Religion und Politik - UZH

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Religion und Politik - UZH
facultativ
Theologisches und Religionswissenschaftliches aus Zürich   N° 1 · Frühling 20 18

    Religion und Politik
Religion und Politik - UZH
2    facultativ · Magazinbeilage bref

N° 1 / 2018                                                         Liebe Leserinnen und Leser

                                                                    «Religion darf keine Tabuzone sein», erklärte die Zürcher Regierungs-
                                                                    rätin Jacqueline Fehr an der Medienkonferenz Ende 2017 zur Präsenta-
3         Wissenschaftliche Expertise zu                            tion ihres Leitbilds zum Verhältnis von Staat und Religion. Das Papier
          religionspolitischen Fragen                               umfasst sieben Leitsätze zum Umgang mit der religiösen Pluralisierung
          Philipp Hetmanczyk, Martin Bürgin                         im Kanton Zürich. Der Kanton erhebt darin den Anspruch Religion ge-
                                                                    nerell als Ressource zu verstehen und darüber sachlich und konstruktiv
5         Religiöse Moral und Politik                               zu diskutieren um ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben zu
          Markus Huppenbauer                                        ermöglichen (siehe Christoph Uehlinger S. 10 in diesem Heft).
                                                                         Verschiedene soziale und politische Entwicklungen haben in den
7         Staatsmärtyrer                                            europäischen Ländern zum Ideal einer säkularen Gesellschaft und da-
          Baldassare Scolari                                        mit zu einer mehr oder weniger konsequent vollzogenen Trennung
                                                                    von Religion und Staat geführt. Der kontinuierliche Rückzug des Reli-
8         Recht und Religion                                        giösen ins Private erschien lange als logische Konsequenz gesellschaft-
          Carl Jauslin                                              licher Modernisierungsprozesse. Mittlerweile geht die Rede von einer
                                                                    «Rückkehr der Religionen». Die zunehmende religiöse Pluralität und
10        Staat und Religion im                                     ihre öffentliche Thematisierung und Problematisierung führten zu einer
          gesellschaftlichen Wandel                                 neuen politischen Relevanz von Religion.
          Christoph Uehlinger                                            Das Spannungsfeld Religion und Politik ist emotional stark aufgela-
                                                                    den, da es u.a. mit Fragen von Identität, Ausgrenzung, Macht, Konflikt
12        Ein Blick nach Sri Lanka und Indien                       oder der Konfrontation vermeintlich unvereinbarer Weltdeutungen
          Christine Schenk                                          und Moralvorstellungen verbunden wird. In seiner Vieldimensionalität
                                                                    und Komplexität schwer fassbar, stellt es Gesellschaft und Staat immer
14        Aktuelles und Veranstaltungen                             wieder vor neue Herausforderungen.
                                                                         Anfang 2017 schloss sich die GRC Peer Group for Religion and
                                                                    ­Politics, eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftlerinnen der Uni-
                                                                     versität Zürich, zusammen, um im gesellschaftlichen und politischen
                                                                     Umgang mit Religion eine interdisziplinäre und fundierte wissen-
     Impressum                                                       schaftliche Expertise zu generieren (mehr dazu S. 3). Inspiriert von
                                                                     dieser Initiative entstand das aktuelle Heft.
     facultativ Magazinbeilage zu bref Magazin                           Wie normative und säkulare Moral respektive wie rechtliche
     Pfingstweidstrasse 10, 8005 Zürich, Tel. +41 44 299 33 11
     www.brefmagazin.ch                                              und religöse normative Ordnungen neben- oder miteinander exis-
                                                                     tieren können, thematisieren Markus Huppenbauer (aus moralisch-
     Redaktion, Bildredaktion, Gestaltung & Produktion
     Jacqueline Grigo im Auftrag der Theologischen Fakultät          ethischer) und Carl Jauslin (aus juristischer Perspektive). Baldassa-
     Zürich, Kantonsschulstrasse 1, 8001 Zürich,                     re Scolari zeigt auf, wie der italienische Politiker Aldo Moro in den
     Tel. 044 634 54 06, oeffentlichkeitsarbeit@theol.uzh.ch         1970-er Jahren durch mediale Inszenierung zum «Märtyrer» ge-
     Korrektorat Ursula Klauser                                      macht wurde, um bestehende Machtverhältnisse zu legitimieren.
                                                                     Christine Schenk macht deutlich, warum sich ein Blick über die
     Verlag Reformierte Medien                                       Grenzen Europas lohnt, wenn in der Schweiz über die Anerkennung
     Druck Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp                 religiöser Gruppen und ihrer Praktiken diskutiert wird.

     Herausgeber Reformierte Medien

     Bildnachweis
     Titelbild: US Aktivisten HO: © Mario Tama, Getty Images
     Norht America, AFP // S. 3 Main: ©Frédéric Bisson, www.
     flickr.com/photos/zigazou76/11590854485/in/photostream/,
     Creative Commons Lizenz CC BY-NC 2.0 // S. 4 Fundis raus:
     Filmstill, www.telezueri.ch/62-show-zuerinews/22275-episo-
     de-sonntag-11-maerz-2018/54140-segment-erschuetterung-         Ich wünsche Ihnen eine spannende
     ueber-frauendemo-schmierereien-am-fraumuenster // S. 5
     Burwell v. Hobby Lobby Stores Inc. Decision: ©American Life    Lektüre!
     League, www.flickr.com/photos/americanlifeleague/
     14358418680, Creative Commons Lizenz CC BY-NC 2.0 // S. 7      Mit herzlichen Grüssen
     Aldo Moro in Gefangenschaft: © Anonymus // S. 8 Wo ist die
     Burka?: © Operation Libero // S. 11 Grossmünster und Rathaus
     in Zürich: © Roland zh (Own work) [CC BY-SA 3.0 (https://
     creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia                                                                  Jacqueline Grigo
     Commons // S. 13 Moschee in Kattankudu: © Christine Schenk//
     Rücktitel: The Scapegoat (Der Sündenbock): William Holman
     Hunt (1854).
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facultativ · Magazinbeilage bref   3

Wissenschaftliche Expertise
zu religionspolitischen Fragen
Die GRC Peer Group for Religion and Politics

  Im Frühjahr 2017 haben sich einige Nachwuchsforschende der Universität Zürich zusammengeschlos­
  sen, um sich gemeinsam der Frage zu widmen, ob und wie wissenschaftliche Expertise generiert werden
  kann, die im gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Religion von Relevanz ist. Innerhalb
  weniger ­Monate ist daraus eine ambitionierte und produktive Forschungsgruppe entstanden.

