Richtungspapier zu mittel- und langfristigen Lehren

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Zwischenbilanz nach der ersten Welle der Corona-Krise 2020

 Richtungspapier
 zu mittel- und langfristigen Lehren

    Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Nach der ersten Welle der Corona-Pandemie in Deutschland ist es Zeit, die bisherigen Erfah-
rungen auszuwerten und mögliche Ableitungen bzw. Lehren nicht nur für die aktuelle Lage,
sondern auch für die Zukunft zu formulieren. In jeder Krise steckt eine Chance. Und von der
grosso modo positiven Leistungsbilanz der Krisenbewältigung in Deutschland gehen Impulse
für Reformen der Versorgungslandschaft aus, deren Zielstellungen zum Teil bereits vor der
Corona-Pandemie formuliert worden waren. Sie sollen in der aktuellen Diskussion nicht ver-
loren gehen. Im Gegenteil: Sie sollen gerade jetzt in den Vordergrund gerückt werden, um die
in der Krise liegende Chance für eine nachhaltige Weiterentwicklung des Gesundheits­wesens
zu nutzen.

Deshalb haben die Autoren und Herausgeber das vorliegende Dokument als „Richtungs­
papier“ bezeichnet: Der aktuellen Diskussion – die verständlicherweise auf die Bewältigung
der aktuellen Krise gerichtet ist und (zunächst) auch sein muss – soll eine darüber hinaus
gehende Richtung gegeben werden. Vor dem Hintergrund der Lehren aus der „ersten Welle“
der Corona-Krise (lessons learned) werden ausgewählte Reformperspektiven für die Weiter-
entwicklung des Gesundheitswesens vorgestellt.

         Richtungspapier · Corona · Gesundheitssystementwicklung · Öffentlicher Gesundheitsdienst ·
         Teststrategie · Konzentration der Versorgungsstrukturen · Spezialisierung · Integrierte
         Versorgungszentren · Krankenhausfinanzierung · Weiterentwicklung der Pflegeberufe · Digitalisierung
                                     Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Öffentlicher Gesundheitsdienst und Teststrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 	 8

Kapitel 2 Gestufte und vernetzte ambulante Primärversorgung: nicht nur in der Corona-Krise ein Erfolgsfaktor . . 	 19

Kapitel 3 Spezialisierung verbessert die Versorgung nicht nur in der Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 	 28

Kapitel 4 Grundversorger haben eine Perspektive als integrierte Versorgungszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 	 39

Kapitel 5 Vergütung und Finanzierung sind an Versorgungsaufträge gebunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 	 46

Kapitel 6 Pflegefachpersonen können mehr, als das System ihnen zutraut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 	 52

Kapitel 7 Digitalisierung des Gesundheitswesens als Schlüssel zur Überwindung der Corona-Krise . . . . . . . . . . . . . . 	 61

Executive Summary                                                                     eine ausreichende technische Ausstattung. Kurzfristig
                                                                                      könnte hier über die Schaffung von Registern für Frei-
                                                                                      willige nachgedacht werden, die ggf. auch flexibel ein-
Kapitel 1 Öffentlicher Gesundheitsdienst                                              gesetzt werden könnten.
und Teststrategien
                                                                                      Der ÖGD muss als eigenständige Säule der Gesund-
 Die erste Pandemie-Welle hat gezeigt, dass das In-                                    heitsversorgung gestärkt werden, auch durch die
 fektionsgeschehen durch gezielte Teststrategie und                                   Ausweitung der Public-Health-Perspektive: Dazu
Ausbau der Testkapazitäten begrenzt werden kann:                                       muss einerseits die finanzielle Attraktivität einer Be-
 Fest steht, je gezielter und stärker anlassbezogen                                   schäftigung im ÖGD gesteigert werden. Um darüber
­getestet wird, desto früher können Cluster erkannt                                   ­hinaus den ÖGD als eine tragende dritte Säule im Ge-
 werden. Je früher Eindämmungsmaßnahmen wie An-                                       sundheitssystem und in der präventiven Gesundheits-
 ordnung von Quarantäne, Schließungen von Betrieben                                   versorgung in Deutschland, auch über die Pandemie
 und die weitere Kontaktverfolgung unternommen wer-                                    hinaus, zu stärken, muss insbesondere die Public-
                                                                                       ­
 den, desto unwahrscheinlicher ist die unentdeckte Ver-                               Health-Perspektive innerhalb des ÖGD, aber auch in
 breitung.                                                                            Lehrinhalten des Medizinstudiums geschärft werden.

Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) braucht                                       Der ÖGD braucht eine bessere Verknüpfung zu
eine entsprechende Personalausstattung, insbeson-                                     ­ issenschaft und Primärversorgung: Bei Public-
                                                                                      W
dere um die Kontaktverfolgung, Anordnung und Kon-                                     Health-Maßnahmen handelt es sich oft um komplexe
trolle von Quarantäne und Durchführung von Tests zu                                   Interventionen (zum Beispiel Prävention oder Gesund-
gewährleisten: Nur wenn es gelingt, den ÖGD mit ent-                                  heitsförderung), deren Evaluation besondere Heraus-
sprechenden personellen, technischen und finanziellen                                 forderungen mit sich bringt und daher interdisziplinär
Ressourcen auszustatten, ist sichergestellt, dass auch                                angelegt ist. Eine stärkere Verknüpfung zwischen ÖGD
im weiteren Verlauf der Pandemie eine adäquate Kon-                                   und Wissenschaft kann dazu beitragen, komplexe In-
taktnachverfolgung gewährleistet werden kann. Dazu                                    terventionen zu bewerten und somit das Prinzip „Evi-
zählen neben der entsprechenden personellen auch                                      dence-based Public Health“ zu befördern.

                                                                                                                                                            2
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 Ausbau des ÖGD als Baustein auf dem Weg zur Um-                   Es braucht spezifische Präventionsstrategien für
 setzung des Prinzips „Health in all Policies“: Neben              ­ lten- und Pflegeheime sowie Behinderteneinrich-
                                                                   A
 seinen hoheitlichen Funktionen berät der ÖGD politi-              tungen: Zum Schutz der hochvulnerablen Gruppen in
 sche Entscheider auch in anderen sozialstaatlichen                Pflege- und Betreuungseinrichtungen werden eigene
 Aufgaben, zum Beispiel gesundheitlicher Verbraucher-              Strategien zur Infektionsprophylaxe und zur regionalen
 schutz, subsidiäre Versorgung besonderer Zielgruppen              Vernetzung benötigt. Hier sollte geprüft werden, ob
 oder Umweltmedizin. In Anlehnung daran könnte das                 und wie zukünftig eine gebündelte, teamorientierte
„Corona-­Kabinett“ auf Bundesebene, erweitert um das               ärztliche Versorgung in Pflegeheimen durch die Schaf-
 Umwelt-, das Verkehrs- und das Landwirtschafts­                   fung geeigneter rechtlicher Rahmenbedingungen und
 ministerium, langfristig als „Gesundheitskabinett“ ver-           flankierender Vergütungsanreize ermöglicht und ge-
 stetigt werden.                                                   fördert werden kann.

