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KARLSON
SAN I E RU NGSZ E ITU NG
                                                                                      August 2019 | Ausgabe Nr. 6

Seiten 3 – 5                       Seiten 8 – 9                      Seiten 14 – 16
Sanierungsrechtliche Praxis –      Knapper Raum für viel Verkehr –   Neue Einrichtungen
Genehmigungen und Bautätigkeiten   Ein Gespräch                      für Kinder und Jugendliche
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GRUSSWORT

                        Mit der seit acht Jahren laufenden          Der KARLSON gibt darüber hinaus eine
                        Sanierung ist rund die Hälfte der           Übersicht über die aktuellen Projekte
                        Wegstrecke im Sanierungsprozess des         und Entwicklungen im Gebiet. Diese
                        Gebiets Karl-Marx-Straße / Sonnenal-        reichen von den laufenden Verkehrs­
                        lee geschafft. Diese sechste Ausgabe        projekten – dem fahrrad- und fußgän-
                        der Sanierungszeitung KARLSON zeigt         gergerechten Umbau der Straßen und
                        die Bandbreite der Projekte und The-        Plätze –, dem Start der Umgestaltung
                        men, die derzeit das Geschehen der          des Weigandufers auf Höhe des Wil-
                        städtebaulichen Sanierung prägen.           denbruchplatzes bis zum Ausbau der
                        Der Umbau der Straßen, Plätze und           Kinder- und Jugendeinrichtungen,
                        öffentlichen Gebäude bewegt viele,          damit wir die hier fehlenden Plätze neu
                        mancherorts regt sich auch Protest          schaffen oder die vorhandenen Ange-
                        gegen einzelne Maßnahmen. Bei allem         bote verbessern können. Bei allem ist
                        hat die Sanierung aber zum Ziel, die        die Mitwirkung von Ihnen, den Anwoh-
                        vorhandenen städtebaulichen Miss-           ner*innen und Gewerbetreibenden,
                        stände zu beheben. Das Wohnumfeld           sehr erwünscht und wichtig. Durch Ihre
                        soll ausdrücklich für die Menschen, die     Anregungen können wir die weiteren
                        hier wohnen und arbeiten, verbessert        Entwicklungen trotz manch notwendi-
                        werden.                                     ger Kompromisse im Sanierungspro-
                                                                    zess noch besser auf Ihre Bedürfnisse
                        Parallel beschäftigt uns – nicht nur in     ausrichten, Netzwerke schmieden und
                        Neukölln – die Frage, wie bezahlbare        gemeinsam zu guten Ergebnissen füh-
                        Mieten für alle erhalten werden können.     ren.
                        Die Angst der Anwohner*innen um ihre
                        Wohnung ist real und keinesfalls grund-
                        los. Doch aus der Angst vor einer weite-
                        ren Aufwertung sollte nicht die Schluss-
                        folgerung gezogen werden, jegliche
                        Investitionen in den öffentlichen Raum
                        und die Verbesserung der sozialen
                        Infrastruktur zu stoppen. Der „Run“ auf
                        Nord-Neukölln bliebe auch ohne diese        Jochen Biedermann
                        öffentliche Förderung bestehen, wie         Stadtrat für Stadtentwicklung, Soziales
                        die Situation in vielen anderen Berliner    und Bürgerdienste
                        Innenstadtquartieren deutlich macht.
                        Sanierung = Verdrängung halte ich für
                        eine unzulässige Verkürzung. Als Bezirk
                        nutzen wir alle zur Verfügung stehenden
                        Instrumente zur Sicherung bezahlba-
                        rer Mieten konsequent. Diese sind zwar
                        begrenzt, haben aber in vielen Fällen
                        spürbare Effekte, wie die Erfahrung der
                        vergangenen Jahre zeigt. Sollten Sie
                        von einer Modernisierung Ihres Hauses
                        oder sogar dem Verlust ihrer Wohnung
                        bedroht sein, nutzen Sie bitte frühzeitig
                        alle bezirklichen Beratungsangebote,
                        die wir Ihnen in diesem Heft vorstellen.

2 KARLSON August 2019
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SANIERUNGSRECHTLICHE PRAXIS
Acht Jahre Genehmigungsverfahren und Bautätigkeiten im Sanierungsgebiet

Im Jahr 2011 wurde das Gebiet Karl-                   Die Genehmigungsverfahren werden          also z. B. Dachgeschossausbauten oder
Marx-Straße / Sonnenallee als Sanie-                  vom Bezirksamt in einer Datenbank         Hinterhofneubauten, beschlossen.
rungsgebiet von der Senatsverwaltung                  erfasst. Bereits im Artikel „4 Jahre      Damit wurde unter anderem eine ein-
für Stadtentwicklung und Wohnen                       Sanierung – eine Bilanz“ in der zweiten   heitliche Grundlage für die Bewertung
förmlich festgelegt. Für die Durch-                   Ausgabe des KARLSON im Jahr 2015 ​        notwendiger Ausgleichsmaßnahmen
führung der städtebaulichen Sanie-                    (S. 4 und 5) wurde eine statistische      geschaffen. Von großer Bedeutung war
rung sind rund 15 Jahre geplant. In                   Auswertung der Genehmigungspraxis         das Inkrafttreten der Milieuschutzge-
diesem Zeitraum hat der zuständige                    vorgenommen. Dort wurden Merkmale,        biete Flughafenstraße/Donaustraße,
Bezirk Neukölln vor allem die Aufgabe,                wie die Bautätigkeiten im Gebiet und      Rixdorf, Reuterplatz und Körnerpark im
Investitionen zur Verbesserung der                    die Eigentümerstruktur analysiert. Für    Jahr 2016 (siehe KARLSON Nr. 4, S. 18),
öffentlichen Einrichtungen, Grün- und                 diese sechste Ausgabe des KARLSON         die das Sanierungsgebiet weitgehend
Freiflächen sowie Straßen und Plätze                  wurden nun alle Genehmigungsverfah-       überdecken und in denen besondere
im Gebiet durchzuführen. Um Einfluss                  ren seit 2011 ausgewertet. Die Zahlen     Genehmigungskriterien für die Moder-
auf die Gesamtentwicklung im Gebiet                   vermitteln einen guten Überblick über     nisierung von Wohngebäuden und Maß-
nehmen zu können, hat der Gesetz-                     die Aktivitäten der privaten Akteur*in-   nahmen in den Wohnungen einzuhalten
geber im Sanierungsrecht besondere                    nen im Gebiet. Zugleich sollen die Gra-   sind. Zudem müssen hier Umwandlun-
Genehmigungspflichten definiert, die                  fiken anschaulich die Veränderungen       gen von Miet- in Eigentumswohnungen
von den privaten Eigentümer*innen,                    der Genehmigungszahlen in den ersten      genehmigt werden. Schließlich wurden
Bauherren und Mieter*innen im Gebiet                  knapp acht Jahren der Sanierung auf-      im Jahr 2017 auch die Sanierungsziele
einzuhalten sind.                                     zeigen.                                   durch eine umfangreiche Fortschrei-
                                                                                                bung konkretisiert und ergänzt (siehe
Nicht nur für Bauvorhaben, sondern                    WAS PRÄGTE DIE ERSTE HÄLFTE               KARLSON Nr. 4, S. 3 und 4).
auch für umfangreiche Modernisie-                     DER SANIERUNGSZEIT?
rungs- und Instandsetzungsarbei-                      In der ersten Hälfte des Sanierungs-      ÜBERSICHT ZU DEN GENEHMIGUNGEN
ten oder für Rechtsgeschäfte wie den                  zeitraums wurden vom Bezirk eine          ALLGEMEIN
Verkauf von Immobilien oder deren                     Reihe von Untersuchungen veranlasst       Insgesamt sind seit 2011 2.812 Verfah-
Beleihung mit Grundschulden ist beim                  und Beschlüsse umgesetzt, die das         ren mit einer Genehmigung abgeschlos-
Bezirksamt eine sanierungsrechtliche                  Sanierungsgebiet direkt oder indirekt     sen worden. Davon fallen besonders drei
Genehmigung einzuholen. Dabei prüft                   betreffen und Einfluss auf die Genehmi-   Verfahrensarten ins Gewicht: Eigentü-
der Bezirk, ob das Vorhaben oder das                  gungspraxis haben. 2014 wurden vom        merwechsel, Grundschuldbestellungen
Rechtsgeschäft den Zielen der Sanie-                  Bezirksamt für Nord-Neukölln „16 städ-    und Vorhaben (siehe Abb. 1). Die Verfah-
rung entgegensteht oder die Durch-                    tebauliche Leitlinien“ zur sanierungs-    ren bezogen sich sowohl auf Grundstü-
führung von Sanierungsmaßnahmen                       und planungsrechtlichen Beurteilung       cke als auch auf einzelne Wohn- oder
erschwert.                                            von Vorhaben der Nachverdichtung,         Gewerbeeinheiten.