Philipp Hetmanczyk und
Martin Bürgin

F
        ragestellungen zum Verhältnis von
        Religion und Politik sind gegen-
        wärtig stark in der medialen Be-
richterstattung und den öffentlich geführ-
ten Debatten vertreten. Dies kann im
Hinblick sowohl auf internationale Kon-
fliktlagen als auch auf national verortete
Themen konstatiert werden. Der Stellen-
wert von Religion im öffentlichen Raum so-
wie Diskurse über Identitäts- und Anerken-
nungspolitik bilden dabei neuralgische
Punkte, auf die sich aktuelle Fragen zum        TeleZüri: «Erschütterung über Frauendemo-Schmierereien am Fraumünster».
Verhältnis von Religion und Politik bezie-
hen. Diese Fragen lassen sich gleichwohl        zum Interaktionsfeld von ­Religion und Poli-            Um diese Frage zu erörtern, erscheint es
nicht auf die beiden Begriffe «Religion»        tik von Disziplinen mit einer normativen                hilfreich, einen vergleichenden Blick auf
und «Politik» reduzieren. Sie sind statt-       Ausrichtung (etwa Politische Philosophie,               andere Disziplinen und deren Umgang mit
dessen durch eine Vielzahl von Problem-         Ethik oder Theologie) geprägt ist. Im Gegen-            der Frage nach politischer Verantwortung
dimensionen und deren Verflechtungen            satz dazu beabsichtigte die Nachwuchsfor-               zu werfen. Im Vergleich zu Disziplinen wie
gekennzeichnet. So spielen rechtliche, me-      schergruppe, eine beschreibende Perspekti-              der Geschichte, der Politikwissenschaft,
diale oder ökonomische Faktoren dabei           ve einzunehmen. Dieser Anspruch auf eine                der Philosophie oder auch der Soziologie
ebenso eine wichtige Rolle wie lokale und       möglichst nicht-normative Auseinanderset-               weist die Religionswissenschaft einen be-
transnationale Dynamiken. Fragen zum            zung mit dem Themenfeld Religion und Po-                deutenden Unterschied auf. Denn mit der
Verhältnis von Religion und Politik ver-        litik folgt einem spezifischen Erkenntnisin-            politischen Philosophie, der politisch ge-
weisen folglich auf einen Problembereich,       teresse. So lassen sich hiesige Debatten über           bundenen Geschichtsschreibung oder der
der nicht nur eine grosse thematische           die Sichtbarkeit von Religion im öffentlichen           kritischen Soziologie, wie sie zumindest
Bandbreite umfasst. Er ist zudem durch ei-      Raum oder nach den Grenzen religiöser To-               von der Frankfurter Schule und ihren Er-
ne komplexe Gemengelage gekennzeich-            leranz und Pluralität zwar als aktuelle Aus-            ben praktiziert wird, verfügen die genann-
net, die sich aus der Überlagerung ver-         handlungsprozesse religiöser bzw. säkula-               ten Disziplinen über bestimmte Bereiche
schiedener sozialer Diskursfelder ergibt.       rer Identität verstehen und analysieren,                ihres Fachs, wo die Formulierung norma-
                                                gleichwohl lassen sich aber auch Phänome-               tiv-politischer Standpunkte ein zentrales
Ideal einer nicht-normativen Perspektive        ne wie Populismus, Xenophobie oder Kultu-               Anliegen ist. Diese mögen nicht im Zent-
Die andauernde Aktualität und Komplexität       ressentialismus als Teil dieser Debatten be-            rum der jeweiligen Disziplinen angesiedelt
des Problembereichs von Religion und Poli-      obachten. In der Folge stellt sich die Frage,           sein, nehmen aber dennoch einen spezifi-
tik regte uns an, eine Forschungsgruppe zu      ob die Religionswissenschaft es schlicht bei            schen Platz innerhalb ihrer Fächer ein. So
gründen, die eine vertiefte und längerfristi-   der beobachtenden Analyse dieser Prozesse               kann sich die politische Philosophie ohne
ge Auseinandersetzung mit diesem Thema          belassen sollte oder ob sie sich nicht doch in          weiteres der Formulierung einer Theorie
ermöglichen soll. Ausschlaggebend dafür         den politischen Diskurs einzuschalten hat?              der Gerechtigkeit widmen und die kriti-
war unter anderem die Einschätzung, dass        Hat sie womöglich sogar eine politische Ver-            sche Theorie ihrem Anliegen nachkommen,
die aktuelle wissenschaftliche Betrachtung      antwortung dies zu tun?                                 totalisierende Gesellschaftsstrukturen zu
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4   facultativ · Magazinbeilage bref

benennen und zu kritisieren. Innerhalb die-       religionswissenschaftliches Vorhaben han-    ehemaliger Direktor des Schweizerischen
ser Disziplinen gibt es folglich einen Fach-      delt. Stattdessen verfolgt die GRC Peer      Kompetenzzentrums für Menschenrechte,
bereich, in dem die politische Standortbe-        Group for Religion and Politics das Ziel,    war Spezialberichterstatter der UNO-Men-
ziehung zum Selbstverständnis gehört. Die         Kompetenzen zu diesem Themenfeld an          schenrechtskommission und Repräsentant
Religionswissenschaft hat dies nicht.             der Universität Zürich zu bündeln und sie    des UNO-Generalsekretärs für die Men-
    Unter dieser Voraussetzung war es ein         durch die interdisziplinär angelegte Ana-    schenrechte intern Vertriebener. Zu seinen
Anliegen, eine Nachwuchsforschungs-               lyse aktueller Problemfälle fruchtbar zu     Arbeits- und Forschungsschwerpunkten
gruppe zu gründen, die einerseits zwar            machen.                                      gehören das Flüchtlingsrecht, internationa-
dem Ideal einer nicht-normativ ausgerich-                                                      ler Menschenrechtsschutz, Verfassungsge-
teten Analyse von Problemstellungen im                                                         richtsbarkeit, öffentliches Verfahrensrecht
Themenfeld von Religion und Politik ver-                                                       und das Verfassungsrecht der Kantone. In
pflichtet ist, sich andererseits aber der Fra-                                                 diesen Bereichen war er wiederholt auch
ge annimmt, ob und wie wissenschaftliche                                                       als Berater für Bund und Kantone, interna-
Expertise generiert werden kann, die im ge-                                                    tionale Organisationen und nichtstaatliche
sellschaftlichen und politischen Umgang                                                        Organisationen tätig. Mit der GRC Peer
mit Religion von Relevanz ist.                                                                 Group for Religion and Politics diskutierte
                                                                                               er über das Berichtwesen als solches wie
Transdisziplinäre Forschungsgruppe                                                             auch spezifisch über den für den schweize-
Um dieses Vorhaben umzusetzen, wurde                                                           rischen Bundesrat erstellten Bericht Getra-
mit finanzieller Unterstützung des Gradua-                                                     gene und an Bauten angebrachte religiöse
te Campus der Universität Zürich im Früh-         So beschäftigte sich die Gruppe im letzten   Zeichen und Symbole.
jahrssemester 2017 die GRC Peer Group for         Jahr intensiv mit dem sogenannten Hand-          Für das Frühjahr 2018 ist unter ande-
Religion and Politics ins Leben gerufen.          schlag von Therwil. Dabei ging es um zwei    rem ein Gespräch mit den Initiatoren der
Entsprechend der Komplexität des zu un-           Schüler, die ihrer Lehrerin mit Berufung     religionspolitischen Leitsätze Staat und
tersuchenden Feldes handelt es sich bei           auf religiöse Gründe den Handschlag          Religion im Kanton Zürich vorgesehen,
­dieser Initiative um ein transdisziplinäres      verweigerten. Das Ereignis, das medial       die von der Direktion der Justiz und­
 Vorhaben.                                        und politisch hohe Wellen schlug, wurde      des Innern im November letzten Jahres
     Neben Religionswissenschaftlerinnen          innerhalb der Gruppe unter rechtswis-        veröffentlicht wurden.
 und Religionswissenschaftlern setzt sich         senschaftlicher, mediensoziologischer,
 die Gruppe momentan aus Forschenden              ethnologischer, gendertheoretischer und      Mehr Informationen unter:
 der Rechtswissenschaften, der Geografie,         religionswissenschaftlicher Perspektive      www.religionandpolitics.uzh.ch.
 der Soziologie und der Ethnologie zusam-         analysiert. Die Ergebnisse werden im Ju-
 men. Mehrheitlich arbeiten sie in ihrer For-     ni dieses Jahres auf der Konferenz der                  Martin Bürgin und Philipp Hetmanczyk
 schungspraxis interdisziplinär, was die          European Association for the Study of          sind Doktoranden am Religions­wissenschaftlichen
 fachliche Expertise zusätzlich erweitert,        Religions in Bern vorgestellt und sind für         Seminar und Initianten der GRC Peer Group
 konkret im Bereich der Politikwissenschaft,      eine Veröffentlichung in der Zeitschrift                               for Religion and Politics.
 der politischen Psychologie, der Medien-         für Religionswissenschaft im nächsten Jahr
 wissenschaft, der Geschichte, der Sinologie,     vorgesehen.
 der Islamwissenschaft und der Gender Stu-
 dies. Geografisch gesehen versammeln sie         Gäste aus Politik, Diplomatie
 gebietsspezifisches Wissen zu Süd- und           und Wissenschaft
 Ostasien, dem Nahen und dem Mittleren            Zudem lädt die Peer Group zweimal jähr-
 Osten, zu Russland und der Krim, Nord­           lich Gäste aus Wissenschaft, Verwaltung,
 afrika, Europa und der Schweiz.                  Politik, Diplomatie, Wirtschaft und Medi-
     Obgleich die GRC Peer Group for Reli-        en ein, um mit ihnen über das Spannungs-
 gion and Politics vor dem Hintergrund ei-        feld von Religion und Politik zu diskutie-
 ner religionswissenschaftlichen Problem-         ren. Im November 2017 war Walter Kälin
 stellung initiiert wurde, verdeutlicht die in-   zu Gast im Kolloquium der GRC Peer
 terdisziplinäre Zusammensetzung der              Group. Kälin war Professor für Staats- und
 Gruppe, dass es sich nicht um ein genuin         Völkerrecht an der Universität Bern, ist
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Religiöse Moral und Politik
Die Ansprüche religiöser Moral und ihre Disziplinierung

Kundgebung vor dem oberstem Gerichtshof (USA), anlässlich der Verhandlung des Falls Burwell versus Hobby Lobby im Streit um Kontrazeptiva.