                                                                   Für flankierende Maßnahmen der digitalen Vernet-
Kapitel 2 Gestufte und vernetzte                                   zung müssen die entsprechenden Voraussetzungen
ambulante Primärversorgung: nicht nur                              geschaffen werden: Videobehandlungen und die
                                                                   Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung mit
in der Corona-Krise ein Erfolgsfaktor
                                                                   Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Der Fokus auf ambulante Behandlungsstrukturen als                  (AU) sollten nicht länger als vom G-BA nur „räumlich
erste Anlaufstelle hat sich bewährt: Kliniken sind un-             begrenzt und zeitlich befristet durch gesonderten Be-
ter infektiologischen Gesichtspunkten gefährliche Orte.            schluss“ in Kraft gesetzte und für die Pandemie-­
Infizierte, die dort getestet werden, können das Perso-            Situation geschaffene Ausnahmeregelungen betrach-
nal und andere, bislang nicht-infizierte Patient:innen             tet, sondern – zumindest in geeigneten Fällen – als
anstecken, wenn das Testen nicht räumlich separiert                Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt wer-
wird. Dass die COVID-19-Versorgung überwiegend                     den. Wenn sich, in kurzfristig zu initiierenden Studien,
ambulant erfolgt ist, hat nicht nur die Krankenhäuser              ein telemedizinisches Home Monitoring als wirksam
vor Überlastung bewahrt, sondern auch einen Beitrag                und effizient erweist, sollten schnellstmöglich ent-
zur Eindämmung des Infektionsgeschehens geleistet.                 sprechende infrastrukturelle und Abrechnungsvor-
Insbesondere die Hausärzt:innen haben ihre zentrale                aussetzungen geschaffen werden.
Rolle als Primärversorger unter Beweis gestellt. Be-
sonders wichtig sind dabei eine abgestimmte Koordi-
nation und Kooperation zwischen der ambulanten pra-                Kapitel 3 Spezialisierung verbessert die
xisärztlichen und der stationären Versorgung in Kliniken           Versorgung nicht nur in der Pandemie
sowie die Vernetzung mit dem Öffentlichen Gesund-
heitsdienst.                                                       Die Pandemie bestätigt die Notwendigkeit einer Re-
                                                                   form hin zu mehr Zentralisierung, Kooperation und
Regionale Pandemiepläne müssen dringend und zu-                    Spezialisierung: Für gute Behandlungsergebnisse ist
meist grundlegend überarbeitet werden: Vorhandene                  nicht die Nähe, sondern die Ausstattung von Kranken-
Pandemiepläne haben sich (soweit vorhanden) in der                 hausstandorten ausschlaggebend. Genau wie im Ideal-
Regel als unzureichend erwiesen. Dies gilt insbesonde-             fall für die Behandlung von COVID-19-Patient:innen
re für die zuverlässige Bereitstellung von ausreichen-             nur Häuser mit hinreichend ausgestatteten Intensiv-
der und geeigneter Schutzkleidung sowie eine durch-                und Isolierstationen in Frage kommen sollten, ist auch
dachte Teststrategie mit einem Fokus auf dezentraler,              bei der Behandlung von Herzinfarkten, Schlaganfällen
ambulanter Probenentnahme.                                         oder Krebserkrankungen bislang in Deutschland eine
                                                                   mangelnde Steuerung der Patient:innenströme hin zu
                                                                   adäquaten Versorgungsniveaus zu beobachten.

                                                                                                                              3
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Entwicklung einer sektorenübergreifenden, bedarfs-,                Kapitel 4 Grundversorger haben
leistungs- und qualitätsorientierten Versorgungs-                  eine Perspektive als integrierte
strukturplanung: Eine populationsorientierte Planung
                                                                   Versorgungszentren
der Versorgungsstrukturen ist eine zentrale Voraus-
setzung für eine Strukturreform des stationären Sek-                Die Grundversorger spielen in der Versorgung von
tors, deren Notwendigkeit die Pandemie untermauert                  COVID-19-Patient:innen nur eine untergeordnete
hat. Eine leistungsorientierte Planung erlaubt eine bes-            Rolle: Für die Bewältigung der Corona-Krise werden
sere Analyse bestehender Versorgungsstrukturen und                 sie – sofern die Schwerpunkt-Krankenhäuser nicht
die Prognose zukünftiger Veränderungen, zum Beispiel                vollkommen überlastet sind – nicht für die stationäre
aufgrund einer verstärkten Ambulantisierung spezifi-                Behandlung von COVID-19-Patient:innen benötigt, da
scher Leistungsbereiche, und ermöglicht gleichzeitig                eine entsprechende qualifizierte Intensivbehandlung
die Definition von spezifischen Qualitätsvorgaben für               bzw. Beatmung bei dieser Erkrankung häufig nicht ge-
einzelne Leistungsbereiche und -gruppen. Im Ergebnis                währleistet werden kann. Allerdings können Grundver-
sollte für jede Region klar sein, welches Krankenhaus              sorger im Rahmen der ambulanten Versorgung und
welche Patient:innen wann behandeln sollte.                        Testung durchaus einen relevanten Beitrag zur Bewäl-
                                                                    tigung ­einer zweiten Welle leisten. Dies dient auch der
 Koordination, Kooperation und Konzentration als Leit-              Er­reichung des mittel- bis langfristigen Zielbilds einer
 planken für eine neue Krankenhausstruktur: Eine                   ­ambulanten ärztlichen Versorgung in integrierten Ver-
Strukturreform des stationären Sektors sollte drei                 sorgungszentren.
­wesentliche Ziele erreichen: (1) klare Zuständigkeiten
 für bestimmte Leistungsbereiche, (2) eine intensivere             Für Grundversorger gibt es gute mittel- bis langfris-
Zusammenarbeit von Krankenhäusern in regionalen
­                                                                  tige Perspektiven als integrierte Versorgungszent-
Netzwerken und (3) eine verstärkte Konzentration                   ren: Durch eine Ambulantisierung eines zunehmend
von – insbesondere (hoch)spezialisierten – Leistungen              größeren Leistungsspektrums insbesondere durch en-
an weniger Standorten, die dann das notwendige Per-                gere und ortsnahe Zusammenarbeit mit niedergelas-
sonal und die technische Infrastruktur wie auch die Er-            senen Ärzt:innen bieten sich für Grundversorger neue
 fahrung für eine qualitativ hochwertige Versorgung                Perspektiven in der regionalen Versorgung, besonders
vorhalten können.                                                  in ländlich geprägten Regionen. Sie sollten außerdem
                                                                   eine definierte Rolle im Rahmen einer lokal koordi-
Grundkonzepte müssen hinterfragt werden und die                    nierten Gesundheitsversorgung im Team mit Haus­
Versorgung muss künftig von der Bevölkerung her,                   ärzt:innen, Therapeut:innen, Rehabilitationsangebo-
nicht vom einzelnen Krankenhaus gedacht werden:                    ten, Pflegediensten und Pflegeheimen spielen. Zur
Eine Abkehr vom Status quo bedeutet auch das Hinter-               Kompetenzerweiterung sollte das Versorgungszent-
fragen gewisser Basisannahmen. So soll es nicht dar-               rum (telemedizinisch) eng vernetzt mit einem regiona-
um gehen, ungezielt viele Krankenhäuser zu schließen               len Regelversorger sein. Mithin geht der Grundversor-
oder herabzustufen, sondern darum, jede Krankheit                  ger in einem lokalen und vernetzten „integrierten
adäquat nach evidenzbasierten Leitlinien bzw. gelten-              Versorgungszentrum“ auf, das für die vielfältigen ein-
den Qualitätsstandards zu behandeln. So sollten sich               facheren medizinischen und pflegerischen Belange der
Krankenhäuser nur im Wettbewerb um Patient:innen                   Bürger:innen ein wohnortnahes Angebot macht.
befinden dürfen, die sie personell und technisch auch
adäquat versorgen können. Gesundheitsversorgung                    Ein integriertes Versorgungszentrum kann abhängig
sollte so qualitativ hochwertig und gleichzeitig so                vom regionalen Bedarf ganz unterschiedliche Leis-
wohnortnah wie möglich sein, um den Bürger:innen die               tungen anbieten: Diese reichen von der Bereitstellung
Vorteile des Prinzips „Qualität vor Nähe“ zu vermitteln.           von Anlaufstellen für die Bürger:innen in Gesundheits-