Abb. 1: Anzahl der jährlichen Genehmigungen nach Art des Verfahrens

                                                                                                                      KARLSON August 2019 3
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einen gastronomischen Betrieb umgewandelt wird. Die Anzahl
                                                                  der sanierungsrechtlichen Genehmigungen beläuft sich hier
                                                                  auf jährlich durchschnittlich 60. Einen Zusammenhang zwi-
                                                                  schen Baumaßnahmen und den Veräußerungen scheint es
                                                                  nicht zu geben, d. h. mehr Veräußerungen führten im Gebiet
                                                                  bisher nicht zugleich zu mehr Baumaßnahmen, also einer
                                                                  baulichen Aufwertung. Andere sanierungsrechtliche Verfah-
                                                                  ren, wie z. B. die Genehmigung von Miet- und Pachtverhältnis-
                                                                  sen gab es nur sehr wenige.

                                                                  Die Gesamtzahl der nicht genehmigten Anträge in den Jah-
                                                                  ren 2011–2018 war mit 92, das sind drei Prozent aller Verfah-
                                                                  ren, sehr gering. Tatsächlich spiegelt die niedrige Zahl auch
                                                                  wider, dass das Bezirksamt meist schon durch die Beratung
                                                                  der Bauherrn im Vorfeld der Antragstellung Genehmigungs-
                                                                  hindernisse ausräumen konnte. Hierdurch können viele
                                                                  Genehmigungsanträge bereits genehmigungskonform gestellt
                                                                  werden. Grundschuldbestellungen oder Kaufverträge wei-
                                                                  sen dagegen in der Regel nur sehr selten Inhalte auf, die den
                                                                  Sanierungszielen entgegenstehen könnten.
Abb. 2: Herkunft der Käufer*innen nach gemeldetem Wohnort
                                                                  HERKUNFT DER KÄUFER*INNEN
Unter den Begriff „Eigentümerwechsel“ fallen die Veräuße-         Die Auswertung der Genehmigungsverfahren über Kaufver-
rung von Grundstücken und Wohnungen. Sanierungsrechtlich          träge zwischen 2011 und 2018 belegt, dass rund 85 % dieser
ist dabei zu prüfen, ob sich in Kaufverträgen die Vertrags-       Verfahren den Erwerb von Wohnungen durch private Käu-
partner*innen zu etwas, z. B. Baumaßnahmen, verpflichten,         fer*innen betrafen. Die übrigen 15 % bezogen sich auf Grund-
das mit den Sanierungszielen nicht vereinbar ist. Auch ein        stückskäufe oder Wohnungskäufe von Gesellschaften oder
überhöhter Kaufpreis kann der Genehmigung entgegenste-            Unternehmen. In der Abb. 2 wird die Herkunft der privaten
hen. Schon im ersten Jahr nach der Festsetzung des Sanie-         Käufer*innen dargestellt: etwa 55 % haben als Wohnort Berlin
rungsgebiets wurden fast 300 Eigentümerwechsel genehmigt.         angegeben; knapp ein Fünftel der Käufer*innen kommt aus
In den folgenden sieben Jahren reduzierte sich deren Anzahl       dem übrigen Deutschland. Der Anteil der Käufer*innen, die im
stufenweise bis auf ein Drittel im Jahr 2018. Insgesamt sind      Ausland gemeldet sind, beträgt lediglich 10 %.
1.318 Eigentümerwechsel genehmigt worden (in 98 Fällen
wechselte eine Wohnung oder ein Grundstück auch mehrmals          BAUVORHABEN
den Eigentümer).                                                  Die Mehrzahl der Genehmigungsanträge für eine bauliche
                                                                  Modernisierung betreffen die Modernisierung und Instand-
Die zweithöchste Anzahl der erteilten Genehmigungen sind          setzung von einzelnen Wohnungen. Dazu zählen insbesondere
Grundschuldbestellungen. Eine Grundschuldbestellung ist in        Maßnahmen zur energetischen Optimierung, u. a. die Erneu-
der Regel immer dann nötig, wenn eine Immobilie zu finan-         erung von Heizungsanlagen oder Fenstern. Bei den Zahlen ist
zieren ist. Für die Bank, die den Kredit gibt, dient die Grund-   zu berücksichtigen, dass sich die Genehmigungen sowohl auf
schuld als Sicherheit oder als Pfandrecht. Die Grundschuld        einzelne Wohnungen als auch ganze Gebäude (Grundstücke)
wird in das Grundbuch der zuständigen Gemeinde einge-             beziehen können. Die zwischen 2011 und 2018 erteilten 167
tragen. Dieser Vorgang wird als „Grundschuldbestellung“           Genehmigungen zeigen einen kleinen Einbruch im Jahr 2016,
bezeichnet. Auch eine Grundschuldbestellung kann Sanie-           und schwanken ansonsten zwischen 15 und 25 Wohneinheiten
rungszielen zuwider laufen, wenn dadurch die Finanzierung         pro Jahr (siehe Abb. 4). Das Investitionsverhalten der Bauher-
notwendiger Sanierungsmaßnahmen auf dem Grundstück                ren erscheint also in dem Zeitraum kaum verändert.
erschwert wird.
                                                                  Auch in Nord-Neukölln besteht eine hohe Nachfrage nach
Viele Grundschuldbestellungen stehen im Zusammenhang mit          zusätzlichem Wohnraum. Das allgemeine öffentliche Inte-
der Veräußerung eines Grundstücks oder einer Wohnung, da          resse und Senatsziel, Neubau zu ermöglichen, steht ange-
in den meisten Fällen der Kaufpreis vom Käufer teilweise oder     sichts der bereits hohen baulichen Dichte im Gebiet in einem
vollständig durch Bankdarlehen finanziert wird. Daher verläuft    Spannungsverhältnis zu den Sanierungszielen, die vor allem
die Kurve ähnlich wie die der Kaufvertragsgenehmigungen,          auf die Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse im
wenn auch flacher (ca. 100 bis 150 Genehmigungen pro Jahr,        Gebäudebestand abzielen. Mit den städtebaulichen Leitlinien
siehe Abb. 1).                                                    zur Nachverdichtung wird versucht, die Nachverdichtung in
                                                                  einem vertretbaren Maß zuzulassen und auf den Grundstü-
Eine gleichbleibende Tendenz weist die Anzahl der in den          cken verträglich zu gestalten.
letzten acht Jahren genehmigten Vorhaben auf. Darunter fal-
len die Anträge auf Neubau (z. B. Dachgeschossausbau) oder        Insgesamt sind seit 2011 Genehmigungen für 503 neue
Modernisierungen, aber auch Anträge auf Nutzungsände-             Wohneinheiten im Gebiet erteilt worden. 341 entstan-
rungen oder Werbeanlagen. So benötigt man z. B. eine sanie-       den in Neubauten und 162 durch Aufstockung bzw.
rungsrechtliche Genehmigung, wenn ein Einzelhandels- in           Dachgeschossausbau. In diesem Zeitraum konzentrierten
4 KARLSON August 2019
KARLSON SANIERUNGSZEITUNG - Seiten
Abb. 3: Anzahl der genehmigten Wohneinheiten (DG-Ausbau, Aufstockung und Neubau)

sich die Neubaugenehmigungen fast ausschließlich auf einige                    Verkehr, mehr Schüler*innen, mehr Nutzer*innen der Grün-
wenige Grundstücke, auf dem Kindl-Gelände (siehe KARLSON                       anlagen, etc. Damit die negativen Auswirkungen einer Nach-
Nr. 3, S. 8), auf dem Grundstück der alten Post, auf den Hin-                  verdichtung im Gebiet abgemildert werden, fordert der Bezirk
terhöfen der Karl-Marx-Straße 170 und 179 sowie auf den                        im Rahmen der Genehmigungsverfahren vom Bauherren so
Hinterhöfen der Elbestraße 17 und Schönstedtstraße 7.                          genannte Ausgleichsmaßnahmen zur Wohnumfeldverbesse-
                                                                               rung. Dazu gehören z. B. die Entsiegelung von betonierten und
Während es Flächenpotenziale für Neubauten aufgrund                            asphaltierten Freiflächen auf dem Baugrundstück, Hof- und
der weitgehend geschlossenen Bebauung nur sehr einge-                          Dachbegrünungen oder auch eine Fassadenbegrünung, um
schränkt und eher punktuell gibt, sind Potenziale für den                      den Anteil der Flächen zur Verbesserung des Naturhaushalts
Dachgeschossausbau auf vielen Grundstücken vorhanden.                          zu erhöhen. Auch sollen möglichst Müll- und Fahrradstell-
Hier gab es in den letzten acht Jahren eine relativ konstante                  plätze in Räumlichkeiten des Neubaus zur Verfügung gestellt
Aufwärtsentwicklung. Waren es in den ersten Jahren noch                        und offene Pkw-Stellplätze auf den Höfen reduziert werden,
unter 20 Dachgeschosswohnungen pro Jahr, stieg die Zahl in                     um die privaten Wohnhöfe zu entlasten. Seit 2011 wurden Aus-
den letzten Jahren deutlich.                                                   gleichsmaßnahmen auf insgesamt 57 Grundstücken geneh-
                                                                               migt und dadurch ein nicht unbeträchtlicher Sanierungserfolg
Wie oben schon erläutert, erhöht eine zusätzliche Nach-                        erzielt.
verdichtung im Wohnungsbestand auch den Druck auf das                          Nestor Martinez, Torsten Kasat, Alexander Tölle
Wohnumfeld. Mehr Menschen im Gebiet bedeuten u. a. mehr

