiben. Auf diese Weise
könnten auch als gerecht gewertete Umweltgesetze entstehen, die der Freiheit der Bürger*innen,
bspw. durch Verbote umweltschädlichen Verhaltens, legitime Grenzen setzen (Bell 2005: 183ff).
Es ließe sich im Rückgriff auf die Freiheitskonzeption Philipp Pettits argumentieren, dass sich
Bell zum einen für eine vergrößerte „option-based freedom“ ausspricht (sofern darunter auch
Wahlmöglichkeiten bzgl. einer Vielzahl an Konzeptionen des Guten fallen), indem er den
liberalen Staat dazu auffordert, eine Bandbreite möglicher Konzeptualisierungen der Natur als
Gegenstand politischer Auseinandersetzung anzuerkennen7. Zum anderen plädiert er, ebenso wie
implizit auch andere der oben genannten Autoren, ebenfalls für eine weitreichende „agency-
freedom“ der Bürger*innen, die unter demokratischen Bedingungen aushandeln sollen, welches
Naturverständnis und insbesondere welche Grenzsetzungen politisch umgesetzt werden sollen.
Die Vergrößerung bzw. Garantie beider Arten von Freiheit (sowie die Anerkennung der Umwelt
als „provider of basic needs“ [Bell 2005: 183]) rechtfertigen letztlich spezifische (teilweise
weitgreifende) staatliche Eingriffe – die aus Bells Sicht keine unrechtmäßige Einschränkung
liberaler Freiheit darstellen, so lange sie demokratisch legitimiert sind.
Zur Möglichkeit der Rechtfertigung von ökologischer Grenzsetzung unter den Bedingungen
demokratischer Legitimation gesellen sich damit zwei weitere Kernelemente grüner liberaler
Freiheit: zum einen betont das Prinzip der Umwelt als „provider of basic needs“ den Stellenwert

6 Seine Konzeptualisierung der Umwelt als „provider of basic needs“ (Bell 2005: 183), so Bell, sei „reasonable“, da
die Abhängigkeit menschlichen Überlebens von der physischen Umwelt nicht vernünftigerweise geleugnet werden
könne (ebd.: 184).
7 Ähnlich argumentieren Piers Stephens und Simon Hailwood: Während Stephens dazu auffordert, Naturerfahrung
aufgrund der freiheitsfördernden Abwesenheit instrumenteller Werte zu schätzen („nature as stimulus to liberty“),
spricht Hailwood sich für eine Wertschätzung der Natur aufgrund ihrer „otherness“ aus (Stephens 2016: 65ff.)