Markus Huppenbauer

S
                                                          anspruch. Politische und gesellschaftliche                 Hohe Legitimitätsansprüche an für alle
      trenggläubige Christen in den USA                   Konflikte sind vor diesem Hintergrund                      geltendes staatliches Recht
      sprechen sich radikal gegen Abtrei-                 vorprogrammiert. Es war ein Fortschritt                    An politisch-rechtliche Institutionen wer-
      bung aus und bedrohen Ärztinnen                     für die Menschheit, sich im Sinne der Auf-                 den in säkularen Gesellschaften hohe Le-
und Ärzte, welche Abtreibungen vorneh-                    klärung an einer nicht-partikularen und                    gitimitätsansprüche gestellt. Was staat-
men. Nationalistische Hindus wollen ihr                   für alle Menschen gleicherweise zugängli-                  lich-rechtlich umgesetzt wird, muss von
Land von anderen Religionen befreien                      chen, vernünftigen Moral zu orientieren.                   allen vernünftigerweise akzeptierbar sein,
und so das wahre Indien wiederherstellen.                     Damit wurde die Entwicklung hin zu                     weil es für das Leben aller Folgen hat. Die
Fanatische Muslime im Mittleren Osten                     modernen Gesellschaften möglich, in de-                    partikularen moralischen Forderungen
rufen zum Kampf gegen alles auf, was                      nen die Macht religiöser Orientierungs-                    der Religionen müssen sich in kritischen
nicht ihrer Vorstellung von religiöser                    systeme und Moral durch die Trennung                       Vernunftdiskursen bewähren, wenn sie öf-
Wahrheit und Lebensführung entspricht.                    von Staat und Religion eingegrenzt ist. Re-                fentliche Geltung beanspruchen und
Wie ist solchen Ansprüchen religiöser                     ligionsfreiheit ist zwar ein Menschenrecht,                rechtliche Umsetzung fordern. Wenn für
­Moral zu begegnen?                                       aber nur solange religiöse Menschen die                    religiöse Bürger aufgrund ihrer spezifi-
                                                          Religionsfreiheit anderer respektieren. Das                schen Moralvorstellungen und Begrün-
Aufgeklärte, also säkulare Gesellschaft                   impliziert, dass die säkulare und aufgeklär-               dungsdiskurse moderne Menschenrechte
Viele halten folgendes Narrativ für ver-                  te Gesellschaft religiöser Moral Grenzen                   und freiheitlich-demokratische Institutio-
nünftig: Obwohl sie, von aussen betrach-                  setzen muss, wenn diese im Konflikt mit                    nen nicht akzeptabel sind, dann haben sie,
tet, partikuläre Moralvorstellungen vertre-               grundlegenden Normen des Zusammenle-                       etwas überspitzt formuliert, zu schweigen.
ten, haben religiöse Orientierungssysteme                 bens in einer freiheitlichen und demokrati-                Klar ist, dass derartige moralische Über-
und Moral in der Regel einen Absolutheits-                schen Rechtsordnung steht.                                 zeugungen religiöser Bürgerinnen keine
Religion und Politik - UZH
6   facultativ · Magazinbeilage bref

geeigneten Kandidaten für die Umsetzung          ­innerhalb derselben religiösen Tradition be-   politischen Debatten werden einzelne Fra-
in für alle geltendes staatliches Recht sind.    züglich Themen wie spezifische Menschen-        gen (wie die Verhüllung des Gesichts, Ab-
                                                 rechte, Demokratie und Minderheiten-            treibung, Umgang mit Immigranten, Gen-
Wie immer ist die Wirklichkeit komplexer         schutz unterschiedliche moralische Ansich-      technologie, Sterbehilfe, Tierschutz und
Soweit, so gut. Aber selbstverständlich ist      ten zu beobachten sind, macht darüber           selbst das Verhältnis zu staatlicher Regu-
die Wirklichkeit komplexer. Folgende             hinaus deutlich, dass religiöse Moralvorstel-   lierung) zu Fragen einer nicht aufgebbaren
Punkte scheinen mir diesbezüglich rele-          lungen alles andere als homogen sind.           moralischen Identität. Viele moralische
vant. Erstens sind Religionen weder in der           Viertens hat sich gezeigt, dass es sach-    und politische Forderungen sind an um-
Weise auf dem Rückmarsch, noch sind sie          lich nicht angemessen ist, von der säkula-      fassende Überzeugungen (eben Weltan-
so schädlich, wie es das säkulare Narrativ       ren Vernunft und ihrer von allen vernünfti-     schauungen und Religionen) gekoppelt,
oft suggeriert. Religionen vermitteln für        gerweise akzeptierbaren Moral zu reden.         die man nicht leicht preisgibt. Kompromis-
viele Menschen nach wie vor (moralische)         Sowohl von ihren Prinzipien wie auch von        se, die im Hinblick auf das durch staatli-
Lebensorientierung. Auch wenn dazu oft           ihren Gehalten her sind säkulare Ethiken        ches Recht vermittelte Zusammenleben
komplexe Transformationsprozesse nötig           ebenso umstritten wie religiöse. Die Unter-     nötig sind, gelten als etwas für Weicheier
sind, können religiöse Überzeugungen zu-         schiede bspw. zwischen kantianischen und        und Prinzipienlose.
dem als moralische Ressourcen gerade im          utilitaristischen Ethiken sind sehr gross,          Um politik- und gemeinschaftsfähig zu
Hinblick auf Menschenrechte, Demokratie,         und es gibt unter Philosophen keine Einig-      bleiben, ist das liberale Narrativ dennoch
Minderheitenschutz und Rechtsstaatlich-          keit darüber, welche dieser umfassenden         unverzichtbar. Inwiefern aber ist die libe-
keit wirken.                                     Moraltheorien die richtige ist.                 rale Forderung einer Selbstdistanzierung
    Wir haben zweitens gelernt, dass auch                                                        von eigenen fundamentalen Überzeugun-
säkulare Überzeugungen und Institutionen         Der Verzicht auf die rechtliche                 gen im Hinblick auf politisch-rechtliche In-
ins Fundamentalistische und Menschenver-         Durchsetzung des Wahrheitsanspruchs             stitutionen realistisch? Wird nicht, wer von
achtende abdriften können. Mit Recht hat         von Moral                                       einer moralischen Position überzeugt ist,
Charles Taylor deshalb darauf bestanden,         Das erwähnte säkulare Narrativ könnte als       gar nicht anders können, als diese für alle
dass es nicht primär um die Trennung von         liberales Modell bezeichnet werden. Mit der     geltend zu machen? Diese Frage stellt sich
Staat und Religion gehe, sondern darum, ob       von ihm geforderten Toleranz gegenüber          aber nicht nur im Hinblick auf religiöse
der Staat sowohl religiös wie auch weltan-       anderen setzt es voraus, dass die jeweiligen    Moral, sondern im Hinblick auf all jene, die
schaulich neutral sei. Weder spezifische Re-     Vertreter von Religionen und anderen «um-       davon überzeugt sind, moralische Wahr-
ligionen noch säkulare Philosophien dürfen       fassenden Lehren» (im Sinne von Rawls) be-      heit zu besitzen.
den Staat usurpieren und so Menschen, die        reit sind, politische Fragen des Zusammen-
andere Überzeugungen haben, diskriminie-         lebens nicht immer gleich zu einer Frage ab-        Markus Huppenbauer ist geschäftsführender
ren. Umfassende normative Orientierungs-         soluter Wahrheit zu machen. Man muss              Direktor des Zentrums für Religion, Wirtschaft
systeme (Religionen, Philosophien, Weltan-       bereit sein, gesellschaftliche Freiräume be-                                        und Politik.
schauungen) sollen politisch koexistieren,       züglich Moral und Orientierung zuzulas-
so dass alle Bürgerinnen und Bürger ein Le-      sen. Man muss bereit sein, zwischen dem ei-
ben ihrer Wahl leben können. Dies zu er-         genen (moralischen) Orientierungskontext
möglichen ist Aufgabe des Staates.               und -anspruch einerseits und Normen und
    Drittens ist es alles andere als klar, was   Institutionen, die rechtlich für alle gelten
genau eine religiöse Moral eigentlich ist. In-   sollen, andererseits zu trennen.
haltlich finden sich für fast jede moralische        Ich beobachte, dass diese Trennung
Position bezüglich fast aller Themen so-         auch vielen Bürgern liberal-westlicher Län-
wohl religiöse wie auch nicht-religiöse Ver-     der schwerfällt. Das ist allerdings kein spe-
treterinnen und Begründungen. Dass sogar         zifisches Problem religiöser Moral. In vielen
Religion und Politik - UZH
facultativ · Magazinbeilage bref   7

Staatsmärtyrer – Die Ästhetik
politischer Gewalt
  Ein gewaltsamer Tod als Legitimation für ein politisches System? Der Fall Aldo Moro zeigt auf, wie
  durch eine spezifische Art der medialen Inszenierung ein Politker zu einem Märtyrer gemacht wurde
  und wie religiös aufgeladene Repräsentationsstrategien bis heute zum Machterhalt oder zur Macht­
  ergreifung eingesetzt werden können.

