ARBEIT ATLAS DER Daten und Fakten über Jobs, Einkommen und Beschäftigung - Hans-Böckler-Stiftung

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ARBEIT ATLAS DER Daten und Fakten über Jobs, Einkommen und Beschäftigung - Hans-Böckler-Stiftung
ATLAS DER
ARBEIT
    Daten und Fakten
  über Jobs, Einkommen
    und Beschäftigung
IMPRESSUM
Der ATLAS DER ARBEIT ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).

Inhaltliche Leitung: Daniel Haufler, Maike Rademaker (DGB), Dorothea Voss (HBS)

Redaktion: Daniel Haufler, Johannes Jakob, Maike Rademaker, Frank Zach

Projektmanagement: Dietmar Bartz
Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar

Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger
Dokumentation und Schlussredaktion: Infotext Berlin

Mit Originalbeiträgen von Wilhelm Adamy, Matthias Anbuhl, Gerhard Bäcker,
Reinhard Bispinck, Andreas Botsch, Michael Braun, Manuela Conte, Barbara Dribbusch,
Béla Galgóczi, Daniel Haufler, Ulrike Herrmann, Frank Hoffer, Markus Hofmann,
Johannes Jakob, Annette Jensen, Yvonne Lott, Frank Meissner, Mareike Richter, Ingo Schäfer,
Thomas Seifert, Jan Stern, Oliver Suchy, Anja Weusthoff, Edlira Xhafa, Frank Zach

Cover: Ellen Stockmar, Cover-Elemente: Ilya Rumyantsev/fotolia.com

Der ATLAS DER ARBEIT ist als ATLAS OF WORK auch auf Englisch erschienen.
Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der beteiligten Organisationen wieder.

V. i. S. d. P.: Maike Rademaker, Deutscher Gewerkschaftsbund

1. Auflage, Mai 2018

Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag, Paderborn
Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz
„Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung
(kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.

Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn
der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei
Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“.

BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN
Deutscher Gewerkschaftsbund, Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin
www.dgb.de/atlas-der-arbeit und www.dgb.de/atlas-of-work

Hans-Böckler-Stiftung, Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf
www.boeckler.de/atlas-der-arbeit und www.boeckler.de/atlas-of-work
ATLAS DER
ARBEIT
    Daten und Fakten
  über Jobs, Einkommen
    und Beschäftigung

         2018
INHALT

    02     IMPRESSUM                                          20   ATYPISCHE ARBEIT
                                                                   ENDE DER NORMALITÄT
    06     VORWORT                                                 Eigentlich sind flexible Arbeitsverhältnisse
                                                                   zu begrüßen – aber nicht, wenn sie
    08     16 KURZE LEKTIONEN                                      unfreiwillig eingegangen werden,
           ÜBER DIE WELT DER ARBEIT                                Niedriglöhne und Unsicherheit produzieren
                                                                   und kein Weg zur Vollzeitstelle führt.
    10     GESCHICHTE
           VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG                         22   DEMOGRAFIE
           Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im               WAS DIE ZUKUNFT BRINGT
           Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen,              Die beginnende Verknappung der Arbeits-
           und die Gesellschaft wandelte sich zur                  kräfte muss niemandem Angst machen. Im
           Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care-             Gegenteil: Reagieren Gesellschaft, Staat und
           Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich.        Wirtschaft angemessen, sind die Folgen positiv.

    12     ARBEITSMARKT                                       24   ARBEITSZEIT
           SCHNELLER WANDEL                                        PER HALBTAGSJOB ZU
           Zwischen Überstunden und                                UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
           Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst                   Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten
           und Minijob – die Arbeitswelt                           selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber
           wird vielfältiger, aber auch instabiler.                fordern Flexibilität – im Eigeninteresse.

    14     EINKOMMEN                                          26   JUGEND
           IM KAMPF UM BRANCHEN-                                   GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
           TARIFVERTRÄGE                                           Die duale Berufsausbildung in Betrieb
           Von steigenden Löhnen profitieren vor allem             und Schule, einst der Garant für
           Gutverdienende – auch tarifgebundene                    gute fachliche Kenntnisse und Leistungen,
           Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst            steht unter Druck. Ihre Attraktivität
           der Niedriglohnsektor.                                  muss wieder steigen.

