Psychopharmakotherapie beim älteren und hochbetagten Menschen
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sonderausgabe november 2014 Psychopharmakotherapie beim älteren und hochbetagten Menschen Konsensus-Statement – State of the art 2014 Editorial Board: Prim. Univ.-Doz. Dr. Christian Geretsegger, Prim. Dr. Christian Jagsch, Unter der Patronanz: O. Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer, Prim. Univ.-Prof. Dr. Josef Marksteiner, Chefarzt Dr. Georg Psota, Prim. Dr. Christa Radoš, Ao. Univ.-Prof. DDr. Gabriele-Maria Sachs, Prim. Dr. Elmar Windhager, Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Dietmar Winkler Lecture Board: Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner, Mag. Martina Anditsch, Prof. Priv.-Doz. Dr. Michael Bach, Mag. Dr. Andreas Baranyi, Prim. Dr. Jan Di Pauli, Prim. Dr. Gerhard Fruhwürth, Prim. Dr. Robert Zöchling Österreichische Gesellschaft für Vorsitz: O. Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr. med. Siegfried Kasper Neuropsychophar- makologie und Biolo- Priv.-Doz. Dr. Michael Rainer gische Psychiatrie
Vorwort Bei älteren und hochbetagten Menschen sind nicht nur körperliche, sondern auch psychiatrische Erkrankungen in einem höheren Ausmaß vorhanden. Dabei kommt es vorrangig zum Auftreten von demenziellen Zustandsbildern, zu depressiven Störungen, Angsterkrankungen sowie Erkran- kungen mit einer psychotischen Symptomatik. O. Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr. med. Siegfried Kasper Die zur Verfügung stehenden Medikamente haben sich zwar in den letzten 30 Jahren deutlich Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Wien verbessert und weisen eine höhere Differenziertheit auf, bedacht werden müssen jedoch die Pharmakodynamik und Pharmakokinetik sowie das Interaktionspotenzial der Substanzen. Neben den psychopharmakologischen Therapien kommt auch der Behandlung der z.B. internis tischen Grunderkrankungen wie Bluthochdruck bzw. Diabetes mellitus eine große Bedeutung zu. Ebenso müssen sozialpsychiatrisch-psychotherapeutische Maßnahmen unter Einbeziehung der Angehörigen individualisiert in das Therapiekonzept aufgenommen werden. Das vorliegende Konsensus-Dokument wurde im persönlichen Austausch mit den Autoren und Priv.-Doz. Dr. Michael Rainer im schriftlichen Austausch mit den in das Editorial Board einbezogenen Kollegen erarbeitet und Psychiatrische Abteilung und stellt somit eine konsensuelle Meinung dar. Wir hoffen, dass das vorliegende Konsensus-State- Memory-Clinic im SMZ Ost, ment zum besseren Verständnis und zur Behandlung dieser Patientengruppe beiträgt und dass Karl Landsteiner Institut für Gedächtnis- und Alzheimer die erarbeiteten Inhalte auch von politischen Gremien zur Entscheidungsfindung herangezogen forschung im SMZ Ost, Wien werden. Österreichische Coverbild: Margot Holzapfel; Fotos: Archiv (13), MedUni Wien Matern, Privat (3), Felicitas Matern Gesellschaft für Neuropsychophar- makologie und Biolo- gische Psychiatrie O. Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr. med. Siegfried Kasper Priv.-Doz. Dr. Michael Rainer Zitierung der Arbeit wie folgt: Kasper S, Rainer M, Aigner M, Anditsch M, Bach M, Baranyi A, Di Pauli J, Fruhwürth G, Geretsegger C, Jagsch C, Kapfhammer HP, Marksteiner J, Psota G, Radoš C, Sachs GM, Windhager E, Winkler D, Zöchling R. Psychopharmakotherapie beim älteren und hochbetagten Menschen. Konsensus-Statement – State of the Art 2014. CliniCum neuropsy Sonderausgabe November 2014 Liebe Leserin, lieber Leser! Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf das Binnen-I und auf die gesonderte weibliche und männliche Form. 2 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Psychopharmakotherapie beim älteren und hochbetagten Menschen Inhalt 1. Einleitung In den letzten zwölf Jahren stieg die Zahl der Personen im Alter von Vorwort 2 65 bis 69 Jahren in Österreich von 329.826 im Jahr 2002 auf der- zeit 420.420 Personen (+27,5 Prozent) an. Noch ausgeprägter war 1. Einleitung 3 der Anstieg in den Alterssegmenten 80 bis 84 Jahre (+30,8 Pro- zent, dzt. 217.207 Personen) und 85 bis 89 Jahre (+54 Prozent) 2. Epidemiologie und (Statistik Austria 2013). Sämtliche Bevölkerungsprognosen gehen zukünftige Entwicklung 3 davon aus, dass der Anteil der älteren und hochbetagten Men- schen in den kommenden Jahrzehnten noch weiter zunehmen 3. Psychische Erkrankungen wird. Dies stellt insbesondere die Medizin, aber auch die Pflege vor im höheren Lebensalter 3 neue Herausforderungen und Aufgaben. 3.1 Demenzerkrankungen 3 3.2 Depressive Störungen beim älteren Es werden daher degenerative Erkrankungen wie etwa die Alzhei- und hochbetagten Menschen 4 mer-Demenz stark zunehmen, was nicht nur einen Ausbau der 3.3 Organische psychische Störungen 5 Pflegeeinrichtungen, sondern auch eine adäquate psychopharma- 3.3.1 Delir 5 kologische Therapie verlangt. Abgesehen von den Möglichkeiten, 3.3.2 Organische Wahnstörungen 5 die die moderne wissenschaftliche Forschung auch im Hinblick auf 3.3.3 Organische Halluzinosen 6 mögliche kurativ wirksame Medikamente gegen Alzheimer-De- 3.3.4 Weitere organische psychische Störungen 6 menz versprechen, bedeutet die steigende Lebenserwartung die 3.3.5 Neukonzeptualisierung 7 unabdingbare Notwendigkeit einer suffizienten Therapie mit wirk- samen und nebenwirkungsarmen Psychopharmaka. 4. Psychopharmakotherapie der Demenz 7 4.1 Differenzierte Psychopharmakotherapie der In diesem Konsensus-Statement werden die Möglichkeiten und Demenz-Subtypen 8 Grenzen, die Probleme und Herausforderungen, die eine infolge 4.2 Alternative Medikamente zur Therapie der Demenz 9 der steigenden Lebenserwartung zu erwartende Zunahme der psy- 4.3 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen 9 chischen Erkrankungen im höheren Lebensalter mit sich bringt, 4.4 Behandlung von Verhaltensstörungen aufgezeigt. Im Mittelpunkt dieses Konsensus-Statements steht in und psychischen Symptomen bei Demenz 9 erster Linie die psychopharmakologische Behandlung. Gleichzeitig darf jedoch der Stellenwert psychiatrisch-psychotherapeutischer 5. Exkurs: Therapie mit Benzodiazepinen beim Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen, älteren und hochbetagten Menschen 11 Angehörigen und Pflegepersonen nicht vergessen werden. 6. Depression und Angst im höheren Lebensalter 12 2. Epidemiologie und zukünftige Entwicklung 6.1 Depression und Demenz 13 In Österreich leben derzeit 1.488.397 Menschen im Alterssegment 6.2 Depression und Morbus Parkinson 14 von 65 bis 89 Jahren. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 6.3 Therapie der Depression 14 18,5 Prozent, und 68.261 Personen sind älter als 89. Statistik Aus tria (2013) prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020 der Anteil der 7. Schizophrenie im höheren Lebensalter 15 über 65-Jährigen auf 19,7 Prozent der Bevölkerung, bis 2050 auf 28,2 Prozent ansteigen wird. 8. Nicht medikamentöse Maßnahmen in der Therapie des älteren Patienten – Schwerpunkt Demenz 17 3. P sychische Erkrankungen im höheren Lebensalter 3.1 Demenzerkrankungen Die Prävalenz von Demenzerkrankungen, wie etwa der Alzheimer- Demenz als häufigste Demenzerkrankung, betrug im Jahr 2000 1,1 Prozent, bis 2050 wird sich diese Zahl auf 2,8 Prozent mehr als verdoppeln (Alf et al. 2005). Die Gesamtgruppe der demenzi- ellen Erkrankungen lässt sich wie folgt unterteilen: 60 bis 80 Pro- zent der Demenzen sind Demenzen vom Alzheimer-Typ, sieben bis 25 Prozent sind Lewy-Body-Demenzen, bis zu 25 Prozent sind c linic um neurop s y s ond erausgabe 3