Baldassare Scolari                                   I­ nszenierung dieses Ereignisses politischer   Nachbildung von Vorbildern der Vergan-

È
                                                      Gewalt ist in den vergangenen 40 Jahren        genheit die Komplexität der Wirklichkeit zu
        morto perché la repubblica viva! (Er          immer wieder aktualisiert worden.              reduzieren und Kontingenz zu bewältigen.
        ist gestorben, damit die Republik
        ­lebe!), titelte die Zeitung Corriere del­                                                   Diskursive Legitimation von Macht
la Sera am 10. Mai 1978. Gemeint war damit                                                           und Herrschaft
Aldo Moro, der damalige Präsident der Ita-                                                           Der Fall Moro zeigt deutlich, in welchem
lienischen Christdemokratischen Partei. Er                                                           Ausmass das Präfigurat des Märtyrers
war von den Roten Brigaden – einer stalinis-                                                         ideologisch Verwendung finden kann. In
tisch gesinnten und selbsternannten «revo-                                                           unterschiedlichen diskursiven Praktiken
lutionären Guerilla-Avantgarde» – entführt,                                                          und medialen Darstellungen erhielt Moros
für 55 Tage in Gefangenschaft gehalten und                                                           gewaltsamer Tod die Konnotation eines
schliesslich am 9. Mai ermordet worden.                                                              unumgänglichen Selbstopfers in einem
    Während der Gefangenschaft schrieb                                                               mythisch aufgefassten Kampf zwischen
Moro mehrere Briefe, mit denen er die Re-                                                            dem absolut Guten – dem Staat und seinen
gierung, seine eigene Partei, die Kirche                                                             Apparaten – und dem absolut Bösen – den
und die Zivilgesellschaft davon zu über-                                                             Roten Brigaden.
zeugen versuchte, dass Verhandlungen                                                                     Durch die martyrologische Inszenie-
für seine Freilassung moralisch korrekt                                                              rung von Moros Tod konnte man die Wäh-
und politisch machbar seien. Die neue                                                                lerschaft dazu bringen, sich emotional und
«Regierung der nationalen Solidarität»               Aldo Moro in Gefangenschaft.                    ideologisch mit einer als bedroht wahrge-
lehnte aber Verhandlungen mit den Roten                                                              nommenen Gemeinschaft zu identifizie-
Brigaden kategorisch ab. Die Medien stell-           Dass bei dieser säkularen Anwendung der         ren – einer Gemeinschaft, die je nach Inte-
ten sich mehrheitlich hinter diesen Ent-             Märtyrerfigur aus dem Fundus christlicher       resse und ideologischer Couleur Kirche,
scheid. Die Staatsräson verbot jeglichen             Sprache und Symbolik geschöpft wurde            Partei, Volk, Staat, Nation oder Republik
Verhandlungsversuch.                                 und wird, ist weniger verwunderlich, als es     genannt wurde.
                                                     auf den ersten Blick scheinen mag. So hatte         Moro wurde somit wider Willen zur
Aldo Moro – Märtyrer wider Willen                    schon der Theologe und Philosoph Fried-         Hauptfigur einer Staatsmythologie ge-
Moro kritisierte die Rhetorik der Staatsrä-          rich Schleiermacher darauf hingewiesen,         macht, deren Funktion in letzter Instanz
son als eine scheinheilige Berufung auf ein          dass das Christentum «Sprache gemacht           die Legitimation bestehender Macht- und
«abstraktes Prinzip von Legalität», durch            hat» und «ein potenzierter Sprachgeist» ist.    Herrschaftsverhältnisse war.
das man eigentlich nur seinen Tod zu be-             Damit beschreibt er den Umstand, dass die
wirken wünsche. In einem Brief an die eige-          Gesamtheit der christlich geprägten Spra-            Baldassare Scolari ist Doktorand am Zentrum
ne Partei schrieb Moro: «Wenn ihr nicht ein-         che ihre Attraktivität und Wirkmächtigkeit                für Religion, Wirtschaft und Politik und
greift, würde ein schauderhaftes Kapitel             trotz der vermeintlichen Säkularisierung             Dozent für Medienethik an der Hochschule für
der italienischen Geschichte geschrieben             nicht eingebüsst hat. Das Phänomen der                 Technik und Wirtschaft in Chur und an der
werden. Mein Blut würde auf euch fallen,             Übertragung bzw. der Umbesetzung der                                       Berner Fachhochschule.
auf die Partei, auf das Land.» Nichtsdesto-          christlichen Märtyrerfigur in neue Kontex-
trotz wird Moros Tod von einem Grossteil             te kann in Anschluss an Hans Blumenberg
der Politik und der Zivilgesellschaft als            als «Präfiguration» bezeichnet werden.
Martyrium für die italienische Republik              Dem deutschen Philosophen zufolge ist die
und als Opfer für die Errettung der Staats-          Präfiguration ein anthropologisch herleit-
bürger dargestellt. Die martyrologische              bares Verfahren. Es besteht darin, durch die
8   facultativ · Magazinbeilage bref

Recht und Religion
Zwei normative Ordnungen im Konflikt?

    Der zunehmende Kontakt und die vermehrte Konfrontation mit fremden Religionen und Kulturen
    führen zu einer Rückbesinnung vieler Demokratien in Europa auf die christlich-abendländische
    ­Tradition. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gerät durch diesen Trend unter
     Legitimationsdruck.

Carl Jauslin

R
                                                            wissenschaft, Universität Basel) veranstaltet    Recht und Religion im Konflikt?
         eligiöse     Knabenbeschneidung,                   wurde, trug den Titel «Toleranz contra Neu-      Recht und Religion enthalten ihrerseits bei-
         Schächten, das Tragen einer Burka,                 tralität: Zur Kontroverse über die Leitprinzi-   de Verhaltensnormen, das heisst Anweisun-
         Ehrenmörder, die öffentlich-recht-                 pien der Integration religiöser Pluralität».     gen, etwas zu tun oder zu unterlassen (Ge-
liche Anerkennung des Islams, Toleranzarti-                 Studierende aus unterschiedlichen Diszipli-      bote und Verbote). Sie bilden folglich zwei
kel in der schweizerischen Bundesverfas-                    nen – u.a. Rechtswissenschaft, Religionswis-     normative Ordnungen mit zwei unter-
sung? Was bedeutet religiöse Toleranz und                   senschaft, Philosophie sowie aus dem Mas-        schiedlichen Gesetzgebern – Gott und Staat
Neutralität? – diese und viele weitere bri-                 terstudiengang Religion, Wirtschaft und          (in Demokratien das Volk oder dessen Ver-
sante Themen wurden am traditionsreichen,                   Politik – nahmen an diesem dreitägigen Se-       treter im Parlament). Rechtliche und religiö-
interdisziplinären «Engelberger Seminar»                    minar in Engelberg teil. Die Expertise der       se Normen, die sich in der Form von Soll-
von Prof. Felix Hafner (Professor für Öffent-               drei leitenden Professoren sowie die Partizi-    Sätzen oder Imperativen an uns richten,
liches Recht, Universität Basel) diskutiert.                pation der Studierenden ermöglichten es,         können den gleichen Inhalt haben: Die Sät-
Dieses Seminar, das im Herbstsemester 2017                  die Fragestellung der religiösen Toleranz        ze «Du sollst nicht töten» oder «Du sollst
zusammen mit Prof. Bijan Fateh-Moghadam                     und Neutralität aus verfassungsrechtlicher,      nicht stehlen», die zu den Zehn Geboten ge-
(Professor für Grundlagen des Rechts und                    strafrechtlicher, rechtsphilosophischer und      hören, sind auch in unserem Strafgesetz-
Life Sciences-Recht, Universität Basel) und                 religionswissenschaftlicher Perspektive zu       buch verankert. Religiöse Normen (bspw.
Prof. Jürgen Mohn (Professor für Religions-                 beleuchten.                                      Riten oder Kulthandlungen) können aber

