ARBEIT ATLAS DER Daten und Fakten über Jobs, Einkommen und Beschäftigung - Hans-Böckler-Stiftung
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IMPRESSUM Der ATLAS DER ARBEIT ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS). Inhaltliche Leitung: Daniel Haufler, Maike Rademaker (DGB), Dorothea Voss (HBS) Redaktion: Daniel Haufler, Johannes Jakob, Maike Rademaker, Frank Zach Projektmanagement: Dietmar Bartz Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger Dokumentation und Schlussredaktion: Infotext Berlin Mit Originalbeiträgen von Wilhelm Adamy, Matthias Anbuhl, Gerhard Bäcker, Reinhard Bispinck, Andreas Botsch, Michael Braun, Manuela Conte, Barbara Dribbusch, Béla Galgóczi, Daniel Haufler, Ulrike Herrmann, Frank Hoffer, Markus Hofmann, Johannes Jakob, Annette Jensen, Yvonne Lott, Frank Meissner, Mareike Richter, Ingo Schäfer, Thomas Seifert, Jan Stern, Oliver Suchy, Anja Weusthoff, Edlira Xhafa, Frank Zach Cover: Ellen Stockmar, Cover-Elemente: Ilya Rumyantsev/fotolia.com Der ATLAS DER ARBEIT ist als ATLAS OF WORK auch auf Englisch erschienen. Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der beteiligten Organisationen wieder. V. i. S. d. P.: Maike Rademaker, Deutscher Gewerkschaftsbund 1. Auflage, Mai 2018 Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag, Paderborn Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“. BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN Deutscher Gewerkschaftsbund, Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin www.dgb.de/atlas-der-arbeit und www.dgb.de/atlas-of-work Hans-Böckler-Stiftung, Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf www.boeckler.de/atlas-der-arbeit und www.boeckler.de/atlas-of-work
ATLAS DER
ARBEIT
Daten und Fakten
über Jobs, Einkommen
und Beschäftigung
2018INHALT
02 IMPRESSUM 20 ATYPISCHE ARBEIT
ENDE DER NORMALITÄT
06 VORWORT Eigentlich sind flexible Arbeitsverhältnisse
zu begrüßen – aber nicht, wenn sie
08 16 KURZE LEKTIONEN unfreiwillig eingegangen werden,
ÜBER DIE WELT DER ARBEIT Niedriglöhne und Unsicherheit produzieren
und kein Weg zur Vollzeitstelle führt.
10 GESCHICHTE
VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG 22 DEMOGRAFIE
Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im WAS DIE ZUKUNFT BRINGT
Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen, Die beginnende Verknappung der Arbeits-
und die Gesellschaft wandelte sich zur kräfte muss niemandem Angst machen. Im
Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care- Gegenteil: Reagieren Gesellschaft, Staat und
Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich. Wirtschaft angemessen, sind die Folgen positiv.
12 ARBEITSMARKT 24 ARBEITSZEIT
SCHNELLER WANDEL PER HALBTAGSJOB ZU
Zwischen Überstunden und UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten
und Minijob – die Arbeitswelt selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber
wird vielfältiger, aber auch instabiler. fordern Flexibilität – im Eigeninteresse.
14 EINKOMMEN 26 JUGEND
IM KAMPF UM BRANCHEN- GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
TARIFVERTRÄGE Die duale Berufsausbildung in Betrieb
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem und Schule, einst der Garant für
Gutverdienende – auch tarifgebundene gute fachliche Kenntnisse und Leistungen,
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst steht unter Druck. Ihre Attraktivität
der Niedriglohnsektor. muss wieder steigen.
16 GEWERKSCHAFTEN 28 RENTE
VERHANDELN BIS ZUM STREIK RECHNUNG FÜRS LEBEN
Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung – Das Rentenniveau sinkt, das Rentenalter
das sind in Deutschland die beiden steigt. Wer länger arbeitslos war oder
wichtigsten Elemente der Beziehungen nie besonders viel verdient hat, bekommt
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. das bis zum Tod zu spüren.
18 ARBEITSLOSIGKEIT 30 FRAUEN
WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM VIELE GRÜNDE FÜR DIE
Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls UNGLEICHSTELLUNG
von Hartz IV abhängigen Familien Die Erwerbsbiografien von Frauen verlaufen
geraten wieder in den Fokus der Politik, meist deutlich ungünstiger als die der
weil sich für viele andere Arbeitslose bereits Männer. Das liegt auch – aber nicht nur –
die Perspektiven verbessern. an den Kindern und ihren Vätern.
4 ATLAS DER ARBEIT32 FINANZKRISEN 46 FRANKREICH
KAPITALISMUS FORDERT KONSUM ZIEMLICH BESTE NACHBARN
Eine Wohlstandsgesellschaft bleibt nur Die französische Arbeitsmarktpolitik
solange stabil, wie die Einkommensverteilung orientiert sich an der deutschen. Doch sie
gerecht ist. Finanzspekulationen sind übersieht den Preis dafür – den großen
ein Hinweis dafür, dass die nächste Krise droht. deutschen Niedriglohnsektor.
34 DIGITALISIERUNG 48 ASIEN
WENN MASCHINEN STÜRMEN NEUE WEGE GESUCHT
Wie kann das „Arbeiten 4.0“ die Arbeits- Der Gipfel der Industrialisierung ist in China
bedingungen verbessern? Wie lässt sich und Indien bereits überschritten. In Asien
der digitale Strukturwandel steuern? Diese taugen die alten Entwicklungsmodelle nicht mehr.
Fragen sind derzeit noch nicht beantwortet.
50 STREIKRECHT
36 WELT DER ARBEIT DIE GEGNER DER ARBEITSKÄMPFE
DAS ZIEL: SICHERER LOHN Verweigerung des Streikrechtes und zunehmende
UND MENSCHENWÜRDIGES LEBEN Repressionen sind die beiden stärker werdenden
Nur ein Drittel der Weltbevölkerung Trends, gegen die sich Beschäftigte und
ist durch den Staat sozial abgesichert. ihre Gewerkschaften weltweit wehren.
Und global wird die Zahl der prekär
Beschäftigten immer noch steigen. 52 SKLAVEREI
MAXIMAL AUSGEBEUTET
38 EU-MIGRATION Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel,
TÜR AUF FÜR DIE NACHBARN Arbeitslager, Verheiratung wider Willen –
Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern was unter „moderne Sklaverei“ zusammen-
nutzen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte, gefasst wird, ist weltweit anzutreffen.
um in einem anderen Mitgliedsland zu
arbeiten. Diese Mobilisierung ist problematisch, 54 CARE-ARBEIT
wenn sie nur den Zielländern hilft. DIE GROSSE VERLAGERUNG
Ehemals unbezahlter Haushalts-, Sorge-
40 EU-ARBEITNEHMERRECHTE und Pflegeaufwand wird immer stärker
VIEL VERTRAUEN VERSPIELT in bezahlte Arbeit verwandelt. Aber
Die Europäische Union richtet erst langsam das soll den Staat möglichst wenig kosten.
ihren Blick auf die Rechte der Beschäftigten.