                                                                                                                              4
                          Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

fragen über das Angebot von Pflegeleistungen und                   Mittelfristig muss der Leistungsbezug der Vergütung
ambulanten Operationen bis hin zur Notfall- und der                quantitativ reduziert und stattdessen müssen für die
stationären Grundversorgung. Ein solches integriertes              regionale Versorgung nötige Vorhaltekapazitäten fi-
Versorgungszentrum leistet zur Sicherstellung der                  nanziert werden: Eine Reduzierung des starken Men-
ambulanten und stationären Basisversorgung in der                  gen- bzw. Leistungsbezugs im DRG-System kann über
Fläche einen entscheidenden Beitrag. Nötig ist dabei               eine teilweise Finanzierung von Vorhaltekosten reali-
stets eine (telemedizinisch unterstützte) Anbindung                siert werden. Die Vorhaltung könnte sich neben einzel-
an einen Regel- oder Maximalversorger im Zentrum                   nen Leistungsbereichen und Versorgungsstufen auch
einer Region.                                                      auf die Notfallversorgung, Krisenkapazitäten, Koordi-
                                                                   nationsfunktionen und eine digitale Grundausstattung
Die Vorteile integrierter Versorgungszentren lassen                erstrecken. Durch ein Absenken des Mengenanreizes,
sich nicht innerhalb der bestehenden Vergütungssys-                ohne dass dieser völlig entfällt, sinkt die Vergütungs-
teme realisieren: Der große Vorteil von integrierten               differenz zur ambulanten Leistungserbringung und es
Versorgungszentren ist die Vermeidung von teuren                   steigt der Anreiz zur Ambulantisierung. Dabei sollten
stationären Leistungen. Dieser Vorteil realisiert sich             Vorhaltebudgets stets für eine Region und nicht für ein
ökonomisch jedoch auf der Systemebene, nicht beim                  Haus definiert werden, um regionale Unwuchten etwa
einzelnen Betrieb, für den die ambulante Erbringung                bei unterschiedlicher Standortdichte zu vermeiden. Au-
von stationären Eingriffen derzeit nachteilig ist. Daher           ßerdem ist die Ableitung des Vorhaltebudgets nach
ist eine Anpassung der bestehenden Vergütungssyste-                bundesweit einheitlichen Kriterien vorzunehmen.
me erforderlich, um den positiven Systemeffekt zu-
mindest so weit an die Betriebe weiterreichen zu kön-              Die Qualität der Versorgung muss eine stärkere Be-
nen, dass sie kostendeckend arbeiten können.                       deutung für die Planung und Vergütung bekommen:
                                                                   Die Zuweisung von Vorhaltebudgets sollte nach Leis-
                                                                   tungsgruppen erfolgen, denen sämtliche medizinische
Kapitel 5 Vergütung und Finanzierung                               Leistungen auf Basis ihrer Komplexität und benötigter
sind an Versorgungsaufträge gebunden                               Expertise zugeordnet werden. Zudem werden Min-
                                                                   destanforderungen etwa an Personal, Ausstattung
Kurzfristig müssen erforderliche Reserven zielgerich-              und Behandlung für die Versorgung medizinisch ähnli-
tet finanziert werden: Hierzu ist zunächst zu definieren,          cher Leistungsgruppen definiert, anstatt lediglich für
welche und wie viele Kapazitäten (Betten bestimmter                einzelne Behandlungen Mindestmengen festzulegen.
Fachabteilungen, Beatmungsplätze, Intensivplätze,                  Die Leistungsgruppen und die benötigte Anzahl der
Personal) für Pandemie- und andere Krisenfälle bzw.                Leistungserbringer in Abhängigkeit von der Bevölke-
Situationen vorgehalten werden sollten. Wichtig dabei              rungsstruktur sind bundesweit einheitlich zu definie-
ist, dass zum Beispiel Intensivbetten zielgerichtet nur            ren. Eine Festlegung dieser bundesweiten Vorgaben
bei solchen Krankenhäusern – primär der Maximal-                   sollte auf Basis entsprechender Forschungsaufträge
und Spezialversorgung – aufgebaut werden, die in Kri-              festgelegt werden. Krankenhäuser könnten sich dann
sensituationen verstärkt Verantwortung übernehmen                  auf einzelne Leistungsgruppen bewerben und die Län-
können und dafür entsprechend qualifiziert sind. Um                der auf Basis der Qualifikation und der Versorgungs-
sicherzustellen, dass künftig Patient:innen mit entspre-           qualität entscheiden, welche Krankenhäuser die Ver-
chenden Indikationen nur in dafür vorgesehenen Kran-               sorgung der jeweiligen Leistungsgruppen übernehmen.
kenhäusern behandelt werden, könnte die Vergütung                  Um dabei die Versorgungsqualität stärker zu berück-
in anderen Häusern mit Abschlägen belegt werden.                   sichtigen, kann sich die Vergütung sowohl auf das Er-
                                                                   gebnis einzelner Behandlungen beziehen als auch
                                                                   langfristig auf das Ziel der Gesunderhaltung größerer
                                                                   Bevölkerungsgruppen.

                                                                                                                              5
                          Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Besonders im ländlichen Raum sollten sektorenüber-                 Zukünftige Personalausstattung in der Pflege mit an-
greifende Vergütungsmodelle erprobt werden: Die                    derem Qualifikationsmix planen: Zukünftige Pflege-
derzeit zum Teil große Vergütungsdifferenz zwischen                personalbemessung bzw. ihre Instrumente für das
ambulanter und stationärer Leistungserbringung führt               Krankenhaus und die Langzeitpflege müssen akademi-
dazu, dass eine mögliche und sinnvolle Ambulanti-                  sche Pflegefachpersonen im Qualifikationsmix berück-
sierung nur zögerlich realisiert wird. Vor diesem Hin-             sichtigen. Erweiterte Kompetenzen in der Pflege kom-
tergrund werden aktuell verschiedene sektoren­über­                men den Pflegebedürftigen und Patient:innen zugute
greifende Vergütungsmodelle diskutiert. Eine Option –              und verbessern die Sicherheit und die klinisch relevan-
neben anderen – sind Regionalbudgets. Sie umfassen                 ten Ergebnisse.
alle Fälle einer Region, die auf Grundlage ihrer Bevöl-
kerungs- und Morbiditätsstruktur ein Budget für die                Voraussetzungen für erweiterte Kompetenzen der
Gesundheitsversorgung der örtlichen bzw. der in ein                Pflege schaffen: International zeigen erweiterte beruf-
Versorgungsmodell eingeschriebenen Bevölkerung er-                 liche Rollen, wie etwa die Advanced Practice Nurse,
hält. Insbesondere durch die Vermeidung vermeidbarer,              wie der Fehlversorgung von Menschen mit komplexer
kostspieliger stationärer Aufnahmen und das Senken                 Multimorbidität begegnet werden kann, Versorgungs-
der Krankheitslast durch Präventionsmaßnahmen                      brüche vermieden und vermeidbare Krankenhausein-
würde die Art und Weise, wie Gesundheitsversorgung                 weisungen abgewendet werden können. Die Heilkun-
betrieben wird, völlig verändert und ganzheitlich effizi-          deübertragung auf Pflegefachpersonen erfolgte in der
enzsteigernde Innovationen gewännen stark an Be-                   Pandemie und sollte jetzt endgültig eine Option regel-
deutung.                                                           hafter erweiterter Kompetenzwahrnehmung entspre-
                                                                   chend ausgebildeter Pflegefachpersonen werden. Ein
                                                                   einheitliches Heilberufegesetz kann die Grundlage für
Kapitel 6 Pflegefachpersonen können                                die unterschiedlich zugeteilten Aufgaben und Tätig-
mehr, als das System ihnen zutraut                                 keitsbereiche der Pflege schaffen. Hierin könnte auch
                                                                   eine eigenständige Leistungserbringung mit geregelter
Settings der Langzeitpflege in der Pandemie stärken:               Vergütung festgeschrieben sowie die Kooperation zwi-
Soziale Teilhabe und Lebensqualität sind auch unter                schen den Pflegefachpersonen und anderen Gesund-
pandemischen Bedingungen konkurrenzlose Ziele der                  heitsberufen (auch haftungsrechtlich) geregelt werden.
Langzeitpflege, die mit dem Infektionsschutz in Ein-
klang gebracht werden müssen. Benötigt werden intel-
ligente Pandemiepläne, die die psychosozialen Bedürf-              Kapitel 7 Digitalisierung des Gesund-
nisse, Teilhabe und Lebensqualität der Menschen mit                heitswesens als Schlüssel zur Über­
Langzeitpflegebedarf respektieren. Für die praktische
                                                                   windung der Corona-Krise
Situation der Langzeitpflegesettings bleibt, eine um-
fassende, über Regionen und Landesgrenzen hinaus                   Die durch die Corona-Krise angestoßene Intensivie-
geltende Strategie zu entwickeln, die auch Kriseninter-            rung der Digitalisierung muss verstetigt werden: Digi-
ventionsteams und pflegerische Notfalldienste inklu-               tale Anwendungen wie das DIVI-Intensivregister oder
diert sowie MDK und Heimaufsicht fest einbindet. Eine              DEMIS und SORMAS für den ÖGD zeigen, dass die Co-
klinisch-epidemiologische Datenbasis durch systema-                rona-Krise neuen Schwung in den zuvor schleppend
tisches Testen, systematische Dokumentation, Aufbau                verlaufenden Digitalisierungsprozess des deutschen
eines Registers und Beforschung von Versorgungsmo-                 Gesundheitswesens gebracht hat. Die jetzt angesto-
dellen sowie die Einrichtung einer Task-Force für das              ßenen bzw. zum Teil schon vollzogenen Entwicklungen
koordinierte Handeln im Umgang mit dem Setting Pfle-               sollten fortgesetzt bzw. intensiviert werden, da sie er-
geheim ist zu fordern.                                             kennbar dazu beitragen, dass die SARS-CoV-2-Pande-