Abbildung 1 Formen und Stadien der Alzheimer-Demenz Vorklinisches Stadium Prodromale Alzheimer- Alzheimer- Gemischte Alzheimer- von Alzheimer-Erkran- Erkrankung Erkrankungen Erkrankungen kungen Episodischer Gedächtnis- IADL involviert und episo- Typische Alzheimer- Bezieht sich auf asympto- verlust disches Gedächtnis Erkrankung plus klinische matische Phasen zwi- Verlust von IADL plus ein weiterer kognitiver Bildgebung/biologische schen frühen Läsionen CSF oder positive bild Bereich Anzeichen von komorbi- und ersten Anzeichen von gebende Biomarker den Störungen wie CVD kognitiven Änderungen oder LBD Typische Alzheimer- Erkrankungen MCI Asymptomatischer Risiko-Zustand Früher signifikanter Weicht von prodromaler episodischer Gedächtnis- PIB Alzheimer-Erkrankung ab, verlust gefolgt von einer CSF da weder eine Gedächtnis kognitiven Beeinträchti störung noch positive gung Biomarker vorliegen Unterstützende Bio- Präsymptomatische marker Alzheimer-Erkrankungen Mutationen mit voller Atypische Alzheimer- Penetranz Erkrankungen PPA Sprachverlust Variante der Frontallap- pen-Alzheimer-Demenz PCA unterstützt von Amyloid-Feststellung PiB=Pittsburgh Compound B, CSF=Rückenmarksflüssigkeit (englisch: cerebrospinal fluid), IADL=instrumentelle Alltagsaktivitäten (englisch: instrumental activities of daily living), MCI=leichte kognitive Beeinträchtigung (englisch: Mild Cognitive Impairment), PPA=Primär progrediente Aphasie, PCA=Posteriore Kortikale Atro- phie, CVD=Herz-Kreislauf-Erkrankung (cardiovascular disease), LBD=Lewy-Körper-Demenz (Lewy Body Dementia) Quelle: Dubois B et al. Revising the definition of Alzheimer’s disease: a new lexicon. Lancet Neurol. 2000 Nov;9(11):1118–27 vaskuläre Demenzen sowie zehn bis 25 Prozent sind Mischformen Abbildung 2 (Maurer et al.al. 1993, Al et al.2004). Eine wichtige Rolle als Pro- Überlappung verschiedener Demenzformen gnosefaktor spielt das Mild Cognitive Impairment (MCI), dessen Demenzielle Erkrankungen Prävalenz in den Industriestaaten derzeit zwischen zehn und 25 Pick-Körper Prozent bei den über 65-Jährigen liegt (Peterson et al. 2001). Das Aufgeblasene Zellen Konversionsrisiko für über 65-jährige MCI-Patienten liegt zwi- Vaskuläre Demenz schen zehn bis 15 Prozent pro Jahr, wohingegen die ältere Allge- Frontale meinbevölkerung ohne MCI ein Risiko zur Ausbildung einer De- Demenzen menzerkrankung von rund zwei Prozent pro Jahr aufweist (siehe Abbildung 1). Die Abbildung 2 zeigt die Überlappungen verschie- Alzheimer-Demenz Lewy-Körper dener Demenzformen. Unspezifische Histologie 3.2 Depressive Störungen beim älteren und hochbetagten (Parkinson Demenz) Menschen Auch depressive Störungen sind eine im höheren Lebensalter in Quelle: modifiziert nach Knoopman, 1999 ihrer Häufigkeit nicht zu unterschätzende Erkrankung. So wird Editorial Board Prim. Univ.-Doz. Dr. Prim. Dr. O. Univ.-Prof. DDr. Prim. Univ.-Prof. Dr. Chefarzt Dr. Prim. Dr. Christian Geretsegger Christian Jagsch Hans-Peter Josef Marksteiner Georg Psota Christa Radoš Universitätsklinik für Landesnervenklinik Kapfhammer Landeskrankenhaus Hall Psychosoziale Dienste Landeskrankenhaus Psychiatrie und Psycho- Sigmund Freud, Graz Universitätsklinik für (PSD) in Wien Villach therapie, Paracelsus Psychiatrie, Graz PMU Salzburg 4 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
die Zahl der erkrankten Personen in Österreich auf rund 17 Prozent geschätzt (Fischer et al. 2008). Abbildung 3 Im Vergleich – innerhalb der EU liegt die Häufigkeit Suizidrate in Österreich 2004 (pro 100.000 Personen) des Auftretens bei etwa zwölf Prozent (Copeland 200 et al. 2004). 180 160 Dabei gelten Hochbetagte (Alterssegment von 77– ■ Männer 104 Jahren) mit 25,8 Prozent ebenso als Risikogruppe 140 ■ Frauen für depressive Störungen wie etwa multimorbide 120 Patienten mit einer Depressionsprävalenz von 36,8 100 Prozent. Zwischen 30 und 70 Prozent aller Patienten 80 erkranken nach einem Schlaganfall an depressiven Störungen, bei Morbus Parkinson sind es zwischen 60 30 und 50 Prozent. 40 20 Von Suiziden sind vor allem Männer betroffen. Männer haben in allen Altersgruppen eine höhere Suizidrate 0–9 15–19 25–29 35–39 45–49 55–59 65–69 75–79 85+ als Frauen, ab dem 65. Lebensjahr wird dieser Unter- Altersgruppen Quelle: WHO 2004 schied besonders deutlich (siehe Abbildung 3). 3.3 Organische psychische Störungen Tabelle 1 Einteilung organischer psychischer Störungen 3.3.1 Delir nach ICD-10 und DSM-5 Das Delir weist eine deutliche tageszeitliche Fluktuati- on auf. Beim Delir kommt es zu diffusen kognitiven ICD-10 Organische, einschließlich symptomatische psychische Störungen Defiziten, wie z.B. Aufmerksamkeits- und Orientie- • Demenz rungsstörungen, aber auch Wahrnehmungsstörungen • Organisches amnestisches Syndrom wie illusionäre Verkennung und optische Halluzinatio- • Delir, nicht substanzbedingt nen sind häufig. Es kommt zu formalen und inhaltli- • Sonstige psychische Störungen (Halluzinose, katatone, wahnhafte, affektive chen Denkstörungen und Störungen der Psychomoto- Angst-, dissoziative Störung, emotional labile Störung, leichte kognitive rik, wie etwa Hyper- oder Hypoaktivität. Beobachtet Störung) werden zudem Sprachstörungen und Störungen des • Organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (organische Persönlich- Schlaf-Wach-Zyklus. Im Vordergrund stehen jedoch keitsstörung, postenzephalitisches Syndrom, Psychosyndrom nach Schädel- meist die Bewusstseinstrübung und Störungen der Be- Hirn-Trauma) wusstheit der Umgebung. DSM-5 Zum Vergleich der diagnostischen Einteilung des Delirs Neurokognitive Störungen in ICD-10 und DSM-5 siehe Tabelle 1. Wir unterschei- • Delir den ein hypoaktives (24–29 Prozent), ein hyperaktives • Majore und milde neurokognitive Störungen (15–20 Prozent) Delir und Mischbilder (43–52 Prozent), (O’Keeffe, 1999). Das Ursachengefüge des Delirs zeigt Tabelle 2 auf Seite 6. Beispiel der Niere und der Leber, Immobilität und Stürze, Schmer- zen sowie Mangelernährung und Flüssigkeitsmangel als Risikofak- Als Vulnerabilitäts- und präzipitierende Faktoren gelten: höheres toren infrage. Alter und männliches Geschlecht, bestehende demenzielle Er- Auslösend können hypo- oder hyperglykämische Blutzuckerspiegel krankungen und besonders die Demenzschwere, Depression, sein. Bei allen akut auftretenden Bewusstseinsstörungen kann eine Substanzmissbrauch (Alkohol, Benzodiazepine) und Polypharma- Blutzuckermessung rasch diagnostisch wegweisend sein. Weiters zie. Außerdem kommen schwere Allgemeinerkrankungen zum begünstigen Hypoxie, Blutverlust, Dehydratation, Infektionen oder Schock sowie neurologische Ereignisse (Schlaganfall, Blutung, Ent- zündung) oder Medikamente mit delirogenem Potenzial ein Delir. Doch auch ein Zustand nach einer Operation, durch einen Harnka- theter oder ein Spitalsaufenthalt an sich können ein Delir auslösen. Häufige Ursachen für Delirien: • somatische Erkrankungen • Zentral-anticholinerges Delir • postoperatives Delir • Entzugsdelir Ao. Univ.