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von Natur und Ökologie für die Ausübung und Garantie vielfältiger individueller und sozialer
Freiheiten, zum anderen kann es (auch aus liberaler Perspektive) nicht als ein beliebiges
Verständnis von Natur unter vielen behandelt werden, da es (vernünftigerweise) Vorrang
gegenüber partikularen (z.B. „nature-as-property“) Verständnissen genießen sollte. Einige für das
Verhältnis von Freiheit, Grenzen und Umwelt wichtige politische Fragen bleiben jedoch in
diesen Entwürfen unterbelichtet, insbesondere die Fragen nach dem autonomen und reflektierten
Umgang mit Wertkonflikten und der Herstellung der notwendigen (staatlichen und
bürger*innenschaftlichen) agency. Um diese Punkte zu spezifizieren, greifen wir an dieser Stelle auf
den sacrifice-Diskurs in Umweltfragen zurück, an dem nachzuvollziehen ist, wie die Beschränkung
individueller Handlungsoptionen zum Schutz extern definierter Umweltgüter häufig als Verlust
oder ein zu erbringendes Opfer empfunden wird. Für Cheryl Hall, „acts of sacrifice are
expressions of value, […] to sacrifice [.] means to forego or give up something we care about for
the sake of something else we care about even more.” (Hall 2010, 63). Ein wichtiges Gut wird dann
(willentlich) aufgegeben, wenn es dem Erreichen eines als wichtiger empfundenen Gutes im
Wege steht und beide nicht gleichzeitig realisiert werden können. Entscheidend an der
Verzichtsdebatte sind an dieser Stelle die Annahmen, dass Verzicht auf einem voluntaristischen
Akt basiert (das bewusste Entscheiden für etwas und gleichzeitig gegen etwas anderes) und dass
es überhaupt in Konflikt stehende Werte gibt (z.B. eine intakte Natur und billiger, materieller
Komfort) (Hall 2010, 69). Sofern der Natur keinerlei Wertigkeit seitens der Bürger*innen
zugesprochen wird, und diese nicht frei sind, präferierte Optionen zu wählen und umzusetzen,
kann der Naturverbrauch nur durch nicht-demokratisch legitimierte Restriktionen gesenkt
werden. Dabei existieren bereits gelebte Gegenentwürfe, die das Verhältnis von Freiheit und
Grenzen praktisch anders gestalten, etwa die Kultivierung weniger Material-intensiver Lebensstile
(„zero waste“). In dieser Hinsicht werden „[.] certain freedoms [.] enabled by freedom from rampant
materialism and isolated, over-worked, and stressed lifestyles. […] freedom inspires us to live
green ways of life. In this way, efforts to realize green forms of freedom can be authentic,
ecologically responsible, and consciously human“ (Lambacher 2016, 386). Selbstbegrenzung, als
Resultat eines qualitativen Abwägens von Optionen, ist damit immer auch Bestandteil der
persönlichen Selbstentwicklung und der Subjekt- (bzw. Bürger*innen-) werdung.
Dieser kurze Exkurs zum sacrifice-Begriff verdeutlicht zwei Aspekte, die unserer Ansicht nach für
einen robusten Begriff liberaler Freiheit notwendig sind. Erstens müssen, um einen Pluralismus
an Naturverständnissen überhaupt gewährleisten zu können, unterschiedliche Wertvorstellungen
und Subjektivitäten durch den liberalen Staat gleichberechtigt behandelt werden. Vor diesem
Hintergrund können sich Bürger*innen über Entwürfe des Guten austauschen und autonome
Entscheidungen treffen; nur auf diese Weise ist das Verständnis/Lernen gewährleistet, dass in
konkreten Abwägungsfällen zwischen individueller Freiheit (z.B. Konsum) und ökologischen
Gütern (z.B. Systemintegrität) immer Wertkonflikte bestehen, die mit Grenzziehungen
verbunden und in der Regel nicht zu umgehen sind. Zweitens können qualitative Abwägungen
und das bewusste Entscheiden für Grenzziehungen in diesem Sinne ein positives Element der
Festigung und Entwicklung von Freiheiten darstellen (Grenzen können subjektiv als Zugewinn an
Freiheit erfahren werden) und daher die Ausbildung von „agency-freedom“ fördern.
Auf Basis der Rekonstruktion eines Begriffs „grüner liberaler Freiheit“ sind für uns, der obigen
Argumentation folgend, drei Elemente entscheidend, die eine Ethik des politischen Umgangs mit
liberalen Freiheiten im Spannungsfeld gegenwärtiger Nachhaltigkeitspolitiken ausmachen: (1)

