Das Ungleichheitsvirus - Wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit verschärft und warum wir unsere Wirtschaft gerechter gestalten müssen
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São Paulo: Slum Paraisópolis, der größte in der Stadt, liegt direkt neben Morumbi, einem reichen Viertel mit Wohnhäusern von hohem Standard. © C_Fernandes / istockphoto.com Das Ungleichheits- virus Wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit verschärft und warum wir unsere Wirtschaft gerechter gestalten müssen
Eine Frau sitzt in Cox Basar, dem weltweit größten Camp für Geflüchtete in Bangla desch, vor ihrem Zelt und wäscht sich die Hände, nachdem es dort zu einem Ausbruch des Coronavirus gekommen war. © Fabeha Monir / Oxfam A ls Folge der Corona-Pande teilhaben und das Gewinne unter Be- mie droht die Ungleichheit sozialen Sicherungssystemen. Kombi- achtung der planetarischen Grenzen erstmals in fast allen Ländern niert mit Arbeitslosigkeit trifft dies erwirtschaftet und von Anfang an der Welt gleichzeitig anzusteigen. vor allem in Armut lebende Menschen. gerecht verteilt. Der Schlüssel liegt in Diese Krise verschärft die vorher Dort, wo diese Systeme fehlen oder zu einer Demokratisierung der Wirtschaft, schon dramatischen Unterschiede schwach sind, verarmen und sterben das heißt Entscheidungsmacht muss zwischen Arm und Reich, zwischen mehr Menschen als anderswo. Die breit geteilt werden und darf sich den Geschlechtern und zwischen Regierungen müssen jetzt handeln nicht bei einigen wenigen konzen Weißen und Black, Indigenous and und extreme Ungleichheit und Armut trieren. People of Color (BIPoC). Bereits neun bekämpfen. Damit die notwendigen Monate nach Ausbruch der Pandemie Maßnahmen finanziert werden können, Wir brauchen allen in gleicher Weise hatten die 1.000 reichsten Milliar- müssen Konzerne und Superreiche zugängliche soziale Grunddienste, die där*innen wieder so viel Vermögen ihren fairen Anteil zur Bewältigung nicht einer Gewinnlogik unterworfen wie in der Zeit vor COVID-19. Die der Krise beitragen. werden. Unternehmen müssen demo- weltweit ärmsten Menschen hingegen kratisch und gemeinwohlorientiert könnten länger als ein Jahrzehnt Die Corona-Pandemie muss ein ausgerichtet sein, damit ihr Handeln brauchen, um die Auswirkungen der Weckruf sein, extreme Ungleichheit allen dient. Und es gilt, vielfältige Pandemie zu überwinden. und Armut endlich bei der Wurzel und durchlässige Marktstrukturen zu packen. Dafür brauchen wir ein zu schaffen, sodass Macht nicht bei Die Krise zeigt wie unter einem Brenn- Wirtschaftssystem, das die Macht und einzelnen Konzernen angehäuft wird. glas, wie sehr unser derzeitiges den Einfluss sehr großer Konzerne Wirtschaftssystem die Ungleichheit reduziert, an dem Beschäftigte, Es kann und darf nicht mehr so vertieft. Aufgrund fehlenden politi Erzeuger*innen, Verbraucher*innen weitergehen, wie zuvor – weder in schen Willens und einer chronischen und andere Akteursgruppen politisch Deutschland oder Europa noch welt- Unterfinanzierung der öffentlichen und wirtschaftlich gleichberechtigt weit. Ohne demokratische Wirtschaft Haushalte mangelt es an guten staat- wird es keine gerechte und demokra- lichen Gesundheits-, Bildungs- und tische Gesellschaft geben.
Das Ungleichheitsvirus 3 Corona macht die Welt BIPoC und weiß noch ungleicher Die Begriffe BIPoC und weiß werden verwendet, um Rassis mus und rassistische Machtverhältnisse zu benennen: Die Diagnosen von Organisationen wie dem Internationalen BIPoC ist eine widerständige Sammelbezeichnung für Men Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Organisation schen mit Rassismuserfahrung. Es ist die Abkürzung von für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Black, Indigenous und People of Color. Dies sind positiv (OECD) sind eindeutig und beklemmend: Übereinstimmend besetzte, politische Selbstbezeichnungen rassistisch dis äußern sie Besorgnis darüber, dass die Corona-Pandemie kriminierter Menschen, die für den anhaltenden Kampf der Ungleichheit und Armut weltweit verstärken wird – mit Gruppen gegen Rassismus stehen. Sie bezeichnen keine zutiefst schädlichen sozialen und wirtschaftlichen Aus- biologischen Kategorien oder Hautfarben, sondern soziale wirkungen. Der IWF weist darauf hin, dass die jüngsten Positionen, die Rassismus schaffen. Black beschreibt Men Epidemien wie H1N1 (Schweinegrippe) und das Zika-Virus schen mit afrikanischer oder afrodiasporischer Geschichte. das Ungleichheitsniveau in den betroffenen Ländern um Die deutsche Übersetzung lautet Schwarz, geschrieben mit 1,3 Prozent erhöht haben. Die Auswirkungen von Corona einem großem S. Indigenous steht für die Nachfahren der dürften weitaus größer sein, da die Pandemie weitreichen- Menschen, die im Kontext des europäischen Kolonialismus, de Einschränkungen erforderlich macht. 1 insbesondere in Amerika, kolonisiert wurden. People of Color ist eine selbst gewählte, solidarisierende Bezeich In der Tat stellt die Corona-Pandemie eine Zäsur in der nung verschiedenster Menschen, die Rassismus erleben. Geschichte der Menschheit dar: Erstmals seitdem Ungleich- Sie wird in den letzten Jahren auch in Deutschland ver heit statistisch erfasst wird, droht sie in praktisch allen stärkt verwendet. Auch die Abkürzung BIPoC, die aus dem Ländern zur gleichen Zeit anzusteigen. angloamerikanischen Raum stammt, wird im Deutschen zunehmend gebräuchlicher. Sie erkennt gemeinsame, aber Diese Befürchtung wird durch eine von Oxfam durchgeführ- auch gruppenspezifische Rassismuserfahrungen an und te Umfrage unter 295 Wirtschaftswissenschaftler*innen macht diese sichtbar. aus 79 Ländern gestützt, darunter führende Ökonom*in- nen wie Jayati Ghosh, Jeffrey Sachs und Gabriel Zucman.2 Im Gegensatz zu BIPoC ist weiß keine Selbstbezeich 87 Prozent der Befragten erwarten, dass die Einkom- nung, sondern eine kritische Analysekategorie, die jene mensungleichheit in ihrem Land als Folge der Pandemie Menschen beschreibt, die in rassistischen Verhältnissen zunehmen oder stark zunehmen wird. Mehr als die privilegiert positioniert sind. Um dies anzuzeigen, wird der Hälfte aller Befragten ist der Ansicht, dass die Ungleichheit Ausdruck kursiv geschrieben. zwischen den Geschlechtern wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich zunehmen wird und mehr als zwei Drittel Struktureller Rassismus gehen davon aus, dass die Ungleichheit zwischen Weißen und Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) zuneh- Rassismus wird immer noch häufig als Ausnahmeerschei men wird. Besonders alarmierend ist, dass zwei Drittel der nung angesehen. Das Adjektiv strukturell vor dem Begriff Ökonom*innen meinen, ihre Regierung habe keine Strategie Rassismus hebt hervor, dass Rassismus ein gesamtgesell zur Bekämpfung der Ungleichheit. schaftlich bedeutsames strukturelles Phänomen dar stellt. Das bedeutet, dass Rassismus auf der individuellen, institutionellen und strukturellen Ebene in der Gesellschaft wirkmächtig und nicht auf Einzelfälle und individuelle Ein stellungen reduzierbar ist. Latinx Der Begriff Latinxs (Latin-EX ausgesprochen) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit „lateinamerikani scher“ Geschichte. Er wird insbesondere in den USA als genderneutrale Alternative zum Ausdruck Latino/Latina verwendet.