Abb. 4: Jährliche Anzahl der Modernisierungsverfahren

                                                                                                                                 KARLSON August 2019 5
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BEZAHLBARE MIETEN
IM SANIERUNSGEBIET
Handlungsspielräume und verfügbare Instrumente

Angesichts mancher gesellschaftlich ungelösten Konflik-         Karl-Marx-Straße / Sonnenallee mit sieben Gebieten in Berlin
te gerät auch die Stadtentwicklung immer wieder in den          verglichen, die eine ähnliche Struktur aufweisen, aber keine
Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die Angst, seine Wohnung nicht   Fördergebiete sind. Quintessenz dieser Untersuchung ist:
mehr bezahlen zu können, ist hierbei ein Thema, das auch        die Entwicklung der Mietpreise unterscheidet sich im Sanie-
besonders vielen Neuköllner*innen unter den Nägeln brennt.      rungsgebiet nicht maßgeblich von den anderen innerstädti-
Vieles, was früher eher positiv empfunden wurde, z. B. die      schen Lagen. Es hätte daher keinen Nutzen, auf den Einsatz
Neugestaltung von öffentlichen Straßen und Plätzen, wirkt       von Fördermitteln zu verzichten. Und statt, wie woanders,
auf manche nun bedrohlich. Denn sie fürchten, dass dies die     nur mit geringem Aufwand Löcher zu stopfen, besteht mit
Gentrifizierung unterstützt, also die Verdrängung der ange-     der Städtebauförderung auch die Möglichkeit, komplexere
stammten Bevölkerung.                                           Infrastrukturaufgaben zu bewältigen. Dies wird verknüpft mit
                                                                einer zukunftsfähigen Gestaltung und einer viel stärkeren
Ist diese Befürchtung begründet? Dies ist eine sehr wich-       Beteiligung der Bewohner*innen, als dies in der klassischen
tige Frage. Denn ein Sanierungsgebiet ist ein Raum, in dem      Investitionsplanung, also ohne die umfassende Unterstützung
besondere Problemlagen vorherrschen, sogenannte „städte-        der Verwaltung durch Mittel der Städtebauförderung möglich
bauliche Missstände“. Diese sollen durch den gezielten Ein-     wäre.
satz von Fördermitteln abgebaut werden – in Neukölln immer-
hin 60 Millionen Euro über den gesamten Sanierungszeitraum      Der Erhalt der Bevölkerungsstruktur ist in Neukölln aber
hinweg. Für das Gebiet Karl-Marx-Straße / Sonnenallee liegen    auch stark mit der Sicherung kostengünstigen Wohnraums
die Sanierungsziele vor allem in der Stärkung des Zentrums      verknüpft. Wie lässt sich dies aber erreichen? Einen Königs-
Karl-Marx-Straße und der Verbesserung der sozialen Infra-       weg gibt es hier leider nicht. Der Zielkonflikt zwischen dem
struktur sowie des öffentlichen Raums. Und zwar nicht für       Schutz des Eigentums und dem öffentlichen Interesse an
irgendwen, sondern konkret für die Bewohner*innen des           bezahlbarem Wohnraum spiegelt sich auch im Baugesetzbuch
Gebietes. An ihnen orientiert sich die Planung, ihre besonde-   wider. Dieses legt den Handlungsspielraum des Stadtentwick-
ren Bedürfnisse sind Grundlage des Sanierungsprogramms.         lungsamts als Verwaltungsbehörde verbindlich fest.
                                                                Eine Möglichkeit, die das Baugesetzbuch der Verwaltung bie-
Bereits 2016 wurde eine „Wohn- und Infrastrukturun-             tet, ist die Festsetzung sozialer Sanierungsziele. Der Erhalt
tersuchung“ durchgeführt (abzurufen unter: www.kms-             kostengünstigen Mietwohnraums ist aber kein Problem, das
sonne.de/service). In dieser wurde das Sanierungsgebiet         allein das Sanierungsgebiet betrifft, sondern inzwischen weite

6 KARLSON August 2019
KARLSON SANIERUNGSZEITUNG - Seiten
Teile der Berliner Innenstadt. Daher
wurde das Sanierungsrecht mit einem
anderen städtebaulichen Instrument
kombiniert: dem Milieuschutz.

MILIEUSCHUTZ, VORKAUFSRECHT UND
MIETERBERATUNG
Seit Sommer 2016 wird das Sanierungs-
gebiet Karl-Marx-Straße / Sonnenallee
mit sogenannten Milieuschutzgebieten
überlagert, seit März 2019 nun flächen-
deckend. Wesentlicher Ansatzpunkt ist,
besonders Luxussanierungen, aber auch
energetische Sanierungen, die über die
Anforderungen der Energieeinsparungs-
verordnung hinausgehen und damit
zu hohen Kosten für die Mieter*innen
führen, einzudämmen . Seit die Mili-
euschutzgebiete in Kraft getreten sind,
wurden allein im Sanierungsgebiet fast
200 Anträge zu baulichen Maßnahmen
geprüft. Hierbei reicht die Spanne vom
Austausch einzelner Fenster bis hin zur       dem Baugesetzbuch ist die Ausübung         Hiervon lagen sieben Häuser mit rund
Komplettsanierung. In jedem Einzelfall        des Vorkaufsrechts. Hiermit soll insbe-    170 Wohnungen im Sanierungsgebiet.
erfolgt eine intensive Auseinanderset-        sondere verhindert werden, dass Miet-
zung mit den Vorhaben im Lichte der           wohnungen in Eigentumswohnungen            Für einen individuellen Mieterschutz hat
Genehmigungskriterien. Regelmäßig, oft        umgewandelt werden können. Die Vor-        der Milieuschutz (und das Sanierungs-
von den Mieter*innen unbemerkt, führt         aussetzungen zur Ausübung sind aber        recht) allerdings keine Rechtsgrund-
dies zu einer deutlichen Reduzierung          sehr begrenzt. Ebenso kann der Käufer      lage. Die Wirkung erfolgt indirekt, indem
des Maßnahmenumfangs und damit der            das Vorkaufsrecht „abwenden“, wenn         umlagefähige Modernisierungsmaß-
umlagefähigen Modernisierungskosten,          er sich verpflichtet, bestimmte Dinge zu   nahmen begrenzt oder sozialverträglich
welche auf die bestehende Miete dauer-        unterlassen. Bis Ende April 2019 wurden    ausgestaltet werden sollen. Die Mie-
haft aufgeschlagen werden dürfen. Fast        in Neukölln bei 42 Häusern das Vor-        ter*innen haben allerdings noch weitere
jeder fünfte Antrag wird ganz versagt.        kaufsrecht ausgeübt oder Abwendungs-       Rechte, die im Privatrecht, insbesondere
                                              vereinbarungen geschlossen. Rund           im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ver-
Ein weiterer Baustein zur Sicherung           1.000 Mietwohnungen konnten bisher         ankert sind. So müssen z. B. Instandhal-
kostengünstiger Mietwohnungen nach            auf diesem Wege gesichert werden.          tungskosten von einer Umlage abgezo-
                                                                                         gen werden. In bestimmten Fällen darf
                                                                                         eine Umlage nicht erfolgen (sogenannte
   FRAGEN UND ANTWORTEN                                                                  Härtefallregelung). Hierzu bietet der
                                                                                         Bezirk eine kostenlose Mietrechtsbera-
                                                                                         tung an (siehe Kasten), in der aber auch
   Bei welchen Anliegen kann mich die Mieterberatung unterstützen?                       alle anderen Mietrechtsfragen (z. B. zu
   Mieter*innen können sich zu allen möglichen mietrechtlichen Fragen bera-              Betriebskosten) besprochen werden
   ten lassen, egal ob Modernisierungsankündigung, Eigenbedarfskündigung,                können.
   Betriebskosten etc.
                                                                                         Auch noch wichtig zu wissen: alle Mie-
   Was umfasst eine Beratung?                                                            ter*innen werden vor der Genehmigung
   Die Beratung ist grundsätzlich anonym und kostenfrei. Sie ist als juristische Erst-   der Baumaßnahmen angehört. In die-
   beratung konzipiert. Im Grundsatz kann man sich auch mehrfach zu verschiede-          sen Schreiben werden die genehmigten
   nen Themen Rat holen, ausgeschlossen ist aber eine juristische Vertretung.            Maßnahmen aufgeführt. Sollten Sie
                                                                                         also eine Modernisierungsankündigung
   An welche Mieterberatung kann ich mich wenden, wenn ich im Sanierungs-                erhalten, vergleichen Sie diese mit dem
   gebiet Karl-Marx-Straße / Sonnenallee wohne?                                          Anhörungsschreiben. Gibt es ein sol-
   Die Mieterberatung für das Aktive Zentrum und Sanierungsgebiet Karl-Marx-             ches Anschreiben nicht, zögern Sie nicht
   Straße / Sonnenallee berät im Büro des Citymanagements der [Aktion! Karl-             nachzufragen, ob eine Genehmigung
   Marx-Straße], Richardstr. 5 (Kontakt siehe Seite 20).                                 überhaupt erfolgt ist. Am einfachsten
                                                                                         ist dies bei der bezirklichen Mieterbera-
   Weitere Mieterberatungen in Neukölln finden Sie auf der Website des Bezirk-           tung oder per Mail unter milieuschutz@
   samts Neukölln www.berlin.de/ba-neukoelln                                             bezirksamt-neukölln.de.
                                                                                         Oliver Türk