    16     GEWERKSCHAFTEN                                     28   RENTE
           VERHANDELN BIS ZUM STREIK                               RECHNUNG FÜRS LEBEN
           Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung –           Das Rentenniveau sinkt, das Rentenalter
           das sind in Deutschland die beiden                      steigt. Wer länger arbeitslos war oder
           wichtigsten Elemente der Beziehungen                    nie besonders viel verdient hat, bekommt
           zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.            das bis zum Tod zu spüren.

    18     ARBEITSLOSIGKEIT                                   30   FRAUEN
           WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM                              VIELE GRÜNDE FÜR DIE
           Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls             UNGLEICHSTELLUNG
           von Hartz IV abhängigen Familien                        Die Erwerbsbiografien von Frauen verlaufen
           geraten wieder in den Fokus der Politik,                meist deutlich ungünstiger als die der
           weil sich für viele andere Arbeitslose bereits          Männer. Das liegt auch – aber nicht nur –
           die Perspektiven verbessern.                            an den Kindern und ihren Vätern.

4   ATLAS DER ARBEIT
32   FINANZKRISEN                                       46   FRANKREICH
     KAPITALISMUS FORDERT KONSUM                             ZIEMLICH BESTE NACHBARN
     Eine Wohlstandsgesellschaft bleibt nur                  Die französische Arbeitsmarktpolitik
     solange stabil, wie die Einkommensverteilung            orientiert sich an der deutschen. Doch sie
     gerecht ist. Finanzspekulationen sind                   übersieht den Preis dafür – den großen
     ein Hinweis dafür, dass die nächste Krise droht.        deutschen Niedriglohnsektor.

34   DIGITALISIERUNG                                    48   ASIEN
     WENN MASCHINEN STÜRMEN                                  NEUE WEGE GESUCHT
     Wie kann das „Arbeiten 4.0“ die Arbeits-                Der Gipfel der Industrialisierung ist in China
     bedingungen verbessern? Wie lässt sich                  und Indien bereits überschritten. In Asien
     der digitale Strukturwandel steuern? Diese              taugen die alten Entwicklungsmodelle nicht mehr.
     Fragen sind derzeit noch nicht beantwortet.
                                                        50   STREIKRECHT
36   WELT DER ARBEIT                                         DIE GEGNER DER ARBEITSKÄMPFE
     DAS ZIEL: SICHERER LOHN                                 Verweigerung des Streikrechtes und zunehmende
     UND MENSCHENWÜRDIGES LEBEN                              Repressionen sind die beiden stärker werdenden
     Nur ein Drittel der Weltbevölkerung                     Trends, gegen die sich Beschäftigte und
     ist durch den Staat sozial abgesichert.                 ihre Gewerkschaften weltweit wehren.
     Und global wird die Zahl der prekär
     Beschäftigten immer noch steigen.                  52   SKLAVEREI
                                                             MAXIMAL AUSGEBEUTET
38   EU-MIGRATION                                            Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel,
     TÜR AUF FÜR DIE NACHBARN                                Arbeitslager, Verheiratung wider Willen –
     Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern               was unter „moderne Sklaverei“ zusammen-
     nutzen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte,             gefasst wird, ist weltweit anzutreffen.
     um in einem anderen Mitgliedsland zu
     arbeiten. Diese Mobilisierung ist problematisch,   54   CARE-ARBEIT
     wenn sie nur den Zielländern hilft.                     DIE GROSSE VERLAGERUNG
                                                             Ehemals unbezahlter Haushalts-, Sorge-
40   EU-ARBEITNEHMERRECHTE                                   und Pflegeaufwand wird immer stärker
     VIEL VERTRAUEN VERSPIELT                                in bezahlte Arbeit verwandelt. Aber
     Die Europäische Union richtet erst langsam              das soll den Staat möglichst wenig kosten.
     ihren Blick auf die Rechte der Beschäftigten.
     In der Eurokrise hat sich die Kommission           56   GRUNDEINKOMMEN
     auf die Seite der harten Einsparer gestellt.            VIELE BEDINGUNGEN IM LAND
                                                             DER FREIHEIT
42   EU-JUGEND                                               Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar?
     RESIGNIERTE UND EMPÖRTE                                 Bislang ist seriös nicht beantwortet, wie
     Die jüngsten Wirtschaftskrisen in der EU                Erwerbsarbeit und Einkommen
     haben die Lage vieler Jugendlicher weiter               gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten.
     verschlechtert. Aber sie haben begonnen,
     sich zu wehren.                                    58   FAULHEIT
                                                             „FALLENDES MINIMUM“ AN ARBEIT
44   TEXTIL                                                  In Müßiggang zu leben war immer eine
     ARMUT AM KLEIDERBÜGEL                                   elitäre Idee. Heute geht es um Arbeitszeit-
     Starker Druck auf die Industrie und                     verkürzung und Work-Life-Balance.
     verantwortungsvoller Konsum können
     dem menschenverachtenden                           60   AUTORINNEN UND AUTOREN,
     Konkurrenzkampf in der Textilindustrie                  QUELLEN VON DATEN, KARTEN
     ein Ende bereiten.                                      UND GRAFIKEN