4 Das Ungleichheitsvirus Reichtum kennt keine Krisen Aktuelle Zahlen unterstreichen, wie sehr die Corona- Krise die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft: Es dauerte nur neun Monate, bis das Vermögen der reichsten Das Vermögen der (im Dezember 2020) zehn 1.000 Milliardär*innen wieder den Stand von vor reichsten Männer der der Pandemie erreicht hatte. Für die ärmsten Menschen der Welt ist seit Februar 2019 – Welt könnte die Erholung 14-mal länger dauern, also trotz der Pandemie – um fast länger als ein Jahrzehnt.3 eine halbe Billion US-Dollar auf 1,12 Billionen US-Dollar In den ersten Monaten der Pandemie mussten Milliardär*in- gestiegen. nen durch den Wertverlust ihrer Aktien und Beteiligungen hohe Vermögenseinbußen hinnehmen. 4 Während die Real- 2019 2020 wirtschaft mit der tiefsten Rezession seit einem Jahrhun- Quelle: Oxfam-Berechnung auf Basis der Forbes-Milliardär*innenlisten dert konfrontiert war, boomte der Aktienmarkt dann jedoch, weil Regierungen und Zentralbanken ihre Volkswirtschaf- ten unterstützen. Innerhalb von neun Monaten hatten die reichsten 1.000 Milliardär*innen, hauptsächlich weiße Männer, ihr gesamtes verlorenes Vermögen wiedererlangt.5 Zum Vergleich: Nach der Finanzkrise 2008 dauerte es fünf Jahre, bis das Vermögen der Milliardär*innen wieder den Auch in der Corona-Krise stellen viele große Unternehmen Stand von vor der Krise erreichte.6 ihre Gewinne über die Interessen der Arbeitnehmer*innen und drücken weiter die Kosten in der Lieferkette. Die Das Vermögen der (im Dezember 2020) zehn reichsten politischen Reaktionen auf die Krise versuchen sie in ihrem Männer der Welt ist seit Februar 2019 – trotz der Pandemie – Sinne zu beeinflussen. Einige der größten Konzerne der um fast eine halbe Billion US-Dollar auf Welt schütteten auch in Zeiten der Krise Milliardengewinne 1,12 Billionen US-Dollar gestiegen. Dieser Gewinn wäre an die Aktionär*innen aus. Dazu gehören auch deutsche mehr als ausreichend, um die ganze Weltbevölkerung Konzerne. So wurden 2020 an Aktionär*innen von BMW, gegen Covid-19 zu impfen und sicherzustellen, dass nie- darunter einige der reichsten Menschen Deutschlands, mand durch die Pandemie in die Armut gestürzt wird. 7 über 1,6 Milliarden Euro an Dividenden ausgezahlt. Davon kam rund die Hälfte den Hauptaktionär*innen Susanne In Deutschland verfügten die zehn reichsten Deutschen Klatten und Stefan Quandt zugute, während im Frühjahr Ende 2020 über ein Gesamtvermögen von rund 242 Milliar- 2020 20.000 Mitarbeiter*innen Kurzarbeitergeld bezogen.12 den US-Dollar – trotz Pandemie eine Steigerung von rund Die Hauptlast der Krise tragen vor allem kleine und mittlere 35 Prozent bzw. 62,7 Milliarden US-Dollar gegenüber Februar Unternehmen (KMU) sowie Arbeiter*innen – und hierbei 2019.8 Das Gesamtvermögen aller Milliardär*innen beläuft überproportional Frauen13 mit niedrigen Löhnen.14 sich jetzt auf fast 12 Billionen US-Dollar (Stand Dezember 2020).9 Die Armut steigt wieder Die derzeit drei reichsten Milliardäre hatten in diesem Zeit- raum exorbitante Zuwächse: Elon Musk 131 Milliarden, Die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Schäden führten Jeff Bezos 60 Milliarden und Bernard Arnault 76 Milliarden dazu, dass Hunderte Millionen Menschen ihre Arbeit ver- US-Dollar. Die reichsten Milliardär*innen Deutschlands, die loren und Not und Hunger ins Auge blicken mussten.15 In Aldi-Eigentümer*innen Beate Heister und Karl Albrecht jr., fast allen Ländern hatten die finanziell am schlechtesten konnten ihr Vermögen um 6,4 Milliarden US-Dollar steigern.10 gestellten Menschen aufgrund der Pandemie noch weni- Allein mit dem Vermögen, das er zwischen März und August ger Einkünfte.16 In Deutschland beispielsweise haben laut 2020 angehäuft hat, könnte Jeff Bezos, allen 876.000 WSI-Verteilungsbericht 40 Prozent der Erwerbspersonen Mitarbeiter*innen von Amazon einen einmaligen Bonus von durch die Pandemie Einkommen verloren und Menschen, die 105.000 US-Dollar zahlen.11 schon vorher ein niedrigeres Einkommen und eine weniger sichere Position auf dem Arbeitsmarkt hatten, sind beson- ders oft von Einbußen betroffen.17
Das Ungleichheitsvirus 5 Wie schwer die langfristigen Folgen der Corona-Krise ins- Im Globalen Süden hat die Corona-Krise zu einem extremen besondere für Frauen sein können, lässt ein Blick auf frü- Anstieg des Hungers geführt. Schätzungen zufolge starben here Pandemien erahnen. So sind zwar die Einkommen aller bis Ende 2020 jeden Tag mindestens 6.000 Menschen an Menschen durch Ebola in Westafrika gesunken, doch die durch die Folgen der Krise hervorgerufenen Hunger.18 Die in „Einkommen der Männer kehrten schneller auf den Stand den vergangenen Jahrzehnten erzielten Erfolge bei der Ver- vor der Epidemie zurück als die von Frauen“, so die Gesund- ringerung von Armut drohen zunichte gemacht zu werden. heitsforscherin Julia Smith in der New York Times.29 Schon vor Ausbruch der Pandemie musste fast die Hälfte der Menschheit noch immer mit weniger als 5,50 US-Dollar In Ländern mit niedrigem Einkommen arbeiten 92 Prozent pro Tag auskommen und gilt damit nach der erweiterten der Frauen in informellen, gefährlichen oder unsicheren Definition der Weltbank als arm.19 Schätzungen zufolge Verhältnissen.30 Weltweit sind rund 740 Millionen Frauen könnte die Gesamtzahl dieser Menschen allein im Jahr 2020 in der informellen Wirtschaft tätig und im ersten Monat der noch um 200 bis 500 Millionen gestiegen sein und mehr als Pandemie sank ihr Einkommen um 60 Prozent, was einem ein Jahrzehnt lang über dem Vorkrisenniveau bleiben.20 Gut Einkommensverlust von mehr als 396 Milliarden Dollar ent- zwei Drittel der Menschen, die aufgrund der Krise verarmen, spricht.31 Frauen sind zudem in den Wirtschaftssektoren leben in Süd- und Ostasien sowie der Pazifikregion.21 überrepräsentiert, die am stärksten von der Pandemie be- troffen sind, unter anderem in Dienstleistungssektoren, wie Die Pandemie und ihre Auswirkungen zeigen deutlich, dass dem Tourismus und der Gastronomie. Ob in Indien, den USA der größere Teil der Menschheit nur einen Schritt vom Elend oder den Ländern des Mittelmeerraums:32 Die wirtschaft- entfernt ist. 56 Prozent der Weltbevölkerung müssen mit lichen Auswirkungen der Pandemie verdrängen Frauen viel zwei bis zehn US-Dollar pro Tag auskommen.22 Mehr als die stärker als Männer aus der Arbeitswelt und machen jahr- Hälfte aller Arbeiter*innen in Niedrigeinkommensländern zehntelange Fortschritte ihrer Beteiligung am Erwerbsleben und Ländern mit niedrigem mittleren Einkommen lebt in zunichte. Armut.23 Es sind die Taxi- und Lieferfahrer*innen, die Fri- seur*innen, Markthändler*innen, Wachleute, Reinigungs- kräfte, Fabrikarbeiter*innen, Bäuer*innen, Hausangestell- Das Virus trifft nicht alle gleich ten, Bauarbeiter*innen und Straßenverkäufer*innen, die die Krise am härtesten trifft. Wie unter einem Brennglas zeigen sich in der Pandemie die vielfältigen