In der Eurokrise hat sich die Kommission 56 GRUNDEINKOMMEN
auf die Seite der harten Einsparer gestellt. VIELE BEDINGUNGEN IM LAND
DER FREIHEIT
42 EU-JUGEND Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar?
RESIGNIERTE UND EMPÖRTE Bislang ist seriös nicht beantwortet, wie
Die jüngsten Wirtschaftskrisen in der EU Erwerbsarbeit und Einkommen
haben die Lage vieler Jugendlicher weiter gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten.
verschlechtert. Aber sie haben begonnen,
sich zu wehren. 58 FAULHEIT
„FALLENDES MINIMUM“ AN ARBEIT
44 TEXTIL In Müßiggang zu leben war immer eine
ARMUT AM KLEIDERBÜGEL elitäre Idee. Heute geht es um Arbeitszeit-
Starker Druck auf die Industrie und verkürzung und Work-Life-Balance.
verantwortungsvoller Konsum können
dem menschenverachtenden 60 AUTORINNEN UND AUTOREN,
Konkurrenzkampf in der Textilindustrie QUELLEN VON DATEN, KARTEN
ein Ende bereiten. UND GRAFIKEN
ATLAS DER ARBEIT 5VORWORT
LIEBE LESERINNEN entfernt sind, allen Beschäftigten
UND LESER, gute Rahmenbedingungen und gleiche
Rechte bei der Arbeit zu bieten.
So wird deutlich, wo und wie
A
rbeit ist für die meisten politisches Handeln notwendig ist.
Menschen mehr als nur der
D
Broterwerb. Arbeit definiert ie Gestaltung von Arbeits-
in der Regel den gesellschaftlichen bedingungen ist zudem seit
Status, nicht nur durch das Einkommen, Langem keine nationale
sondern durch den Beruf selbst. Angelegenheit mehr. Sie ist eine
Arbeiten zu können, bedeutet soziale Aufgabe internationaler politischer
Teilhabe und gesellschaftliche Steuerung. Die Konkurrenz unter
Integration. Überall in der Welt wird den Steuersystemen und die
über Arbeit und die damit verbundene Kapitalmärkte bestimmen längst
Wertschätzung debattiert. Investitionen wie Handelswege und
damit nationale Politik: Wenn
Arbeit ist keine Ware, deren Preis Großkonzerne gezieltes Steuerdumping
und Bedingungen willkürlich betreiben, wenn Kapitalmärkte in
festgelegt werden können oder nur Turbulenzen geraten oder gar
vom Markt bestimmt werden dürfen. abstürzen, dann treffen die Folgen die
Arbeitsbedingungen und Löhne Schwächsten: die Beschäftigten.
sind immer auch das Ergebnis Darauf hat die Politik immer noch
politischer Entscheidungen, oft keine adäquaten Antworten –
harter Konflikte und politischer weder national noch auf europäischer
Systeme. Dieser Atlas der Arbeit soll – oder internationaler Ebene.
ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
die Bandbreite von Arbeitsbeziehungen Hinzu kommt, dass wir in der Arbeitswelt
darstellen; er vergleicht Systeme mit neuen Herausforderungen
in verschiedenen Staaten und konfrontiert sind, während lange
beschreibt, wie Arbeitsbedingungen währende Missstände längst nicht
gestaltet werden können. Der Atlas beseitigt sind: So ist es bisher nicht
zeigt, wie weit wir leider von dem Ziel einmal gelungen, die schlimmste
6 ATLAS DER ARBEITForm der Arbeitsausbeutung, die erreichen häufig mit ihrer Tarifpolitik
Sklaverei, zu eliminieren, so sind nicht nur Lohnerhöhungen, sondern
vielfach nicht einmal in den klassischen sie haben auch zukunftsweisende
Industrie- und Dienstleistungs- Konzepte bei der Arbeitszeit, der Weiter-
branchen grundlegende Rechte und bildung oder auch der Altersvorsorge.
Bedürfnisse der Beschäftigten gesichert, Sie treiben politische Forderungen wie
während sich mit der Digitalisierung die eines gesetzlichen Mindestlohns
das Arbeiten in fast allen Bereichen oder guter Arbeitsschutzstandards
grundlegend wandelt. Was fehlt, voran. Ihre internationalen
sind Regeln und Gesetze, die zu den Organisationen unterstützen Gewerk-
neuen Bedingungen passen. Entgrenzte schafterinnen und Gewerkschafter
Arbeitszeiten, internationales weltweit. Doch sie sind nicht in
Crowdworking, Big Data, internationale allen Ländern stark, ja, sie werden
Dienstleistungsplattformen, neue in einigen Staaten mit allen Mitteln
Berufe, die entstehen, alte Berufe, bekämpft oder gar verboten.
die verschwinden, Datenschutz,
D
Machtkonzentration bei Konzernen, ieser Atlas der Arbeit vermittelt
wachsende Ungleichheit – die facettenreich, wie unsere
Transformation der bisherigen Arbeitswelt heute gestaltet ist,
Arbeitswelt zur neuen Arbeitswelt ist wie sie sich ständig wandelt und welche
ein großer Auftrag, für die Politik Möglichkeiten wir – besonders Politik,
und besonders für Gewerkschaften. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft –
haben, sie zu verändern. Er liefert damit
G
ewerkschaften sind weltweit eine solide Grundlage, um über die
wichtig, um die Arbeits- Arbeit der Zukunft zu diskutieren.
bedingungen der Gegenwart
und der Zukunft mitzugestalten. Dort, Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!
wo sie stark sind, wo es die
Mitbestimmung im Betrieb und
im Aufsichtsrat gibt, geht es
Reiner Hoffmann Michael Guggemos
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vorsitzender des Deutschen Sprecher der Geschäftsführung
nachweislich besser. Gewerkschaften Gewerkschaftsbundes der Hans-Böckler-Stiftung
ATLAS DER ARBEIT 716 KURZE LEKTIONEN
ÜBER DIE WELT DER ARBEIT
1 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben
BESSERE ARBEITSBEDINGUNGEN und höhere Löhne,
wenn GEWERKSCHAFTEN ihre Interessen
vertreten und für sie Tarifverträge abschließen.
2 Die Einkommen in Deutschland entwickeln sich ungleich.
Die EINKOMMEN AUS ARBEIT steigen – wenn überhaupt – nur
schwach, die AUS KAPITAL weitaus stärker.
3 FRAUEN verdienen immer noch weniger als
Männer und haben schlechtere Chancen bei der Karriere.
Sie erhalten auch GERINGERE RENTEN.
4 Die Arbeit geht uns nicht aus, obwohl die
Arbeitskräfte dank AUTOMATISIERUNG und
Digitalisierung immer produktiver werden.
5 Millionen von Menschen haben heutzutage nur Mini-
oder Teilzeitjobs, Werk- oder Zeitverträge, weil die Politik
den ARBEITSMARKT DEREGULIERT hat.
6 Der NIEDRIGLOHNSEKTOR ist in DEUTSCHLAND
seit den 1990er-Jahren stark angewachsen und
mittlerweile einer der größten in Europa.
7 Die DIGITALISIERUNG verändert die Arbeitsabläufe stark
und verlangt von den Arbeitenden, dass sie zeitlich
flexibler arbeiten. Die Grenzen zwischen JOB UND FREIZEIT
verschwimmen.
8 ATLAS DER ARBEIT8 Obwohl in Deutschland so viele Menschen wie noch nie arbeiten, ist die Zahl der
LANGZEITARBEITSLOSEN nur geringfügig gesunken. Für sie tut die Politik wenig.
9 Das STREIKRECHT ist ein Grund- und ein MENSCHENRECHT.
Doch in zahlreichen Ländern ist dieses Recht stark bedroht.
10 Weltweit sind 40 Millionen Menschen OPFER
VON MODERNER SKLAVEREI. In den
meisten Fällen sind davon Frauen betroffen.
11 In INDIEN sind mehr als zwei Drittel der Arbeitsplätze durch
Automation bedroht, in CHINA sogar noch mehr. Künftige HIGHTECH-
Produkte werden wieder in Europa oder den USA hergestellt werden.
12 Immer öfter werden FRÜHER UNBEZAHLTE TÄTIGKEITEN
wie Kinderbetreuung, Pflege oder die Haushaltsreinigung
an private Dienstleister und Dienstleisterinnen ausgelagert.