                                                                                                                              6
                          Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

mie besser beurteilt und bewältigt werden kann. So                 Eine umfassende elektronische Patientenakte muss
wurden durch die neu geschaffene oder erheblich ver-               schnellstmöglich verfügbar sein: Eine sektorenüber-
besserte Transparenz über die Auslastung bestehen-                 greifend interoperable ePA hat das Potenzial, die
der Intensivkapazitäten bzw. über das bundesweite                  ­ usammenarbeit der Versorger maßgeblich zu verbes-
                                                                   Z
Infektionsgeschehen wesentlich bessere Vorausset-
­                                                                  sern. Unter Pandemiebedingungen könnte eine Identi-
zungen für eine Feinsteuerung der gesundheitlichen                 fikation und Information von Menschen mit erhöhtem
Versorgung geschaffen.                                             Risiko für schwere Verläufe wesentlich zielgenauer und
                                                                   schneller erfolgen. Die jetzt erst mühsam und neu auf-
Zur Verfügung stehende Informationen sollten auch                  gebaute Möglichkeit, Behandlungsdaten von COVID-
innerhalb eines europäischen Datenraums auch                       19-Patient:innen zusammenzuführen und zu analy­
grenzüberschreitend genutzt werden: Das erfolgrei-                 sieren, könnte bei Vorliegen digitaler Informationen
che Beispiel des DIVI-Intensivregisters zeigt, dass eine           wesentlich schneller, zuverlässiger und umfänglicher
gegenseitige Hilfestellung bei überlasteten Intensiv-              erfolgen.
stationen künftig bundeslandübergreifend und auch
innereuropäisch sehr viel früher und zielgenauer mög-              Einsatz und Wirkung der Corona-App neu justieren:
lich wäre. Hiermit würden wesentlich bessere Voraus-               Die konkrete Relevanz der Corona-Warn-App und ihr
setzungen für eine Feinsteuerung der gesundheitlichen              tatsächlicher Nutzen für die wichtige Arbeit der Ge-
Versorgung geschaffen und unterschiedliche Kollateral-             sundheitsämter bzw. zur Unterbrechung von Infekti-
schäden bevölkerungsweiter Maßnahmen wie nicht                     onsketten sollten, soweit möglich, auch im Vergleich zu
oder zu spät behandelte Erkrankungen minimiert.                    langjährigen Erfahrungen insbesondere in Asien, kri-
                                                                   tisch überprüft werden. Nach ergebnisoffener Abwä-
Die Verknüpfung von Datenbanken mit zusätzlichen                   gung muss dabei ggf. auch das Verhältnis von Daten-
digitalen Werkzeugen erlaubt eine nachhaltige Ver-                 schutz und Pandemie- bzw. Gesundheitsschutz neu
besserung der Versorgung: So könnte ein evidenzba-                 justiert werden.
siertes und triagierendes Ersteinschätzungssystem,
wie es zum Beispiel bereits bundesweit von den                     Daten helfen heilen: Falsch verstandener Datenschutz
116117-Leitstellen genutzt wird, in Kombination mit                darf kein Tatenschutz sein und keine Menschenleben
webbasierten Echtzeitsystemen, mit denen die Ver-                  kosten. Die Chancen, die die Nutzung digitaler Gesund-
fügbarkeit ambulanter und stationärer Kapazitäten ab-              heitsdaten für den Schutz von Leben und Gesundheit
gebildet werden kann, erstmals eine sektorenübergrei-              der Menschen eröffnet, überwiegen bei weitem die Ri-
fend koordinierte Notfallversorgung aus einem Guss                 siken. Es wäre fahrlässig und ethisch bedenklich, diese
ermöglichen. Da auf diese Weise Patient:innen in die               Chancen nicht zu nutzen. Verantwortlich Daten zu tei-
jeweils am besten geeignete Versorgungseinrichtung                 len heißt – durch gezieltere Forschung und optimal
gesteuert werden könnten, würde durch geeignete di-                vernetzte Gesundheitsversorgung – besser heilen zu
gitale Werkzeuge auch ein wesentlicher Beitrag zur                 können.
Verbesserung der Versorgungsqualität geleistet.