Formen der Unterdrückung und Marginalisie- Die Mehrheit von ihnen ist im informellen Sektor24 beschäf- rung, denen Menschen unter anderem aufgrund ihres Ge- tigt, wie weltweit insgesamt 61 Prozent der Arbeitenden.25 schlechts, ihrer Sexualität, ihres Alters, einer Behinderung Sie sind von sozialer Sicherung, von Unterstützungspro- sowie im Zuge von Rassismus und Klassismus ausgesetzt grammen wie Arbeitslosen- oder Krankengeld ausgeschlos- sind. Diese Diskriminierungen sind wiederum in Strukturen sen und haben in der Regel keine Möglichkeit, Kredite von Privilegien und Unterdrückung verwurzelt, die durch aufzunehmen. Fällt ihr Einkommen aus, wie es in vielen Jahrhunderte von Patriarchat, Kolonialismus und struktu- Ländern durch die plötzlichen Einschränkungen des öffent- rellem Rassismus (vgl. Box S. 3) geformt wurden. lichen Lebens, den Stillstand in den globalen Lieferketten und die damit verbundene Wirtschaftskrise der Fall war, Menschen in Armut sind dem Corona-Virus am stärksten geraten sie in kürzester Zeit in Existenznot. Viele müssen ausgesetzt. Sie leben häufiger in beengten Verhältnissen, ihre Vermögenswerte wie Fahrräder oder Vieh zu Schleuder- teilweise ohne Wasser und sanitäre Einrichtungen. Viele, preisen verkaufen, wodurch sie in eine Armutsfalle geraten, insbesondere im informellen Sektor Tätige, können nicht die oft über Generationen fortbesteht.26 von zu Hause aus arbeiten. Selbst bei einer schnellen wirtschaftlichen Erholung führt In zahlreichen Ländern arbeiten insbesondere Menschen dies ohne entsprechende politische Gegenmaßnahmen mit Migrationsgeschichte häufig im Gastgewerbe, im Ge- zu einer starken Zunahme der Ungleichheit, die Frauen, sundheits- und Pflegewesen und in anderen Bereichen, in Jugendliche, Kinder, BIPoC und Wanderarbeiter*innen un- denen eine Ansteckung wahrscheinlicher ist. Zudem haben verhältnismäßig stark betrifft.27 So verarmen in lateiname- marginalisierte Gruppen häufiger armutsbedingte, das rikanischen Ländern wie Mexiko und Brasilien und in den Risiko schwerer Krankheitsverläufe erhöhende Vorerkran- USA im Zuge der Pandemie mehr Indigenous und Schwarze kungen, wie Bluthochdruck bei der Schwarzen Bevölkerung Menschen.28 in den USA33 oder Diabetes bei aus Südasien stammenden Menschen in Großbritannien.34
6 Das Ungleichheitsvirus Das Risiko, sich mit COVID-19 zu infizieren und daran zu sterben, ist damit für Menschen in Armut deutlich höher. Ein Insbesondere für Länder mit niedrigem Einkommen sind überproportionaler Anteil wird aufgrund des Geschlechts Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung gerade in die- benachteiligt oder erfährt rassistische Diskriminierung. sen Zeiten noch schwieriger zu finanzieren als zuvor schon. Einige Beispiele: In Brasilien ist die Wahrscheinlichkeit, an Durch die Corona-Krise steigt der Bedarf an Investitionen, COVID-19 zu sterben, für Schwarze Menschen um 40 Prozent um die Folgen der Krise abzufedern. Infolge der wirtschaftli- höher als für Weiße35 und in den USA ist die Wahrscheinlich chen Auswirkungen der Pandemie, wie Kapitalflucht, einem keit, an COVID-19 zu sterben, für Schwarze US-Bürger*innen Rückgang ausländischer Investitionen, dem Verfall der Roh- und Latinxs (vgl. Box S. 3) insgesamt höher als für Weiße.36 stoffpreise oder dem Niedergang des Tourismus, brechen den Ländern jedoch die Einnahmen weg.37 Verschärft wird Extreme Ungleichheit ist letztendlich das Produkt eines die Situation durch eine immer höhere Verschuldung bis nicht funktionierenden Wirtschaftssystems, das seine hin zur Zahlungsunfähigkeit in vielen Ländern des Globalen Wurzeln in neoliberalen Denkansätzen hat und einige we- Südens, insbesondere Afrikas. Die fehlende Unterstützung nige Reiche und Mächtige durch Vereinnahmung von Politik dieser Länder in Form eines umfassenden Schuldenerlas- und Wirtschaft begünstigt. In den Händen einer weißen, ses durch die internationale Staatengemeinschaft und zumeist männlichen Gruppe häufen sich so riesige Profite private Gläubiger schränkt den Handlungsspielraum der an, auf Kosten von Menschen in prekären Situationen sowie Regierungen massiv ein.38 Frauen, BIPoC (vgl. Box S. 3) und anderen historisch margi- nalisierten und unterdrückten Gruppen. Die Pandemie hat die schlimmsten Auswirkungen chronisch unterfinanzierter öffentlicher Gesundheitssysteme deutlich gemacht. Zehn afrikanische Länder hatten zu Beginn der Systemversagen in der Krise Krise zum Beispiel keine Beatmungsgeräte39 und weltweit hat ein Viertel der Gesundheitseinrichtungen kein sauberes Ungleichheit und Armut explodieren in der Corona-Krise aus Wasser zur Verfügung.40 Der Zugang zum Gesundheits- einem weiteren Grund: In Armut lebende Menschen, Frauen, system hängt in vielen Ländern des Globalen Südens von BIPoC und andere marginalisierte und unterdrückte Gruppen Gebühren ab, die viele Patient*innen nicht aufbringen kön- erhalten weltweit häufig keinen ausreichenden und gleich- nen. Fehlende Ausgaben für Gesundheit haben aber auch berechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, sozialer im Globalen Norden Konsequenzen: In Industrieländern, die Sicherung und Bildung. ihre Gesundheitsfinanzierung signifikant gekürzt haben, ist die Sterblichkeit in der COVID-19-Krise höher.41 In der Krise zeigen sich die gravierenden Defizite unzurei- chender und unterfinanzierter öffentlicher Systeme, von denen viele Menschen systematisch ausgeschlossen sind oder benachteiligt werden. Ob und wie Men- schen die Krise überstehen können, ist in vie- len Fällen eine Frage von Armut und Reichtum. Im Umkehrschluss zeigt sich, wie wichtig funk- tionierende öffentliche Systeme sind, die allen Menschen eine gute Gesundheitsversorgung, Bildung und soziale Absicherung garantieren. „Jeder hat Angst vor einer Krankheit. So wie ich. Ich würde sterben, wenn ich es [Corona] bekomme.“ Ann Gekenia Muthungu, 67, alleinerziehende Mutter und Großmutter, die sich in Mukuru Kwa Njena, einer informellen Siedlung in Kenia, um sieben Kinder kümmert. Oxfam hat gemeinsam mit anderen Organisationen ein Pilotprojekt gestartet, das die am stärksten durch Corona gefährdeten Haushalte in Kenia mit Zuschüssen von durch schnittlich 50 US-Dollar unterstützt. © Asha Jaffar / Oxfam