13 Die duale AUSBILDUNG in Berufsschulen und
Betrieben garantiert bislang eine hohe Qualifikation
von Auszubildenden. Auf die Digitalisierung ist
sie noch nicht genügend vorbereitet.
14 Deutsche, skandinavische oder niederländische JUGENDLICHE
haben gute Chancen auf Arbeit. Südeuropäische Jugendliche
wissen, dass sie ARBEITSLOSIGKEIT oder Prekariat erwartet.
15 Immer mehr Menschen arbeiten NICHT IN IHREN
HEIMATLÄNDERN. Dieser Trend wird in den nächsten
Jahren noch erheblich zunehmen.
16 Der KAPITALISMUS ist KEIN PERMANENTER KLASSENKAMPF, sondern
er funktioniert am besten, wenn auch die Arbeitnehmer profitieren.
ATLAS DER ARBEIT 9GESCHICHTE
VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG
Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im wird zum „Beruf“, ja zur „Berufung“. Sie bietet die Mög-
Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen, lichkeit, die innere und die äußere Natur des Menschen
und die Gesellschaft wandelte sich zur zu verändern, meinte Adam Smith. Und der Philosoph
Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care- Immanuel Kant glaubte: „Je mehr wir beschäftigt sind, je
mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir
Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich.
uns unseres Lebens bewusst.“
Für Teile des Bürgertums mag das so gewesen sein. Für
W
er nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. die Mehrheit blieb Arbeit Mühsal und Plage, um die eigene
Diesen Satz des Apostels Paulus aus der Bibel Existenz zu sichern – doch mit wachsendem Bewusstsein
zitieren Kirchenleute, aber auch Ungläubige für den Wert des eigenen Tuns, wie die Arbeiterbewegung
gerne. Selbst in die Verfassung der Sowjetunion von 1936 zeigte. Arbeit wurde mit dem Aufschwung des Kapitalis-
hat er es geschafft. Ihr Artikel 12 verpflichtet jeden arbeits- mus seit dem späten 18. Jahrhundert zur Erwerbsarbeit
fähigen Bürger auf diesen Grundsatz – bei seiner Ehre. und damit zur Säule der „Arbeitsgesellschaft“, die mit
Doch damit wird das Bibelwort gehörig missverstanden. der Industrialisierung entstand. Ihr folgten die Industrie-
Schließlich bezieht es sich auf das Leben seit der Vertrei- gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts, in der
bung aus dem Paradies. Arbeit ist Mühsal und Plage, mit die Mehrheit der Werktätigen in der Industrie arbeitete,
der die Menschen von Gott bestraft werden, und daher und dann die Dienstleistungsgesellschaft, die seit den
nichts Erstrebenswertes. 1970er-Jahren in den westlichen Staaten vorherrschte. In
Nicht nur in der Bibel, auch im antiken Griechenland den vergangenen zwei Jahrzehnten bildete sich schließ-
war der Begriff negativ konnotiert. Arbeit und Bürger- lich die postindustrielle Gesellschaft heraus, in der vor al-
recht waren Gegensätze. Körperliche Arbeit verrichteten lem die Digitalisierung die Arbeitswelt zu revolutionieren
Unfreie. Wenn der Stadtbürger auf dem Versammlungs- begonnen hat.
platz diskutierte, galt das nicht als Arbeit, sondern als Gleich geblieben ist, dass der Kapitalismus das Wirt-
eine geistige Tätigkeit. Diese Einschätzung vertrat das schaftssystem dominiert – und in ihm die Erwerbsarbeit,
Christentum noch bis nach der ersten Jahrtausendwende. vor allem die abhängige Lohnarbeit. Zwar gab es Lohn-
Seit dem Mittelalter und vor allem der Frühen Neuzeit arbeit schon seit den frühesten Gesellschaften, doch nun
wandelt sich in Europa der Arbeitsbegriff ins Positive. wurde sie zum Massenphänomen – und zum Gegenstand
Von Luthers „Ora et labora“ („Bete und arbeite“) über die marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, also zur Ware. Für
Werke der Aufklärer bis zu Max Webers „protestantischer Friedrich Engels war Arbeit „eine Ware wie jede andere,
Ethik“ lässt sich eine Aufwertung der Arbeit nachzeich- und ihr Preis wird daher genau nach denselben Geset-
nen, die nun als Quelle von Eigentum, Wohlstand und zen bestimmt werden wie der jeder anderen Ware“. Karl
menschlicher Selbstverwirklichung gesehen wird. Arbeit Marx entwickelte im „Kapital“ 1867 die Mehrwerttheorie
und definierte den Tauschwert eines Gutes durch die in
ihm repräsentierte Arbeitszeit. Da ein Mensch länger ar-
beiten könne, als er an Gütern für sein Überleben benöti-
ENTFREMDUNG ODER SINNHAFTIGKEIT
Meinungsumfrage über die Wahrnehmung der eigenen
ge, werde dieser Mehrwert vom Kapitalisten abgeschöpft.
Arbeit, 2016, in Prozent Marx wurde jedoch schon zu seinen Lebzeiten empirisch
widerlegt, weil die Arbeiter sich zu schlagkräftigen Ge-
Leisten Sie werkschaften zusammenschlossen, die Lohnerhöhungen
mit Ihrer Arbeit 9 durchsetzten – und damit Anteile am Mehrwert.
einen wichtigen 21
Beitrag für die Seitdem haben sich die Vorstellungen von Arbeit ver-
Gesellschaft? ändert. Zwischenzeitlich etablierte sich die Idee des Nor-
26 malarbeitsverhältnisses, das in der Regel dazu führte, dass
der Mann den Lebensunterhalt für die Familie verdient.
Tatsächlich reichte der Verdienst jenseits von Bürgertum
ATLAS DER ARBEIT / DGB
gar nicht
in geringem Maße 44
in hohem Maße
Arbeit nützt nicht nur dem Einzelnen, sie
in sehr hohem Maße
bildet auch eine Grundlage der Gesellschaft.