Grafik des Vereins Operation Libero gegen ein Burkaverbot in der Verfassung.
facultativ · Magazinbeilage bref   9

auch im Spannungsfeld oder im Wider-            darstellen. Aus liberaler Sicht kann es je-      liberaler Sicht legitim. Das Recht soll sich
spruch zu rechtlichen Normen des Staates        doch keine persönliche Freiheit geben,           darauf beschränken, die gleiche Freiheit
stehen. Wie ist damit umzugehen?                wenn religiöse oder auch ethische und            für alle zu garantieren und nur äussere
                                                kulturelle Normen zu Rechtsnormen                Verhaltensweisen, nicht aber innere Über-
Religionsfreiheit und religiöse                 transformiert werden. Das liberale Prinzip       zeugungen rechtlich einzufordern (vgl.
Neutralität des Staates                         der religiös-weltanschaulichen Neutrali-         Immanuel Kants Rechtsphilosophie).
Rechtliche Normen sind zwingend. Der            tät des Staates impliziert eine klare Tren-
Staat und nicht etwa die Kirche hat (heute)     nung zwischen dem Recht einerseits und           Neutralität und Toleranz
das Gewaltmonopol inne, das es ihm er-          religiösen, kulturellen oder gesellschaftli-     Der Staat hat sich in religiösen Angelegen-
möglicht, Normen auch gegen den Willen          chen Normen andererseits.                        heiten gegenüber Privaten neutral zu ver-
der Betroffenen durchzusetzen und Sankti-                                                        halten, d.h. er ist verpflichtet, keine religiö-
onen anzuordnen. In diesem Sinne bean-          Neutrales oder identitätsstiftendes Recht?       se oder ethische Position einzunehmen. Pri-
spruchen rechtliche Normen gegenüber re-        In politischen Debatten wird ein formales        vate hingegen müssen sich nicht religiös
ligiösen Normen im Konfliktfall Vorrang.        Recht, wie es das Neutralitätsprinzip ver-       neutral verhalten. Im Gegenteil: ihnen steht
Der moderne, säkulare und durch die Auf-        langt, stark kritisiert und ein Recht gefor-     die oben erwähnte Religionsfreiheit zu, ins-
klärung geprägte Staat sieht jedoch für je-     dert, das die kulturelle Identität stärker mit   besondere das Recht, eine religiöse Über-
den Menschen einen Freiraum vor, in dem         einbezieht, um dadurch die nationale Soli-       zeugung frei zu wählen und ihr Verhalten
er alleine oder gemeinsam mit anderen sei-      darität zu fördern. Der Ruf, eine Leitkultur     danach zu richten. Von Privaten kann folg-
nen Glauben frei ausüben kann. Dieser Frei-     oder einen gesellschaftlichen Grundkon-          lich lediglich Toleranz gefordert werden.
raum ist als subjektives Recht ausgestaltet     sens rechtlich zu verankern, zeigt sich bei-     Im Gegensatz zur Neutralität fordert Tole-
und als Glaubens- und Gewissensfreiheit         spielsweise am vieldiskutierten Burka-           ranz keine Enthaltung, sondern verlangt
(Religionsfreiheit) in der schweizerischen      Verbot oder an der «Handschlag-Debatte».         vielmehr eine eigene Stellungnahme bzw.
Bundesverfassung (Art. 15) verankert wie        In beiden Fällen wird die Meinung vertre-        Position, die aber abweichende Meinungen
auch von der Europäischen Menschen-             ten, dass es sich nach kultureller Tradition     aufgrund übergeordneter Gründe duldet
rechtskonvention (Art. 9) und dem UNO-          um eine soziale Norm, eine hiesige Ge-           und akzeptiert. Die Toleranz endet wie
Pakt II (Art. 18) geschützt.                    pflogenheit und eine Selbstverständlich-         auch die Neutralität des Staates, wo in die
    Aus der Religionsfreiheit und dem Dis-      keit handelt, dass im öffentlichen Raum          gleiche Freiheit Dritter eingegriffen wird.
kriminierungsverbot wird gemeinhin das          das Gesicht unverhüllt ist, man sich ge-         Sowohl das Recht wie auch die Religion er-
zentrale Prinzip der religiös-weltanschauli-    genseitig in die Augen schauen kann, oder        heben als normative Ordnungen einen Gel-
chen Neutralität des Staates abgeleitet, das    dass man als Schüler der Lehrperson zur          tungsanspruch. Aus rechtlicher Sicht kann
den Staat beispielsweise verpflichtet, den      Begrüssung die Hand gibt. Die Tatsache,          der Konflikt dieser normativen Ordnungen
Schulunterricht religiös-weltanschaulich        dass es sich jedoch hierbei um gesellschaft-     nur durch die religiöse Neutralität des Staa-
neutral zu gestalten. Das Neutralitätsprin-     liche Normen handelt, ist aus Sicht des          tes gegenüber Privaten und die wechselsei-
zip verlangt, dass der Staat in religiösen,     Neutralitätsprinzips kein legitimer Grund,       tige Toleranz unter Privaten gelöst werden.
weltanschaulichen, aber auch ethischen,         ein solches Verhalten rechtlich einzufor-
gesellschaftlichen und kulturellen Angele-      dern. Dieser Gedanke wird eindrücklich                              Carl Jauslin ist Assistent an der
genheiten keine Stellung bezieht, soweit        durch das berühmte «Böckenförde-Zitat»                   Juristischen Fakultät der Universität Basel.
und solange damit nicht Dritte oder der         versinnbildlicht, das die Grenzen des
Staat geschädigt werden. Vor diesem Hin-        Rechts aufzeigt: «Der freiheitliche, säkula-
tergrund ist es offensichtlich, dass sich der   risierte Staat lebt von Voraussetzungen,
Staat hinsichtlich religiös motivierter Ter-    die er selbst nicht garantieren kann.» Nur
roranschlägen nicht neutral zu verhalten        wenn die Freiheit anderer auf dem Spiel
hat, da diese einen direkten Angriff auf das    steht, sind Rechtsnormen, die ein be-
individuelle und gesellschaftliche Leben        stimmtes Verhalten ge- oder verbieten, aus
10   facultativ · Magazinbeilage bref

Staat und Religion
im gesellschaftlichen Wandel
  Das 2007 bis 2010 durchgeführte NFP 58 «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» hat dazu
  beigetragen, die Reflexion über die Bedeutung von Religion(en) in der Schweiz auf eine wissenschaft­
  liche Grundlage zu stellen. Manche der damals debattierten Fragen (etwa zum Minarettbauverbot)
  sind heute in den Hintergrund getreten. Andere (z. B. zur Ausbildung von Imamen) haben zur Schaffung
  neuer Bildungsangebote geführt. Wieder andere, nicht zuletzt im Bereich Sicherheit und Radikalisie­
  rungsprävention, sind neu dazugekommen. Die Beispiele zeigen, wie sehr nach wie vor der Islam i­m
  Zentrum medialer Aufmerksamkeit steht. Dass der Regierungsrat des Kantons Zürich in diesem
  Kontext eine Positionsbestimmung vornimmt, die einen Schritt zurücktritt, Grundsätzliches in den
  Blick nimmt und der nachhaltigen politischen Orientierung dienen will, ist bemerkenswert.