Das Ungleichheitsvirus 7 Anzahl der Menschen, die von weniger als $5,50 am Tag leben (Millionen) Anzahl der Menschen, die von weniger als $5,50 am Tag leben (Millionen) 3.400 3.400 3.200 Szenario 3.200 Die soziale Ungleichheit steigt Szenario 3.000 um zwei Prozentpunkte Die soziale Ungleichheit steigt 3.000 2.800 um Diezwei Prozentpunkte soziale Ungleichheit bleibt 2.800 auf dem gleichen Niveau 2.600 Die soziale Ungleichheit bleibt auf Diedem gleichen soziale Niveau sinkt Ungleichheit 2.600 2.400 um zwei Prozentpunkte Die soziale Ungleichheit sinkt 2.400 um zwei Prozentpunkte 2.200 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2.200 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2030 2029 World Quelle: Bank (2020): Poverty and Shared Prosperity 2020, baseline scenario Ungleichheit reduzieren, Armut bekämpfen Die Kluft zwischen Arm und Reich wird Extreme Ungleichheit in Vermögen und Jahrzehnt.46 Wenn wir also Armut be seit Jahren immer breiter. Die Vermö in Einkommen, aber auch in Bildung, siegen wollen, müssen wir Wohlstands gens- und Einkommenskonzentration an Gesundheit und sozialer Absicherung, gewinne gerechter verteilen. der Spitze nimmt stetig zu. Die Gesamt behindert die Entwicklung von Einzel zahl der Milliardär*innen hat sich in den nen und von Gesellschaften. Starke Ein Festhalten am derzeitigen Wirt zehn Jahren nach der Finanzkrise von Ungleichheit bedeutet, dass mehr Men schaftswachstum ist aber keine Lösung, 2008 fast verdoppelt.42 Im Jahr 2015 schen krank sind, weniger Menschen um Armut zu überwinden. Unter Beibe lebte die Mehrheit der Weltbevölkerung eine gute Ausbildung haben und weniger haltung der bisherigen Verteilungsmus in Ländern, in denen die Einkommens Menschen ein glückliches, würdiges ter müsste die globale Wirtschaft um ungleichheit in den vorangegangenen 25 Leben führen. Und sie verhindert die das 175-fache anwachsen, wollte man Jahren zugenommen hatte.43 Während Abschaffung von Armut. Wenn die Wohl auf diese Art jedem Menschen bis 2030 der letzten 40 Jahre hatte das reichste standsgewinne vor allem nach oben ein Einkommen von nur fünf US-Dollar Prozent der Weltbevölkerung doppelt fließen, bleibt zwangsläufig weniger für am Tag ermöglichen.47 Angesichts der so viel Einkommen wie die gesamte alle anderen und Armutsbekämpfung begrenzten Ressourcen unseres Plane ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die wird verhindert. In der Corona-Pande ten wäre das katastrophal. Spitzenverdiener*innen konnten 27 Cent mie verschärft sich diese Entwicklung: von jedem US-Dollar des globalen Ein Weltbank-Simulationen zeigen, was ein Weil Menschen in extremer Armut ihre kommenswachstums zwischen 1980 und Anstieg der Ungleichheit in fast allen gesamte Zeit dafür aufwenden müssen, 2016 für sich verbuchen. Nur 12 Cent Ländern auf einmal für die weltweite ihr Überleben zu sichern, bleibt ihnen pro US-Dollar hingegen entfielen auf die Armut bedeuten würde (vgl. Grafik oben). kaum eine Möglichkeit, politisch aktiv ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.44 Demnach ist davon auszugehen, dass zu werden. Ihre Stimmen werden so bei einem Anstieg der Einkommensun nicht gehört. Zugleich kann eine ver Diese Gewinne werden im Rahmen eines gleichheit um 2 Prozentpunkte pro Jahr hältnismäßig kleine privilegierte Gruppe Wirtschaftsmodells erzielt, in dem das im Jahr 2030 noch immer 3,3 Milliarden politische Regeln zu ihren Gunsten ge reichste Prozent der Weltbevölkerung Menschen mit weniger als 5,50 US-Dollar stalten – auf Kosten weiter Teile der im vergangenen Vierteljahrhundert auskommen müssten und damit nach Bevölkerung. Diese Ungleichheit schadet doppelt so viel CO2 verbraucht hat wie erweiterter Weltbank-Definition arm der gesamten Gesellschaft: Sie vergiftet die ärmeren 50 Prozent.45 Unter der so wären. Dies sind rund 500 Millionen unsere Politik, fördert Extremismus und verursachten Klimakrise leiden vor allem Menschen mehr als bei einer gleich Diskriminierung, wie Rassismus, und Menschen in Armut. Unwetter, Dürren bleibenden Ungleichheit. Wenn hingegen ist damit eine Gefahr für die Demokratie. und Überschwemmungen verschlimmern die Ungleichheit um 2 Prozentpunkte pro Armut und Ungleichheit weiter. Jahr reduziert würde, könnte die Armut schon 2022 auf das Vorkrisenniveau zurückkehren, anstatt in mehr als einem
8 Das Ungleichheitsvirus Radioschule in Mosambik: Die Schülerin Benedita Matias sitzt vor dem Haus ihrer Familie und hört dem Unterricht über das Radio zu, nachdem die Schulen in Mosambik wegen des Coronavirus schließen mussten. © Jeremiah Benjamin / Oxfam Sehr vermögende Menschen können sich problemlos phy- sisch von anderen distanzieren und im Krankheitsfall in gut ausgestatteten Privatkliniken behandeln lassen. In Armut lebende Menschen dagegen sind von einer staatlichen Auf der anderen Seite werden weltweit schätzungsweise Gesundheitsversorgung abhängig, bei der es in rund 90 Pro- 32,8 Millionen von Schulschließungen betroffene Kinder und zent aller Länder in den ersten sechs Monaten der Pande- Jugendliche nie wieder eine Schule oder Universität besu- mie zu Unterbrechungen kam – mit fatalen Folgen.48 So wird chen können.54 Die Kinder, die Bildung am meisten brauchen, ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem etabliert. um aus der Armut herauszukommen, sind diejenigen, die am ehesten zurückgelassen werden. Sowohl in Ländern mit Es ist zu befürchten, dass sich diese Ungleichbehandlung hohem als auch mit niedrigem Einkommen haben ärmere besonders stark bei der weltweiten Bereitstellung von Schüler*innen weniger Zugang zu Fernunterrichtsprogram- Corona-Impfstoffen zeigen wird. Eine kleine Gruppe reicher men und fallen tendenziell weiter zurück, wenn sie keine Nationen, die nur 14 Prozent der Weltbevölkerung reprä- zusätzliche Unterstützung erhalten. Laut UNICEF hatten sentieren, hat mehr als die Hälfte der Vorräte der führenden mindestens ein Drittel aller Kinder weltweit keinerlei Zugang COVID-19-Impfstoffkandidaten aufgekauft.49 Sollte es zu Fernunterricht.55 keine Preisbegrenzungen geben, haben insbesondere in Armut lebende Menschen keine Chance auf eine Impfung, Coronabedingte Budgetkürzungen im Bildungssektor dro- während Pharmakonzerne weiter hohe Gewinne einfahren. hen die Bemühungen zur Überwindung des Bildungsgefälles ernsthaft zu unterminieren. Vor der Pandemie wurde die jährliche Ausgabenlücke im Bildungsbereich auf 148 Mil- Bildung in der Krise liarden US-Dollar geschätzt. Ohne entsprechende Finanzie- rungsmaßnahmen könnte sie um weitere 30 bis 40 Milliar- Auch in anderen Lebensbereichen manifestiert sich in der den US-Dollar anwachsen.56 Die Pandemie droht somit die Krise die Ungleichheit. Bildung ist einer der zentralen Berei- in den vergangenen 20 Jahren erzielten weltweiten Fort- che, um Armut und Ungleichheit zu bekämpfen. Nun stehen schritte bei der Bildung von Mädchen zunichtezumachen. wir laut Weltbank vor der größten Bildungskrise der letzten Armut und Ungleichheit werden dadurch steigen.57 hundert Jahre.50 Vor allem vorher schon benachteiligte Gruppen werden weiter abgehängt: Im Jahr 2020 schlossen mehr als 180 Länder als Folge der Pandemie vorübergehend Soziale Absicherung nur für wenige ihre Schulen, wodurch knapp 1,7 Milliarden Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gingen.51 Kinder in Ländern mit Angesichts der extremen wirtschaftlichen Auswirkungen niedrigem Einkommen verloren so fast vier Monate Schulzeit, des Corona-Virus benötigen Milliarden von Menschen zudem Kinder in Ländern mit hohem Einkommen dagegen nur sofortige finanzielle Unterstützung seitens des Staates. sechs Wochen.52 Allerdings hatten fast vier Milliarden Menschen, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, bei Ausbruch der Pandemie Wohlhabendere Familien können diese Ausfälle überbrücken, weder eine Sozialversicherung noch Anspruch auf Sozial- indem sie für zusätzliche Bildungsangebote bezahlen. In hilfe.58 Insbesondere Frauen sind häufig gar nicht abgesi- den USA zum Beispiel legen viele wohlhabende, überwie- chert oder erhalten wesentlich geringere Leistungen, unter gend weiße Familien ihre Ressourcen zusammen, um ihre anderem weil so viele von ihnen in informellen, unsicheren Kinder zu Hause in kleinen privaten Gruppen, sogenannten Beschäftigungsverhältnissen tätig sind. Der von Oxfam Pandemie-Pods, unterrichten zu lassen.53 und Development Finance International im Herbst 2020 ver- öffentlichte Commitment to Reducing Inequality (CRI) Index