                                                                                                                              7
                          Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Kapitel 1                                                          Mit der Zunahme der Aufgaben zur Eindämmung der
                                                                   Pandemie, zu deren Bewältigung auch Personal aus an-
Öffentlicher Gesundheitsdienst
                                                                   deren Bereichen der öffentlichen Verwaltungen heran-
und Teststrategien                                                 gezogen wurde, konnten viele der regulären Aufgaben
                                                                   des ÖGD, wie Schuleingangsuntersuchungen, Aufklä-
                                                                   rung, Begutachtungen etc. nicht mehr bzw. kaum noch
Die Pandemie macht die Vernach­                                    durchgeführt werden, was vermutlich langfristig nega-
lässigung des Öffentlichen Gesund­                                 tive Auswirkungen auf Prävention, Gesundheitsschutz
                                                                   und öffentliche Gesundheitsfürsorge haben wird.
heitsdienstes (ÖGD) offensichtlich
Bereits vor der Corona-Pandemie wurde in Deutsch-                  Generell ist anzumerken, dass es neben dem Infekti-
land über die Rolle, Stärken und Schwächen sowie Po-               onsrisiko durch COVID-19-Erkrankte und der Krank-
tenziale des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD)                heitslast durch den neuartigen Erreger SARS-CoV-2
diskutiert (GMK, 2016). Eine wichtige strukturelle Her-            eine Vielzahl von Gesundheitsrisiken und chronischen
ausforderung für den ÖGD ist seine geringe Attraktivi-             Krankheiten und auch Infektionskrankheiten gibt, die
tät für Ärzt:innen und Medizinstudierende. Die Gründe              ebenfalls nicht zu vernachlässigende Risiken für die
dafür sind vielfältig. Insbesondere der im Vergleich zu            Gesundheit wie auch eine höhere Krankheitslast in der
Ärzt:innen im stationären und ambulanten Bereich                   Bevölkerung insgesamt darstellen. Anzumerken ist
um rund 1.000 bis 1.500 Euro geringere monatliche                  hier, dass in Deutschland täglich rechnerisch rund
Durchschnittsverdienst für ausgebildete oder ange-                 340 Menschen aufgrund von ischämischen Herzkrank-
hende Mediziner:innen führt zu einer verminderten At-              heiten sterben (2018), an SARS-CoV-2 sind auf dem
traktivität des ÖGD (BÄK, 2020). Auch ist das Thema                bisherigen Höhepunkt der ersten Pandemie-Welle ins-
Public Health bisher kaum in den Curricula des Medi-               gesamt 315 Personen mit oder an COVID-19 gestor-
zinstudiums sowie in anderen gesundheits- und sozi-                ben (16.04.2020).
alwissenschaftlichen Studiengängen zu finden. So
konnten bereits vor der Pandemie etliche Stellen in den
Gesundheitsämtern nicht bzw. nicht adäquat besetzt                 Infektionsgeschehen messen, nach­
werden.                                                            verfolgen und verstehen: Wie wirkt sich
                                                                   die Entwicklung passender Strategien
Schnell wurde im Lauf der COVID-19-Pandemie offen-
sichtlich, dass dem ÖGD bzw. seinen Institutionen auf              (Falldefinition, Testen) auf die Fall­
Kommunal-, Landes- und Bundesebene eine zentrale                   entwicklung aus?
Funktion in der Bewältigung der Pandemie zukommt.
Vor allem durch Maßnahmen des Gesundheitsschut-                    Eine Voraussetzung für die Bewältigung bzw. Eindäm-
zes, wie Hygiene, Infektionsschutz sowie des Aus-                  mung der COVID-19-Pandemie besteht darin, ein ge-
bruchs- und Krisenmanagements, aber auch durch                     naues Bild des Infektionsgeschehens durch Testungen
­ eratung und Information trägt er dazu bei, das Infek-
B                                                                  zu erlangen. Die örtlichen Gesundheitsämter und das
tionsgeschehen zu messen, nachzuverfolgen und zu                   Robert Koch-Institut (RKI) spielen dabei eine zentrale
begrenzen. Im Detail sind vor allem die hoheitlichen               Rolle – Letzteres, indem es unter anderem die Infekti-
Aufgaben der Anordnung von Quarantänemaßnahmen,                    onszahlen aller Gesundheitsämter erfasst, veröffent-
aber auch die Kontaktverfolgung, die Kontrolle der Hy-             licht, analysiert und kommuniziert.
gienebestimmungen und die Durchführung von Tests
zentrale Elemente der Bewältigungsstrategie. Kurz-                 Eine breite Teststrategie wurde in Deutschland und
fristig könnte hier über die Schaffung von Registern für           den meisten anderen europäischen Ländern zu Beginn
Freiwillige nachgedacht werden, die ggf. auch flexibel             der Pandemie als wichtigstes Instrument zur Eindäm-
eingesetzt werden könnten.                                         mung des Infektionsgeschehens gesehen und reali-

                                                                                                                              8
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    siert. Abhängig von Kapazitäten und Ressourcen wur-                                                 unter anderem da das Virus in verschiedenen Ausma-
    den in den europäischen Ländern unterschiedliche                                                    ßen bereits früh und unerkannt vorhanden war und die
    Zielgruppen in unterschiedlichen Settings getestet.                                                 Länder damit zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit
    Auch die Versorgung von Verdachtsfällen hat insbe-                                                  Eindämmungsstrategien und Tests reagieren konnten.
    sondere in den ersten Wochen stark variiert. Dies hatte                                             In Deutschland, Spanien, Frankreich und der Schweiz
    auch Auswirkungen auf Fallzahlentwicklungen, die                                                    stiegen die Zahlen nachgewiesener Infektionen im
    Zahl von stationär zu behandelnden COVID-19-Pati-                                                   März (ab KW 10/11) rapide an, jedoch war der Höhe-
    ent:innen und damit letztendlich auch auf die damit in                                              punkt (definiert als maximaler täglicher Anstieg der
    Verbindung stehenden Todesfälle. Bis jetzt ist jedoch                                               Fallzahlen) der ersten Welle schon Ende März erreicht.
    nicht klar, wie stark die Auswirkungen der unterschied-                                             In Schweden, wo es bekanntlich weniger Beschränkun-
    lichen Versorgungspfade wirklich sind und welche Test-                                              gen gab, war dagegen der Höhepunkt erst Ende Juni er-
    und Eindämmungsstrategien am besten geeignet sind:                                                  reicht (s. Tabelle 1.1 und Abbildung 1.1).
    Bis heute werden weiterhin verschiedene Strategien
    abhängig vom Infektionsgeschehen und von den zur                                                    Insgesamt waren die Infektionsraten (je Einwohner) in
    Verfügung stehenden Kapazitäten angewandt. In den                                                   Ländern wie Spanien, Belgien, Irland und Italien be-
    meisten Ländern wird versucht, ein Gleichgewicht zwi-                                               sonders hoch. In Deutschland, Dänemark, Österreich
    schen breitem und gezieltem Testen zu finden.                                                       und Norwegen fiel das Infektionsgeschehen dagegen
                                                                                                        geringer aus (s. Abbildung 1.1). Aufgrund der multiplen
                                                                                                        Zusammenhänge lassen sich die Auswirkungen ein-
      Erfahrungen aus der Corona-Pandemie                                                               zelner Eindämmungsmaßnahmen auf die Entwicklung
                                                                                                        der Fallzahlen nur schwer einschätzen. Jedoch hat
      Die Fallzahlen entwickelten sich in europäischen                                                  der Rückgang der Fallzahlen nach der Einführung von
      Ländern sehr unterschiedlich. Zusammenhänge                                                       Eindämmungsmaßnahmen (v. a. der Kontaktbeschrän­
      sind (noch) nicht ganz nachvollziehbar                                                            kungen) in den meisten Ländern gezeigt, dass sich das
      Die Verbreitung des Coronavirus in der ersten Welle                                               Infektionsgeschehen zu einem bestimmen Grad kont-
      verlief in europäischen Ländern sehr unterschiedlich,                                             rollieren bzw. reduzieren lässt.

     Abbildung 1.1: Kumulative COVID-19-Inzidenz in ausgewählten europäischen Ländern im Zeitverlauf
     der ersten Pandemie-Welle
                                            900
                                                                                                                                                Österreich
                                                                                                                                                Belgien
                                            800
                                                                                                                                                Dänemark
                                                                                                                                                Deutschland
Kumulative Inzidenz pro 100.000 Einwohner

                                            700                                                                                                 Irland
                                                                                                                                                Italien
      (gleitender 7-Tage-Mittelwert)

                                            600                                                                                                 Niederlande
                                                                                                                                                Norwegen
                                            500                                                                                                 Spanien
                                                                                                                                                Schweden
                                            400                                                                                                 Schweiz
                                                                                                                                                Vereinigtes Königreich
                                                                                                                                                Höhepunkt
                                            300

                                            200

                                            100

                                              0
                                              5. Mär   4. Apr               4. Mai           3. Jun            3. Jul           2. Aug

     Quelle: eigene Darstellung auf Basis von MiG 2020

                                                                                                                                                                         9
                               Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Tabelle 1.1: Fallgeschehen und Testzahlen in ausgewählten europäischen Ländern an länderspezifischen
Höhepunkten der ersten Pandemie-Welle

    Land               Erster   Höhe-       Fälle (kumula-       Neuinfektionen            Durchgeführte                Verhältnis durchge-
                        Fall*   punkt1,*   tiv) je 100.000          je 100.000            Tests je 100.000             führter Tests zu posi-
                                           Einwohner am          Einwohner am              Einwohner am               tiven COVID-19-Fällen
                                             Höhepunkt     2
                                                                  Höhepunkt **  2,
                                                                                            Höhepunkt **    2,
                                                                                                                          am Höhepunkt2,**
    Belgien            05.02.   11.04.           255                   12,7                       902                           4:1
    Dänemark           27.02.   05.04.                99                 5,6                      943                          12 : 1
    Deutschland        28.01.   31.03.                91                 6,4                     1.159                         12 : 1
    Frankreich         25.01.   31.03.                76                 6,7                      335                           4:1
    Irland             01.03.   15.04.           252                   21,8                      1.708                          7:1
    Italien            31.01.   23.03.           106                     9,4                      463                           4:1
    Niederlande        28.02.   16.04.           170                     7,8                      892                           6:1
    Norwegen           27.02.   23.03.                61                 4,7                     1.235                         19 : 1
    Österreich         26.02.   24.03.                59               21,2                       n. v.                         n. v.
    Spanien            01.02.   27.03.           152                   16,7                       n. v.                         n. v.
    Schweiz3           26.02.   25.03.            151                  12,5                      1.217                           8:1
    Schweden           01.02.   26.06.           632                   11,7                      4.558                          7:1
    Vereinigtes        01.02.   18.04.           164                     7,2                      688                           4:1
    Königreich
Anmerkung: 1 Höhepunkt definiert als maximaler täglicher Anstieg der Fallzahlen, 2 Gleitender 7-Tage-Mittelwert,
3
  inkl. Liechtenstein
Quelle: * WHO Situationsberichte, ** MiG 2020