-Prof. DDr. Prim. Dr. Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Gabriele-Maria Sachs Elmar Windhager Dr. Dietmar Winkler 3.3.2 Organische Wahnstörungen Universitätsklinik für Klinikum Wels-Gries Universitätsklinik für Psychiatrie und Psycho- kirchen Psychiatrie und Psycho- Einen Wahn findet man häufig bei deliranten und demenziellen Er- therapie, Wien therapie, Wien krankungen. Auch bei Morbus Parkinson kann ein Wahn aufgrund langfristiger oder zu hoher L-Dopa-Medikation oder Dopaminago- c linic um neurop s y s ond erausgabe 5
• TV-Syndrom (TV-Inhalte werden als Realität Tabelle 2 verkannt) Ursachengefüge des Delirs • Mirror-Syndrom (eigenes Spiegelbild wird Prädisposition + exogene Noxe ➞ Delir nicht erkannt und für jemand anderen ge Prädisposition exogene Noxe halten) Hohe Vulnerabilität schwache Noxe • hohes Lebensalter • fremde Umgebung 3.3.3 Organische Halluzinosen • kognitive Einschränkung • körperliche Beschränkung – FEM Organische Halluzinosen gehören zu den inte- • Frailty • Immobilisation gralen Symptomen beim Delir, aber auch bei • hohe somatische Komorbidität • Schlafdeprivation verschiedenen Demenzen (z.B. Lewy-Körper- • schwere Grunderkrankung • psychoaktive Medikamente Demenz). Häufig sind es visuelle Halluzinatio- • Hör- od. Sehbehinderung • Entzugssyndrom (Alkohol, Sedativa) nen, es können aber auch alle anderen Sinne • Anämie • respiratorische Insuffizienz (Hypoxie) betroffen sein. • Malnutrition (niedriges S-Albumin) • Exsikkose Zu akustischen Halluzinosen kommt es häufig • Alkoholismus • Elektrolytentgleisung bei Alkoholkrankheit, erworbener Taubheit, • Depression • akute Infektion Hirnstammläsionen, Temporallappenepilepsie so- • Angst • Hypo-, Hyperglykämie • Benzodiazepingebrauch • Organversagen (Leber, Niere) wie als Musikhalluzinationen bei älteren schwer- • Schmerz • Intensivbehandlung hörigen Menschen, akustischer Variante eines • leichte kognitive Störung • Anticholinergika Charles-Bonnet-Syndroms. • Einsamkeit • chirurgischer Eingriff Gustatorische Halluzinationen finden sich bei Epilepsie, bei der vor allem die medialen Teile der niedrige Vulnerabilität potente Noxe Temporalregion betroffen sind. FEM=freiheitsentziehende Maßnahme Als Ursache für Halluzinationen kommen auch Quelle: nach Inouye SK: Delirium in older persons. NEJM 2006; 354: 1157–65 eine Reihe von Erkrankungen entlang der Seh- bahn infrage. nisten auftreten. Ebenfalls beobachtet werden organische Wahn- störungen bei toxisch-metabolischen Enzephalopathien, bei Schä- Bei folgenden Krankheitsbildern können optische Halluzinationen del-Hirn-Traumata nach der hochdosierten Einnahme von Amphet- entstehen: aminen und/oder Kokain und bei Erkrankungen des Temporallap- • Neuritis des Nervus optici pens, wie z.B. Epilepsie. • Atrophie der Pedunculi cerebri • Läsionen der Hirnhemisphären (iktal, destruierend) Zu sekundären Wahnbildungen kann es als Anpassungsstrategie an • Migräne perzeptive Unsicherheiten, amnestische Dysfunktionen und Defizi- • Narkolepsie ten des abstrakten Denkvermögens kommen. Für diese Wahnbilder • Intoxikation/Entzug typisch ist ein Verfolgungswahn. Wichtige klinische Hinweise für organische Wahnstörungen sind 3.3.4 Weitere organische psychische Störungen ein später Beginn, ungewöhnliche Wahninhalte, koexistente Defi- Ebenfalls zu den organischen Psychosyndromen zählt die organi- zitsyndrome, unauffällige prämorbide Persönlichkeit, fehlende Ei- sche Angststörung aufgrund neurologischer/internistischer Erkran- gen- und Familienanamnese sowie aktuell eine internistische und/ kungen, Intoxikationszuständen bzw. Entzug. oder neurologische Erkrankung. Üblicherweise im Kontext psychischer Traumata können organische Als Beispiele für organische Wahnsyndrome seien genannt: dissoziative Störungen wie etwa amnestische Episoden, Fuguezu- • Capgras-Syndrom (vertraute Person wird durch identisch schei- stände oder Depersonalisation-Derealisationssyndrome und Störun- nenden Betrüger ersetzt) gen des Identitätsgefühls entstehen. • Othello-Syndrom (Eifersuchtswahn) • Incubus-Syndrom (Patient glaubt, sich von einem Dämon oder Eine amnestische Störung betrifft typischerweise den Neuerwerb Phantomliebhaber sexuell belästigt) von Informationen. Normale Aufmerksamkeit, unmittelbare Merk- • Lykantropie (Vorstellung, in ein Tier, z.B. Werwolf, verwandelt fähigkeit sowie Altzeitgedächnis bleiben dabei erhalten. Amnesti- zu werden) sche Störungen treten insbesondere beim Korsakow-Syndrom, bei Lecture Board Prim. Univ.-Prof. Dr. Mag. Martina Anditsch Prof. Priv.-Doz. Dr. Mag. Dr. Prim. Dr. Jan Di Pauli Prim. Dr. Martin Aigner Allgemeines Kranken- Michael Bach Andreas Baranyi Landeskrankenhaus Gerhard Fruhwürth Landesklinikum Donau- haus Wien Ambulante psychosozi- Universitätsklinik für Rankweil Krankenhaus der Barm- region Tulln ale Rehabilitation pro Psychiatrie, Graz herzigen Brüder, Eisen- mente reha, Salzburg stadt 6 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Tabelle 3 Differenzialdiagnostische Hinweise Organische Amnesien Psychogene Amnesien •O ft schwerwiegendes neurologisches Ereignis •M eist schwerwiegende psychosoziale Stressoren, Auslösesituation (Schädel-Hirn-Trauma, Apoplex etc.) Traumata • P sychosoziale Stressoren möglich • Nicht selten leichtes Schädel-Hirn-Trauma Diverse bilaterale Läsionen, v.a. rechtshemisphäral Strukturelles CCT/MRT Keine, ggf. geringfügige Läsionen (temporopolar, inferolateral präfrontal) Inferolateral präfrontal, anterior temporal reduzierter Funktionelles MRT In der Regel: ja Hirnmetabolismus, v.a. rechts Kongruenz: organischer In der Regel: ja In der Regel: nein Befund – Amnesie Verlust der Selbstidentität (Fugue), „belle indif- •K ein Verlust der Selbstidentität Klinische Phänomenologie férence“, aber auch unsicher, mögliche andere • Unsicher, ängstlich, häufiges Fragestellen psychopathologische Symptome In der Regel keine vorbestehende psychische