Christoph Uehlinger

D
                                              pragmatisch auf der Ebene der unmittelbar     Landeskirche fast wie eine Staatskirche
         Die schweizerische Rechtsord-        betroffenen Institution geregelt werden       privilegierte. Die 1963 vollzogene öffent-
         nung regelt das Verhältnis von       kann oder als so grundsätzlich betrachtet     lich-rechtliche Anerkennung der Römisch-
         Staat, Religion(en) und Gesell-      wird, dass es der Regelung durch eine über-   katholischen Körperschaft und der Christ-
schaft auf verschiedenen Ebenen: Von na-      geordnete Behörde bedarf.                     katholischen Kirchgemeinde begründete
tionaler Verbindlichkeit ist Art. 15 der                                                    vorübergehend ein überkonfessionelles
Bundesverfassung, der die Glaubens- und       Religion, Kultur, Diversifizierung            Regime, das angesichts von Säkularisie-
Gewissensfreiheit aller in der Schweiz le-    Im Kanton Zürich wurde vor einigen Jah-       rung, Diversifizierung und Deinstitutiona-
benden Menschen gewährleistet: «Jede          ren das für alle Schülerinnen und Schüler     lisierung des religiösen Feldes aber bald an
Person hat das Recht, ihre Religion und ih-   verpflichtende Schulfach «Religion und        Plausibilität einbüsste. Die Kantonsverfas-
re weltanschauliche Überzeugung frei zu       Kultur» eingeführt. Dies ist vor dem Hin-     sung von 2005 ermöglichte die privatrecht-
wählen und allein oder in Gemeinschaft        tergrund der beschriebenen gestaffelten       liche Anerkennung weiterer, auch nicht-
mit anderen zu bekennen. Jede Person hat      Rechtsordnung zu verstehen.                   christlicher Religionsgemeinschaften, wo-
das Recht, einer Religionsgemeinschaft            Der Kanton war befugt, den Gegenstand     von bisher zwei jüdische Gemeinden
beizutreten oder anzugehören und religiö-     Religion als für den sozialen Frieden und     Gebrauch gemacht haben. Religionsrecht
sem Unterricht zu folgen. Niemand darf        die kulturelle Bildung junger Menschen        ist nicht mehr in erster Linie Mehrheits-
gezwungen werden, einer Religionsge-          hinreichend relevant zu erklären, um die      recht, es kann differenziert auf verschiede-
meinschaft beizutreten oder anzugehören,      Einrichtung eines neuen Pflichtfachs zu be-   ne religiöse Minderheiten bezogen werden.
eine religiöse Handlung vorzunehmen           gründen. Zugleich muss er bei dessen Um-      Dabei ist die aktuelle demografische Situa-
oder religiösem Unterricht zu folgen.»        setzung der Bundesverfassung genügen          tion nicht unerheblich: Zählt man Katholi-
    Kantonales Recht regelt das Verhältnis    und die Glaubens- und Gewissensfreiheit       ken, Reformierte, freikirchlich Organisierte
des Staats zu einzelnen Religionsgemein-      der Schülerinnen und Schüler garantieren.     und Orthodoxe nicht einfach als «Christen»
schaften, damit auch die Gewährung ihrer      Das neue Schulfach unterscheidet sich des-    zusammen (die es als eine organisierte Re-
öffentlich- oder privatrechtlichen Anerken-   halb von konfessionellen oder interreligiö-   ligionsgemeinschaft gar nicht gibt), dann
nung. Auch der Stellenwert von Religion       sen Formen des Religionsunterrichts. Lehr-    repräsentieren heute alle in der Schweiz be-
und religionsbezogenem Unterricht an öf-      plan und Lehrmittel bieten für die Unter-     stehenden Religionsgemeinschaften, auch
fentlichen Schulen ist kantonal geregelt.     richtsgestaltung eine Grundlage und           die sogenannten Landeskirchen, für sich
Fragen im Umgang mit Alltagsproblemen         Orientierung. Die konkrete Gestaltung liegt   genommen je unterschiedliche Minderhei­
werden wenn möglich auf kommunaler            in der Verantwortung der Lehrpersonen         ten innerhalb einer stark diversifizierten
Ebene geregelt: Dazu gehören z. B. Fried-     und Schulleitungen.                           Gesamtgesellschaft.
hofs- und Bestattungsordnungen, die Ein-          Die Einführung des neuen Schulfachs            Die Gesellschaft ist, in religiöser Hin-
richtung separater Grabfelder für Angehö-     kann als bildungspolitische Antwort auf       sicht, einem starken Wandel unterzogen,
rige bestimmter Religionsgemeinschaften,      einen tiefgreifenden sozialen Wandel ver-     der zu grosser weltanschaulicher Vielfalt
Regelungen zu religiösen Symbolen, Klei-      standen werden: Bis in die 1960er Jahre       geführt hat. Der Staat steht vor der schwie-
dungsvorschriften u. v. a. m. Nicht immer     hatte in Zürich eine konfessionell eindeu-    rigen Aufgabe, zu klären, wie er sich gegen-
ist von vorneherein klar, ob ein Problem      tige Ordnung gegolten, die die reformierte    über historisch gewachsenen Privilegien
facultativ · Magazinbeilage bref   11

und neu aufkommenden Ansprüchen und             geltenden Massstab dar». Dieser Massstab        Es ist dem Dokument anzusehen, dass­
Problemlagen verhalten will. Vorausset-         sei im Kanton Zürich, so der fünfte Leitsatz,   ihm – wie oft in der Politik – einige Diskus-
zung und Rahmen für seine Antwort muss          «von der demokratisch-liberalen Kultur»         sionen und Kompromisse vorausgegangen
eine Rechtsordnung sein, die für alle, Glau-    geprägt. Der Kommentar erläutert, dass da-      sind. Gegenüber den Religionsgemein-
bende wie Nichtglaubende, mit gleicher          zu nicht nur das Christentum, sondern           schaften, den lange Zeit privilegierten wie
Verbindlichkeit gilt.                           auch die griechische Philosophie, die römi-     den neu in den Fokus öffentlicher Aufmerk-
                                                sche Rechtskultur und v. a. die Aufklärung      samkeit geratenen, will es einladend auftre-
Leitsätze des Zürcher Regierungsrats            beigetragen hätten.                             ten: Religion wird in erster Linie als Ressour­
Der Regierungsrat des Kantons Zürich hat                                                        ce für den sozialen Frieden, nicht unter dem
am 29. November 2017 sieben Leitsätze zur                                                       Gesichtspunkt des Risikos und des Wettbe-
Gestaltung des Verhältnisses von Staat und                                                      werbs partikulärer Deutungsansprüche
Religion beschlossen. An diesen will er sein                                                    thematisiert. Die Leitsätze des Zürcher Re-
religionspolitisches Handeln künftig aus-                                                       gierungsrats scheinen damit – gewollt oder
richten. Dass es zu einem solchen Grund-                                                        ungewollt – einer Empfehlung des Natio-
satzdokument gekommen ist, ist ausserge-                                                        nalen Forschungsprogramms (NFP 58)
wöhnlich und geht auf eine Initiative von                                                       zu folgen, «neuen Entwicklungen mit Au-
Justizdirektorin Jacqueline Fehr (die sich                                                      genmass und Innovations­      bereitschaft zu
gelegentlich als Zürcher «Religionsministe-                                                     begegnen».
rin» bezeichnet) zurück. Der erste Leitsatz
hält fest, dass «religiöse Überzeugungen ei-                                                                     Christoph Uehlinger ist Professor
ne wichtige Grundlage des gesellschaftli-                                                                  für Allgemeine Religionsgeschichte und
chen Zusammenlebens» bilden. Was reli­                                                                            Religionswissenschaft und leitet
giös sozialisierten Menschen eine Selbst­                                                                  das Religionswissenschaftliche Seminar
verständlichkeit sein mag, kann bei                                                                                        der Universität Zürich.
Religionslosen Kopfschütteln auslösen. Der
Satz sagt aber nicht mehr, als dass Religion
in einer Gesellschaft zur Bildung von Wer-
ten und Haltungen beiträgt; er sagt nicht,
dass Religionen dies als Einzige tun. Auf et-
was dünnerem Eis bewegt sich der zweite
Leitsatz, wonach «die religiösen Gemein-        Grossmünster und Rathaus in Zürich.
schaften den öffentlichen Frieden wahren».
    Der Kommentar zu den Leitsätzen             Nach Leitsatz 6 sollte das bewährte System      NFP 58:
macht deutlich, dass der Regierungsrat da-      der öffentlich-rechtlichen Anerkennung bei-
                                                                                                Christoph Bochinger u.a.,
mit erstens eine Erwartung formuliert,          behalten werden: Es verleiht den anerkann-
zweitens Religionsgemeinschaften aber           ten Religionsgemeinschaften bestimmte           Religionen, Staat und Gesellschaft.
auch grundsätzlich ein dem sozialen Frie-       Rechte, fordert aber auch Pflichten ein und     Die Schweiz zwischen
den dienliches Wirken zutrauen will.            erlaubt ein konstruktiv-kooperatives Zu-
                                                                                                Säkularisierung und religiöser Vielfalt,
    Nach Leitsatz 3 dürfen «religiöse Sym-      sammenwirken von Staat und Religionsge-
bole im öffentlichen Raum sichtbar sein, so-    meinschaften. Leitsatz 7 hält abschliessend     Zürich: Verlag NZZ, 2012.
weit es die staatliche Rechtsordnung zu-        fest, dass es «zum Umgang mit verfassungs-
lässt». Auch hier äussert sich zunächst eine    rechtlich nicht-anerkannten Religionsge-        Leitsätze:
Haltung der Toleranz, die nur dann ein-         meinschaften … klare Handlungsgrundla-          Kanton Zürich – Direktion der Justiz
schränkend eingreifen will, wenn dies aus       gen» brauche. Das mag auf den ersten Blick
übergeordneten Gründen erforderlich             wenig konkret erscheinen. Vielleicht folgt
                                                                                                und des Inneren, Staat und Religion
scheint. Zugleich wird die Priorität der        der Satz dem Gebot politischer Klugheit,        im Kanton Zürich: Eine Orientierung
staatlichen Rechtsordnung gegenüber reli-       Dinge nicht vorschnell festschreiben zu wol-    (Download über https://ji.zh.ch/­
giösen (oder anderen) Partikularansprü-         len, wohl aber Debatten darüber in Gang zu
chen unmissverständlich festgehalten. Sie       setzen, neue Initiativen zu ermöglichen         internet/justiz_inneres/de/themen/
stellt nach Leitsatz 4 «den verbindlichen,      und – noch einmal – an den rechtsstaatlichen    religionsgemeinschaften.html).
für alle Religionsgemeinschaften gleich         Handlungsrahmen zu erinnern.
12   facultativ · Magazinbeilage bref