Vielen ist bewusst, dass sie dazu beitragen
10 ATLAS DER ARBEITEIN KONTINENT VOLLER MÜHSAL
Ausgewählte „Arbeitswörter“ und ihre Verwandten in Europa
fjord „Bucht“ fora „Weg“
värk „Schmerz“
jobb „Job“
porter „Träger“ arbete „Arbeit“ trud „Arbeit,
to ferry verk „Werk“ Anstrengung“
„tragen, verschiffen“ arm „arm“ rabota „Arbeit“
job „Job“ fare „reisen“
obair wright „Macher“ arbeijde „Arbeit“
„Arbeit“ orphan „Waise“ virke „werken“
robot „Roboter“ russisch-
werken
travel „Reise“ voer „Transport“ kirchenslawisch
to fare „bewegen“ arbeid pero „Feder“
walisisch job Job „kurzfristige trud „Mühe“
„Arbeit, Beschäftigung“ praca „Arbeit“
llafur „Arbeit“
Elend“ Arbeit Werk pierzchnąc „fliegen“
fahren, Fuhre, führen
verdrießen arm
Erbe wirken robota „Arbeit“
travail „Arbeit“ Labor práce „Arbeit“ robota „Arbeit“
travailler „anstrengen, „Werkraum“ prchnouti „fliehen“
sich bewegen, reisen“ labil „schwankend“ práca „Arbeit“
pierre „Stein“
labor „Labor“
port „Hafen“
gober „verschlingen“
serbisch, kroatisch, bosnisch laboare
prhati „auffliegen“
job „Job“ - d „Arbeit“ „Arbeit“
trabalho tru
„Arbeit“
labor „Arbeit“ travaglio „Arbeit“ trud „Arbeit“
lavor altkirchenslawisch
trabajo „Arbeit“ lateinisch
lavoro „Arbeit“ rabotati „dienen“
„Arbeit“ orbus „verwaist“ trud
piedra „Stein“ rabu „Knecht, Sklave“
pedra tripalium „Dreipfahl“ pietra „Stein“ ndrydh „Arbeit“
„Stein“ labor „Mühe, Arbeit“ -urgia, -ergia „verstauchen“
labare „schwanken“ „-kunst“, „-werkskunst“
trudere „fortstoßen“ poreúō „bewegen, gehen“
portare „tragen“ orphanos „Waise“
ergon „Tat“
Wortwurzeln (*rekonstruierte Formen) energeia „Energie, Aktivität“
*orbho- „arm, Waise, Sklave, muss arbeiten“ (indoeuropäisch)
ATLAS DER ARBEIT / ARCHIV
*uerg- „bewirken, machen“ (indoeuropäisch)
*trewd- „drücken“ (indoeuropäisch)
*per- „hintragen“ (indoeuropäisch), *portiti „senden“ (altslawisch)
*leb- „abhängen, schwach sein“ (indoeuropäisch), labor „Wanken unter einer Last“ (lateinisch)
tripalium „Dreipfahl, ein Folterinstrument“ (lateinisch)
*gob „Mund“ (galloromanisch), job „Stück, Klumpen“ (mittelenglisch)
Auch wenn es ihnen heute nicht mehr
und Adel nur bei einer Minderheit für dieses Modell. Vor anzumerken ist – in vielen europäischen Sprachen
der Industrialisierung genügten die Einkünfte aus einer haben die Wörter für „Arbeit“ negative Wurzeln
Quelle noch seltener für den Lebensunterhalt einer gan-
zen Familie. Frauen haben zu allen Zeiten gearbeitet, in
jüngster Zeit tun sie dies mehr denn je. Dies ist nicht nur rung diese Trennung wieder durchbrochen. Das bedeu-
auf die Emanzipation zurückzuführen, sondern auch auf tet für Arbeitende mehr Flexibilität, aber auch höheren
ökonomische Zwänge. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka Leistungsdruck, weil sie quasi immer im Dienst sind und
meint daher, dass das Normalarbeitsverhältnis nur zwi- Arbeit weder zeitlich noch räumlich von Nichtarbeit zu
schen 1950 und 1975, also in Zeiten des ausgebauten So- trennen ist.
zialstaates, existiert hat. Ansonsten sei es „eher die Norm Währenddessen erweitert der öffentliche Diskurs den
als die Normalität“ gewesen. Arbeitsbegriff wieder über die Erwerbsarbeit hinaus auf
Im Zuge der sich verändernden Arbeitswelt gibt es bisher unbezahlte Tätigkeiten wie das Ehrenamt oder
weitere Pendelbewegungen. So hat sich mit der Industria- Care-Arbeit. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, die längst
lisierung und Verstädterung die Arbeit vom Wohnhaus in nicht ausgelotet sind. Sie könnten dazu führen, dass Men-
die Bergwerke, Fabriken und Büros verlagert. Die Sphären schen künftig ihr Leben nicht mehr wie der Industrielle
von Arbeit und Nichtarbeit – später: Freizeit – trennten Werner von Siemens 1892 mit dem 90. Psalm bilanzieren:
sich, wobei Nichtarbeit auch die unbezahlte Haushalts- „Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Ar-
und Care-Arbeit umfasst. Heute wird mit der Digitalisie- beit gewesen.“
ATLAS DER ARBEIT 11ARBEITSMARKT
SCHNELLER WANDEL
Zwischen Überstunden und Das produzierende Gewerbe trägt überdurchschnitt-
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst lich viel zur deutschen Wirtschaftsleistung bei. Hier ar-
und Minijob – die Arbeitswelt beiten rund 29 Prozent aller Beschäftigten. Gewinner des
wird vielfältiger, aber auch instabiler. jüngsten Strukturwandels der Arbeitswelt ist der Dienst-
leistungssektor, in dem 2015 bereits etwa 70 Prozent al-
ler Erwerbstätigen arbeiteten. Gegenüber 1999 stieg die
I
n Deutschland arbeiten offiziell 75 Prozent der Men- Beschäftigung um mehr als fünf Millionen – besonders
schen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. kräftig im Gesundheitsbereich sowie bei Pflege und Kin-
Tendenz: steigend. Zur deutschen Wirtschaftsleistung derbetreuung.
haben 2017 mehr als 44 Millionen Menschen beigetragen, Deutliche Unterschiede zeigen sich im Ost-West-Ver-
32 Millionen von ihnen in sozialversicherungspflichtigen gleich. Die Zahl der Einwohner im Osten schrumpft,
Jobs. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts hat sich diese während der Altersdurchschnitt steigt. Die Arbeitskräfte
Zahl um mehr als 20 Prozent erhöht. Ein Achtel der Er- sind etwas häufiger in kleineren Betrieben tätig sowie
werbstätigen hat einen Minijob oder einen Ein-Euro-Job. im Bausektor und der öffentlichen Verwaltung. Weniger
Weitere zehn Prozent sind selbstständig oder arbeiten als stark vertreten als im Westen sind die forschungs- und
Familienangehörige im Betrieb mit. entwicklungsintensiven Wirtschaftszweige, die neue Pro-
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine große Dynamik dukte auf den Markt bringen.
am Arbeitsmarkt. Jahr für Jahr werden bis zu zehn Milli- Auffallend ist die deutliche Zunahme atypischer
onen Arbeitsverhältnisse beendet und neue begründet. Beschäftigungen, deren Anteil sich seit Anfang der
Junge Menschen nehmen unmittelbar nach Schule und 1990er-Jahre mehr als verdoppelt hat. Dies sind insbeson-
Ausbildung eine Arbeit auf; andere wechseln von einem dere Minijobs, befristete Jobs, Leiharbeit und Solo-Selbst-
zum anderen Betrieb oder die Stelle im selben Unterneh- ständigkeit. Diese Arbeitsverhältnisse sind schlechter
men, legen eine Familienpause ein oder kehren danach bezahlt und weniger stabil, und die soziale Absicherung
auf den Arbeitsmarkt zurück. bei Arbeitslosigkeit und im Alter ist meist mangelhaft. In
Arbeitslose sind nur an etwa jeder dritten bis vierten diesen prekären Arbeitsverhältnissen landen vor allem
dieser Bewegungen beteiligt. Auch bei guter Konjunktur Arbeitskräfte, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind.
werden jährlich etwa 2,5 Millionen Beschäftigte arbeits- Befristete Beschäftigung wird in der öffentlichen Ver-
los, etwa ebenso viele Arbeitslose finden einen neuen Job. waltung und auch im privaten Sektor genutzt. Minijobs
Besonders hoch ist der Personalwechsel in der Leiharbeit. sind vor allem im privaten Dienstleistungssektor zu fin-
Viele Arbeitsverhältnisse sind von kurzer Dauer, und das den. Die Einkommen aus diesen Jobs sind steuer- und
Risiko der Arbeitslosigkeit ist hier mehr als fünfmal so abgabenfrei. Derzeit gibt es allein drei Millionen Erwerbs-
hoch wie in der Wirtschaft insgesamt. Im produzierenden
Gewerbe – im Wesentlichen Industrie, Handwerk und
Bau – werden beispielsweise weniger Menschen arbeits- Arbeitsstatistiken bedienen sich einer eigenen
los, obwohl hier zehnmal mehr Beschäftigte tätig sind als Fachsprache. Aus ihren Begriffen
in der Leiharbeit. ergibt sich die Struktur der Arbeitsgesellschaft
SYSTEMATIK
Offizielle Begriffe der Arbeitsstatistik
alle Erwerbstätigen Beschäftigungslose
Erwerbspersonen stille Reserve*
abhängig Beschäftigte
Selbstständige, im
registrierte in Maß-
ATLAS DER ARBEIT / BA
mithelfende engeren
sozialversicherungs- geringfügig Beamte, Richter, Arbeitslose nahmen
Familienangehörige Sinn*
pflichtig Beschäftigte Beschäftigte Soldaten
* Die stille Reserve besteht aus Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und im engeren Sinne
aus unregistrierten Arbeitsuchenden sowie potenziellen Rückkehrern auf den Arbeitmarkt.