Abbildung 1.2: SARS-CoV-2-PCR Testungen, Testkapazitäten und positive Tests in Deutschland im Zeitverlauf
1.600.000

1.400.000

1.200.000

1.000.000

    800.000

    600.000

    400.000

    200.000

           0
               11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
                                                                     Kalenderwoche
                                  PCR-Testkapazität            Anzahl durchgeführter PCR-Tests            Positive PCR-Tests

Quelle: ALM e. V. 2020

                                                                                                                                         10
                                                                      Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Auch die Anteile der positiv getesteten Personen an                                                                Ausbau der Testkapazitäten und angepasste Test-
allen durchgeführten Tests variieren erheblich zwi-
­                                                                                                                  strategien ermöglichen, das Infektionsgeschehen
schen europäischen Ländern und zeigen ein sehr un-                                                                 zu messen und zu kontrollieren
terschiedliches Infektionsgeschehen. In Norwegen bei-                                                              In Deutschland wurde rasch mit dem Ausbau der Test-
spielsweise war 1 von 20 durchgeführten Tests positiv                                                              kapazitäten zum PCR-Nachweis auf COVID-19 reagiert
(und 19 waren negativ), in Deutschland 1 von 13 (und                                                               (s. Abbildung 1.2). Die Testkapazitäten haben sich in-
12 waren negativ) und in den Niederlanden war 1 von 7                                                              nerhalb von fünf Wochen von Anfang März bis Mitte
Tests positiv und wurde als COVID-19-Fall gezählt                                                                  April (KW 11 zu KW 16) fast versechsfacht. Das hat
(während 6 negativ waren) (s. Tabelle 1.1 und Abbil-                                                               dazu beigetragen, dass die Testdichte in Deutschland,
dung 1.3). Trotz der allgemeinen Heterogenität lassen                                                              auch im europäischen Vergleich, relativ hoch ist. Nor-
sich zwei Ländergruppen ausmachen: Länder mit ei-                                                                  wegen und Dänemark haben mehr SARS-CoV-2-Tests
nem Verhältnis von Tests zu Fällen über 10 (u. a. Däne-                                                            pro Einwohner als Deutschland durchgeführt (s. Tabel-
mark, Deutschland, Norwegen) und solche mit einem                                                                  le 1.1). In allen drei Ländern ist das Verhältnis der An-
Verhältnis unter 10 (u. a. Irland, Niederlande). Aller                                                             zahl der insgesamt durchgeführten Tests zu den positiv
Wahrscheinlichkeit nach spiegeln diese Unterschiede                                                                getesteten Personen daher relativ hoch.
variierende Teststrategien wider, wobei sich die zweite
Ländergruppe auf symptomatische Patient:innen und                                                                  Die Testkriterien wurden während der ersten Welle in
insbesondere auf solche mit Symp­tomen konzentriert,                                                               Deutschland sowie in den meisten europäischen Län-
die auf die Notwendigkeit einer s­ tationären Behand-                                                              dern an das Infektionsgeschehen, aber insbesondere
lung hinweisen (s. Tabelle 1.2). Die Raten der positiv                                                             an die vorhandenen Testkapazitäten angepasst, was
Getesteten geben natürlich auch Aufschluss über die                                                                sich an dem Verhältnis von durchgeführten Tests auf
unterschiedlichen Testkapazitäten und Teststrategien                                                               SARS-CoV-2 zu positiv bestätigten COVID-19-Fällen,
in den Ländern (s. nächste These).                                                                                 das in fast allen europäischen Ländern im Zeitverlauf
                                                                                                                   steigt, widerspiegelt (s. Abbildung 1.3).

    Abbildung 1.3: Verhältnis der durchgeführten Tests auf SARS-CoV-2 zu positiv bestätigten COVID-19-Fällen
    in ausgewählten europäischen Ländern im Zeitverlauf der ersten Pandemie-Welle

                                                        100
                                                                                                                                                            Österreich
                                                        90                                                                                                  Belgien
Verhältnis durchgeführter SARS-CoV-2-Tests zu positiv

                                                                                                                                                            Dänemark
                                                                                                                                                            Deutschland
     bestätigten COVID-19-Fällen (Verhältnis : 1)*

                                                        80
                                                                                                                                                            Irland
                                                        70                                                                                                  Italien
                                                                                                                                                            Niederlande
                                                        60                                                                                                  Norwegen
                                                                                                                                                            Spanien
                                                        50                                                                                                  Schweden
                                                                                                                                                            Vereinigtes Königreich
                                                        40                                                                                                  Höhepunkt

                                                        30

                                                        20

                                                        10

                                                         0
                                                         5. Mär   4. Apr              4. Mai            3. Jun            3. Jul           2. Aug

    Anmerkung: * gleitender 7-Tage-Mittelwert
    Quelle: eigene Darstellung auf Basis von MiG 2020

                                                                                                                                                                                11
                          Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Zu Beginn der Pandemie, als noch wenig importierte                 tischen Bewohner:innen, andere wie z. B. Frankreich,
Fälle entdeckt wurden, konzentrierten sich in den be-              die Niederlande und das Vereinigte Königreich testeten
troffenen europäischen Ländern die Testungen in erster             nur wenige oder ausgewählte Fälle, um festzustellen,
Linie auf symptomatische Reisende, die aus Hochrisi-               ob es in einer Einrichtung einen Ausbruch gibt.
kogebieten kamen, sowie auf deren Kontaktpersonen
mit Symptomen, da Testkapazitäten zumeist noch be-                 Auch das Test-Setting und die Erstanlaufstellen
schränkt waren. Dieser Schwerpunkt hat sich in den                  haben einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen
meisten Ländern im März auf hospitalisierte Pati-                  In vielen deutschen Landkreisen wurden innerhalb kür-
ent:innen oder solche mit COVID-19-Symptomen, die                  zester Zeit Teststationen (Drive-ins, temporäre Test-
eine Krankenhauseinweisung benötigen (z. B. Nieder-                zentren, Corona-Sprechstunden) teils durch die Kas-
lande, Norwegen, Spanien, Schweden, Schweiz, Verei-                senärztlichen Vereinigungen, Kreisverwaltungen (ÖGD)
nigtes Königreich), verlagert (European Observatory on              oder Krankenhäuser errichtet. Auch gab es an vielen
Health Systems and Policies, 2020) (s. Tabelle 1.2). In            Orten mobile Teams, die Tests zu Hause durchführten
Deutschland wurden seit dem 24. März Personen ge-                   oder auch die Überwachung und Behandlung von
testet, die Symptome einer akuten Atemwegserkran-                  ­COVID-19-Patient:innen übernahmen. Allgemein wur-
kung und Kontakt mit einem bestätigten Fall in den                  de die Bevölkerung angehalten, im Verdachtsfall den
letzten 14 Tagen hatten, Personen mit Anzeichen einer               Hausarzt bzw. die Hausärztin, den ärztlichen Bereit-
viralen Lungenentzündung sowie Beschäftigte in Ge-                 schaftsdienst oder das lokale Gesundheitsamt telefo-
sundheitseinrichtungen und Risikopatient:innen mit                  nisch zu kontaktieren, um die Notwendigkeit eines
Symptomen einer akuten Atemwegserkrankung. Per-                    Tests zu eruieren.
sonen mit milden Symptomen einer Atemwegserkran-
kung wurden nur bei vorhandenen Kapazitäten getes-                 Die Test-Settings und Versorgungsprozesse für COVID-­
tet. Am 22. April änderte das Robert Koch-Institut die             19-Verdachtsfälle haben sich in europäischen Ländern
Falldefinition und die Tests wurden auch auf Personen              insbesondere zu Beginn der Pandemie stark unter-
mit leichten Symptomen ausgeweitet (RKI, 2020b).                   schieden. Beispielweise wurden in Frankreich, der
                                                                   Schweiz und Spanien COVID-19-Verdachtsfälle u. a.
Im April testeten die meisten europäischen Länder                  auch in Krankenhausnotfallambulanzen getestet und
Menschen mit schweren Symptomen (hauptsächlich                     versorgt bzw. wurden dorthin überwiesen. Diese Stra-
solche, die einen Krankenhausaufenthalt benötigen)                 tegie wurde dann relativ zügig angepasst und Empfeh-
sowie symptomatische Fälle in Gruppen mit hohem Ri-                lungen wurden ausgesprochen, Patient:innen mit Ver-
siko und in der Gesundheits- und Sozialfürsorge (s. Ta-            dacht auf eine COVID-19-Infektion von Hausärzt:innen
belle 1.2). Jedoch variieren die Teststrategien zwischen           bzw. durch Hotlines zu betreuen (s. Tabelle 1.2). Insge-
den Ländern: In den Niederlanden beispielsweise wurde              samt zeigen die Erfahrungen in der ersten Pandemie-
das Gesundheitspersonal mit COVID-19-Symptomen                     Welle, dass Hausärzt:innen eine wichtige Rolle in der
aufgefordert sich zu isolieren, aber nicht routinemäßig            ambulanten Primärversorgung von COVID-19-Pati-
getestet. Auch beim Testen von Bewohner:innen von                  ent:innen zugekommen ist (s. Kapitel 2: Gestufte und
Langzeitpflegeeinrichtungen gab es sehr unterschiedli-             vernetzte ambulante Primärversorgung: nicht nur in
che Strategien: Einige Länder testeten alle symptoma-              der Corona-Krise ein Erfolgsfaktor).