Oft vorbestehende psychische Störung und/oder Psychopathologie Störung oder Persönlichkeitsstörung Persönlichkeitsstörung •U mgekehrter Gradient der retrograden Amnesie • Z eitlicher Gradient der retrograden Amnesie bezüglich autobiografischen Gedächtnisses (jüngere Erinnerungen stärker als ältere betroffen) • Manchmal Amnesie nur für bestimmte Situationen Neuropsychologie • Manchmal totaler Gedächtnisverlust • Anterogrades Gedächtnis oft intakt • Anterogrades Gedächtnis beeinträchtigt • Intellektuelle Funktionen meist grob unauffällig • Variable intellektuelle Funktionsstörungen oder nur partiell/vorübergehend beeinträchtigt Quelle: Mykay und Kopelman 2009, Reinhard und Markowitsch 2009 transitorischer globaler Amnesie sowie bei dissoziativer Amnesie zwischen hyper- oder hypoaktiv unterschieden. Derzeit fußen ande- nach psychosozialem Trauma auf. Zur Abgrenzung von organi- re Begrifflichkeiten für organische/symptomatische psychische Stö- schen und psychogenen Amnesien siehe Tabelle 3. rungen, so wie sie noch in DSM-IV und ICD-10 syndromal aufge- führt sind, auf dem zentralen Begriff Demenz. Eine Umstellung des Eine organische Persönlichkeitsstörung kann im Gefolge zerebraler ICD auf die neue Begrifflichkeit im DSM-5 kann erwartet werden Läsionen, Epilepsie, Chorea Huntington und fokaler Läsionen mit (Abbildung 4 auf Seite 8). Wernicke-Aphasie auftreten. Die Symptome reichen von Apathie über Reizbarkeit bis zu Enthem- mung und Misstrauen. 4. Psychopharmakotherapie der Demenz Neben einer umfassenden Diagnostik zur Feststellung nicht nur 3.3.5 Neukonzeptualisierung des Vorliegens, sondern auch des Subtyps der Demenz steht die Im vor Kurzem erschienenen Diagnostic and Statistical Manual möglichst frühe und intensive Behandlung des Patienten im Mit- (DSM-5) kam es zu einer Neukonzeptualisierung der Begrifflichkei- telpunkt der therapeutischen Bemühungen. Acetylcholinesterase- ten. Der Ausdruck „neurokognitive Störungen“ umfasst nun sämt- hemmer haben sich bei leichter bis mittelschwerer Demenz als liche kognitiven Beeinträchtigungen. Dabei wird festgehalten, dass wirksame Optionen erwiesen. Sowohl Donepezil wie auch Riva- kognitive Beeinträchtigungen auch bei anderen psychiatrischen stigmin und Galantamin führten zu Verbesserungen der Kogniti- Krankheitsbildern auftreten. on, der Alltagsfähigkeiten und des Verhaltens (Birks 2006) (siehe Abbildung 5 auf Seite 8). Im späteren Stadium, der schweren Alz- Diese neue diagnostische Gruppe der neurokognitiven Störungen heimer-Demenz, sind der NMDA-Rezeptor-Modulator Memantin ersetzt im DSM-5 den Begriff „Demenz“ und geht von der DSM-IV- und der Cholinesterasehemmer Donepezil zur Behandlung der Bezeichnung „Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive Alzheimer-Demenz zugelassen. Bei schwerer und mittelschwerer Störungen“ aus. Sechs kognitive Domänen werden innerhalb der Demenz hat sich eine Kombination von Cholinesterasehemmer Gruppe der neurokognitiven Störungen und Memantin als wirksam erwiesen. Laut Konsensus-Statement unterschieden: der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft aus 2010 ist eine sol- • komplexe Aufmerksamkeit che Kombinationstherapie anzustreben (Atri et al. 2008). Der • exekutive Funktionen MMSE-Richtwert für den Start der Behandlung liegt dabei zwi- • Lernen und Gedächtnis schen fünf und 14 (Schmidt et al. 2010). • Sprache • perzeptuell-motorische Fähigkeiten Cerebrolysin-Infusionen und Ginkgo-biloba-Produkte können zu- • soziale Kognitionen sätzlich zu Antidementiva verordnet werden. Ginkgo-biloba-Pro- dukte können bei leichten und mittelschweren Fällen eingesetzt Prim. Dr. Störungen in diesen Domänen sind, je nach werden (Schmidt et al 2010). Robert Zöchling Landesklinikum Mauer dimensionaler Ausprägung, obligatorisch Einen Abriss über den Einsatz der verschiedenen derzeit zur Verfü- nachzuweisen. So wird beispielsweise beim gung stehenden Medikamente zur Therapie der Alzheimer-Demenz Delir zwischen persistierend oder akut und zeigt Tabelle 4 auf Seite 9. c linic um neurop s y s ond erausgabe 7
Der erreichte Nutzen kann inner- Abbildung 4 halb weniger Wochen wieder Neukonzeptualisierung im DSM-5 – „neurokognitive Störungen“ verloren gehen. Absetzversuche sollten daher nur wohlüberlegt Diagnosen und Specifier stattfinden. Eine Überlegenheit eines Cholinesterasehemmers über den anderen konnte bis- Delir Majore NCD Minore NCD lang nicht direkt nachgewiesen ▯ Substanzintoxikation ▯ mit / ▯ ohne Verhaltensstörung ▯ mit / ▯ ohne Verhaltensstörung werden. ▯ Substanzentzug ▯ medikationsinduziert aufgrund Alzheimer-Krankheit + Cholinesterasehemmer sind Mit- ▯ aufgrund anderen medizinischen Faktors frontotemporal tel der Wahl bei allen mit cholin- ▯ aufgrund multipler Ätiologien ergen Defiziten verbundenen mit Lewy-Körpern + Demenzen: ▯ Hyperaktiv vaskulär+ ▯ Hypoaktiv • Alzheimer-Demenz ▯ Gemischt aufgrund Schädel-Hirn-Trauma • Subcorticale vaskuläre Demenz substanz-/medikationsinduziert • Lewy-Body-Demenz ▯ Akut ▯ persistierend • Parkinson-assoziierte Demenz aufgrund HIV-Infektion aufgrund Prionenkrankheit 4.1 Differenzierte Psycho- aufgrund Parkinson-Krankheit pharmakotherapie der De- menz-Subtypen aufgrund Huntington-Krankheit aufgrund anderen medizinischen Faktors Alzheimer-Demenz Diagnosen aufgrund multipler Ätiologie Therapien der ersten Wahl bei ▯ Specifier leichter bis mittelschwerer Alz- + weitere Differenzierung: „wahrscheinlich“, „möglich“ NCD=neurokognitive Störung heimer-Demenz sind Cholineste- Quelle: Maier & Barnikol, Nervenarzt 2014; 85: 564–570 rasehemmer in Form einer Lang- zeittherapie. Bei Unverträglich- keit oder Unwirksamkeit sollte Abbildung 5 ein Präparatewechsel vorge- Therapie der Alzheimer-Demenz Zulassungsstatus nach dem Konsensus-Statement der Österreichischen nommen werden. Memantin Alzheimer Gesellschaft 2010 kann bei mittelschwerer Alzhei- mer-Demenz zur Anwendung MMSE 26* MMSE 20 MMSE 10 MMSE 0 kommen, wenn Cholinesterase- hemmer nicht vertragen werden Leichte AD Mittelschwere AD Schwere AD oder sich als unwirksam erwei- sen. Dies gilt auch für die Alz- Cholinesterasehemmer: Donepezil (Aricept), Donepezil** heimer-Demenz im frühen Stadi- Rivastigmin (Exelon), Galantamin (Reminyl) Memantin um. Bei schwerer Alzheimer- NMDA-Rezeptor-Modulator: Demenz ist eine Kombinations- Memantin (Ebixa)(MMSE 19-3) behandlung von Cholinesterase- hemmer plus Memantin anzu- Alternativen bei Nicht-Wirksamkeit oder in Kombination: Ginkgo Biloba, Cerebrolysin-Infusionen streben (eine Zulassung für *MMSE=Mini Mental State Examination (Mini Mental Status Test) **Keine Krankenkassenübernahme unter MMSE 10 dieses Stadium besteht nur für Quelle: Schmidt et al. 2010 Memantin). In den Guidelines der World Federation of Societies of Biological Vaskuläre Demenz Psychiatry aus 2011 wird