12 ATLAS DER ARBEITDIE STRUKTUR IM ÜBERBLICK 0,7 0,7 0,6
Eckdaten des deutschen Arbeitsmarktes, 2007–2017, in Millionen Personen
10,1 10,4 10,7
Erwerbstätige im Inland Land-, Forstwirtschaft,
Selbstständige Fischerei 2007 2012 2017
Arbeitnehmer Industrie, Handwerk, Bau 29,5 31,0 33,0
Dienstleistungen
4,3
4,6
4,5
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
geringfügig Entlohnte in Maßnahmen
registrierte Arbeitslose gemeldete Stellen
2007 27,1 5,0 3,8 1,6 0,4
37,5 40,0
35,8
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS, BA
2012 29,3 5,0 2,9 1,0 0,5
2017 32,2 4,8 2,5 0,9 0,7
2007 2012 2017
Die Beschäftigung nimmt zu, aber
tätige, die zusätzlich zu ihrem Hauptjob eine solche Ne- noch viele Millionen Schlechtverdiener
bentätigkeit ausüben. und Arbeitslose bleiben
Auch die Zahl der regulär sozialversicherten Teilzeit-
kräfte hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt.
Meist sind es, wie bei den Minijobs, Frauen. Dass insge- Bürotätigkeit stark digitalisiert. Aufstiegschancen erföff-
samt mehr weibliche Arbeitskräfte beschäftigt sind, ist net dies nur qualifizierten Arbeitskräften. Betriebliche
auf die wachsende Zahl an Teilzeitjobs zurückzuführen. Prozesse flexibilisieren und beschleunigen sich. Die An-
Wenn Frauen Familien gründen, reduzieren sie oder un- forderungen an vernetztes Arbeiten steigen ebenso wie
terbrechen ihre Erwerbstätigkeit, während Männer über psychosoziale Belastungen. Mit dem digitalen Wandel
die Lebensphasen relativ konstant in Vollzeit arbeiten. entstehen neue Produktions- und Logistikketten, etwa
Eine etwas größere Teilzeitquote zeigt sich bei Männern im Onlinehandel. Die Arbeitswelt wird vielfältiger, aber
nur bei Berufseintritt sowie vor dem Ruhestand. auch instabiler. Die gesellschaftliche Bedeutung von und
Insgesamt verschwimmen bei der Arbeit zu einem die Orientierung auf Erwerbsarbeit hat dies jedoch nicht
Gutteil die Grenzen von Arbeitswelt und Freizeit. Arbeits- verringert, sondern eher erhöht.
rhythmen außerhalb der „normalen“ Wochenarbeitszeit
nehmen zu. Zwar liegt die Arbeitszeit in Deutschland un-
ter dem EU-Durchschnitt, doch ein Neuntel aller Vollzeit-
UNGLEICH MIT KINDERN
beschäftigten arbeitet mehr als 48 Stunden pro Woche. Erwerbstätigenquoten von Kinderlosen und Eltern,
Die Zahl der nicht bezahlten Überstunden ist höher als 2015/16, in Prozent
die der vergüteten. Ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitet
wieder samstags und der Anteil derjenigen, die sonntags
arbeiten, hat sich auf 14 Prozent erhöht. Hohe Anforde- 71 66 60
83
rungen an die zeitliche Flexibilität werden auch an die
Männer Frauen Männer Frauen
Beschäftigten gestellt, die Bereitschaftsdienste haben
oder Nacht- und Schichtarbeit verrichten. ohne Kind mit Kindern
allen Alters
Reine Fertigungstätigkeiten und körperliche Arbeiten
verlieren an Bedeutung. Zugenommen hat die Verdich-
tung der Arbeit, während ihre Spielräume abnehmen. Die 37
45
Industrieproduktion ist heute hochautomatisiert und die
ATLAS DER ARBEIT / BA, WSI
82 84
Väter Mütter Väter Mütter
Die größten Unterschiede auf dem mit einem Kind mit zwei Kindern,
unter 6 Jahren jüngstes unter 6 Jahren
Arbeitsmarkt bestehen zwischen
Vätern und Müttern mit kleinen Kindern
ATLAS DER ARBEIT 13EINKOMMEN
IM KAMPF UM BRANCHEN-
TARIFVERTRÄGE
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem 40 Prozent der Einkommensbezieherinnen und -bezieher
Gutverdienende – auch tarifgebundene nehmen nicht stark genug zu, um die steigenden Preise –
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst allen voran die Mieten – zu kompensieren.
der Niedriglohnsektor. Dass in immer weniger Betrieben Tarifverträge gelten,
trägt dazu bei, dass sich Einkommen auseinanderentwi-
ckeln. Löhne und Gehälter werden maßgeblich durch Tarif-
S
eit Jahrzehnten wächst in Deutschland die Un- verträge festgelegt, die Arbeitgeberverbände oder einzelne
gleichheit sowohl bei den Einkommen wie den Unternehmen mit Gewerkschaften abschließen – sie gelten
Vermögen. Das birgt ökonomische, soziale und faktisch für alle Beschäftigten der tarifgebundenen Betrie-
politische Probleme und rückt daher immer stärker ins be, nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. Deutschland ist
Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Zu erkennen ist von Branchentarifverträgen (auch „Flächentarifverträge“
die ungleiche Entwicklung, wenn die Einkommen von ab- genannt) geprägt. Tarifgebundene Arbeitnehmerinnen
hängig Beschäftigten mit denen der Selbstständigen ver- und Arbeitnehmer verdienten im Jahr 2014 mit 20,74 Euro
glichen werden. Präzise formuliert: wenn die Lohnquote pro Stunde rund 18 Prozent mehr als Beschäftigte in nicht
untersucht wird, der Anteil der Arbeitnehmerentgelte tarifgebundenen Betrieben (17,52 Euro). Viele Unterneh-
am Volkseinkommen. Sie ging in den vergangenen Jah- men fliehen aus der Tarifbindung, weil sie die Lohnkosten
ren zurück und umgekehrt stieg der Anteil der Gewinn- senken wollen. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet
und Vermögenseinkommen. Anfang der 2000er-Jahre be- in einem tarifgebundenen Betrieb.
trug die Lohnquote rund 72 Prozent, derzeit liegt sie bei Grundsätzlich fallen die Verdienste der Beschäftigten
68 Prozent. je nach Branche und Betriebsgröße sehr unterschiedlich
Hinzu kommt: Der Anteil der Menschen, die wenig aus. So reichen die Bruttostundenverdienste von 9,63
Geld zur Verfügung haben, wird größer. Die Einkommens- Euro im Gastgewerbe am unteren Ende über 14,95 Euro
mitte wird dünner, während die Gruppe der Menschen im Handel, 21,05 Euro im verarbeitenden Gewerbe bis zu
mit hohem Einkommen wächst. Die Löhne der unteren 27,80 Euro in der Energieversorgung.