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Grenzziehungen, und demzufolge Grenzdiskurse, sind Kernbestandteile liberaler
Auseinandersetzungen über den Freiheitsbegriff, deren exakte Festlegungen Gegenstand
demokratischer Willensbildung und öffentlicher Deliberation sein müssen. (2) Ausgangspunkt
eines Pluralismus unterschiedlicher, vernünftig zu begründender gesellschaftlicher
Naturverständnisse ist, gewissermaßen als Prinzip zweiter Ordnung, die Anerkennung der
Umwelt als „provider of basic needs“, welches liberale Gesellschaften vor möglichen
Selbstgefährdungen der eigenen Lebensgrundlagen schützen soll. Die Umwelt ist aus liberaler
Perspektive auch deswegen besonders schutzbedürftig, weil durch ihren Schutz gleichzeitig die
Entwicklung positiver Freiheitsrechte ermöglicht und abgesichert wird (Stephens 2016: 66). (3)
Vor dem Hintergrund unauflöslicher normativer Wertkonflikte kann die Sicherung und
Herstellung von Freiheit nicht auf die bloße Ausweitung von Optionen beschränkt werden, auch
wenn „a plurality of healthy environments is important to the exercise of choice“ (Lambacher
2016: 392). Dafür braucht es die Fähigkeit zur autonomen Entscheidungsfindung (die
Kultivierung von „agency-freedom“), um die Werte unterschiedlicher Optionen zu realisieren, zu
reflektieren und abzuwägen sowie eine genaue Betrachtung der Kontexte, in denen diese
Optionen erfahren werden, um Pluralismus auch praktisch (z.B. mit Blick auf physische
Infrastrukturen) zu gewährleisten.

   4. Illustration
Im Zuge der Dekonstruktion haben wir unser zentrales Argument – die Behauptung einer
politisch-praktischen Einengung des Freiheitsbegriffes auf ein neoliberal verengtes Verständnis –
mit Rückgriff auf Postdemokratie- und Gouvernementalitäts-Ansätze bisher nur theoretisch als
Ergebnis von Transformationen auf individueller und kollektiver Ebene erklärt. Dieses soll nun
anhand konkreter Fallbeispiele illustriert werden, wobei wir korrespondierend zum Vorgehen in
der Dekonstruktion auch in der Illustration durch die Wahl der Beispiele „verhaltensbasierte
Steuerung“ (4.1) und „kollektive bürger*innenschaftliche Beteiligung“ (4.2) auf die individuelle
Ebene und die kollektive Ebene Bezug nehmen und, wiederum mittels postdemokratischer und
gouvernementalitäts-theoretischer Ideen, ein (auch und vor allem) aus liberaler Sicht
problematisches Verhältnis von Freiheit und Grenzen aufzeigen.

       4.1     Verhaltensbasierte Steuerung und das Design von Entscheidungsarchitekturen
Verhaltensbasierte Steuerung (bzw. „Nudging“) setzt sich zunehmend als präferierte politische
Steuerungsoption in verschiedenen Politikfeldern mit Nachhaltigkeitsbezug in OECD-Staaten
durch (EC 2016). Nudging bezeichnet eine Strategie der politischen Steuerung, welche die
individuelle Wahlfreiheit nicht begrenzt, sondern versucht, durch die Anpassung der
Entscheidungsumgebung individuelles Handeln in eine spezifische Richtung zu lenken, wobei das
Ziel von sogenannten „Choice Architects“ (oder „Designern“ einer Policy) bestimmt werden
muss. Thaler und Sunstein definieren einen Nudge als „any aspect of the choice architecture that
alters people’s behavior in a predictable way without forbidding any options or significantly
changing their economic incentives. To count as a mere nudge, the intervention must be cheap to
avoid.” (Thaler and Sunstein 2008: 6). Das heißt es geht darum, individuelle Freiheiten
unangetastet zu lassen und Individuen trotzdem „sanft“ zu führen.

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Bohn, Gumbert (2018) – Die Regierung der Freiheit innerhalb biophysischer Grenzen