                                                                                                                             12
                                  Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

Tabelle 1.2: Veränderungen der Testkriterien, Testsettings und Versorgungspfade im Ländervergleich

      Länder      Teststrategie                                                    Erstkontakt für Verdachtsfälle
                                                                                   und Versorgungspfad
                  Teststrategie wurde Anfang Mai auf jeden „möglichen“             Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin
                  Fall (= Person mit neuen oder sich verschlimmernden              Versorgungspfad: Patient:innen sollten nicht
                  Symptomen einer Atemwegsinfektion) ausgeweitet, mit              direkt ins KH gehen. Bei COVID-19-Verdacht
    Belgien

                  Priorität für Pfleger:innen, Fallkontakte und, wenn die          sind Hausärzt:innen telefonisch zu kontaktieren.
                  Testkapazität ausreicht, für jede Person, die einen Kran-        Diese können Kontrolle zu Hause durchführen
                  kenhausaufenthalt benötigt oder zum ersten Mal eine              oder den Patient:innen an Triage-Stelle oder KH
                  stationäre Einrichtung betritt.                                  überweisen.
                  Tests wurden im April auf Patient:innen und Angehörige           Erstkontakt: Telefonischer Notfalldienst oder
                  der Gesundheitsberufe mit Atemwegssymptomen aus-                 Hausarzt bzw. Hausärztin. Patient:innen ist es
                  geweitet. Danach wurden u. a. auch asymptomatische               nicht gestattet, Primärversorger oder KH direkt
    Dänemark

                  Bewohner:innen von Pflegeheimen, Pflegepersonal im               zu besuchen.
                  Fall einer Infektion unter Bewohner:innen oder Kolleg:in-        Versorgungspfad: Nationale Richtlinien für Tria-
                  nen, Patient:innen, die voraussichtlich 24 Stunden oder          ge wurden in telefonischen Notfall- und Primär-
                  länger im Krankenhaus bleiben, getestet. Ab Mai konnten          versorgungsberatungen umgesetzt. Bei leichten
                  sich alle Bürger:innen ohne Überweisung testen lassen.           Fällen wird empfohlen, zu Hause zu bleiben.
                  Seit dem 24. März werden Personen getestet, die Symp­            Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin, ärzt-
                  tome einer akuten Atemwegserkrankung und Kontakt                 licher Bereitschaftsdienst (116117), Gesund-
                  mit einem bestätigten Fall in den letzten 14 Tagen hatten,       heitsamt
                  sowie Personen mit Anzeichen einer viralen Lungenent-            Versorgungspfad: Ambulantes Management
    Deutschland

                  zündung und Beschäftigte in Gesundheitseinrichtungen             (durch niedergelassene Ärzt:in oder zu Hause)
                  und Risikopatient:innen mit Symptomen einer akuten               von COVID-19-Patient:innen, sofern möglich.
                  Atemwegserkrankung. Personen mit milden Symptomen                Stationäre Behandlung in Abhängigkeit von
                  einer Atemwegserkrankung wurden nur bei vorhandenen              Schweregrad des Verlaufs, Risikofaktoren und
                  Kapazitäten getestet. Ab 22. April wurden Tests auch auf         Umfeld.
                  Personen mit leichten Symptomen ausgeweitet.
                  Systematisches Testen beschränkte sich zu Beginn auf             Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin oder
                  Personen mit schweren Symptomen, symptomatisches                 ­COVID-19-Hotline. Patient:innen wurden ge­
                  medizinisches Fachpersonal oder Risikogruppen. Ab                beten, nicht direkt in die Notaufnahme zu gehen.
                  11. Mai konzentrierten sich die systematischen Tests auf         Versorgungspfad: Zunächst wurden alle ver-
                  Angehörige der Gesundheitsberufe, ältere Menschen und            dächtigen Personen an KH überwiesen, danach
    Frankreich

                  gefährdete Personen und nach und nach auf alle Perso-            wurden nationale Empfehlungen entwickelt:
                  nen, die Symptome aufwiesen oder mit einem infizierten           Patient:innen mit leichten Symptomen sollten
                  Fall in Kontakt gekommen sind.                                   sich an Hausarzt bzw. Hausärztin oder Hotline
                                                                                   wenden. Sofern die Symptome nicht schwer-
                                                                                   wiegend sind, bleiben die Patient:innen zu Hause
                                                                                   und werden vom Pflegepersonal verstärkt über-
                                                                                   wacht.

                                                                                                                                     13
                                  Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

      Länder      Teststrategie                                                    Erstkontakt für Verdachtsfälle
                                                                                   und Versorgungspfad
                  Vorrangig wurden symptomatische Personen, die Kon-               Erstkontakt: Hausärzt:innen und HSE Helpline
                  takt zu einem bestätigten Fall hatten, Mitarbeiter:innen          Versorgungspfad: Hausärzt:innen und Am-
                  an vorderster Front des Gesundheitswesens, Risiko-               bulanzdienste führen Triage telefonisch durch
                  gruppen und deren Haushaltskontakte und Menschen in              und verweisen bei Bedarf an KH. Das Health
    Irland