Das Ungleichheitsvirus 9 Care-Arbeit verschärft die Ungleichheit Wir alle sind im Verlauf unseres Lebens Dass Fürsorge und Pflege im Gegensatz auf die fürsorgliche Zuwendung durch zum IT-Sektor als ökonomisch wertlos andere angewiesen. Dass Menschen gelten, ist auch eine Folge wirtschaftli Durch Corona Pflege-, Fürsorge- und Haushaltsarbeit cher Messgrößen wie des Bruttoinlands wächst das Problem (englisch care) leisten, ist von un produkts (BIP). Dieses bezieht den Wert schätzbarem Wert für jede*n von uns, der Pflege- und Fürsorgearbeit genauso Die Corona-Pandemie hat deutlich ge kommt zugleich der ganzen Gesellschaft wenig mit ein wie die Kosten für den zeigt: Pflege, Zuwendung und Fürsorge zugute und ist auch für die Wirtschaft Erhalt und den Schutz natürlicher Res kennen keinen Lockdown. Im Gegenteil, unverzichtbar. Doch so bereichernd sourcen – obwohl beide unabdingbare wegen geschlossener Kitas und Schulen diese Arbeit für Gesellschaften ist, so Voraussetzungen für das menschliche sowie steigender Krankenzahlen wuchs arm macht sie viele, die sie leisten – Leben und gesellschaftliches Wohlerge der Bedarf noch und die Belastung durch vorrangig Frauen. hen sind. unbezahlte Care-Arbeit stieg. Nach einer aktuellen Studie, die UN Women So sind allein in Deutschland drei Vier Die ungleiche Verteilung und systemati in 38 Ländern durchgeführt hat, waren tel des Gesundheitspersonals weiblich, sche Abwertung von Care-Arbeit schafft es wiederum Frauen und Mädchen, die weltweit sind es rund 70 Prozent.59 In der folglich eine Ungleichheit in Einkommen, den Mehrbedarf größtenteils auffingen.64 Kinderbetreuung und Altenpflege sind Vermögen, Zeit und Einfluss zwischen Deutschland ist keine Ausnahme: Gut rund 90 Prozent der Mitarbeiter*innen Männern und Frauen und vertieft die ein Viertel aller befragten Frauen mit weiblich. Und dabei geht es nur um be Kluft zwischen Arm und Reich: Männer Kindern bis zu 14 Jahren, aber nur ein zahlte, meist unterbezahlte Arbeit. Weit besitzen weltweit 50 Prozent mehr Ver Sechstel der befragten Männer mussten schwerer wiegt der unbezahlte Teil. mögen als Frauen.61 Obwohl Frauen in ihre Arbeitszeit reduzieren, um Angehö Deutschland sowohl unbezahlt als auch rige zu betreuen.65 Eine besondere Her Weltweit leisten Frauen und Mädchen bezahlt durchschnittlich eine Stunde pro ausforderung stellte diese Situation für drei Viertel der unbezahlten Care-Arbeit Tag länger arbeiten als Männer, haben alleinerziehende Elternteile dar.66 – mehr als 12 Milliarden Stunden pro Tag. sie aktuell 21 Prozent weniger Einkom Würde diese Arbeit bezahlt, entspräche men.62 Weltweit beträgt dieser Gender Viele Regierungen haben jedoch kaum sie einem ökonomischen Wert von jähr Pay Gap 23 Prozent. 63 Maßnahmen ergriffen, um durch unbe lich über 11 Billionen US-Dollar.60 Dies zahlte Care-Arbeit beanspruchte Men entspricht dem Dreifachen des weltwei Wenn Frauen Kinder gebären, versor schen während der Corona-Krise zu un ten Umsatzes im IT-Sektor. Während dort gen und großziehen, steigert das laut terstützen. Die Kosten und die Arbeit für aber fette Gewinne eingefahren werden, Berechnungen der Vereinten Nationen die Betreuung von Millionen von Kindern, gehen die Pflegenden leer aus. zudem ihr Risiko, zu verarmen. In länd älteren und kranken Menschen werden lichen Gebieten wirtschaftlich benach auf die Familien abgewälzt. Frauen, die teiligter Länder verbringen Frauen täg in Armut leben, trifft das unverhältnis lich bis zu 14 Stunden mit Pflege- und mäßig stark. weist darauf hin, dass in 103 Län- Fürsorgearbeit. Auch Mädchen müssen dern weltweit mindestens eine*r dabei häufig mithelfen. All dies trägt von drei Arbeitnehmer*innen keinen auch zu einer erhöhten Altersarmut von Anspruch auf Schutzmaßnahmen Frauen bei. wie Lohnfortzahlung im Krankheits- fall hat.67 Neben fehlendem politi- schen Willen haben viele Länder des Globalen Südens nicht zung erhalten, die sie so dringend benötigen. Während bei- genug finanzielle Ressourcen, um eine ausreichende sozia- spielsweise 90 Prozent der US-Arbeiter*innen im obersten le Absicherung für alle zu gewährleisten. Einkommensquartil ein Recht auf bezahlten Krankenstand haben, sind es im untersten Quartil nur 47 Prozent.68 In Zeiten der Pandemie wird diese Ungleichheit nun brutal offengelegt und auf die Spitze getrieben, da einkommens- Zahlreiche Länder haben in der Krise Maßnahmen ergriffen, schwache, in prekären Verhältnissen beschäftigte oder in um Einkommen zu ersetzen. Insgesamt haben über eine Mil- der Krise entlassene Arbeitnehmer*innen im Gegensatz zu liarde Menschen von einer sozialen Notsicherung profitiert.69 Beschäftigten mit höheren Einkommen nicht die Unterstüt- Die Maßnahmen greifen vielfach jedoch viel zu kurz. In vie- len Ländern Asiens, beispielsweise in Vietnam, haben als
10 Das Ungleichheitsvirus Reaktion auf die Krise eingeführte Sozialschutzmaßnahmen die am stärksten Betroffenen, insbesondere im informellen Sektor Tätige, nicht erreicht, und waren zu begrenzt, um Lohndumping und Steuervermeidung eine nennenswerte Wirkung zu entfalten.70 Bis August 2020 hatten nur 54 von 195 Ländern als Antwort auf die Corona- Um Aktionär*innen Dividenden ausschütten zu können, Krise Sozialschutzmaßnahmen eingeführt, die explizit auf zielen Unternehmen auch darauf ab Löhne niedrig zu Frauen und Mädchen abzielen.71 halten und Steuern zu vermeiden. Die dadurch wegfallen den Kosten erhöhen die Gewinne. Dass gleichzeitig Top-Manager*innen zunehmend in Unternehmensan- Ein ungerechtes Wirtschaftssystem teilen bezahlt werden, trägt zu den exorbitanten Einkom- mensunterschieden zwischen Spitzenmanagement und Die Corona-Pandemie hat bestehende Gräben vertieft. Arbeiter*innen bei.74 Zwischen 2009 und 2018 stiegen die Während Millionen Menschen in Armut gedrängt werden, Ausschüttungen an die Aktionär*innen der im Leitindex machen Konzerne und ihre Anteilseigner*innen weiterhin CAC 40 gelisteten größten französischen Unternehmen um kräftig Gewinn – unter anderem durch übermäßige Ausbeu- 70 