                                                                                                               KARLSON August 2019 7
KARLSON SANIERUNGSZEITUNG - Seiten
KNAPPER RAUM FÜR VIEL VERKEHR
Wie lässt sich der Wandel zugunsten des Rad- und Fußverkehrs gestalten? Ein Gespräch.

Im Aktiven Zentrum und Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße /        Evertz: Die Eckpunkte für die Planungen haben wir bereits
Sonnenallee prägt vor allem der Umbau der Straßen das             2008 gesetzt. Ziel war es damals wie heute, die Karl-Marx-
Bild – allen voran die Sanierung der Karl-Marx-Straße. Vor        Straße vom Autoverkehr zu entlasten. Dazu gehört, dass die
allem für Fußgänger*innen und Radverkehr sollen dabei             Autos nur noch auf einer Spur pro Richtung fahren, die Ver-
bessere Bedingungen als bisher geschaffen werden. Dies ist        breiterung der Gehwege und die Schaffung einer eigenen Rad-
auch das Ziel des Berliner Mobilitätsgesetzes. Doch in der        spur. Mit diesen Zielen wurde unter anderem die Aufnahme in
Praxis erfolgt die Durchsetzung dieser Ziele nicht immer          das Förderprogramm Aktives Zentrum begründet.
reibungslos. Wir sprachen dazu mit Helmut Große Inkrott und
Lino Maisant, Mitglieder im „Netzwerk Fahrradfreundliches         Der zweite wichtige Punkt war der partizipative Charakter des
Neukölln“ und Horst Evertz von der BSG Brandenburgischen          Förderprogramms. Die ersten Ideen für das Gebiet wurden in
Stadterneuerungsgesellschaft mbH.                                 umfangreichen Beteiligungsverfahren abgestimmt. Das war
                                                                  damals revolutionär.
   : Berlin hat als erstes deutsches Bundesland ein Mobili-
tätsgesetz verabschiedet. Was bedeutet dies aus Ihrer Sicht       Große Inkrott: Die Planungen für die Karl-Marx-Straße sind
für die Zukunft der Mobilität in dieser Stadt?                    weitgehend abgeschlossen. Eine Erweiterung erfolgt gerade
                                                                  mit der Umsetzung der „Protected Bike Lane“, des geschütz-
Große Inkrott: Ziel des Gesetzes ist, das hohe Verkehrsauf-       ten Radstreifens zwischen Hermannplatz und Reuterstraße
kommen der wachsenden Stadt Berlin neu zu regeln. Es              bzw. des neuen Radstreifens bis zur Weichselstraße. Dies
braucht Planungssicherheit für die Umsetzung neuer ver-           beruht auf Vorschlägen des „Netzwerk Fahrradfreundliches
kehrspolitischer Ziele. Wichtig ist mir die „Version Zero“, das   Neukölln“ und wurden auch von der Lenkungsgruppe der
heißt, in Zukunft keine Verkehrsunfälle mit Toten oder Schwer-    [Aktion! Karl-Marx-Straße] befürwortet. Dennoch kritisiert das
verletzten mehr zu haben.                                         Netzwerk einige Dinge im Gebiet. So gibt es kein übergreifen-
                                                                  des Verkehrskonzept. Wir befürchten, dass nach Abschluss der
Die Entstehung dieses Gesetzes ist bemerkenswert. Es wurde        Baumaßnahmen nachträglich keine verkehrslenkenden Maß-
gemeinsam mit den Aktivisten des Umweltverbunds (Busse,           nahmen mehr integriert werden können.
Bahnen, Tram, Fahrrad, Fußverkehr) entwickelt und hat seine
Grundlage in einem basisdemokratischen Prozess, den Aktivi-       Evertz: Ich stimme zu, dass es für Nord-Neukölln ein groß-
täten um den Volksentscheid Fahrrad. Für Berlin einmalig ist      räumiges Verkehrskonzept braucht. Aber wir sind z. B.
die schnelle Verabschiedung des Gesetzes.                         gezwungen, mit der umgebauten Donaustraße eine Umge-
                                                                  hungsstrecke für den Radverkehr anzubieten, wenn die Karl-
   : Das Mobilitätsgesetz möchte den knappen Platz, der           Marx-Straße in Richtung Norden weiter umgebaut wird. Ein
als öffentlicher Raum zur Verfügung steht, zugunsten des          Verkehrskonzept kann auch dann erst sinnvoll erarbeitet wer-
Umweltverbunds neu aufteilen. Wie beurteilen Sie vor              den, wenn sich die Verkehrsströme nach dem Abschluss der
diesem Hintergrund die Planungen und Umsetzungen im               großen Straßenbaumaßnahmen wieder normalisiert haben.
Sanierungsgebiet?
                                                                  Große Inkrott: Viel diskutiert werden in diesem Zusammen-
                                                                  hang auch Umweltbelastungen wie Lärm, Stickoxide und
Verschiedene Verkehrsmittel auf engem Raum                        Feinstaub in dicht besiedelten Gebieten.

                                                                  Maisant: Die Donaustraße hat z. B. in Bezug auf das Thema
                                                                  Umweltgerechtigkeit schlecht abgeschnitten.

                                                                  Evertz: Eines der Sanierungsziele ist, gemeinsam mit den
                                                                  Eigentümer*innen die wohnungsnahen Freiflächen zu verbes-
                                                                  sern, u. a. durch Hofbegrünungen. Dabei sollen vorhandene
                                                                  Stellplätze möglichst von den Höfen verschwinden. Wir spre-
                                                                  chen im Sanierungsgebiet von einer vierstelligen Zahl. Bei
                                                                  einer Verlagerung der Stellplätze erhöht sich aber wiederum
                                                                  der Parkdruck auf der Straße. Die Probleme und Lösungswege
                                                                  sind also sehr komplex.

                                                                     : Was bedeutet „radgerechter Umbau“?

                                                                  Große Inkrott: Das vorrangige Ziel ist es, mehr Menschen auf
                                                                  das Fahrrad zu bringen. Dafür braucht es mehr Sicherheit
                                                                  für den Radverkehr – wobei Sicherheit sehr unterschiedlich
8 KARLSON August 2019
KARLSON SANIERUNGSZEITUNG - Seiten
empfunden wird. Der Fahrradverkehr
nimmt besonders hier in Neukölln stark
zu, die Infrastruktur muss nachziehen.

Maisant: Langfristig ist es wünschens-
wert, den Komfort für den Radverkehr zu
erhöhen. Wir stehen aber noch am Anfang
der Verkehrswende. Zunächst muss das
subjektive Sicherheitsgefühl für Fahrrad-
fahrer*innen verbessert werden.