                  Gemeinschaftsunterkünften getestet. Zunächst fanden              Protection Surveillance Center hat eine Rei-
                  die Tests in Krankenhäusern statt, wobei die ambulan-            he von Triage- und Behandlungspfaden für
                  ten Kapazitäten ab März schrittweise erweitert wurden.           COVID-­19-Patient:innen herausgegeben (für KH,
                  Haus- und Fachärzt:innen sowie KH-Ärzt:innen können              Hausärzt:innen, Wohneinrichtungen, Rettungs-
                  zu Tests überweisen.                                             dienste).
                  Getestet wurden zunächst nur Patient:innen, die mit              Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin
                  (schweren) Atemwegsinfektionen in KH eingeliefert                Versorgungspfad: Der Hausarzt bzw. die Haus-
                  wurden. Im ambulanten Bereich wurden Patient:innen               ärztin entscheidet, ob Patient:innen im Kranken-
                  in Sentinel-Praxen getestet. Nicht getestet wurden:              haus behandelt werden sollen, wo weitere Triage
    Niederlande

                  ambulante Patient:innen, Gesundheitspersonal und Pfle-           durchgeführt wird. Einige Krankenhäuser und
                  geheimbewohner:innen (mit Ausnahme von wenigen Pa-               Hausarztpraxen haben Zelte für eine schnelle
                  tient:innen pro Einrichtung bei Symptomen). Testkriterien        Triage aufgestellt. Leichtere Fälle werden zu
                  wurden im Mai um Personen, die mit Kindern arbeiten,             Hause behandelt, mittelschwere Fälle in norma-
                  sowie informelle Betreuer:innen von Patient:innen, die zu        le (Isolier-)Abteilung und schwere Fälle auf die
                  Hause leben, erweitert. Seit Juni können alle symptoma-          Intensivstation eingewiesen.
                  tischen Patient:innen getestet werden.
                  Zu Beginn waren Tests nur für symptomatische KH-Pa-              Erstkontakt: Zunächst Primärversorgungszen-
                  tient:innen und symptomatisches Gesundheitspersonal              tren und Krankenhausnotaufnahmen; danach
                  verpflichtend. Für symptomatische Risikopatient:innen            24/7-Notruf-Nummer und Online-Fragebogen
    Spanien

                  waren ebenfalls Tests möglich. Patient:innen mit leichten        zur Risikoeinschätzung
                  Atemwegsinfektionen wurden nicht getestet. Ab Mai                Versorgungspfad: Fälle mit milden Symptomen
                  müssen alle Verdachtsfälle innerhalb von 24 Stunden              wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben und
                  nach Kontaktaufnahme mit dem Gesundheitssystem                   die 24/7-Notrufzentralen anzurufen.
                  einem Test unterzogen werden.
                  Bis Mitte April wurden Patient:innen mit leichten Krank-         Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin, Hotline
                  heitssymptomen und Kontakten zu bestätigten Fällen               mit nicht-medizinischer Beratung zum Umgang
                  nicht getestet. Danach wurden PCR-Tests für alle Per-            mit Symptomen
                  sonen mit akuten respiratorischen Symptomen und/                 Versorgungspfad: Zunächst wurden Verdachts-
                  oder plötzlich einsetzender Anosmie/Ageusie empfohlen.           fälle an KH überwiesen. Danach wurden Perso-
                  Während die Testkapazitäten noch ausgeweitet wurden,             nen mit leichten Symptomen angewiesen, sich
    Schweiz

                  wurde KH-Patient:innen, Risikogruppen und Gesund-                zu Hause zu isolieren und bei Bedarf einen Arzt
                  heitspersonal Priorität eingeräumt.                              bzw. eine Ärztin zu kontaktieren. Die Kantone
                                                                                   legen die Vorgehensweise der diagnostischen
                                                                                   Untersuchung von Verdachtsfällen fest und be-
                                                                                   stimmen, welches KH bzw. welche Ärzt:innen
                                                                                   Verdachtsfälle behandeln und PCR-Tests durch-
                                                                                   führen.

                                                                                                                                     14
                                            Richtungspapier zur Corona-Krise 2020 | Boris Augurzky, Reinhard Busse, Ferdinand Gerlach, Gabriele Meyer

         Länder              Teststrategie                                                   Erstkontakt für Verdachtsfälle
                                                                                             und Versorgungspfad
                             Tests waren anfänglich symptomatischen KH-Patient:in-           Erstkontakt: Hausarzt bzw. Hausärztin,
                             nen, Heimbewohner:innen, Gesundheitspersonal, Inten-            nationale Helpline für Tests
                             sivpflegeeinweisungen, auf Grippe getestete Personen            Versorgungspfad: Primärversorger sollen Ver-
    Vereinigtes Königreich

                             sowie Gefangenen bei lokalen Ausbrüchen vorbehalten.            dachtsfälle zur Testung an die nationale Helpline
                             Ab Mai wurden Tests auf asymptomatische Gesund-                 weiterleiten, um andernfalls Patient:innen so
                             heits- und Sozialarbeiter:innen, Heimbewohner:innen             weit wie möglich virtuell zu triagieren. Pa-
                             und Personen über 65 Jahren oder Personen, die zur              tient:innen sollten sich zu Hause isolieren und
                             Arbeit gehen müssen, und ab Juni auf alle Personen mit          nur bei Bedarf ins KH eingewiesen werden.
                             Symptomen sowie Schüler:innen, Lehrer:innen und ihre
                             Familien ausgeweitet.
Quelle: European Observatory on Health Systems and Policies 2020

 Das Contact Tracing durch den ÖGD war                                               lisierungsdaten zur Identifizierung (und Quarantäne)
 entscheidend und hat prinzipiell gut funktioniert                                   von Personen, die mit COVID-­19-Patient:innen in Kon-
Contact Tracing, also das Ermitteln von Kontaktper­                                  takt waren, umgesetzt, jedoch nur vorübergehend bis
sonen von positiv getesteten Personen, das als ent-                                  zum 26. Mai (European Observatory on Health Sys-
scheidend für die Unterbrechung von Infektionsketten                                 tems and Policies, 2020).
angesehen wird (RKI, 2020a), ist in Deutschland, der
Schweiz, den Niederlanden und Österreich Aufgabe                                     Eindämmungsaktivitäten stellen enorme Arbeits-
 der lokalen Gesundheitsämter bzw. der kantonalen                                    last für den Öffentlichen Gesundheitsdienst dar,
­Behörden.                                                                           die Schnittstelle zum Primärsektor war häufig
                                                                                     nicht gegeben
In einer Reihe von kleineren Ländern wird das Contact                                Die infolge der Pandemiebewältigung gestiegene Ar-
Tracing zentral durchgeführt (z. B. Lettland, Litauen, Lu-                           beitslast machte die knappe Personalausstattung des
xemburg, Malta, Polen, Portugal), in den meisten Län-                                ÖGD, ein Resultat des kontinuierlichen Stellenabbaus
dern wird es wie in Deutschland jedoch dezentral durch                               und des Nachwuchsmangels der letzten Jahrzehnte,
regionale öffentliche Gesundheitsbehörden durchge-                                   noch offensichtlicher. Daher lassen sich Eindäm-
führt. In Norwegen, Belgien und Serbien waren auch                                   mungsaktivitäten wie Anordnung und Kontrolle von
Hausärzt:innen für das Contact Tracing verantwortlich                                Quarantäne sowie Testung durch mobile Test-Teams,
und kooperierten mit den öffentlichen Gesundheits­                                   für die es meist qualifiziertes Personal braucht, bei
behörden. In Frankreich sind sowohl lokale Kranken-                                  stark steigenden Infektionszahlen nur eingeschränkt
versicherungen, regionale Gesundheitsbehörden als                                    hochskalieren.
auch Allgemeinärzt:innen für das Contact Tracing ver-
antwortlich. In den meisten europäischen Ländern wird                                Auch in den meisten europäischen Ländern hat das
das Contact Tracing telefonisch durch geschulte Mitar-                               Contact Tracing von Infizierten und deren Kontaktper-
beiter:innen bzw. Ärzt:innen durchgeführt. Für die Be-                               sonen zu einem unmittelbaren und erheblichen Bedarf
obachtung von (isolierten) Fällen wenden einige Länder                               an ausgebildeten Arbeitskräften geführt. Die meisten
Contact Tracing Apps an, wenn die Betroffenen sich be-                               Länder haben daher in zusätzliches Personal im öf-
reit erklären, die Anwendung auf ihr mobiles Gerät he-                               fentlichen Gesundheitswesen investiert (European Ob-
runterzuladen und ihren Standort zu teilen. In Israel                                servatory on Health Systems and Policies, 2020).
wurde die obligatorische Rückverfolgung von Geoloka-

                                                                                                                                               15
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