Prozent und die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden um tung natürlicher Ressourcen, das Drücken von Löhnen so- 60 Prozent. Parallel dazu stieg das Durchschnittsgehalt wie Steuervermeidung. Letztere bringt Staaten um dringend der Angestellten dieser Unternehmen um nur 20 Prozent.75 benötigte Mittel für öffentliche Gesundheits-, Bildungs- In einer Zeit, in der Milliarden von Menschen am Existenz- und soziale Sicherungssysteme. minimum leben, ist das Lohngefälle unhaltbar geworden. In vielen Teilen der Welt erhalten Top-Manager*innen in einer Extreme Ungleichheit ist kein Naturgesetz, sondern Woche mehr Lohn als ein*e Arbeiter*in durchschnittlich auch das Ergebnis der Macht, die große Konzerne über un- in einem ganzen Jahr. Das durchschnittliche Lohngefälle sere Wirtschaft, unsere Politik und unsere gemeinsame zwischen Geschäftsführer*innen und Arbeiter*innen unter Zukunft ausüben. Sie haben Unternehmen, Märkte und den 500 größten US-amerikanischen Unternehmen lag 2019 Politik so gestaltet, dass kurzfristige Gewinninteressen bei 264 zu eins.76 Für das durchschnittliche Jahresgehalt immer wieder über Menschenrechten und den Grenzen eines DAX-Vorstandsvorsitzenden In Höhe von 5,6 Millionen unseres Planeten stehen. Dieser unverhältnismäßige Ein Euro müsste eine durchschnittlich bezahlte Pflegekraft in fluss von Großkonzernen auf politische Entscheidungen Deutschland über 156 Jahre arbeiten. Umgekehrt verdient ist einer der Hauptgründe dafür, dass ihre Gewinne der Chef eines DAX-Unternehmens in etwas mehr als ein- und Vermögen weiter steigen und die gegenwärtigen einhalb Tagen das Jahresgehalt einer Pflegekraft.77 ungleichen Strukturen fortbestehen. Auf Druck von Konzernen und reichen Einzelpersonen Die Wirtschaft wird von den wenigen Menschen – zumeist haben Regierungen die Steuern auf Unternehmensgewinne weißen Männern – bestimmt, die in den Vorständen und Vermögen in den vergangenen Jahrzehnten immer und Aufsichtsgremien großer Konzerne sitzen. Konzerne weiter gesenkt, sodass sich deren Anteil am Gesamtsteuer- strukturieren die Weltwirtschaft über ein Netzwerk an aufkommen reduziert hat (vgl. Grafik S. 11). Zwischen 1985 komplexen und für Bürger*innen meist intransparenten und 2019 wurden die durchschnittlichen Unternehmens- Lieferketten. Dass dabei Menschenrechte verletzt werden, steuersätze weltweit von 49 auf 23 Prozent reduziert.78 Um wird oft billigend in Kauf genommen. Es ist Kern unseres die so entstandenen Verluste auszugleichen, haben viele Systems, das viel zu stark auf Gewinne im Sinne des Länder die Mehrwertsteuersätze erhöht, was besonders „Shareholder Value”, d.h. Profitmaximierung im exklusiven Menschen mit niedrigen Einkommen belastet.79 Interesse von Kapitaleigner*innen, Eigentümer*innen und Investor*innen setzt. Laut Schätzungen des Tax Justice Networks gehen der Staatengemeinschaft zudem jedes Jahr insgesamt mehr Konzerne fixieren sich zunehmend auf kurzfristige als 427 Milliarden US-Dollar an Einnahmen durch Steuer Gewinne und Dividendenausschüttungen, wobei letztere vermeidung von Unternehmen und Steuerflucht von Privat- dramatisch gestiegen sind.72 In der Gruppe der sieben personen verloren.80 Ländern des Globalen Südens ent- führenden Industrieländer (G7) stiegen die Löhne zwischen gehen durch die gezielte Steuervermeidung von Konzernen 2011 und 2017 um drei Prozent, die Dividenden jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar.81 Zum Ver- dagegen um 31 Prozent.73 gleich: Die weltweiten Ausgaben für Entwicklungszusam- menarbeit lagen 2019 bei rund 150 Milliarden US-Dollar.82
Das Ungleichheitsvirus 11 Wenn Einnahmen fehlen, kürzen Staaten die Ausgaben oder verschulden sich stärker. So führte die Finanzkrise 2008 zu sinkenden Staatseinnahmen infolge des wirtschaftlichen Einbruchs, höheren Ausgaben für die Rettung des Finanz- sektors und dadurch bedingt zu einem starken Anstieg der Verschuldung öffentlicher Haushalte.83 Die in Reaktion darauf eingeführten Sparmaßnahmen, wie Rentenkürzun- gen, Lohnkürzungen für Lehrkräfte und Beschäftigte im Gesundheitswesen, Kürzungen von Sozialleistungen sowie der Abbau von Arbeitsrechten, verstärkten die Zunahme der Ungleichheit noch. Laut einer Studie betrafen diese Maß- Wer die Marktmacht hat, hat das Sagen nahmen drei Viertel der Weltbevölkerung.84 Eine stärkere Besteuerung von Konzernen und sehr hoher Vermögen hät- Ein Grundproblem ist, dass einige wenige Konzerne immer te viele der zu weiterer Ungleichheit und Armut führenden mehr Macht an sich reißen, den Markt sowie die Politik Kürzungen von öffentlichen Ausgaben sowie ausbleibende beherrschen und extrem hohe Profite erzielen. Die Folge: öffentliche Investitionen abwenden können. Superreiche gewinnen, Menschen in Lohnarbeit verlieren. Die Schere zwischen Arm und Reich wird so immer größer. Das Schließen von Steueroasen, Maßnahmen gegen Eine Hauptursache der sozialen Ungleichheit liegt damit im Gewinnverschiebung, eine weltweite Mindestbesteuerung Marktgeschehen selbst. von Konzernen, eine höhere Besteuerung von großen Ver- mögen oder die Einführung einer umfassenden Finanz Marktmacht und kurzfristige Profitinteressen nehmen Poli- transaktionssteuer – die Instrumente für eine andere tik und kleinere Unternehmen in einen Klammergriff, aus Steuerpolitik sind da, werden aber nicht angewendet oder dem sie befreit werden müssen. Denn die ausufernde wirt- nicht konsequent umgesetzt. Auch in der Corona-Krise schaftliche und politische Macht von Konzernen nimmt uns entzieht so eine von elitären Interessen beeinflusste Politik Menschen Selbstbestimmung. Ihre schiere Größe nutzen den Staaten die Mittel, die gerade jetzt so dringend benötigt Marktgiganten oftmals, um Regierungen unter Druck zu set- werden. So könnte beispielsweise eine einmalige Steuer zen, zum Beispiel indem sie drohen abzuwandern und damit auf die Gewinne der Konzerne, die in der Corona-Krise am Arbeitsplätze und Steuereinnahmen zu reduzieren. In vielen meisten dazugewonnen haben, schätzungsweise 104 Mil- Fällen hängt die Wirtschaft sogar so stark von einzelnen liarden US-Dollar einbringen. Dies wäre genug, um alle Ar- Unternehmen oder Sektoren ab, dass Regierungen auch beitnehmer*innen vor Arbeitslosigkeit zu schützen und alle ohne den Druck durch Lobbys kaum Spielraum haben, um Kinder und ältere Menschen in den wirtschaftlich am stärks- Konzernmacht gemeinwohlorientiert zu regulieren. ten benachteiligten Ländern finanziell zu unterstützen.85 Veränderung im Steueraufkommen 2007–2017 Anteil am gesamten in Prozent des Bruttoinlandsprodukts in über 100 Ländern Steueraufkommen (2017) Unternehmenssteuern 13% Vermögenssteuern 4% Einkommensteuern 21% Steuern auf Löhne 21% Steuern auf Waren und Dienstleistungen 44% sonstige Steuern 1% -0.4% -0.2% 0% 0.2% 0.4% 0.6% 0.8% 0.1% Quelle: Daten der OECD, weitere Informationen bei P.Espinoza Revollo (2021): The Inequality Virus. Methodology Note.