Die prominentesten Beispiele für Nudges, die sich als wirksamer als „einfache Regulierung“
erwiesen haben, kommen aus den Bereichen der öffentlichen Gesundheit (Rauchen, Ernährung,
Organspende etc.) und der öffentlichen Finanzen (Steuerkonformität) (Rainford/Tinkler 2011).
Die Idee des Nudging wurde inzwischen auf das Gebiet des nachhaltigen Konsums ausgedehnt
mit dem Ziel, notwendige Verhaltensänderungen in verschiedenen konsumrelevanten Bereichen
wie Haushaltsenergieverbrauch, Individualverkehr, Lebensmittelverbrauch, Recyclingverhalten
und Hausmüllproduktion zu bewirken (Mont et al. 2014, Milford et al. 2015). So sollen etwa
durch spezifische Anordnungen von (gesünderen, ökologisch verträglicheren) Waren (z.B. in
Supermarktregalen) oder das Nutzen von pro-ökologischen Informationen (Framings)
gewünschte Konsumgewohnheiten gefördert werden um individuelles Wohlbefinden und die
gesellschaftliche Wohlfahrt zu maximieren. Die Nützlichkeit dieser politischen Form der
Steuerung im Bereich des nachhaltigen Konsums scheint offensichtlich: reine Marktlösungen
laufen Gefahr, nicht nachhaltig zu sein und das Wohlergehen heutiger und zukünftiger
Generationen zu beeinträchtigen, während Verbote und strengere gesetzliche Vorschriften nicht
nur einen starken Eingriff in liberale Freiheiten darstellen, sondern gleichzeitig das
Wirtschaftswachstum hindern. Insofern stellt verhaltensbasierte Steuerung (bzw. „Nudging“)
einen Versuch dar, die mit liberaler Demokratie verbundenen Freiheiten mit langfristigen
ökologischen Nachhaltigkeitszielen in Einklang zu bringen. Subtile Formen der Beeinflussung der
individuellen Entscheidungsfindung können in dieser Hinsicht wichtige Folgen für die Umwelt
haben, ohne dass die Notwendigkeit von Begrenzungen und strukturelle Verhaltensänderungen
offen thematisiert werden müssen. Diese Überzeugung tritt durch die verstärkte Fokussierung
von politischen Maßnahmen auf das Handeln privater Haushalte und die Verantwortung
einzelner Bürger*innen zur Vermeidung von Umweltschäden deutlich hervor (Ölander/
Thogersen 2014: 341).
Die politisch-philosophischen Grundlagen des Nudging-Ansatzes wurden von den Autoren als
„libertärer Paternalismus“ bezeichnet, da die Idee in erster Linie die Wahlfreiheit achtet, also
„libertär“ ist, und damit die ursprüngliche Entscheidungsfreiheit von Individuen unangetastet
lässt, selbst wenn ein Eingriff in die Entscheidungsumgebung erfolgt. Eine Politik wird als
paternalistisch verstanden, „if it is selected with the goal of influencing the choices of affected
parties in a way that will make those parties better off” (Thaler/Sunstein 2003: 175). Die Form
des Eingreifens wird daher auch als „sanfter Paternalismus“ bezeichnet, da sie Menschen
lediglich sanfte „Stupser“ in eine bestimmte Richtung gibt (zur Übernahme spezifischer
Verhaltensmuster); eine Richtung, die ihnen letztlich nützlich sein soll, selbst wenn sie dies nicht
bewusst erfassen. Libertäre Paternalist*innen argumentieren, dass eine solche politische
Steuerungslogik wünschenswert ist, weil Menschen dazu neigen, irrationale Entscheidungen zu
treffen, die ihr eigenes Wohlbefinden verringern. Mit der Sprache der Verhaltensökonomie
unterscheiden Thaler und Sunstein zwischen „Humans“, Wesen mit eingeschränkter Rationalität,
die Selbstbeherrschungsprobleme zeigen, und „Econs“, völlig rationalen und egoistischen Wesen,
die „complete information, unlimited cognitive abilities and complete self-control“
(Thaler/Sunstein 2008: 6) aufweisen. Da z.B. Framing-Effekte zu inkonsistenten
Wahlmöglichkeiten führen oder Verlustaversionen sehr stabile, oft irrationale Präferenzen
verursachen, kann Nudging dahingehend helfen, irrationale Verhaltensweisen (basierend auf
begrenztem       Bewusstsein,     begrenzter     Informationsverarbeitungskapazität,     begrenzter
Selbstkontrolle etc.) zu reduzieren, zu neutralisieren oder sogar strategisch für die

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