zur Auswahl der Substanzen festgehalten, Für die vaskuläre Demenz steht die Sekundärprävention von dass diese abhängig ist von der Schlaganfällen im Vordergrund. Weiters sollte entweder Donepezil 1. Art der Demenz, oder Memantin zum Einsatz kommen. Für Mischformen der De- 2. Symptomkonstellation und menz haben sich Galantamin und Rivastigmin als effektive Thera- 3. Verträglichkeit der Therapie. pieoptionen erwiesen. Im frühen und mittleren Stadium der Demenz hat sich eine Behand- Lewy-Body-Demenz lung mit Cholinesterasehemmern als wirksam und sinnvoll erwiesen Bei Lewy-Body-Demenz ist Rivastigmin das Mittel der ersten Wahl. (Winblad et al. 2006, Seltzer et al. 2004, Holmes et al. 2004, Rogers Bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit kann auch Donepezil et al. 2000). Dabei kann eine Kombination verschiedener Substanzen oder Galantamin gegeben werden. insgesamt die Wirksamkeit der Therapie erhöhen. Eine Langzeitthe- rapie in einer einfach zu administrierenden Form soll angestrebt wer- Parkinson-Demenz den (Geldmacher et al. 2003, Doody et al. 2001). Absetzversuche Mittel der ersten Wahl bei Parkinson-Demenz ist ebenfalls Rivastig- haben sich in verschiedenen Studien als kontraproduktiv erwiesen. min. Mittel der zweiten Wahl sind Donepezil und Galantamin. 8 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Tabelle 4 Therapie einer Demenz: Substanz, Dosen, Metabolismus und Darreichungsformen derzeit zugelassener Antidementiva Acetylcholinesterasehemmer NMDA-Antagonist Ginkgo biloba Donepezil Rivastigmin Galantamin Memantin EGb 761 Oral Transdermal Multivalenter Selektiver Radikalfänger, AChE-I, Nonkompetitiver Hemmung von Reversibler Pseudoirreversibler selektiver Wirkungsprinzip Modulator an NMDA-Rezeptor- Amyloid-beta- selektiver AChE-I AChE-I und BuChE-I nikotinischen Antagonismus Protein, ACh-Rezeptoren Steigerung der Cholin-Aufnahme Einnahme 1x tgl. 2x tgl. 1x tgl. 1x od. 2x tgl. 1x tgl. 1x od. 3x tgl. Startdosis 5mg/Tag 3mg/Tag 4,6mg/Tag 8mg/Tag 5mg/Tag 240mg/Tag Titrationsintervall min. 4 Wochen 4 Wochen Min. 4 Wochen Min. 4 Wochen 1 Woche —— Erhaltungsdosis 5–10mg/Tag 6–12mg/Tag 9,5mg/Tag 16–24mg/Tag 20mg/Tag 240mg/Tag CYP2D6, CYP2D6, Kein hepatischer CYP2C9*, Metabolismus Kein hepatischer Metabolismus CYP3A4 CYP3A4 Metabolismus CYP3A4* Halbwertszeit ca. 70 h 1,5 h 3,4 h 5–7 h 60–80 h 3–11 h Darreichungs Filmtablette, Hartkapsel, Transdermales Retardkapsel, Filmtablette, Filmtablette, formen Schmelztablette Lösung Pflaster Lösung Lösung Tropfen *Erst eine Überdosierung von Ginkgo biloba-Präparaten führt zu einer leichten CYP2C9-Induktion sowie zu einer schwachen CYP3A4-Inhibition. AChE-I=Acetylcholinesterase-Inhibitor; BuChE-I=Butyrylcholinesterase-Inhibitor; Ach=Acetylcholin; NMDA=N-Methyl-D-Aspartat (Glutamatrezeptor) Frontotemporale Demenz mantin ist bei Nierenfunktionsstörungen Vorsicht geboten. Bei ei- Für die frontotemporale Demenz gibt es keine spezifische Therapie. ner Kreatinin-Clearance von 50–80ml/min gilt das normale Dosie- SSRI sind Psychopharmaka der ersten Wahl, weil diese Substanzen rungsschema. Bei einer Kreatinin-Clearance von 30–45ml/min ist günstige Effekte vor allem auf affektive Symptome gezeigt haben. eine Tagesdosis von 15mg zu empfehlen. Halbiert werden sollte die Memantin ist Mittel der zweiten Wahl. Cholinesterasehemmer sind Dosis bei einer Clearance von 5–29ml/min. bei dieser Demenzform nicht empfohlen. Ältere multimorbide Patienten mit Alzheimer-Demenz erhalten meist eine Reihe von Medikamenten zur Behandlung altersbeding- 4.2 Alternative Medikamente zur Therapie der Demenz ter Erkrankungen. In Kombination mit Antidementiva können diese Die Auswahl alternativer Medikamente zur Therapie einer Demenz zu Wechselwirkungen führen. Donepezil und Galantamin werden ist überschaubar. Einer Empfehlung der Österreichischen und Deut- über das Cytrochrom-P450-System verstoffwechselt. Betablocker, schen Alzheimergesellschaft zufolge können Cerebrolysin i.v. Infu- Digitalispräparate, Kalziumantagonisten oder Antiarrhythmika wer- sionen sowie Ginkgo-biloba-Präparate bei leichter und mittel- den ebenfalls über dieses System metabolisiert. Rivastigmin wird schwerer Alzheimer-Demenz verabreicht werden. nicht über Cytochrom P450 verstoffwechselt, sondern durch Hy- drolyse zu inaktiven Metaboliten abgebaut und hauptsächlich über 4.3 Unerwünschte Arnzeimittelwirkungen die Niere ausgeschieden. Die Substanz kann daher mit allen ande- In der Wahl eines Cholinesterasehemmers spielen Neben- und ren Medikamenten, die der Demenzpatient einnehmen muss, kom- Wechselwirkungsprofile eine wichtige Rolle. Antidementiva sind im biniert werden. Das Interaktionsrisiko von Cholinesterasehemmern Allgemeinen gut verträglich. Am häufigsten treten folgende Neben- mit anderen Substanzen zeigt Abbildung 6 auf Seite 10. wirkungen auf: • Übelkeit 4.4 Behandlung von Verhaltensstörungen und psychischen • Erbrechen Symptomen bei Demenz • Schwindel Bei BPSD (Behavioural and psychological symptoms of dementia), • Appetitlosigkeit wie sie im mittleren, vor allem aber im Spätstadium der Demenz • Diarrhoe auftreten können, haben sich Antidementiva (Acetylcholinestera- • Kopfschmerzen, Wadenschmerzen se-Inhibitoren und Memantin) als durchaus wirksam erwiesen (sie- • Urinäre Inkontinenz he Abbildung 7 auf Seite 10). Die Nebenwirkungen sind häufig vorübergehend und durch eine Häufige Verhaltensstörungen beim dementen Patienten: langsame Titrierung oder die Einnahme der Medikation zum Essen • verbale Aggressivität zu vermeiden. Auch eine Dosisreduktion oder ein Wechsel der Dar- • Agitation reichungsform ist zu überlegen, um Nebenwirkungen zu vermeiden • zielloses Umherwandern oder zu reduzieren. Kontraindiziert sind Cholinesterasehemmer bei • Enthemmung schwerer Leberfunktionsstörung. Bei einer schweren Nierenfunkti- • Schreien onsstörung besteht eine Kontraindikation für Galantamin und • Tag-Nacht-Umkehr Rivastigmin. Donepezil erfordert keine Dosisanpassung. Für Me- • Ruhelosigkeit c linic um neurop s y s ond erausgabe 9