12 Das Ungleichheitsvirus Werden Marktkonzentration und die Macht von Unter- und der erwirtschaftete Wert werden innerhalb der Organi- nehmen nicht beschnitten, kommt eine Spirale in Gang, in sation gerecht verteilt. Die an Zulieferer und Produzent*in- der Konzerne Geld dazu benutzen, politische Macht zu er- nen gezahlten Preise richten sich danach, was eine sozial langen und diese dann ausüben, um noch mehr Geld zu und ökologisch gerechte Produktion kostet. Eine zukunfts- verdienen. Zahlreiche Strategien, mit denen Unternehmen weisende Wirtschaftspolitik sorgt dafür, dass Unternehmen teilweise unter Inanspruchnahme des öffentlichen Sektors den Interessen aller Betroffenen gerecht werden – und ihre Gewinne maximieren, deuten darauf hin – darunter nicht nur der Anteilseigner*innen und Eigentümer*innen. zweifelhafte Privatisierungsprogramme und missbräuch- Sie müssen den Arbeiter*innen, Angestellten, Produ- liche Steuerpraktiken. Laut der Welthandels- und Entwick- zent*innen und Kund*innen dienen sowie Umwelt und Tiere lungskonferenz (UNCTAD) trägt Marktmacht, die Lobbymacht schützen und so wegkommen von einem rein auf Profitma- hervorbringt, systematisch zu steigenden Einkommensun- ximierung ausgerichteten Geschäftsmodell. gleichheiten und Machtungleichgewichten in der Weltwirt- schaft bei.86 Dies kann beispielsweise durch einen Klimaschutzplan geschehen, der Unternehmen an das 1,5-Grad-Ziel des Darüber hinaus bürden Großkonzerne die sozialen und öko- Pariser Abkommens bindet, durch einen Verzicht auf die logischen Kosten ihrer Aktivitäten der Gesellschaft auf. Auszahlung von Boni und Dividenden an Vorstände und Viele der mächtigsten Unternehmen kommen aus Industrie- Aktionär*innen bei Erhalt staatlicher Hilfen, durch gesetz- ländern, insbesondere aus den USA und der EU. Sie miss- liche Verpflichtungen zur Einhaltung von Menschenrechten brauchen ihre Marktmacht, indem sie die Preise für Produ- und existenzsichernden Löhnen in den Lieferketten und zent*innen in Ländern mit niedrigem Einkommen in einem durch die Veröffentlichung von Gewinnen und darauf ge- Maße drücken, dass oftmals Verletzungen von Menschen- zahlte Steuern in den Ländern, in denen die Unternehmen und Arbeitsrechten die Folge sind.87 Weil diese Konzerne tätig sind. so mächtig sind und die Politik sie unzureichend reguliert, können sie überall auf der Welt andere Unternehmen – ob Gleichzeitig brauchen kleinere gemeinwohlorientierte groß oder klein – aufkaufen oder vom Markt verdrängen. Unternehmen, die an Prinzipien der Nachhaltigkeit und In- Menschen verlieren dabei häufig ihre Arbeit, die Gewinne klusion ausgerichtet sind, mehr Unterstützung, etwa in bleiben oft nicht im Land und eine eigenständige wirt- Form von Wirtschaftshilfen, Bevorzugung bei öffentlichen schaftliche Entwicklung ist nicht oder nur bedingt möglich. Aufträgen oder steuerlichen Begünstigungen. Denn diese Unternehmen gestalten ihre Lieferketten und Produktions- strukturen so, dass Menschen hier und im Globalen Süden Den Markt gerecht gestalten unter würdigen Bedingungen arbeiten und gerecht entlohnt werden. Den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen an Wollen wir die globale Zukunft sozial und ökologisch ge- den Produktionsorten denken sie mit. recht gestalten und zu einem guten Leben für alle kommen, brauchen wir ein grundlegend gerechteres Wirtschafts- Aber nur, wenn es am Markt gerecht zugeht, können sich system. Um die Wirtschaft im Kern zu verändern, müssen wir engagierte Unternehmensinhaber*innen mit zukunftswei- einige zentrale Fragen klären: Wem gehört die Wirtschaft? senden Ideen durchsetzen. Nur dann können Menschen von Wer hat die Macht? Welchen Zweck verfolgt die Wirtschaft? ihrer Arbeit gut leben und für ihre Familien sorgen, wodurch Wie kommen wir weg von unfairen Handelspraktiken und soziale Ungleichheit und Armut sich verringern. Erst wenn Billigpreisen, hin zu gerechten Lieferbeziehungen und die Politik die Macht übermächtiger Konzerne eingrenzt, Wertschätzung für geleistete Arbeit? kann sie wieder dem Wohlergehen aller dienen, einschließ- lich jener Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Dafür müssen sich Unternehmen in ihrem Wesen verändern – fort von ihrer derzeitigen Ausrichtung, in der sie exzessiv Wichtige Märkte dürfen daher nicht von einigen wenigen auf die Profitinteressen Einzelner ausgerichtet sind, hin Konzernen kontrolliert werden, die durch Übernahmen zur eigentlich sinnstiftenden Idee, sprich zu Zusammen- immer größer und mächtiger werden. Es ist notwendig, schlüssen von Menschen, um das zum Leben Notwendige machtgeprägte Marktstrukturen aufzulösen und aggres- herzustellen. Solche Unternehmen sind auf die Befriedigung siven Fusionsstrategien sowie auf Profit um jeden Preis unserer Bedürfnisse ausgerichtet. Entscheidungsmacht getrimmten Strategien den Riegel vorzuschieben. Es gilt neu zu definieren, ab welchem Marktanteil ein Unterneh- men marktbeherrschend ist oder zu viel Macht hat. Die
Das Ungleichheitsvirus 13 Arbeiter*innen nähen Jacken und Hosen für ein internationales Unternehmen in einer Textilfabrik in Dong Nai, Vietnam. © Sam Tarling / Oxfam Beweislast ist dabei umzukehren: Marktbeherrschende Unternehmen müssen zukünftig zeigen, dass ihre Größe und ihr Geschäftsgebaren kein Problem für das Gemeinwohl Zudem ist eine gerechte Wirtschaft ohne die gleichberech- darstellen. Schließlich muss die marktübergreifende Tätig- tigte Teilhabe von Frauen, BIPoC (vgl. Box S. 3) sowie ande- keit von Konzernen beschränkt werden, etwa durch eine ren historisch marginalisierten und unterdrückten Gruppen Trennung von Plattformsparte und Eigenmarken bei Digital- und ohne die Anerkennung von oftmals unbezahlter Arbeit konzernen wie Amazon oder von Saatgut und Pestiziden bei sowie ihrer Neuverteilung nicht denkbar. Ebenso unver- Chemiekonzernen wie Bayer sowie durch weitere Maßnah- zichtbar ist die Umstellung auf ein nachhaltiges Wirtschaf- men zur Entflechtung. ten, welches die Grenzen des Wachstums und der natür- lichen Ressourcen unseres Planeten anerkennt. Wir brauchen eine Wirtschaft für alle! Die Corona-Krise stellt die Menschheit vor immense Heraus- forderungen. Sie kann aber auch ein Wendepunkt sein. Die Dass das derzeitige Wirtschaftssystem von neoliberalen Pandemie verdeutlich, was wirklich wichtig ist und worauf Prinzipien der Gewinnmaximierung, patriarchalen Strukturen wir in unserer Gesellschaft mehr Wert legen sollten. Um- und der Vorherrschaft einer kleinen Gruppe, die vor allem fragen aus aller Welt zeigen eine überwältigende Unterstüt- aus weißen Männern besteht, geprägt ist, führt zu extre- zung für Maßnahmen zum Aufbau eines gerechteren und mer Ungleichheit und Armut. Die Corona-Krise verdeutlicht nachhaltigeren Systems nach der Pandemie.88 dies in erschreckendem Ausmaß. Dies ist das Resultat politischer Entscheidungen und kann somit auch verändert Auch einflussreiche Stimmen aus der Wirtschaft fordern werden. im Angesicht von Corona Veränderung. Klaus Schwab, der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums, hat kürzlich die Wir können und müssen ein Wirtschaftssystem schaffen, „neoliberale Ideologie“ in Frage gestellt und festgestellt, das zu einer gerechteren Gesellschaft beiträgt und die dass „wir uns in der Post-COVID-Ära vom Neoliberalismus Interessen von Menschen statt von Konzernen in den Vor- verabschieden müssen“.89 Die Financial Times will „radikale dergrund stellt. Reformen“, um „die vorherrschende politische Richtung der letzten vier Jahrzehnte“ umzukehren und plädiert für mehr Grundbestandteil muss die gleichberechtigte politische, Umverteilung, Grundeinkommen und Vermögenssteuern.90 gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe aller sein. Verbesserungen durch eine neue Verteilung des bestehen- Dies zeigt: Jetzt ist die Zeit für eine transformative Politik, den Wohlstands müssen weltweit zunächst vor allem Men- ein echtes Build-Back-Better, um eine gerechtere und schen in Armut zugutekommen, die derzeit auf vielfältige nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen. Nur so können Weise ausgeschlossen sind. extreme Ungleichheit und Armut sowie die katastrophale Klimakrise gleichzeitig bekämpft werden.