Teilzeitbeschäftigte erhalten im Schnitt über drei Euro
je Stunde weniger als Vollzeitbeschäftigte. In Großbe-
trieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten liegt der durch-
POLARISIERTE LOHNSTRUKTUR
Stundenlöhne nach Einkommenszehnteln (Dezilen),
schnittliche Bruttostundenverdienst bei 21,99 Euro und
durchschnittliche Veränderung 1995–2015, in Prozent damit sehr viel höher als in Kleinbetrieben mit bis zu
neun Beschäftigten (12,39 Euro). Frauen verdienen weni-
höchstes
10. Dezil +8 ger als Männer. Der Lohnabstand beträgt seit Jahren rund
Einkommenszehntel
22 Prozent.
9. Dezil +10 Eine wichtige Ursache für die polarisierte Lohnstruk-
8. Dezil +10 tur in der Bundesrepublik ist der seit den 1990er-Jahren
wachsende Niedriglohnsektor. Er gehört mittlerweile zu
7. Dezil +8
den größten in Europa. Fast jeder und jede vierte abhän-
6. Dezil +4 gig Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und
lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobberin-
5. Dezil +1
nen, gering Qualifizierte, junge Menschen und ausländi-
-4 4. Dezil sche Beschäftigte arbeiten besonders häufig für niedrige
Löhne. Dies hat politische Gründe wie die Hartz-Refor-
-6 3. Dezil
men, mit denen der Arbeitsmarkt dereguliert wurde und
ATLAS DER ARBEIT / BMAS
-7 2. Dezil
niedrigstes
-7 1. Dezil
Einkommenszehntel
Während die höheren Einkommen zugelegt
-10 -5 0 5 10 haben, sind die niedrigsten 40 Prozent
der Stundenlöhne sogar deutlich gesunken
14 ATLAS DER ARBEITOHNE FORTSCHRITT: DER NIEDRIGLOHNSEKTOR
Stundenlöhne unter zwei Drittel des mittleren Lohnes in Ost-, West- und Gesamtdeutschland,
1995–2015, in Prozent der Beschäftigten
50
45 Ostdeutschland
40,6
38,7
40 36,3
35
30
35,3
24,2
25 Deutschland gesamt 22,6
20 16,2
21,2 19,7
15
10 Westdeutschland
11,7
ATLAS DER ARBEIT / IAQ
5
0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Die Niedriglohnschwelle lag 2015 bei einem Stundenlohn von 10,22 Euro.
Die Niedriglöhne sind verfestigt. Dabei
die einen erheblichen wirtschaftlichen Druck auf Arbeits- hat der Mindestlohn bewiesen, dass die
lose ausüben. Daher erlebt auch die Leiharbeit seitdem Wirtschaft Erhöhungen verkraften kann
einen starken Aufschwung.
Ursachen für den wachsenden Niedriglohnsektor
sind zudem Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur. erst, wenn er in den kommenden Jahren stärker steigen
Deutschland ist zwar mit einem 23-prozentigen Anteil der würde als die Tariflöhne.
Industrie an der Wertschöpfung ein vergleichsweise star- Angemessene Verdienste oberhalb des Mindestlohns
kes Industrieland, aber der Anteil der Dienstleistungen wären wiederum nur mit gestärkten Tarifvertragssyste-
wächst und damit auch der Anteil an einfachen, schlecht men zu erreichen. Seit 2015 ist es immerhin leichter gewor-
bezahlten Jobs. Unterstützt wird der Trend durch das ge- den, einen Tarifvertrag für alle Betriebe einer Branche als
zielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen, allgemeinverbindlich zu erklären, also auch für die nicht
Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst zu tarifgebundenen. Bei allgemeinverbindlichen Tarifver-
Industriebetrieben gehörend. trägen gelten die Bedingungen und neu ausgehandelten
Als Gegenmaßnahme zum wachsenden Niedriglohn- Lohnerhöhungen für alle Beschäftigten einer Branche.
sektor wurde nach langen Auseinandersetzungen 2015 Derzeit sind rund 440 Tarifverträge allgemeinverbindlich,
erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn das sind lediglich 1,5 Prozent der Branchentarifverträge.
von 8,50 Euro eingeführt. 2018 stieg er, orientiert an den Hier gibt es offenkundig noch Luft nach oben.
vorausgegangenen Tariferhöhungen, auf 8,84 Euro. Die
Prognosen vieler Wirtschaftsexperten, dass mit dem Min-
destlohn die Arbeitslosigkeit steige, bewahrheiteten sich
DIE KLUFT BLEIBT GROSS
nicht. Im Gegenteil: Die Arbeitsmarktlage hat sich weiter Einkommensverläufe in Deutschland, 2000–2017,
verbessert. Die Zahl der Minijobs ging zurück, sie wurden 2000 = 100
teilweise in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhält- 180
175,2
nisse umgewandelt. Der Mindestlohn hat das Arbeitsein- 170
Unternehmens- und
kommen am unteren Ende also stabilisiert. Vermögenseinkommen
160
Zahlreiche Arbeitgeber umgehen allerdings den ge- 149,3
150
setzlichen Mindestlohn; die Kontrollen, um dieses illega-
140
le Verhalten zu bekämpfen, reichen nicht aus. Der Min-
130
destlohn liegt aktuell bei etwa der Hälfte des mittleren
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
Stundenlohns (Medianlohn). Existenzsichernd wäre er 120
110
100 Arbeitnehmerentgelt
Selbst während der Weltfinanzkrise 0
stiegen die deutschen Unternehmenseinkommen 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
stärker als die Löhne und Gehälter
ATLAS DER ARBEIT 15GEWERKSCHAFTEN
VERHANDELN BIS ZUM STREIK
Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung – den letzten Jahren durch neue Anwerbestrategien wieder
das sind in Deutschland die beiden steigern können.
wichtigsten Elemente der Beziehungen Wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist die Tarif-
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. politik, sind also die regelmäßigen Verhandlungen mit
Arbeitgebern über Tarifverträge. Dabei geht es um quan-
titative Ziele wie Lohn und Gehalt, aber auch um qualita-
M
enschen müssen nicht mehr 16 Stunden am Tag tive wie Arbeitszeit, Urlaubstage, Sicherung der Beschäf-
arbeiten. Ihr Lohn wird bei Krankheit weiterge- tigung oder Ausstattung mit Personal. Allein 2018 werden
zahlt. Und er steigt regelmäßig. All das haben Tarifverträge für fast zehn Millionen Beschäftigte verhan-
die Beschäftigten den Gewerkschaften zu verdanken, die delt. Von den Verhandlungsergebnissen profitieren nicht
seit Mitte des 19. Jahrhunderts für diese Ziele kämpfen. nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschäf-
Immer noch gilt weltweit: Wo Gewerkschaften stark sind, tigten eines tarifgebundenen Betriebes. Insgesamt gibt es
haben es Beschäftigte besser. Die acht Gewerkschaften, derzeit in Deutschland über 70.000 Tarifverträge. Jährlich
die unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden zwischen 5.000 und 6.000 von ihnen erneuert.
(DGB) organisiert sind, bilden zusammen die größte zivil- Die meisten Tarifverhandlungen führen ohne Streiks
gesellschaftliche Organisation des Landes. zu einem Ergebnis. Doch als letztes Mittel wird dieses In-
Allerdings sinkt die Zahl der Gewerkschaftsmitglie- strument von den Gewerkschaften in Tarifkonflikten im-
der. Damit geht auch ihr Einfluss auf Arbeitsbedingungen mer wieder eingesetzt. Im internationalen Vergleich wird
und Löhne zurück. Ende 2017 verfügten die DGB-Gewerk- in Deutschland relativ wenig gestreikt. Zu den Gründen
schaften über knapp sechs Millionen Mitglieder – von gehört auch, dass politische Streiks – etwa, um eine Re-
insgesamt rund 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und gierung unter Druck zu setzen – im Gegensatz zu anderen
Arbeitnehmern. Zur Jahrtausendwende waren es noch 7,8 europäischen Ländern hier verboten sind.