   : Noch vor einigen Jahren galt der
Fahrradstreifen auf der Fahrbahn als
sichere Alternative zum Radweg auf
dem Bürgersteig. Warum stößt nun der
neue Fahrradstreifen auf den umge-
bauten Abschnitten der Karl-Marx-                     Falschparkende Autos zwingen Radfahrer*innen auf den Fußweg
Straße auf Kritik?
                                                      Ordnungsamt kontrolliert derzeit täg-                  : Die Aggressionen im Straßenver-
Große Inkrott: Wenn sich alle Verkehr-                lich. Wenn die Parkraumbewirtschaftung              kehr nehmen nachweislich zu. Wie
steilnehmer*innen an die Verkehrs-                    im Gebiet umgesetzt ist, wird es leich-             kann zwischen den Verkehrsteilneh-
regeln halten würden, könnte ich mit                  ter werden, die Ladezonen von den dort              mer*innen vermittelt werden?
dem Radstreifen gut leben. Dies ist                   parkenden Autos zu befreien und so die
aber leider nicht so. Der Streifen wird               Ladevorgänge für die Geschäfte abzu-                Evertz: Einige Radfahrer*innen sind
regelmäßig von Fahrzeugen zugeparkt.                  sichern. Der Wirtschaftsverkehr in der              vielleicht der Meinung, nach jahrzehnte-
Autofahrer*innen nehmen sich diesen                   Karl-Marx-Straße muss funktionieren,                langer Bevorzugung des Autos seien sie
Raum wieder zurück. Eine Lösung ist ein               damit sie für Händler*innen und Kund-               jetzt mal dran. Manche Autofahrer*innen
geschützter Radstreifen („Protected Bike              schaft attraktiv bleibt.                            hingegen sehen in den Radfahrer*innen
Lane“). Auf baulich geschützten Rad-                                                                      Feinde, die in ihre angestammten Rechte
streifen fühlen sich viele Radfahrer*in-              Große Inkrott: Die Einrichtung der                  eingreifen. Auf beiden Seiten ist ein
nen nachweislich sicherer.                            „Protected Bike Lanes“ ist ja ein ber-              Lernprozess nötig.
                                                      linweites Pilotvorhaben und man kann
Maisant: Dabei ist es nicht die Farbe                 dadurch belegbare Erfahrungen sam-                  Große Inkrott: Da stimme ich zu. Die-
entscheidend, mit der der Streifen mar-               meln. Gemeinsam mit der Anlage auf                  ses Aggressionspotenzial beeinträchtigt
kiert wird. Es wird dort bewusst falsch               der Straße Hasenheide hat sie eine nen-             alle und es ist eine Herausforderung,
geparkt, deshalb braucht es eine baulich              nenswerte Länge für eine Untersuchung.              hier Verständnis füreinander zu wecken.
getrennte Lösung.                                     Zurzeit haben die geschützten Radstrei-             Allerdings ist der Anteil des motorisier-
                                                      fen noch einen schlechten Ruf in Berlin.            ten Individualverkehrs (MIV) in den letz-
Evertz: Grundsätzlich kann man Pla-                   Wir gehen aber davon aus, dass die For-             ten Jahren sicher nicht zurückgegangen,
nungen nicht am Fehlverhalten der                     derungen zur Einrichtung der Protected              zwei Drittel des öffentlichen Raums ste-
Menschen ausrichten. Dennoch wird                     Bike Lanes zunehmen, wenn die Vorteile              hen noch immer dem MIV zur Verfügung.
einiges zur Verbesserung getan. Das                   erkannt werden.                                     Es gibt nur wenige Städte, in denen man
                                                                                                          flächendeckend so günstig parken kann
Lino Maisant, Helmut Große Inkrott und Horst Evertz                                                       wie in Berlin. Da muss es einen Kultur-
                                                                                                          wechsel geben.

                                                                                                          Evertz: Wir brauchen Straßen, vor allem
                                                                                                          zur Ver- und Entsorgung. Auch sollten
                                                                                                          wir Verständnis für Autofahrer*innen
                                                                                                          haben, die aus beruflichen oder gesund-
                                                                                                          heitlichen Gründen auf das Auto ange-
                                                                                                          wiesen sind. Und natürlich für den Wirt-
                                                                                                          schaftsverkehr. Verzichtbar ist aber der
                                                                                                          parkende Verkehr, der die meiste Zeit
                                                                                                          ungenutzt den öffentlichen Straßenraum
                                                                                                          belegt.

                                                                                                              : Ich danke für das Gespräch.
                                                                                                          Interview: Stephanie Otto

                                                                                                                                      KARLSON August 2019 9
KARLSON SANIERUNGSZEITUNG - Seiten
SANIERUNG KONTROVERS
Wie geht es weiter am Weigandufer?

Montag, 24. Juni 2019 – ein denkwürdiger Abend im Çigli­          auch am Weigandufer zwischen Wildenbruchstraße und
Zimmer, 1. Stock, Rathaus Neukölln. Das Beteiligungsgre-          Innstraße. Hier wurden Ende Februar Büsche und Sträucher
mium Sonnenallee hat zu seiner allmonatlichen Sitzung             gerodet, um die Neugestaltung des Uferwegs entsprechend
geladen. Der Veranstaltungsort sowie die große Anzahl und         den Zielen der Planung ermöglichen zu können. Dazu gehört,
die Zusammensetzung der Gäste sind ungewöhnlich. Die              dass der Uferweg verbreitert und barrierefrei gestaltet wer-
Stimmung ist angespannt.                                          den kann. Zudem sollen nicht einsehbare Räume reduziert
                                                                  und der Uferbezug des Weges gestärkt werden (siehe auch
Die Mitglieder des Beteiligungsgremiums, Fachleute aus der        Artikel im KARLSON Nr. 3). Viele der anwesenden Anwoh-
Verwaltung, die Sanierungsbeauftragte BSG mbH und circa           ner*innen sind von den durchgeführten Rodungen enttäuscht.
30 Bürger*innen wollen vor allem über die Umsetzung der           Zahlreiche Protestbriefe erreichten das Bezirksamt. Unter
Planungen am Weigandufer reden, die Planung erklären oder         dem Eindruck der weltweiten „Fridays for Future“-Bewegung
ihrem Ärger Luft machen. Zu Gast ist auch Bezirksbürger-          werden die Rodungen seitens einiger Bürger*innen als rück-
meister Martin Hikel, der gleichzeitig als Leiter der Abteilung   wärtsgewandt eingeschätzt: das Mikroklima würde geschä-
Finanzen und Wirtschaft dem Straßen- und Grünflächenamt           digt, das Bienensterben forciert und der ganze Bereich am
vorsteht.                                                         Weigandufer gestalterisch abgewertet. Es wird zudem gar
                                                                  befürchtet, dass hier statt eines blühenden Grünstreifens
WAS IST PASSIERT?                                                 eine „Betonwüste“ entstehe. Viele können die Gründe für die
Die Planungen für das Weigandufer sind seit dem Jahr 2016         Rodungen nicht nachvollziehen.
auf dem Weg. Eine erste Begehung zur Bestandsaufnahme
des Weigandufers mit dem Beteiligungsgremium fand bereits         Tatsächlich gab es seit der Beteiligungsphase Planungsände-
2015 statt (siehe Artikel im KARLSON Nr. 3). Die Planungen        rungen. Eine komplette Rodung der Sträucher war zunächst
folgen dem Sanierungsziel im Sanierungsgebiet Karl-Marx-          nicht vorgesehen, sondern lediglich eine Reduzierung der
Straße / Sonnenallee, die öffentliche Infrastruktur, also Stra-   Gehölze (siehe Planskizze im KARLSON Nr. 4). Dass nun die
ßen, Plätze oder Grünflächen, für die Bevölkerung im Gebiet       gesamten Sträucher am Uferweg gerodet werden müssen,
zu verbessern. Konkret heißt das Barrierefreiheit, Fahrrad-       wurde erst klar, nachdem die gesetzlichen Anforderungen für
gerechtigkeit und Verkehrssicherheit. Alle Menschen sollen        die Versickerung des Regenwassers bzw. die Entwässerungs-
sicher und einfach die öffentliche Infrastruktur in Neukölln      bestimmungen des Landes Berlin verschärft wurden (siehe
nutzen können. Eine wichtige Maßnahme ist dabei die Neu-          auch Erläuterung im untenstehenden Kasten). Die geforderte
gestaltung der Uferzone zwischen Lohmühlen- und Weich-            Regenwasserbewirtschaftung wird am Weigandufer über
selplatz und entlang des Weigandufers bis zur Innstraße. Die      sogenannte Muldenflächen geschehen. Die bestehenden
Umgestaltung des Lohmühlen- und Weichselplatzes und der           Sträucher verhindern die vorgeschriebene Entwässerung der
Ausbau der Uferpromenade in diesem Bereich wurden 2017
abgeschlossen. Bei dieser Maßnahme wurden viele Anregun-
gen des Beteiligungsgremiums und der Anwohner*innen in               Problemfall Regenwasserversickerung
einer konstruktiven Atmosphäre diskutiert und flossen in die
Planung ein (siehe Artikel im KARLSON Nr. 2). Die Fortset-           Bei der Baumaßnahme Weigandufer müssen das „Ber-
zung der Baumaßnahmen am Weigandufer ist hingegen sehr               liner Wassergesetz“, die Richtlinie zur „Begrenzung von
konfliktreich.                                                       Regenwassereinleitungen bei Bauvorhaben in Berlin“
                                                                     und die Klima- und Umweltziele bei der Entwässerung
Die lange Dauer von den ersten Planungen bis zur Umsetzung           (SenUVK) beachtet werden. Demnach muss das anfal-
einer Baumaßnahme stellt ein generelles Problem dar und              lende Regenwasser auf dem Grundstück des Bauvorha-
trägt auch am Weigandufer zum Konflikt bei. Rechnet man die          bens (hier der Gehweg am Schifffahrtskanal) auf natürli-
erste Bestandsaufnahme am Weigandufer mit ein, sind seit-            che Weise abgeführt werden. Das Niederschlagswasser
dem knapp vier Jahre vergangen. Zum Weigandufer fanden im            darf nicht in die bestehende Kanalisation eingeleitet
Juli 2016 und Dezember 2017 öffentliche Erörterungsveran-            werden – und aufgrund des Gewässerschutzes auch
staltungen statt. Zudem gab es Sitzungen des Beteiligungs-           nicht in den Neuköllner Schifffahrtskanal. Somit bleibt
gremiums Sonnenallee, in denen unter anderem der Leiter              am Weigandufer nur die Versickerung an Ort und Stelle.
des Straßen- und Grünflächenamtes die Planungen und Bau-             Hierzu ist der Bau einer Versickerungsmulde notwen-
maßnahmen erklärte. Viele der aufgebrachten Anwohner*in-             dig. Diese muss auch eine Reinigungsfunktion besitzen,
nen und Gäste des Beteiligungsgremiums haben von diesen              damit kein belastetes Wasser ins Grundwasser gelangt.
Veranstaltungen und deren Ergebnissen noch nie etwas                 Die Filterfunktion muss eine belebte Bodenzone (unbe-
gehört und kennen die Diskussionen, die bereits geführt wur-         lasteter Oberboden) übernehmen. Aus diesem Grund
den, nicht.                                                          muss am Weigandufer der Boden ausgetauscht werden.
                                                                     Dies führt wiederum dazu, dass die Bestandssträucher
Proteste von Betroffenen treten oftmals erst auf, wenn die           nicht erhalten werden können.
Folgen der Planung konkret im Raum sichtbar werden. So
10 KARLSON August 2019
Querschnitt zukünftige Gestaltung Weigandufer zwischen Wildenbruch- und Innstraße