Ein Blick nach Sri Lanka
und Indien
  Warum sich ein Blick über die Grenzen Europas hinaus lohnt, wenn in der Schweiz über die
  ­Anerkennung religiöser Gruppen und ihrer Praktiken diskutiert wird.

Christine Schenk

D
                                                sich besonders am Schulwesen. Es gibt           Gleichzeitig versuchte die niederländische
         er französische Philosoph Michel       Schulen für jede religiöse Gruppe, die auch     und später die britische Besatzungmacht
         Foucault lehrte, dass eine Regie-      die Verhaltensregeln festlegen.                 Sri Lanka zu totalisieren, nämlich durch die
         rung die Ordnung ihrer Gesell-             In einem Gespräch mit drei Professo-        Schaffung von Gesetzen und Organen zur
schaft für ein funktionierendes Staatsgebil-    ren der Islamwissenschaft und Arabistik         Umsetzung dieser Gesetze, also mit Militär,
de totalisieren und für den einzelnen           habe ich gefragt, ob es für sie als Väter ak-   Polizei und ziviler Administration inklusi-
Bürger, die einzelne Bürgerin zugleich in-      zeptabel wäre, wenn ihre muslimischen           ve Schulen. Und hier kommt der entschei-
dividualisieren will. Die Dynamiken des         Kinder, besonders Söhne, einer weiblichen       dende historische Unterschied zur Schweiz:
Totalisierens und des Individualisierens        Lehrperson in Sri Lanka die Hand geben          Die gesellschaftlichen Gruppen sicherten
treten auch bei der politischen Aushand-        müssten. Es folgte ein vehementes Nein,         sich ihre kollektiven Interessen durch ei-
lung von gesellschaftlichen Interessen, in-     mit der Begründung, dass dies die Wert-         gens ausgehandelte Gesetze. Das betrifft
besondere von religiösen Gruppen und der        vorstellungen der Muslime nicht zulassen        vor allem das Schulwesen und das Famili-
Ausübung ihrer Praktiken, auf. Dabei geht       würden. Dann habe ich gefragt, ob es für        enrecht, wie so oft in Staaten mit einer kolo-
es um kollektive Interessen einer individu-     sie als sri-lankische Väter akzeptabel wä-      nialen Vergangenheit. Doch diese Gesetz-
ellen Gruppe, die mit einer Staatsräson in      re, wenn ihr muslimischer Sohn einer            gebungen und ihre Umsetzung waren und
Einklang gebracht werden sollen.                weiblichen Lehrperson in Zürich die Hand        sind teils nicht aufeinander abgestimmt,
    Wenn eine Schule eine Form der Be-          zur Begrüssung geben müsste. Ihre erste         was einen Rechtspluralismus begründet. In
grüssung zwischen Lehrperson und einer          Reaktion war wieder ein vehementes              Sri Lanka haben deshalb Muslime und ta-
Schulklasse festlegt, ist es ein Totalisieren   Nein. Als ich zu bedenken gab, dass dies in     milische Hinduisten (aus Jaffna) ein eige-
und gleichzeitig eine pragmatische Lö-          Teilen der Schweiz so üblich sei und in der     nes Heirats- und Erbrecht. Das heisst, es
sung, um ein zielgerichtetes Funktionie-        Schulpolitik als gängige Praxis definiert,      gibt religiös begründete Rechte für be-
ren des Schulbetriebs zu unterstützen.          äusserten sich meine Gesprächspartner           stimmte Teilgemeinschaften, die oft neben-
    Dieses zweckorientierte Totalisieren        besorgt und gleichzeitig fragend, wie so        einander bestehen.
mag in Europa akzeptiert sein, ausserhalb       eine Vereinheitlichung der Begrüssung                Auch indische Intellektuelle verstehen
des europäischen Raums, sieht es jedoch         denn möglich sei – in einem pluralisti-         deshalb die Rolle des Staates nicht als tota-
anders aus. Im folgenden Beitrag möchte         schen, modernen Land wie der Schweiz.           lisierend im Hinblick auf die Regelung von
ich zeigen, warum sich der Blick über den       Es gibt also unterschiedliche Auffassun-        religiösen Praktiken und Rechten und
europäisch geprägten Raum hinaus, etwa          gen, wie ein pluralistischer, moderner          Pflichten von religiösen Gruppen. Ganz im
nach Sri Lanka und Indien lohnt, wenn in        Staat gestaltet ist und welches Recht dieser    Gegenteil: der Friedensnobelpreisträger
der Schweiz über die Anerkennung von re-        Staat hat, zu totalisieren. Um diese unter-     Amarthya Sen propagiert eine «aktive
ligiösen Gruppen und ihre Praktiken dis-        schiedlichen Auffassungen zu verstehen,         Neutralität» des Staates. Der Staat soll so-
kutiert wird.                                   lohnt es sich, einen Blick in die Vergangen-    wohl die Religionsfreiheit sowie spezielle
                                                heit eines postkolonialen Staates wie Sri       Rechte und Pflichten für religiöse Gruppen
Religiöser Pluralismus                          Lanka zu werfen.                                anerkennen.
In Sri Lanka leben vor allem vier ethnisch-                                                          Der indische Philosoph Rajeev Barg-
religiöse Gruppen: Singhalesen, die mehr-       Rechtspluralismus                               hava schreibt dazu, dass der Staat religi-
heitlich buddhistisch sind, Muslime, die        Sri Lanka hat Jahrhunderte kolonialer Be-       öse Gruppen und ihre Rechte gleich be-
sich als eigene ethnische Gruppe verstehen,     satzung durch Grossbritannien und die           handeln soll. Das heisst zum Beispiel,
und Tamilen, die mehrheitlich Hindus            Niederlande hinter sich. Die Kolonialmäch-      dass Sikhs keine Motorradhelme tragen
sind, sowie Christen.                           te hatten vor allem ein ökonomisches Inter-     müssen, Muslime dürfen Kleidervor-
     Sri Lanka ist ein moderner, sehr plura-    esse, nämlich den Export von Zucker, Tee,       schriften erlassen und Muslime, Hindus
listischer Staat, in dem religiöse Praktiken    Holz und Gewürzen zu fördern. Dieser ver-       und Sikhs dürfen ihre Geschäfte am
im Alltag und ihre politische Regelung ein      sorgte die Niederlande und später Gross-        Sonntag öffnen. Und alle religiösen
Tagesthema sind. Gleichzeitig haben die         britannien profitabel und brachte wertvolle     Gruppen dürfen ihre Feiertage begehen,
religiösen Gruppen ihre individuell-­           Einnahmen durch den Handel mit europäi-         was zu einer Vielzahl von Feier­tagen in
kollektiven Interessen bewahrt. Dies zeigt      schen Nachbarländern.                           multireligiösen Gesellschaften führt.
facultativ · Magazinbeilage bref   13

Moschee, Sri Lanka.