Millionen. Gründe dafür gibt es viele: In den Betrieben Die Zahl der Streiks schwankt von Jahr zu Jahr sehr
wurden Arbeitsplätze umstrukturiert, durch Maschinen stark. In der mitgliederstarken Metallindustrie beteili-
ersetzt oder verlagert, besonders in der gewerkschaftlich gen sich oft Hunderttausende an den Arbeitskämpfen.
gut organisierten Industrie. Hinzu kommen die Privati- Aber auch im Dienstleistungssektor (Handel, Sozial- und
sierung von Bahn und Post sowie der wachsende Dienst- Erziehungsdienst, Krankenhäuser) wird zunehmend
leistungssektor mit kleineren Betrieben. Dort arbeiten gestreikt. Neben den DGB-Gewerkschaften haben auch
häufig prekär Beschäftigte, die sich seltener organisieren Berufsgewerkschaften wie die Vereinigung Cockpit, die
als Arbeiter und Angestellte in der Industrie. Der Mitglie- Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die
derschwund hat sich allerdings deutlich verlangsamt. Ärztegewerkschaft Marburger Bund gezeigt, dass sie zu
Einzelne Gewerkschaften haben ihre Mitgliederzahlen in wirksamen Streiks bereit und in der Lage sind.
Doch die Tarifwelt verändert sich, weil immer mehr
Arbeitgebende aus den branchenbezogenen Flächen-
tarifverträgen flüchten, um billiger zu produzieren. Ar-
VEREINZELUNG BEI DEN ARBEITSVERTRÄGEN
Tarifbindung der Beschäftigten 1998–2016, in Prozent
beitskämpfe um Haustarifverträge werden wichtiger. Mit
der Digitalisierung stellen sich auch den Gewerkschaften
80 76
neue schwierige Aufgaben. Denn bei Dienstleistungsplatt-
70
63 59 formen wie Deliveroo, Uber oder Helpling arbeiten häufig
60 Selbstständige, die nicht von einem Tarifvertrag geschützt
50 werden. Das beginnt sich zu ändern, weil die Arbeitsbe-
dingungen so schlecht sind. Im Januar 2018 gründeten
40 47
Fahrradkuriere bei Deliveroo einen Betriebsrat.
30 Branchen- und Firmentarife West
Das zweite zentrale Element der deutschen Arbeits-
20 Branchen- und Firmentarife Ost beziehungen ist die Mitbestimmung. Von der Belegschaft
ATLAS DER ARBEIT / WSI
10
0
1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Die Löhne werden umso niedriger, je weniger
Tarifverträge werden zwischen einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgeberver-
bänden und den Gewerkschaften für die Arbeitnehmerschaft abgeschlossen. Beschäftigte mit einem durch Gewerkschaften
ausgehandelten Tarifvertrag geschützt werden
16 ATLAS DER ARBEITATLAS DER ARBEIT / DGB
SCHWUND, ABER NOCH KEINE SCHWÄCHE
Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften, 2005 und 2017, in 1.000 216 200
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
2005
252 278
2017
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 260 190
392 255 Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft*
IG Bauen-Agrar-Umwelt
ver.di
749 638
IG Bergbau, Chemie, Energie 174 185 2.359 1.987
Gewerkschaft der Polizei
IG Metall
2.376 2.263 DGB gesamt
* 2005: Transnet; 2010 mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA zur EVG verschmolzen 6.778 5.995
Sinkende Mitgliederzahlen: In den gewerk-
gewählte Betriebsräte vertreten in Betrieben mit mindes- schaftlich gut organisierten industriellen Groß-
tens fünf Beschäftigten deren Interessen. Im öffentlichen betrieben wird besonders stark rationalisiert
Dienst sind es die Personalräte. In Großbetrieben sind
Betriebsräte der Regelfall, in Kleinbetrieben hat nicht ein-
mal jeder zehnte Beschäftigte eine betriebliche Interes- Während weltweit in Ländern die Arbeitslosigkeit schlag-
senvertretung. Wer einen Betriebsrat gründen will, muss artig anstieg, entwickelten in Deutschland Gewerkschaf-
häufig mit Widerstand von Arbeitgebern rechnen. ten, betriebliche Interessenvertretungen und Arbeitgeber
Eine weitere Ebene der Mitbestimmung sind die Ar- gemeinsam Konzepte, um Arbeitsplätze zu schützen –
beitnehmervertretungen in den Aufsichtsräten, für die es insbesondere durch Nutzung von betrieblichen Arbeits-
unterschiedliche Modelle gibt. Die paritätische Montan- zeitkonten und Kurzarbeit. Mit der Digitalisierung stehen
mitbestimmung von 1951 gilt für Betriebe der Bergbau-, die Gewerkschaften bei der Tarifpolitik wie bei der Mitbe-
Eisen- und Stahlindustrie mit über 1.000 Beschäftigten. stimmung vor neuen Herausforderungen. Sie sehen es als
Die Aufsichtsräte dieser Unternehmen werden zu gleichen ihre Zukunftsaufgabe, die Arbeitsbedingungen und die
Teilen von Kapital- und Arbeitnehmerseite gestellt. Die im soziale Absicherung zu verbessern und dabei auch neue
Jahr 1976 in Kraft getretene Mitbestimmung in Kapitalge- Wege zu beschreiten.
sellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten schreibt
zwar ebenfalls die paritätische Zusammensetzung des
Aufsichtsrates vor, räumt aber dem von der Kapitalseite
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
WARNUNG AN DIE ARBEITGEBER
gestellten Vorsitzenden ein Doppelstimmrecht ein. Das Ausfalltage wegen Streik und Aussperrung,
Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 für Kapitalgesellschaf- je 1.000 Beschäftigte
ten, deren Beschäftigtenzahl zwischen 500 und 2.000 30 28,3
liegt, sieht in den Aufsichtsräten, wie der Name schon
25
sagt, ein Drittel Arbeitnehmervertreter vor. Die Zahl der
mitbestimmten Unternehmen sinkt allerdings. Die Arbeit- 20
geber nutzen Schlupflöcher in der deutschen Gesetzge-
15
bung oder weichen auf europäische Rechtsformen aus. 12,2
Wie wirkungsvoll das Prinzip der Mitbestimmung sein 10 8,8
7,3
kann, zeigte sich zum Beispiel in der Finanzkrise 2007/08.
5 ca. 3
0
Streiks im personalintensiven Dienstleistungssektor 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017
können die großen Arbeitskämpfe der 2015 streikten vor allem Erzieher/innen und Beschäftigte im Paketdienst.
Metallindustrie durchaus in den Schatten stellen
ATLAS DER ARBEIT 17ARBEITSLOSIGKEIT
WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM
Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls EU-Drittel. Im Vergleich weist der deutsche Arbeitsmarkt
von Hartz IV abhängigen Familien eine Besonderheit auf: Ungewöhnlich viele Menschen ar-
geraten wieder in den Fokus der Politik, beiten Teilzeit. Im Jahr 2016 waren es 8,5 Millionen von
weil sich für viele andere Arbeitslose bereits 31,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Das ist zu 2006 eine Steigerung um über 70 Prozent. Hinzu
die Perspektiven verbessern.
kommen 5 Millionen Nur-Minijobber. Bemerkenswert ist
zudem, dass viermal so viele Frauen wie Männer in Teil-
H
istorisch gesehen sind Arbeitskräfteangebot und zeit arbeiten. Das liegt vor allem daran, dass der Staat die
Arbeitskräftenachfrage nur selten ausgeglichen. sogenannten Minijobs steuerlich begünstigt.