neuen größeren Wegeflächen. Der Verlust der Vegetation,                             können, soll doch da, wo es möglich ist, ein Ausgleich für die
so zeigte die Veranstaltung, scheint jedoch für die meisten                         zu rodenden Sträucher geschaffen werden. Für diese Abend-
der Anwesenden ein zu hoher Preis zu sein. Für den letzten                          veranstaltung des Beteiligungsgremiums hat das Straßen-
Bauabschnitt, der ab Herbst 2019 zwischen Fulda- und Wil-                           und Grünflächenamt daher neue Vorschläge für den Abschnitt
denbruchstraße umgesetzt werden soll, sollten nach ihrer                            zwischen Fulda- und Wildenbruchstraße entwickelt (siehe
Ansicht noch einmal Alternativen zur Rodung geprüft werden.                         dazu auch Interview mit Bezirksbürgermeister Martin Hikel).
Aus Sicht der planenden Verwaltung ist der Wunsch, viel von
der bestehenden Vegetation zu erhalten, nachvollziehbar. Auf                        Die Vorstellung des Konzepts für intensivere Neupflanzun-
das Ziel der Erneuerung der Uferpromenade und die barriere-                         gen mit Sträuchern und eine konstruktive Diskussion darüber
arme Gestaltung der Uferwege, die Bestandteil des „Inneren                          gelang jedoch nicht. Die Ausführungen von Bürgermeister
Parkrings“ sind, der zu den „20 grünen Hauptwegen“ in Ber-                          Hikel und den Mitarbeiter*innen des Straßen- und Grünflä-
lin gehört, müsste dann aber verzichtet werden. Eine solche                         chenamtes wurden immer wieder unterbrochen. Bewusst
Lösung kann deshalb die Fachverwaltung, die den gesetzli-                           falsche Darstellungen und Zusammenfassungen verhinderten
chen Auftrag hat, unterschiedliche Belange und Interessen zu                        eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorschlägen.
berücksichtigen und abzuwägen, nicht mittragen.
                                                                                    Herr Hikel bot an, bei Bedarf die Sitzung des Beteiligungsgre-
WIE GEHT ES WEITER?                                                                 miums im August erneut zu besuchen, um das überarbeitete
Die Verantwortlichen im Bezirk versuchen nun, den Anliegen                          Konzept nochmals vorzustellen und inhaltlich zu diskutieren.
der Bürger*innen entgegenzukommen und zumindest die                                 Stephanie Otto
Neupflanzungen zu intensivieren. Wenn auch nicht die Anfor-
derungen an die Entwässerung der Wege verändert werden

INTERVIEW MIT BEZIRKSBÜRGERMEISTER MARTIN HIKEL

   : Herr Hikel, wie bewerten Sie die Diskussion zu den Pla-                        nicht vorbeikommen. Bei alledem steht Sicherheit und Barrie-
nungen am Weigandufer?                                                              refreiheit im Mittelpunkt. Die Begrünung des Streifens wurde
                                                                                    nun aber deutlich verändert.
Hikel: Ich nehme die Reaktionen der Anwohner*innen sehr
ernst. Von Anfang an wurde mit dem Beteiligungsgremium                                  : Und was passiert nun mit den Sträuchern am Ufer, die
zusammengearbeitet, deshalb habe ich mich natürlich über                            viele der Anwohner*innen erhalten wollen?
manche Reaktionen tatsächlich gewundert. Aber dennoch
haben wir unsere ursprünglichen Planungen angepasst, weil                           Hikel: Da die neuen Vorgaben der Senatsverwaltung zur
sich manche Anwohner*innen scheinbar überrollt gefühlt                              dezentralen Regenentwässerung verbindlich sind und breite
haben und mittlerweile andere Menschen dort aktiv sind als                          und tiefe Mulden vorsehen, müssen die bestehenden Sträu-
vor drei Jahren.                                                                    cher entfernt werden. Wir haben deshalb vereinbart, in dem
                                                                                    gesamten Abschnitt nicht nur niedrige Stauden, sondern
    : Was heißt denn angepasst?                                                     zusätzlich neue Sträucher zu pflanzen. Damit wurde auch
                                                                                    einem vielfach auf einem Anwohner*innenworkshop geäußer-
Hikel: Zentrales Ziel war die Herstellung von Barrierefrei-                         ten Wunsch entsprochen. Wir wollen nun in dem gesamten
heit und Sicherheit am Ufer. Dabei wird es auch bleiben. Ich                        Bereich einheimische Sträucher pflanzen. Sie wurden nach
will, dass Menschen mit Kinderwagen oder im Rollstuhl den                           Bienenfreundlichkeit ausgesucht und berücksichtigen die
Uferweg genauso selbstverständlich nutzen können wie alle                           bestehende Artenvielfalt. Unsere aktualisierte Planung haben
anderen auch. Das Geländer muss dringend erneuert werden,                           wir ebenfalls mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz
genauso wie wir an einer funktionierenden Entwässerung                              (BUND) abgestimmt.
                                                                                                                               KARLSON August 2019 11
Wildenbruchpark mit Grotte um 1910. Hinter der Fontäne das Verwaltungsgebäude der Pumpstation

LEBEN AM WASSER
An den Ufern des Neuköllner Schifffahrtskanals
Eine Uferpromenade unter dem Schatten alter Bäume für Flaneure                   Neben Baumaterial machten die Kohlelieferun-
und Fahrradfahrer*innen, Spielplätze und Parkbänke für Alt und Jung,             gen für die städtische Gasanstalt in der Teupitzer
Restaurants und Cafés mit Blick aufs Wasser – entsteht südöstlich des            Straße einen Großteil des Frachtverkehrs aus. Mit
Lohmühlenbeckens eine Fortsetzung der Kreuzberger Kanalromantik?                 dem Anschluss des Kanals an den Teltowkanal im
Im zweiten Teil der Artikelserie zur Geschichte „Trepköllns“ blickt der          Süden der Stadt und der Anlage eines modernen
Historiker Henning Holsten zurück auf die Erbauung und frühe Nutzung             Industriehafens südlich der heutigen Sonnenallee
der wichtigsten Wasserstraße Neuköllns Anfang des letzten Jahrhun-               verbanden die Stadtväter 1914 große Hoffnungen auf
derts.                                                                           einen Aufschwung von Gewerbe, Industrie und Han-
                                                                                 del Neuköllns – die sich durch den Ausbruch des
Ansätze gutbürgerlicher Lebenskultur gab es bereits vor über 100 Jah-            1. Weltkrieges jedoch schnell zerschlugen.
ren, als der Kanal und die umgebenden Wohnviertel erbaut wurden. Die
Rixdorfer Stadtplaner Hermann Weigand und Reinhold Kiehl, nach denen             Verbunden wurden die neu angelegten Straßen zu
heute die Uferstraßen benannt sind, hatten aber zunächst elementarere            beiden Seiten des Kanals zunächst durch vier pro-
Bedürfnisse der rasant wachsenden Stadtgemeinde und seiner mehrheit-             visorische Holzbrücken: die Lohmühlen-, Wilden-
lich proletarischen Bewohnerschaft im Blick.                                     bruch-, Teupitzer- und Treptower Brücke, die erst
                                                                                 nach Kriegsende durch Steinbauten ersetzt wurden.
LEBENSADER DER WIRTSCHAFTLICHEN STADTENTWICKLUNG                                 Hinzu kam bereits 1906 der Elsensteg, der bis heute
Zuallererst diente der 1902 begonnene Kanalbau der Trockenlegung des             den Fußgänger*innen vorbehalten ist. Unterirdische
„froschquakenden Überschwemmungsgebietes“ der Köllnischen Wie-                   Toilettenanlagen neben den Brücken und „Trink-
sen (siehe KARLSON 4/2017). Nach der Freigabe für den Verkehr im April           hallen“ genannte Kioskhäuschen an Lohmühlen-,
1904 wurde der Schiffahrtskanal vorwiegend von schweren Lastkähnen               Weichsel- und Wildenbruchplatz befriedigten die
befahren, die Ziegel und Holz für die Bebauung der dadurch erschlossenen         dringendsten Bedürfnisse der täglich über den
Flächen lieferten. „Auch Rixdorf wird, wie Berlin, ‚aus dem Kahn‘ erbaut“,       Kanal strömenden Bevölkerung.
bemerkte die Rixdorfer Zeitung am 8.7.1904.
12 KARLSON August 2019
Eisläufer auf dem zugefrorenen Kanal um 1910. Hinter der Treptower Brücke sind   Wettschwimmen „Quer durch Neukölln“ 1921. Am Ufer die Anlegestelle am
die gigantischen Kohlenkräne der städtischen Gasanstalt zu erkennen.             Weichselplatz