In der Therapie des verhaltensgestörten, Abbildung 6 dementen Patienten muss darauf geach- Interaktionsrisiko von Cholinesterasehemmern tet werden, ob dieser ein „altgeworde- mit anderen Medikamenten ner“ Patient mit schwerer psychischer Bradykardie Erkrankung ist, weil dieser eine antipsy- EPS chotische Medikation in relativ hohen Dosen „verträgt“. Treten die Verhaltens- Antipsychotika Antiarrhythmika störungen allerdings neu im Rahmen einer Demenzerkrankung auf, so muss die Anti- psychotika-Dosis entsprechend nieder Ach E-I dosiert werden. NSAR Eine Behandlung mit Antipsychotika und/ Zentrale Anticholinergika oder Benzodiazepinen bei Verhaltensstö- rungen und Agitation ist immer nur so GI-Blutungen kurz wie möglich durchzuführen. Dies ist Antagonisierung auch in den deutschen S3-Leitlinien fest- gelegt (DGPPN, DGN 2010): „Die Gabe von Antipsychotika bei Patien- ten mit Demenz ist mit einem erhöhten Abbildung 7 Risiko für Mortalität und für zerebrovas- Wahl eines Psychopharmakons entsprechend der Symptomatik kuläre Ereignisse assoziiert. Patienten und „Aggression“ „psychomotorische Agitation“ rechtliche Vertreter müssen über dieses Risiko aufgeklärt werden. Die Behandlung soll mit der geringstmöglichen Dosis und Antipsychotika Antipsychotika über einen möglichst kurzen Zeitraum er- Antikonvusliva Antikonvusliva folgen. Der Behandlungsverlauf muss Benzodiazepine Antidepressiva Antidepressiva engmaschig kontrolliert werden.“ Memantin Memantin Studien zur Verordnung von Antipsychoti- AChE-Hemmer Antipsychotika ka der ersten Generation zeigen bei Ver- „Apathie“ Antidepressiva Antidepressiva AChE-Hemmer haltensstörungen Wirksamkeit. Allerdings weisen sie ein erhöhtes Risiko für extrapy- „Depression“ „Psychose, Halluzination“ ramidale Störungen sowie eine erhöhte Therapeutische Maßnahmen je Zielcluster Mortalitätsrate und eine Verminderung AChe-Hemmer=Acetylcholinesterasehemmer der kognitiven Fähigkeiten auf (McKeith Quelle: modifiziert nach McShane R. Int Psychogeriatr. 2000 et al. 1992). Häufige psychische Symptome: Eine 2012 publizierte, retrospektive Kohortenstudie (Kales et al. • Depression 2012) untersuchte das Mortalitätsrisiko in der psychopharmakolo- • Angst gischen Therapie von Verhaltensstörungen und BPSD bei Demenz. • Halluzinationen 33.604 Patienten wurden in die Studie eingeschlossen. Die Studi- • Wahnvorstellungen enteilnehmer waren 65 Jahre alt oder älter und erhielten ambulant eine antipsychotische Therapie mit Risperidon, Olanzapin, Quetia- Treten Verhaltensstörungen und/oder BPSD beim dementen Patien- pin oder Haloperidol. Haloperidol erwies sich in dieser Arbeit als ten auf, kommen häufig Antipsychotika und kurzfristig Benzodia- jenes Psychopharmakon mit dem höchsten Mortalitätsrisiko. Da- zepine zum Einsatz. Vor einer Therapie von Verhaltensstörungen nach kamen – in dieser Reihenfolge – Risperidon, Olanzapin, Val- und Agitation, die im Rahmen einer Demenz auftreten können, proinsäure und Quetiapin. muss diagnostisch abgeklärt werden, ob tatsächlich die Demenz für das auffällige Verhalten des Patienten ursächlich ist oder ob andere Die Therapie mit Antipsychotika sollte demzufolge keine Langzeit- Krankheitsbilder diese Störungen ausgelöst haben. Hinter akuter therapie bei Verhaltensstörungen und BPSD im Rahmen von De- Erregung und/oder aggressivem Verhalten im Alter können – abge- menz, sondern so kurz wie möglich sein. Die Cochrane Collabora- sehen von Demenz – folgende Krankheitsbilder stehen: tion hat in einem systematischen Review festgestellt, dass beim • Delirium Absetzen einer antipsychotischen Therapie nach drei Monaten • Schizophrenie und andere wahnhaft psychotische Störungen keine Rückfälle in die Verhaltensstörungen festgestellt werden • Intoxikationen konnten. • Belastungssituationen bei Persönlichkeitsstörungen Bei einer Subgruppe der Studie allerdings, die eine besonders • Manie schwere neuropsychiatrische Symptomatik aufwies, kam es – • Agitierte Depression nach Absetzen der antipsychotischen Medikation – zu einem Wie- • Persönlichkeitsstörungen derauftreten der Symptomatik. In dieser Gruppe empfehlen die • Somatische Ursachen wie Schmerzen, Harnverhalt etc. Autoren, die antipsychotische Therapie beizubehalten (Declercq (Pinter et al. 2013) et al. 2013). 10 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Wesentlich für die Behandlung mit Antipsychotika ist eine regelmä- 5. E xkurs: Therapie mit Benzodiazepinen beim ßige Indikationsüberprüfung und – wenn möglich – eine Reduzie- älteren und hochbetagten Menschen rung der Dosis bis hin zum Absetzen nach einer Dauer von sechs Schlaf- und Beruhigungsmittel als „Dauertherapie“ finden sich bei bis zwölf Wochen. Folgende Parameter müssen bei der Verordnung einer Vielzahl älterer Patienten in der Medikamentenliste. Sie wer- von Antipsychotika aufgrund von Verhaltensstörungen und BPSD den sowohl zur Angstlösung und Beruhigung als auch als Schlaf- beachtet werden: mittel eingesetzt. Die Substanzen verstärken die Wirkung des Neu- • pharmakodynamische und pharmakokinetische Veränderungen rotransmitters GABA und wirken dadurch angstlösend, muskelent- • frühere antipsychotische Medikation spannend und beruhigend. Eine Erhebung unter Personen, die älter • medizinischer Status als 85 Jahre alt waren, ergab eine Stichtagsprävalenz für Benzodia- • Medikamenteninteraktionen zepine von immerhin 34 Prozent (Skoog et al. 1993). • Nebenwirkungsprofil: orthostatische Hypotension, Sedierung, an- ticholinerge Nebenwirkungen, extrapyramidale Symptome (Tre- Für die AgeDeGe-Studie wurden 3.327 Patienten über 75 Jahre mor, Rigor) und tardive Dyskinesien (lip smacking) über ihre Medikamenteneinnahme befragt (Zimmermann, Kaduszkiewics et al. 2013). Die Studienteilnehmer waren mobil, Wichtig ist auch die regelmäßige Überprüfung von Leber- und Nie- nicht institutionalisiert und nicht dement. Sie konnten ihren Alltag renfunktion sowie gegebenenfalls die Anpassung der Dosierung. also noch gut bewältigen. Hier ergaben sich mit 0,2 bis 0,6 zwar Auch die QTc-Zeit muss Beachtung finden, da für einige Antipsy- niedrigere Prävalenzraten, allerdings wurden die Benzodiazepine chotika eine Verlängerung des QT-Intervalls beobachtet wurde. Do- und Zolpidem, Zopiclon sehr häufig über einen langen Zeitraum sisempfehlungen zeigt Tabelle 5. eingenommen. Zu beobachten war zudem eine leichte Zunahme der Verschreibung von Z-Hypnotika (Zimmermann, Kaduszkiewicz et al. 2013). Tabelle 5 Dosisempfehlungen der American Psychiatric Association 2007 Bei Krankenhausaufnahmen finden sich häufig – trotz negativer Anamnese – positive Benzodiazepin-Nachweise im Labor. Einsatz bei Demenz Substanz Startdosis Zieldosis Eine Metaanalyse, in der 68 Studien zusammengefasst wurden, ergab, dass alle Benzodiazepine (kurz-, mittel- und langwirksam) Risperidon (1. Wahl) 0,25–1 1,5–2 dosisabhängig kombinierte amnestische und nicht amnestische Clozapin 12,5 75–100 kognitive Beeinträchtigungen verursachen. Da bis zu 18% der äl- Olanzapin (2. Wahl) 1,25–5 10 teren, nicht dementen Personen ein Mild Cognitive Impairment (MCI) aufweisen können (Tannenbaum et al. 2012), stellt die dau- Quetiapin* (2. Wahl) 12,5–50 200–300 Aripiprazol (2. Wahl) 5 15 Tabelle 6 Haloperidol (3. Wahl) 0,25–0,5 2 Halbwertszeiten von Benzodiazepinen *signifikante Wirksamkeit bei Demenzpatienten nicht nachgewiesen und Z-Substanzen Quelle: APA Work Group on Alzheimer’s Disease and other Dementias. Substanz Halbwertszeit American Psychiatric Association practice guideline for the treatment of patients with Alzheimer’s disease and other dementias. Second Brotizolam edition. Am J Psychiatry. 