Während in den 1950er- und 1960er-Jahren in Obwohl der Arbeitsmarkt wächst, sind immer noch
Deutschland ständig Arbeitskräfte gesucht wurden, stieg 2,5 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Eine
danach die Arbeitslosigkeit stark an. Vor allem im Zuge weitere Million sucht Arbeit, zählt aber nicht als arbeits-
der deutschen Wiedervereinigung haben viele Menschen los, unter anderem, weil sie an Weiterbildungsmaßnah-
ihren Arbeitsplatz verloren. Erst seit 2005 geht die Arbeits- men teilnimmt, in öffentlich geförderter Beschäftigung
losigkeit wieder zurück. Mittlerweile sind 44 Millionen arbeitet oder durch private Vermittler betreut wird. Jede
Menschen in Deutschland erwerbstätig, davon 32 Millio- Arbeitslosenstatistik ist hoch politisch und deswegen im-
nen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsver- mer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzun-
hältnis. Im Jahr 2017 erreichte die Erwerbstätigkeit den gen. Umstritten ist besonders die wahre Zahl der Arbeits-
höchsten Stand in der deutschen Geschichte. losen, weil Regierungen gern bestimmte Gruppen aus der
Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und 80 Pro- Statistik herausrechnen, damit sie besser dastehen.
zent der Männer zwischen 15 und 65 Jahren, sei es als In der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosen – und
Angestellte oder Selbstständige, Teilzeitkräfte oder Mi- daher auch keine entsprechende Statistik. Die Bundesre-
nijobber – das sind Beschäftigte, die maximal 450 Euro publik erreichte den niedrigsten Stand der Arbeitslosig-
im Monat verdienen. Damit liegt Deutschland im oberen keit im September 1965 mit 85.000 Arbeitslosen. Das ist
heute nicht mehr zu schaffen, vor allem, weil die Beschäf-
tigung immer anspruchsvoller wird. Die Arbeitslosenquo-
te erfasst zudem Menschen, die keine Arbeit mehr finden,
ATLAS DER ARBEIT / BA
NORD-SÜD-GEFÄLLE
Arbeitlosenquoten im März 2018 nach Bundesländern,
weil sie gesundheitliche Einschränkungen haben, unge-
in Prozent nügend qualifiziert oder dem Rentenalter nahe sind.
Auffällig ist, dass allein in den vergangenen vier Jah-
Schleswig-Holstein ren über zwei Millionen sozialversicherungspflichtige
6,0 Arbeitsplätze entstanden sind, die Zahl der Arbeitslosen
Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg aber nur um 400.000 zurückgegangen ist. Der Zuwachs
8,8
Bremen 10,1 6,6 wird in hohem Maße von Arbeitsmigrantinnen und
-migranten besetzt, aber auch aus der „stillen Reserve“.
8,5 Berlin
Niedersachsen Das sind Menschen, die zwar Arbeit suchen, dies aber
8,3
Brandenburg
5,6 Sachsen-Anhalt nicht offiziell melden.
6,8 Als wirksame Hilfe für Arbeitslose gilt die Weiter-
Nordrhein-
Westfalen bildung, die Arbeitsagenturen und Jobcenter anbieten
6,0 6,5 Sachsen
7,1 4,8 können. Doch vor allem in den Jobcentern, in denen be-
Thüringen
3,2–4,6 sonders viele Langzeitarbeitslose betreut werden, fehlen
Hessen 4,7–5,9
4,7 dafür Mittel. Auch deshalb sind rund eine Millionen Men-
6,0–7,3
7,4–8,7
schen inzwischen langzeitarbeitslos. Ihre Chancen am Ar-
Rheinland-Pfalz 3,2
6,4 8,8–10,1 beitsmarkt sind gering und sinken mit jedem Tag, an dem
Saarland Bayern sie keine Beschäftigung finden.
3,3
Baden-Württemberg
Noch immer Krisengebiete: die vom
Strukturwandel überrollten früheren
Industriestandorte in West- und Ostdeutschland
18 ATLAS DER ARBEITSTETER RÜCKGANG – BIS ZUR NÄCHSTEN REZESSION
Arbeitslose in 1.000 und wichtige Einflussfaktoren
Ende des New- Weltfinanzkrise
5.000 Economy-Booms 4.861
Westdeutschland Zusammenbruch der
4.500 Ostdeutschland ostdeutschen Wirtschaft Hartz-IV-Effekt
Gesamtdeutschland
4.000 Rezession
Abbau der
3.500
Arbeitslosigkeit
Abbau der Rezession durch
3.000 Nachkriegs- Ölpreiskrise
2.533
arbeitslosigkeit Rezession durch
2.500 2.304
Ölpreiskrise
1.869 1.894
2.000
Vollbeschäftigung,
1.500
zwischenzeitlich
milde Rezession 1.074
1.000 639
ATLAS DER ARBEIT / BA
459
500
0
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2017
Früher stieg der „Sockel“ der Arbeitslosigkeit
Der Arbeitsmarkt ist kein gewöhnlicher Markt wie ein von Krise zu Krise an. Der Trend scheint
Markt für Lebensmittel oder Autos. Für die Beschäftigten gebrochen, der Sockel ist allerdings noch da
ist Arbeit die wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz.
Daher schützen Gesetze und andere Regelungen die Be-
schäftigten und fördern die Schaffung von Arbeitsplät- stehen von Arbeitsplätzen – durch soziale Sicherung zu
zen. Den Gewerkschaften kommt die Aufgabe zu, die Ar- unterstützen. Der wichtigste Hebel ist das Arbeitslosen-
beitsbedingungen – vor allem auch die Entlohnung – mit geld, das Arbeitslose gezahlt bekommen, wenn sie ihren
zu regeln. Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben zudem Arbeitsplatz verloren haben.
die Bildungs- und Sozialpolitik sowie ganz allgemein die Auch aus Sicht der Arbeitgeber hat die Arbeitslosenver-
Wirtschafts- und Strukturpolitik, um Krisen zu verhin- sicherung eine wichtige Funktion. Da sie verhindert, dass
dern oder zu bekämpfen. Zur Absicherung der Risiken am Beschäftigte unmittelbar in Existenznot geraten, werden
Arbeitsmarkt gibt es die Arbeitslosenversicherung, in die die Konflikte bei Entlassungsprozessen entschärft. Die
sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber Beiträ- Arbeitgeber verlagern einen Teil ihrer Verantwortung auf
ge einzahlen. Sie hat den Zweck, die Ausgleichsprozesse das Versicherungssystem. Deswegen ist es auch richtig,
des Arbeitsmarktes – also das Verschwinden und Ent- dass sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber
sich an den Kosten beteiligen. Durch die Förderung von
Aus- und Fortbildungen sorgt die Arbeitslosenversiche-
Auch für ein bis zwei Millionen Abgehängte rung zudem dafür, dass die Arbeitsuchenden sich weiter
könnte der Arbeitsmarkt langsam qualifizieren und als Fachkräfte zur Verfügung stehen
wieder öffnen. Aber der Zugang ist schwer können. Auch dies liegt im Interesse der Arbeitgeber.
ATLAS DER ARBEIT / IAB
HARTZ IV – DER HARTE KERN
Empfang von Arbeitslosengeld und Grundsicherung, Langzeitarbeitslose und Fluktuation, 2016,
in 1.000 Personen in 1.000 Personen
89
902 933 822 819 888
2.897 2.898 2.691 2.480 2.691
122
1.995 1.965 1.869 1.661 60
2012 2014 2016 2018 (Prognose)
sind länger als 1 Jahr arbeitslos
Arbeitslosengeld Grundsicherung (ALG II, „Hartz IV“) finden innerhalb eines Monats neue Stelle
ATLAS DER ARBEIT 19Sie können auch lesen