BÜRGERLICHE WOHNKULTUR IN DER ARBEITERSTADT                                      Während das Schwimmen im Kanal in den 1950er Jahren auf-
Neben der Versorgung der größtenteils ärmlichen                                  grund der schlechten Wasserqualität untersagt wurde, hat sich
Bewohnerschaft mit Wohn- und Arbeitsplätzen bemühte man                          ein anderes Freizeitvergnügen bis auf die heutigen Tage erhal-
sich jedoch auch um eine attraktivere Gestaltung der neuen                       ten. Von der Anlegestelle an der Wildenbruchbrücke starteten
Wohnviertel, um ein eher bürgerliches Publikum anzusprechen.                     bereits ab 1913 in den Sommermonaten Ausflugsdampfer in
So wurden insbesondere entlang des Weigandufers mehrere                          Richtung Havelseen oder Müggelberge. Besonders beliebt
Baumreihen gepflanzt, Spielplätze und kleine Schmuckplätze                       waren „Mondscheinfahrten“ zur Abteiinsel in der Spree (heute
angelegt, die zum Aufenthalt und zur Erholung vom rauen                          Insel der Jugend), die von 1913 bis 1920 zu Neukölln gehörte,
Arbeitsalltag einluden.                                                          oder zum Feuerwerk „Treptow in Flammen“ während des
                                                                                 Stralauer Fischzuges.
Herausragendes Beispiel ist der 1905 eingeweihte Wilden-                         Henning Holsten
bruchpark. Hier stand die Pumpstation der Rixdorfer Kanali-
sationswerke, die seit 1893 die Rixdorfer Haushalts- und Stra-
ßenabwässer zu den Rieselfeldern in Boddinsfelde leiteten. Die                       Neugestaltung der ehemaligen Brunnenanlage
warmen Abwässer der Pumpmaschinen ermöglichten die Ein-                              Wildenbruchplatz
richtung einer einzigartigen Besonderheit der ansonsten wenig
spektakulären Grünanlage: Eine Tuffsteingrotte mit Wasser-                           Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Wei-
bassin und Springbrunnen. Im ganzjährig erwärmten Wasser-                            gandufers soll in der Parkanlage Wildenbruchplatz die
becken tummelten sich nicht nur Goldfische, sondern ab 1927                          schon lange außer Betrieb gestellte Brunnenanlage
auch eine seltene Amazonas-Seerose, deren prächtige Blüten                           neu gestaltet werden. Dafür wird voraussichtlich Ende
sich nur zwei Nächte im Jahr öffneten.                                               des Jahres 2019 ein Ideenwettbewerb ausgeschrie-
                                                                                     ben. Ziel des Wettbewerbs könnte die künstlerische
Die vom Gartenamt sorgsam gepflegte Wildenbruch-Grotte                               Interpretation des Themas „Brunnen“ durch ein frei-
lockte allerdings nicht nur erwünschte Gäste an. Presseberich-                       räumliches Objekt sein.
ten der 1930er Jahre zufolge setzte in den warmen Monaten
allabendlich eine regelrechte Ratten-Wanderung vom nahen
Kanalufer ein, da der warme Tuffstein den Nagern behaglichen
Unterschlupf und die Essensreste der Parkbesucher ein will-
kommenes Abendessen boten. Vandalismus und Kriegszerstö-
rungen verschärften das Problem nach 1945 noch, so dass die
beliebte Grottenanlage 1951 im Zuge einer Neugestaltung des
Parks beseitigt wurde.

PROLETARISCHES VERGNÜGEN
Neben Arbeit und Regeneration bot der Kanal den Neuköll-
ner*innen auch Gelegenheit zu Sport und Freizeitspaß. In den
ersten Jahren hatte der Magistrat die Rechte zum Angeln,
Schwimmen und Eislaufen noch einem Pächter übertragen
– wogegen insbesondere die Rixdorfer Sozialdemokraten hef-
tig protestierten. In der Zeit der Republik organisierten dann
Arbeitersportvereine das jährliche Wettschwimmen „Quer
durch Neukölln“ vom Lohmühlenbecken bis zur heutigen Son-                        Die Westseite des Wildenbruchplatzes mit der Felsengrotte kurz nach der Fertig-
nenbrücke, an dem meist über 100 Schwimmer*innen teilnah-                        stellung 1905. Im Hintergrund das noch unbebaute Kanalufer mit der hölzernen
men, die von Tausenden vom Ufer aus angefeuert wurden.                           Wildenbruchbrücke.

                                                                                                                                        KARLSON August 2019 13
NEUE EINRICHTUNGEN
FÜR KINDER UND JUGENDLICHE
Drei Projekte werden umgesetzt
Der Bezirk Neukölln hat sich zum Ziel gesetzt, die Aus-         Bereich ein geschlossener Garten vorgesehen, der nur über
stattung des Quartiers mit öffentlichen Einrichtungen der       das Gebäude erreicht werden kann.
Bildung und Freizeit besonders für Kinder und Jugendliche
zu verbessern. In den vorbereitenden Untersuchungen zur         Das Gebäude selber soll freundlich und einladend wirken und
Festsetzung des Sanierungsgebiets wurden 2008 große             zudem als ein Haus für die Jugend erkennbar sein. Gleich-
Defizite beim Zustand der im Gebiet vorhandenen Einrich-        zeitig sollen die Fassadenmaterialien auch potentiellem Van-
tungen festgestellt. Zudem ist ein großer Teil der ansässigen   dalismus vorbeugen. Im Erdgeschoss besteht die Fassade
Bevölkerung auf leistungsfähige öffentliche Bildungs- und       des Gebäudes zum Spielplatz hin deshalb aus sogenannten
Freizeitangebote angewiesen. Drei Projekte befinden sich        Gabionen-Körben, die mit wildem Wein oder Efeu berankt
mittlerweile in der Planung und Umsetzung.                      werden können. Diese grüne Wand ist überwiegend geschlos-
                                                                sen und öffnet sich hauptsächlich am Eingangsbereich, der
DER ENTWURF FÜR DAS NEUE BLUEBERRY INN                          sich abends und nachts leicht mit einem Rollgitter schließen
Der geplante Neubau der Jugendfreizeiteinrichtung „Blue-        lässt. Den Eingangsbereich des Gebäudes bildet ein Foyer mit
berry Inn“ in der Reuterstraße 9–10 nimmt Gestalt an. In        Zugang zum Büro, von dem man einen guten Überblick über
einem Auswahlverfahren mit mehreren Architekturbüros            den „Stadtplatz“ hat. Das Foyer liegt im Zentrum des Gebäu-
konnte sich die Arbeitsgemeinschaft PUPJUC, bestehend aus       des und fungiert als ein horizontaler und vertikaler „Vertei-
den Büros „Partner und Partner Architekten“ sowie „JUCA         ler“, der alle Nutzungsbereiche über kurze Wege erreichbar
architektur + landschaftsarchitektur“, mit ihrem Entwurf        macht. Im Erdgeschoss gelangt man so zum Kindertreff, dem
durchsetzen. Dieser sieht einen zweistöckigen Neubau vor,       Mädchenzimmer und dem Bewegungsraum. Über die zentrale
der gleichzeitig eine Trennungsfunktion für die zukünftige      Treppe erreicht man das Obergeschoss. Hier befinden sich
Außenanlage beinhaltet. Während im südlichen Eingangs-          ein Lernraum, ein Seminarraum und ein offener Jugendtreff.
bereich ein halböffentlicher „Stadtplatz“ entstehen soll, der   Letzterer liegt an einer eingefassten Dachterrasse, die als
sich zwischen den öffentlichen Spielplätzen erstreckt und       eine Art „Dachgarten“ ein niederschwelliges Freiraumangebot
einen Aufenthalt beim Ankommen ermöglicht, ist im hinteren      schafft.