2007 Dec;164(12 Suppl):5–56 Cinolazepam Midazolam kurz Triazolam unter fünf Stunden Liegen schwere aggressive Verhaltensstörungen vor, so zeigt sich Zolpidem die Verwendung von Stimmungsstabilisatoren (z.B. Valproinsäure) Zaleplon deutlich wirksamer als die von Antipsychotika. Allerdings muss hier sehr genau auf die Dosierung geachtet werden, um die Demenz Alprazolam Bromazepam nicht durch die Medikamente weiter zu verschlechtern. (Flu)Nitrazepam Lorazepam mittel Zusammenfassend können für den Einsatz von Antipsychotika beim Lormetazepam zwischen fünf und 24 älteren, demenzkranken Patienten folgende Richtlinien geltend ge- Loprazolam Stunden macht werden: Temazepam • strenge Indikationsstellung – zurückhaltender Einsatz Oxazepam • alternative Behandlungsmöglichkeiten ausschöpfen Zopiclon • initial mit 30% der mittleren Erwachsenendosis beginnen Clobazam („start low – go slow“) Clonazepam • bei ausreichender Wirkung Dosis nach einigen Tagen Clordiazepoxid reduzieren Dikaliumchlorazepat* lang • orale Medikation bevorzugen Flurazepam mehr als 24 Stunden • Arzneimittelinteraktionen beachten Diazepam • Patient psychotherapeutisch führen Nordazepam • rasches Erkennen von Nebenwirkungen sicherstellen Prazepam • Reevaluierung, Notwendigkeit zur Weiterführung der *Metabolit Nordazepam HWZ 36 bis 200 Stunden Therapie überprüfen Quelle: Benkert O, Hippius H: Kompendium Psychiatrische Pharmakotherapie, Springer 2003; Asthon C H: http://www.benzo.org.uk/bzequiv.htm • abruptes Absetzen vermeiden c linic um neurop s y s ond erausgabe 11
erhafte Einnahme von Benzodiazepinen und/oder Z-Hypnotika ei- ne erhebliche Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten älterer Tabelle 7 Menschen dar (Tabelle 6 auf Seite 11). Häufigkeit der Altersdepression Anzahl der Punktpräva- Ältere Patienten nehmen häufig mehrere andere Medikamente ein, Studie Land Studienteil- lenz-Raten wodurch sich die HWZ von Benzodiazepinen deutlich verlängern nehmer in Prozent kann. Da bis auf Oxazepam und Lorazepam nahezu alle Benzodia- Doetch et zepine und Z-Hypnotika in der Leber durch CYP 3A4 verstoffwech- USA 100 29,2 al. 1994 selt werden, müssen andere Medikamente, die ebenfalls durch CYP Glasser et 3A4 metabolisiert werden und/oder dieses Enzym hemmen, bei USA 214 22,5 al. 1994 der Verordnung von Benzodiazepinen Beachtung finden. Turrina et al. Italien 396 22,4 Eine starke Verlängerung der HWZ findet sich bei der gleichzeiti- 1994 gen Einnahme von Proteaseinhibitoren, Antimykotika und einigen Evans et al. Großbritannien 396 17,6 Antibiotika (Makrolide, Chloramphenicol, Metronidazol). Aber auch 1991 frei verschreibbare Medikamente oder Nahrungsmittel können die Madionos et Griechenland 251 9,5 HWZ von Benzodiazepinen verlängern: dazu zählen etwa Ginseng, al. 1992 Baldrian, Grapefruit- und Granatapfelsaft. Gegen die Verordnung von Benzodiazepinen mit langer HWZ alle Studienteilnehmer, bei 9,1 Prozent (Linden et al. 1998). Das spricht die deutlich erhöhte Sturzneigung, die von Ray et al. schon Alter der 516 Studienteilnehmer lag zwischen 70 und 100 Jahren. 1987 im „New England Journal of Medicine“ publiziert wurde. In Die Prävalenz von schweren Depressionen lag bei 4,8 Prozent. einer neueren Studie mit 6.110 Patienten (1.222 Hüftfraktur, 4.888 Leichte bis mittelschwere Depressionen wurden bei zehn bis 15 Vergleichspatienten ohne Fraktur) wurde ein um 50 Prozent erhöh- Prozent gefunden. Sehr viel höher lagen die Zahlen für Depressio- tes Sturzrisiko unter Benzodiazepin-Einnahme mit mehr als >3mg/ nen im Alter bei Personen, die in Heimen lebten. Tag Diazepamäquivalent ermittelt (Wang et al. 2001). Das Risiko für Die Folgen einer Depression und/oder Angststörung unter Älteren einen Sturz lag dabei in den ersten beiden Wochen der Einnahme und Hochbetagten sind beträchtlich. Es kommt meist zu einem bei 60 Prozent und bei Einnahme über einen Monat bei 80 Prozent. sozialen Rückzug der Erkrankten. Häufige Folgen sind: Immobili- Dies galt für Benzodiazepine mit langer HWZ. Immerhin noch bei tät, Bettlägerigkeit, ungenügende Nahrungszufuhr und unzurei- 50 Prozent lag das Sturzrisiko aber auch für Benzodiazepine mit chende Flüssigkeitsaufnahme, Suizidalität und erhöhte Mortalität kurzer und mittlerer HWZ. an körperlichen Begleiterkrankungen (Lebowitz et al. 1997, Lenze et al. 2000). Aktuelle Studien kommen dabei zum Ergebnis, dass weniger die HWZ, sondern vielmehr Dosis und Dauer der Einnahme für das er- Depressive Störungen unter älteren Personen sind eng verbunden höhte Sturzrisiko verantwortlich sind (Tulner et al. 2008). Ver- mit chronischen körperlichen Erkrankungen, wie etwa Diabetes, gleicht man die einzelnen Benzodiazepine miteinander, weist vor Herzerkrankungen und anderen Krankheiten. In Studien wurde allem Diazepam ein signifikant erhöhtes Sturzrisiko auf (Ballokova untersucht, wie hoch die Prävalenz von chronisch kranken Men- et al. 2014). schen in verschiedenen Settings ist und wie eng die Korrelation zwischen chronischen körperlichen Erkrankungen und Depressio- In der aktuellen Ausgabe der PRISCUS-Liste, finden sich jene Subs nen ist (siehe Abbildung 8). tanzen, die beim älteren Menschen möglichst vermie- den und, falls nötig, mit Vorsicht verordnet werden Abbildung 8 sollten. Sie kann unter http://www.priscus.net (Amann Enge Verbindung zwischen Lebensort und chronischen et al. 2010) abgerufen werden: Benzodiazepine sollten somatischen Erkrankungen und Depression demnach bei älteren Patienten vermieden werden. Pa- 30 tienten, die ein langwirksames Benzodiazepin einneh- men, sollten auf ein kurzwirksames wechseln. Bei Ein- 6%–25% Prävalenz Major Depression (Prozent) 25 nahme eines kurzwirksamen Benzodiazepins wird empfohlen, auf andere Substanzgruppen wie etwa Trazodon zu wechseln. 20 15 6%–14% 6. Depression und Angst im höheren Lebensalter 10 5%–10% Depressive Störungen und Angststörungen im Alter werden häufig unterschätzt. Sie sind weitaus häufiger, 5 2%–4% als allgemein angenommen wird. Das beweisen Studi- endaten (siehe Tabelle 7). 0 Gemeinschaft Primärversorgung Stationäre Pflegeheim Klinik Einrichtung In der BASE-I-Studie, der Berliner Altersstudie, die Quellen: Katon W et al. Epidemiology of depression in primary care. Gen Hosp Psychiatry. 1998 in der Zeitschrift „Nervenarzt“ publiziert wurde, 1992 Jul;14(4):237–47 und Rosen J et al. Depression in nursing homes: Risk factors and interventions. Nursing Home Medicine. 1997 5:156–165 lag die Prävalenz für eine Depression, gerechnet über 12 cli n i c u m n e u ro p s y s o n d e ra u s g a b e