Da in Indien Hindus und Muslime seit der        Leider gibt es sowohl in Indien als auch in     sie das friedliche Zusammenleben der reli-
Ankunft von muslimischen Händlern im            Sri Lanka Auseinandersetzungen zwi-             giösen Gruppen, greift der indische Staat
siebten und achten Jahrhundert koexistie-       schen religiösen Gruppen, die jedoch auf        regulierend ein. Auch wenn Michel Fou-
ren, ist auch der interreligiöse Dialog keine   ökomische oder politische Verteilungs-          cault einen Grossteil seiner Einsichten auf
Erscheinung der Neuzeit, sondern eine           kämpfe zurückzuführen sind und entlang          Frankreich gründet: er regt immer wieder
über Jahrhunderte etablierte Praxis, wie die    der religiösen Trennlinien ausgefochten         an, ganz besonders in der Vorlesung «Zur
Religionswissenschaftlerin Anna Bigelow         werden. Es gibt also sowohl in der Schweiz      Verteidigung der Gesellschaft», dass eine
bemerkt.                                        als auch in einem postkolonialen Staat wie      ungerechte Behandlung von gesellschaftli-
                                                Sri Lanka ein totalisierendes Interesse ei-     chen Gruppen Unfrieden stiftet. Um dies
Besondere politische Rechte der                 ner gesellschaftlichen, zum Teil auch religi-   zu vermeiden, mag es sich lohnen, von der
religiösen Mehrheit                             ös legitimierten gesellschaftlichen Mehr-       Religionspolitik Indien s und Sri Lankas zu
Häufig findet eine solche Gleichbehand-         heit. Es wäre zu diskutieren, was die Krite-    lernen.
lung von religiösen Gruppen aber eben           rien sind, die eine religiöse Gruppe
nicht statt – weder in der Schweiz noch in      berechtigen, kollektive Interessen zu ver-                 Christine Schenk ist wissenschaftliche
Sri Lanka. In der Schweiz sind christliche      handeln und ggf. diese auch zugesprochen            Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen
Gruppen wie Protestanten und Katholiken         zu bekommen. Denn Rajeev Barghava                  Seminar und Mitglied der GRC Peer Group for
(in Zürich erst seit 1963!) staatlich aner-     mahnt auch, dass der Staat in Indien seinen                                Religion and Politics.
kannt, Muslime oder Hindus aber nicht. In       religiösen Gruppen sehr wohl Auflagen
Sri Lanka fordert die singhalesische, mehr-     macht. Sind Zielsetzungen und Praktiken
heitlich buddhistische Mehrheit besondere       diskriminierend (z.B. Frauenrechte, Perpe-
politische Rechte.                              tuierung des Kastenwesens) oder stören
14   facultativ · Magazinbeilage bref

Aktuelles und Veranstaltungen

Promotionen Theologie                   Ruf                                     und US-amerikanische                     Ausserdem verfasste er zwei
                                                                                Systematische Theologie,                 Einführungswerke: eine über den
Bieler Jonathan                         Prof. Dr. Markus Huppenbauer            Medienethik, Politik, Religion und       Islam für Juden und eine über das
Der Einheitsbegriff als Kohärenz­       per 1. 12. 2017: ausserordentlicher     Gesellschaft und theologische            Judentum für Muslime. Vom
prinzip in der Theologie des            Professur ad personam für Ethik         Gegenwartsfragen, Dietrich               Hebrew Union College erhielt er
Maximus Confessor. Eine Studie                                                  Bonhoeffer, Neurowissenschaften          die rabbinische Ordination und
zu Ps.-Dionysius-Rezeption,             Ernennungen                             und Ethik.                               einen Doktortitel in Arabic and
triplex via und analogem Weltbild                                                                                        Islamic Studies von der New-York-
bei Maximus Confessor.                  Prof. Dr. Konrad Schmid wurde                                                    Universität. Ausserdem war er als
Prof. Dr. S.-P. Bergjan                 am Theologenkongress in                 Sigi Feigel-Gastprofessor
                                                                                                                         Vizepräsident der Association for
PD Dr. B. Gleede                        Wien für die Periode 2017 bis 2020      Dr. Reuven Firestone ist im              Jewish Studies und als Präsident
                                        zum Ersten Vorsitzenden der             Frühlingssemester 2018 Sigi              der International Qur’anic Studies
Bänziger Mathias                        Wissenschaftlichen Gesellschaft
An der Schwelle zum Integralen.                                                 Feigel-Gastprofessor an unserer          Association tätig.
                                        für Theologie gewählt.                  Fakultät. Er ist Professor für
Henry Corbins religions­
philosophischer Pionierweg durch                                                Mittelalterliches Judentum und           Publikationen
                                        Der SNF hat Prof. Dr. Konrad            Islam am Hebrew Union College
das 20. Jahrhundert.                    Schmid für die Amtszeit
Prof. Dr. P. Bühler                                                             in Los Angeles und Senior Fellow         Marco Baschera; Pierre Bühler;
                                        1. Oktober 2017– 30.Sept. 2021          des Center of Religion and Civic         Lucie Kaennel (Hg.): Das
Prof. Dr. Chr. Uehlinger                in den Forschungsrat für den
Prof. Dr. H. Landolt (McGill                                                    Culture an der South California          Unsagbare sagen. Mystische
                                        Bereich Theologie/Religions-            Universität. Zu seinen zahlreichen       Aspekte in zeitgenössischer
University, Montreal, Canada)           wissenschaft gewählt.                   Publikationen zählen die                 Literatur, Kunst und Religion,
Doppeldoktorat                                                                  Monografien: Journeys in Holy            Königshausen & Neumann,
                                        Auszeichnungen                          Lands: The Abraham-Ishmael Legends       Würzburg 2017.
Rupschus-Zwanzig Nicole                 Die Semesterprämie für das              in Islamic Exegesis; Jihad: The Origin
Frauen im Qumran.                                                               of Holy War in Islam; Holy War in        Natalie Fritz; Marie-Therese
                                        Frühjahr 2017 ging an Ilona Maria                                                Mäder; Daria Pezzoli-Olgiati;
Prof. Dr. J. Frey                       Monz für ihre Seminararbeit:            Judaism: the Fall and Rise of a
Universität Zürich                                                              Controversial Idea; Who are the Real     Baldassare Scolari (Hg.):
                                        Evagrius Pontikus. An der                                                        Leid-Bilder. Die Passionsgeschichte
Prof. Dr. St. Beyerle                   Wendemarke von römischem und            Chosen People: The Meaning of
(Universität Greifswald, DE)                                                    «Chosenness» in Judaism,                 in der Kultur, Schüren Verlag,
                                        christlichem Imperium.                                                           Marburg 2018.
                                        Prof. Dr. Susanna Elm                   Christianity and Islam.
Master Theologie
                                                                                                                         Volker Leppin; Samuel
Stefan Degen                            Gastprofessorin Theologische Ethik                                               Vollenweider (Hg.): «Mitleid -
Zoe Denzler                                                                                                              Mitleiden», Jahrbuch für Biblische
Belinda Rea Dietziker                   Frau Prof. Dr. Gotlind Ulshöfer ist                                              Theologie 30, Vandenhoeck &
Stefan Schori                           bis 31. Juli 2018 als Gastprofessorin                                            Ruprecht, Göttingen 2018.
Rahel Zweifel                           Theologische Ethik am Institut für
                                        Sozialethik tätig. Nach ihrer                                                    Andreas Mauz (Hg.): Kurt Marti:
Master Religionswissenschaft            Promotion im Jahr 2000 an der                                                    wo chiemte mer hi. sämtlechi gedicht
Marc Pascal Bäumlin                     Universität Heidelberg war sie bis                                               ir bärner umgangsschprach, mit
                                        2016 als Studienleiterin an der                                                  einem Nachwort von Guy Krneta,
Master Religion – Wirtschaft –          Ev. Akademie Frankfurt tätig.
Politik                                                                                                                  Nagel & Kimche, Zürich 2018.
                                        2013 habilitierte sie für das Fach
Léo Rime                                Systematische Theologie an der
                                        Universität Tübingen. Seit 2016
Bachelor Theologie                      arbeitete sie als Heisenberg-
                                        Stipendiatin der Deutschen
Michael Goldberg                        Forschungsgemeinschaft im
Michal Maurer                           Projekt: Ethik der Macht im
Ilona Maria Monz                        digitalen Zeitalter. 2017 erhielt
Christian Morf                          sie für ihre Habilitation den
Virginia Beatrice Müller                Hanns-Lijie-Stiftungspreis.
Sarah Sommer                            Zu Ihren Forschungsschwer­
                                        punkten zählen: Sozialethik und
Bachelor Religionswissenschaft          Grundlagenfragen der Ethik,
Gilles Duc                              Wirtschafts-, Unternehmens-
Simone Preiswerk                        und Finanzmarktethik, Ethische
Lars Roelli                             Herausforderungen der
                                        Digitalisierung, Prozesstheologie
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