Entwurfsplanung Blueberry Inn und Außengelände

14 KARLSON August 2019
Visualisierung Neubau Blueberry Inn

Das Raumprogramm des Neubaus zeichnet sich             genügt nicht mehr den baulich-energetischen und funktionalen Anforde-
durch vielfältige Nutzungsmöglichkeiten aus, so        rungen einer zeitgemäßen Nutzung.
dass zukünftig neben den Kindern und Jugend­
lichen auch die Stadtteilmütter, die Helene-           Im Integrierten Stadtentwicklungskonzept für das Sanierungsgebiet
Nathan-Bibliothek sowie die Volkshochschule das        Karl-Marx-Straße / Sonnenallee wurde das Ziel formuliert, am Standort
neue Gebäude für ihre Zwecke nutzen können. Der        Manege eine integrierte Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung zu etab-
Vorentwurf für die Außenanlagen sieht eine klare       lieren, die auch Räume zur Förderung von lernschwachen Schüler*innen
Gliederung der einzelnen Nutzungsbereiche vor.         sowie offene Beratungs- und Koordinierungsleistungen für das Quartier
Die beiden Spielplätze und die halböffentlichen Flä-   anbieten kann. Um diese Ziele am Standort verwirklichen zu können,
chen um das Blueberry Inn reihen sich nördlich des     wurde im letzten Jahr eine Machbarkeitsstudie beauftragt. In der Studie
Weges auf und werden von hier erschlossen. Einzig      wurden drei Varianten untersucht: der Umbau des Bestandsgebäudes,
der Spielplatz für die vorwiegend 8- bis 14-jähri-     der Umbau und die Erweiterung des Bestandsgebäudes und schließlich
gen erhält einen weiteren, direkten Zugang von der     Abriss und Neubau.
Reuterstraße. Insgesamt wird das Bauvorhaben
mit ca. 3,7 Millionen Euro aus dem Baufonds für
Baumaßnahmen des Programms „Soziale Stadt“             Lageplan Neubau „Manege“
gefördert. Die Bauarbeiten sollen im Februar 2020
beginnen und im Sommer 2022 fertiggestellt wer-
den. Für die Dauer der Bauarbeiten wird am Bod-
dinplatz ein Ausweichstandort errichtet.

DIE PLANUNGEN FÜR DIE „MANEGE“
AUF DEM CAMPUS RÜTLI
Die Jugendfreizeiteinrichtung „Manege“ ist
Bestandteil des „Campus Rütli“ (CR²). Dieser ver-
eint neben der Gemeinschaftsschule weitere Bil-
dungseinrichtungen, in denen Kinder und Jugend-
liche bis zum Eintritt in das Berufsleben intensiv
gefördert werden. Die Manege ist die einzige große
Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung (KJFE) in
der Bezirksregion Reuterstraße. Sie hat zurzeit
räumliche Kapazitäten für 150 Plätze. Das Gebäude
weist jedoch erhebliche bauliche Mängel auf und
                                                                                                           KARLSON August 2019 15
Bestandsgebäude „Manege“                                        Visualisierung Erweiterungsbau „Szenenwechsel“

Im Ergebnis dieser Machbarkeitsstudie hat sich der Ersatz       Der Bedarf an Freizeitangeboten für Mädchen und junge
des Altbaus durch einen Neubau als die wirtschaftlichste        Frauen kann derzeit mit den vorhandenen Räumen nicht mehr
Variante durchgesetzt. Neben den Angeboten für Kinder und       abgedeckt werden. Das Gebäude hat außerdem erhebliche
Jugendliche sollen für die Gemeinschaftsschule Unterrichts-     bauliche Defizite, die beinahe zur Sperrung des Gebäudes
räume für Praxislerngruppen mit insgesamt rund 30 Schü-         geführt hätten. Aus diesem Grund wurde in verschiedenen
ler*innen entstehen. Zudem soll das Stadtteilbüro als Ort für   Varianten untersucht, wie alle Belange mit einer Erweiterung
die Nachbarschaftsarbeit im Reuterkiez einen Beratungs- und     des Gebäudes berücksichtigt werden könnten. Mit einem
Büroraum erhalten und dadurch weiter gestärkt werden.           Anbau sollen nun rund 230 Quadratmeter zusätzliche Nutzflä-
                                                                che auf drei Etagen geschaffen werden. Das Gebäude erhält
Insgesamt werden drei Fachabteilungen des Bezirksamtes          einen Aufzug und durch ein zusätzliches Treppenhaus im
Neukölln (Abt. Jugend und Gesundheit, Abt. Bildung, Schule,     Anbau wird auch der notwendige zweite bauliche Rettungsweg
Kultur und Sport sowie Abt. Stadtentwicklung, Soziales und      gesichert. Das bestehende Gebäude wird saniert und im Inne-
Bürgerdienste) für den Betrieb der künftigen multifunktio-      ren so strukturiert, das am Ende Alt- und Neubau eine Einheit
nalen Einrichtung verantwortlich sein. Diese ressortüber-       bilden werden.
greifende Zusammenarbeit ist nicht der Regelfall und stellt
daher auch organisatorisch eine Herausforderung dar. So         Für die Nutzungen bedeutet das eine deutlich verbesserte
wird die Manege z. B. für den Freizeitbereich des gebundenen    Raumsituation. So entsteht z. B. ein Bewegungs- und Tanz-
Ganztagsbetriebs der Grundstufe bis 16 Uhr genutzt. Schü-       raum und der Musikraum wird mit zusätzlichem Schallschutz
ler*innen der Gemeinschaftsschule CR² besuchen nach dem         ausgestattet. Neue Fenster und eine Lüftungsanlage sorgen
Unterricht die Manege und nehmen dort auch an den schuli-       dafür, dass die Räume im Untergeschoss künftig auch bei
schen Unterstützungsangeboten teil. Auch der große Saal, der    geschlossenen Fenstern in vollem Umfang genutzt werden
im Neubau wieder entstehen soll, wird von allen drei Trägern    können. Damit werden Lärmbelästigungen der Nachbarschaft
genutzt. Die Projektidee folgt dem Leitbild des Campus Rütli,   der Vergangenheit angehören.
ein gemeinschaftlicher Bildungs- und Erlebnisraum für Kin-
der und Jugendliche zu sein.                                    Die Fassadengestaltung orientiert sich am Bestand, jedoch in
                                                                einer neu interpretierten Form. Die Farbgestaltung im Inne-
Für das Projekt wurde im März 2019 ein Förderantrag bei der     ren des Gebäudes richtet sich nach dem Geschmack der Ziel-
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen gestellt.      gruppe. Hier wurden in enger Abstimmung mit den Nutzer*in-
Für die Planung und die Baumaßnahmen sollen Mittel der          nen sehr individuelle Lösungen gefunden.
Städtebauförderung eingesetzt werden. Nach dem aktuellen
Zeitplan soll das neue Gebäude 2024 stehen. Ziel ist es auch,   Insgesamt belaufen sich die Kosten auf 1,55 Millionen Euro.
während der Bauzeit einen Ersatzstandort für den laufenden      Die Maßnahme wird aus dem Programm SIWANA (Sonderver-
Betrieb zu finden.                                              mögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt und Errichtung
                                                                eines Nachhaltigkeitsfonds) finanziert. Die Abbrucharbeiten
SZENENWECHSEL – DAS INTERKULTURELLE ZENTRUM FÜR                 sind bereits abgeschlossen, mit den Rohbauarbeiten wurde
MÄDCHEN UND JUNGE FRAUEN                                        begonnen. Der „Szenenwechsel“ ist derzeit behelfsmäßig im
Das ehemalige Jugendheim in der Donaustraße 88a wird            benachbarten Gebäude Donaustraße 89–90 untergebracht. Die
schon seit vielen Jahren als Mädchentreff genutzt. Es handelt   Fertigstellung ist für das Jahresende 2019 geplant. Allerdings
sich um die einzige kommunale Mädcheneinrichtung in Neu-        ist aufgrund der aktuellen Kapazitätsengpässe in der Bau-
kölln. Außerdem befindet sich im „Szenenwechsel“ das Medi-      branche damit zu rechnen, dass sich die Fertigstellung mögli-
enkompetenzzentrum von Neukölln.                                cherweise verzögert.
                                                                David Fritz, Torsten Kasat, Katrin Sambleben

16 KARLSON August 2019
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