Risiken für eine Depression im Alter zeigt die nachstehende Neben Depressionen finden sich bei Älteren und Hochbetagten oft Aufstellung: auch Angststörungen, insbesondere die Generalisierte Angststö- • Weibliches Geschlecht rung (GAD). Die Amstel-Studie wies eine Prävalenz für Angststö- • körperliche Erkrankungen: rungen bei Personen zwischen 55 und 85 Jahren von 7,3 Prozent – Hypothyroidismus (50%) aus (Schoevers et al. 2000). – Myokardinfarkt (45%) – Makuladegeneration (33%) GAD und Depression treten auch gemischt auf. Dabei sind die Sym- – Diabetes (8–28%) ptome nicht einfach zu differenzieren, weil sie sehr ähnlich sein – Krebserkrankung (24%) können (siehe Tabelle 8). – Koronare Herzerkrankung (20%) • Medikamente: Tabelle 8 – Ältere Antihypertensiva Symptome von Depression und GAD – Betablocker – Interferon-α Generalisierte Angst Depression störung (GAD) – Lipidsenker – Glukokortikoide psychomotorische Unruhe Getriebenheit, Rastlosigkeit – verschiedene Medikamente zur Behandlung von Antriebslosigkeit Antriebslosigkeit malignen Neubildungen Konzentrationsprobleme Konzentrationsstörung • ZNS-Status und Erkrankungen: Schlafstörungen verminderter Schlaf – Morbus Parkinson (25–70%) Appetitstörung Muskelverspannung – Alzheimer-Demenz (15–57%) – Multiple Sklerose (27–54%) Schuldgefühle, Irritabilität – Schlaganfall (26–54%) Selbstentwertung – Morbus Huntington (9–44%) Suizidalität – Mikrovaskuläre ischämische Ereignisse im Gehirn (20%) – Mini-Mental State Examination score
ten die gleichen Strategien und Algorithmen ange- Abbildung 9 wendet werden wie bei jüngeren Patienten (Bartels Abnahme des Hippocampus-Volumens bei Early and et al. 2003): Late Onset Depression • a usreichende Dosierung 7,0 • a usreichend lange Behandlungsdauer Durchschnittliches Gesamt-Hippokampal-Volumen (cm³) 6,8 • S trategiewechsel bei Therapieresistenz P
Bei akuten Depressionen mit Wahnbildung und Nahrungsverweige- Tabelle 9 rung hat sich die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) auch beim älte- Nebenwirkungen von Antidepressiva ren Patienten als wirksam erwiesen (Damm et al. 2010). Daten ei- Substanzen Nebenwirkung ner Studie aus 2010 zeigen über alle Altersgruppen eine gute Wir- kung der EKT. Vor allem in der älteren Patientengruppe war zudem Venlafaxin Hypertonie eine exzellente Verträglichkeit zu bemerken. TZA, Venlafaxin, Duloxetin Obstipation SSRI, Venlafaxin, Duloxetin Diarrhoe, Emesis Gerade bei älteren Patienten ist die Prognose günstig, es ist jedoch kardiale Nebenwirkungen, wichtig, die EKT rechtzeitig einzusetzen und nicht als Ultima Ratio TZA, SSRI anzusehen. Je frühzeitiger die EKT eingesetzt wird, umso wirksa- QTc-Verlängerungen mer ist sie. Die EKT hat einen schnelleren Wirkeintritt wie eine Psy- TZA, Mirtazapin Gewichtszunahme chopharmakotherapie. TZA, Reboxetin, SNRI Miktionsstörungen TZA, Mirtazapin, Trazodon, Sedierung Die EKT scheint bei dieser Patientengruppe auch deshalb besonders Mianserin vorteilhaft, wenn aufgrund des Lebensalters und/oder von Multi- morbidität eine Psychopharmakotherapie nicht vertragen wird. Bei SSRI, Venlafaxin erhöhtes Blutungsrisiko der Entscheidungsfindung ist aber die höhere Rate an kognitiven SSRI, SNRI Hyponatriämie Nebenwirkungen zu berücksichtigen. SNRI Hypertonie, Tachykardie Venlafaxin Hypertonie Die S3-Leitlinien zur Diagnose und Behandlung unipolarer Depres- sion hält fest, dass die Wirksamkeit von Antidepressiva auch für TZA=Trizyklische Antidepressiva; SSRI=Selektive Serotonin-Wiederaufnahme- hemmer; SNRI=Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ältere Patienten belegt ist. Daher sollten ältere Patienten genauso behandelt werden wie jüngere. Allerdings ist das Nebenwirkungs- profil bzw. die Verträglichkeit bei Älteren stärker zu beachten. Es Ebenfalls Beachtung finden müssen die Transmitter-bezogenen konnten bislang keine Wirksamkeitsunterschiede zwischen SSRI Nebenwirkungen in der antidepressiven Therapie des Älteren und und TZA beobachtet werden. TZA sollten aufgrund ihres Neben- Hochbetagten (siehe Tabelle 10). wirkungsprofils aber in dieser Altersgruppe wenn möglich vermie- den werden bzw. immer in der niedrigstmöglichen Dosis einge- Eine Metaanalyse zur Rückfallverhinderung nach einer depressiven setzt werden (DGPPN, DGN 2010). Vor dem Start einer antide- Episode fasste 825 Patienten in acht randomisierten kontrollierten pressiven Therapie beim älteren und hochbetagten Patienten Studien zusammen (Kok et al. 2011). Die NNT lag in dieser Meta- muss jedenfalls jegliche andere Medikation (auch frei verkäufliche analyse bei 3,6, für SSRI bei 4,2 und für TZA bei 2,9. Als Ergebnis Medikamente) abgefragt werden. Wird dies nicht genau ermit- der Metanalyse kann gesagt werden, dass eine Rückfallsverhinde- telt, kann es – bei Verordnung von Substanzen mit serotonerger rung mit AD wirksam ist. Wirkung und gleichzeitiger Einnahme von Johanniskraut, Trama- dol oder einem anderen SSRI zu einer serotonergen Reaktion bis Da ältere und hochbetagte Patienten meist eine ganze Reihe von zum serotonergen Syndrom kommen. Dabei treten sowohl auto- somatischen Komorbiditäten aufweisen, ist auch dieser Aspekt in nome und neuromotorische als auch kognitive Störungen und die Verordnung von Antidepressiva einzubeziehen. Verhaltensänderungen auf. Weitere Symptome sind Ruhelosig- keit, Muskelzuckungen, Schwitzen, Schüttelfrost und Tremor Insgesamt muss bei der Verordnung von Antidepressiva beim älte- (Sternbach 1991). ren Patienten immer individualisiert vorgegangen werden, da die Patientengruppe – vom relativ gesunden 60-Jährigen bis zum mul- timorbiden Hochbetagten – sehr heterogen ist. 7. S chizophrenie im höheren Lebensalter Viele Patienten mit Schizophrenie erreichen heute ein hohes Le- bensalter. Einige wenige Menschen erkranken auch in der zweiten Tabelle 10 Lebenshälfte an einer Schizophrenie. Transmitterbezogene Nebenwirkungen von Antidepressiva, die beim älteren Menschen besondere Beachtung finden müssen Von Spätschizophrenie (DD Frontotemporale Demenz) spricht man bei einem erstmaligen Krankheitsausbruch im Alter über Transmitter Nebenwirkungen 40 Jahren. Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Harnverhalten, Glaukomanfall, Obstipation, Bei Late-Onset- oder Very-Late-Onset-Schizophrenia-Erstmanifesta- Acetylcholin tion nach dem 60. Lebensjahr findet man häufiger (als bei jüngeren Tachykardie, Tachyarrhythmie, Gedächtnis störung, Verwirrtheit Patienten): • visuelle, taktile und olfaktorische Halluzinationen Orthostatische Hypotension (Sturz, Noradrenalin • Verfolgungsideen Sturzfolgen), Sedierung, Obstipation • akustische Halluzinationen (anklagend, beschimpfend) Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Obstipation, Serotonin Völlegefühl, Nervosität Seltener treten dagegen folgende Symptome auf: • formale Denkstörungen Histamin Sedierung, Appetitsteigerung • Affektverflachung Quelle: ÖÄZ 2006 Vol.7 • Negativsymptome c linic um neurop s y s ond erausgabe 15
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