14 Das Ungleichheitsvirus Oxfams Forderungen Sicherungssysteme, die allen Men- ökologischer und sozialer Kriterien an die Politik schen zugänglich sind und eine gute sowie Vorgaben, die sicherstellen, dass Versorgung, Ausbildung und Absiche- Gewinnausschüttungen an Eigentü- rung garantieren. Privatisierungen im mer*innen begrenzt werden und dass Die Corona-Krise muss der Wendepunkt Bereich sozialer Grunddienste, die vor Unternehmen ausreichende Investitio- hin zu einem solidarischen, ökologi allem im Interesse der daran beteiligten nen in die sozial und ökologisch not- schen Wirtschaftssystem sein. Kurz- Unternehmen liegen, sollten gestoppt wendige Transformation des eigenen fristig müssen diejenigen, die auch in und rückgängig gemacht werden. Geschäftsmodells tätigen. Zeiten der Pandemie oder gerade we- gen der Krise hohe Gewinne einfahren, durch eine höhere Besteuerung ihren gerechten Anteil zu ihrer Bewältigung b) Zur Finanzierung müssen Konzerne und sehr reiche Menschen ihren fairen Anteil zum Allgemeinwohl beitragen. 3. Vielfältige, inklusive und durchlässige Marktstrukturen schaffen, statt exzessive Macht leisten. Dazu kann beispielsweise eine einmali konzentration bei einzelnen Konzernen ge Steuer auf in der Corona-Krise ent zu befördern. Wollen wir die Zukunft global sozial stehende außergewöhnliche Gewinne und ökologisch gerecht gestalten und von Konzernen, z.B. im Digitalsektor, a) Es braucht ein effektives, gemein- zu einem guten Leben für alle kommen, beitragen. Zudem gilt es, eine stärke- wohlorientiertes Kartellrecht und dürfen wir aber nicht nur die akuten re Besteuerung großer Vermögen ins sektorspezifische Regulierungen, um Symptome angehen. Langfristig müs- Auge zu fassen und eine umfassende eine gerechte Verteilung von Gewinnen sen erwirtschaftete Werte von Anfang Finanztransaktionssteuer einzuführen. innerhalb der Lieferkette sicherzu- an gerecht verteilt und übermäßige stellen. Das Kartellrecht sollte des- Macht und Einfluss auf politische Ent scheidungen verhindert werden, sodass extreme Ungleichheit erst gar 2. Unternehmen demokratisie- ren und gemeinwohlorientiert ausrichten, statt Profitmaximierung halb nicht nur an der Konsumenten- wohlfahrt, sondern am Gemeinwohl ausgerichtet werden. Es müsste in der nicht entsteht. zum alleinigen Wohl der Kapital Fusions- und Missbrauchskontrolle geber*innen und Eigentümer*innen auch die strukturellen Wirkungen auf Eine sozial und ökologisch gerechte zu erlauben. Löhne, Beschäftigung, Lieferant*innen Wirtschaft werden wir also nur errei- und Produzent*innen untersuchen. chen, wenn wir das Wirtschaftssystem a) Für eine Demokratisierung von Um der Entstehung von Märkten, in umfassend und konsequent demokra- Unternehmen braucht es eine bessere denen wenige Konzerne das Geschehen tisieren. Wirtschaft zu demokratisieren Regulierung von Unternehmensstruk- dominieren,frühzeitig entgegenwirken bedeutet, dass Entscheidungsmacht turen (sogenannte Sustainable Corpo- zu können, sollte der Schwellenwert für breit geteilt wird, anstatt sie bei eini- rate Governance), damit die Interessen die Vermutung einer Marktbeherrschung gen wenigen zu konzentrieren. Es gilt: aller Betroffenen in Entscheidungs von derzeit 40 Prozent auf 20 Prozent Keine demokratische Gesellschaft ohne prozessen und -gremien reflektiert abgesenkt werden. demokratische Wirtschaft. sind. Neben der Regulierung bestehen- der, derzeit vor allem an der Profitmaxi- b) Es muss eine rechtliche Grundlage Mitglieder der Bundesregierung, des mierung ausgerichteter Unternehmen, dafür geschaffen werden, übermäch Deutschen Bundestages und der braucht es auch die aktive Förderung tige Konzerne als ultima ratio zu ent- Parteien sollten sich daher hier in inklusiver und gemeinwohlorientierter flechten und ihre marktübergreifende Deutschland, in Europa und weltweit Unternehmen, damit diese stärker Machtbündelung durch eine Trennung für die folgenden Punkte einsetzen: die Märkte prägen, zum Beispiel durch von Geschäftsbereichen zu beschrän- eine Bevorteilung bei der Besteuerung, ken. Wenn ein solches Instrument ein- 1. Grunddienste gemeinschaftlich und solidarisch aufbauen, statt sie an der Profitmaximierung einzelner öffentlichen Beschaffung und Aus richtung von Wirtschaftshilfen. geführt ist, kann das Bundeskartellamt Monopole oder Konzerne mit über- ragender, marktübergreifender Markt- auszurichten. b) Für eine Gemeinwohlausrichtung stellung untersuchen und eine Veräu- von Unternehmen braucht es darüber ßerung von Konzernteilen oder Sach- a) Um soziale Ungleichheit zu be- hinaus eine messbare und haftungs- vermögen in Deutschland sachgerecht kämpfen, brauchen wir öffentliche relevante Verpflichtung von Aufsichts- prüfen und ggf. als letztes Mittel eine Bildungs-, Gesundheits- und soziale ratsmitgliedern und Vorständen auf Entflechtung veranlassen. eine Gemeinwohlorientierung inklusive
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