                                                                                                    ATLAS DER ARBEIT   5
VORWORT

    LIEBE LESERINNEN                          entfernt sind, allen Beschäftigten
    UND LESER,                                gute Rahmenbedingungen und gleiche
                                              Rechte bei der Arbeit zu bieten.
                                              So wird deutlich, wo und wie

    A
           rbeit ist für die meisten          politisches Handeln notwendig ist.
           Menschen mehr als nur der

                                              D
           Broterwerb. Arbeit definiert              ie Gestaltung von Arbeits-
    in der Regel den gesellschaftlichen              bedingungen ist zudem seit
    Status, nicht nur durch das Einkommen,           Langem keine nationale
    sondern durch den Beruf selbst.           Angelegenheit mehr. Sie ist eine
    Arbeiten zu können, bedeutet soziale      Aufgabe internationaler politischer
    Teilhabe und gesellschaftliche            Steuerung. Die Konkurrenz unter
    Integration. Überall in der Welt wird     den Steuersystemen und die
    über Arbeit und die damit verbundene      Kapitalmärkte bestimmen längst
    Wertschätzung debattiert.                 Investitionen wie Handelswege und
                                              damit nationale Politik: Wenn
    Arbeit ist keine Ware, deren Preis        Großkonzerne gezieltes Steuerdumping
    und Bedingungen willkürlich               betreiben, wenn Kapitalmärkte in
    festgelegt werden können oder nur         Turbulenzen geraten oder gar
    vom Markt bestimmt werden dürfen.         abstürzen, dann treffen die Folgen die
    Arbeitsbedingungen und Löhne              Schwächsten: die Beschäftigten.
    sind immer auch das Ergebnis              Darauf hat die Politik immer noch
    politischer Entscheidungen, oft           keine adäquaten Antworten –
    harter Konflikte und politischer          weder national noch auf europäischer
    Systeme. Dieser Atlas der Arbeit soll –   oder internationaler Ebene.
    ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
    die Bandbreite von Arbeitsbeziehungen     Hinzu kommt, dass wir in der Arbeitswelt
    darstellen; er vergleicht Systeme         mit neuen Herausforderungen
    in verschiedenen Staaten und              konfrontiert sind, während lange
    beschreibt, wie Arbeitsbedingungen        währende Missstände längst nicht
    gestaltet werden können. Der Atlas        beseitigt sind: So ist es bisher nicht
    zeigt, wie weit wir leider von dem Ziel   einmal gelungen, die schlimmste

6   ATLAS DER ARBEIT
Form der Arbeitsausbeutung, die            erreichen häufig mit ihrer Tarifpolitik
Sklaverei, zu eliminieren, so sind         nicht nur Lohnerhöhungen, sondern
vielfach nicht einmal in den klassischen   sie haben auch zukunftsweisende
Industrie- und Dienstleistungs-            Konzepte bei der Arbeitszeit, der Weiter-
branchen grundlegende Rechte und           bildung oder auch der Altersvorsorge.
Bedürfnisse der Beschäftigten gesichert,   Sie treiben politische Forderungen wie
während sich mit der Digitalisierung       die eines gesetzlichen Mindestlohns
das Arbeiten in fast allen Bereichen       oder guter Arbeitsschutzstandards
grundlegend wandelt. Was fehlt,            voran. Ihre internationalen
sind Regeln und Gesetze, die zu den        Organisationen unterstützen Gewerk-
neuen Bedingungen passen. Entgrenzte       schafterinnen und Gewerkschafter
Arbeitszeiten, internationales             weltweit. Doch sie sind nicht in
Crowdworking, Big Data, internationale     allen Ländern stark, ja, sie werden
Dienstleistungsplattformen, neue           in einigen Staaten mit allen Mitteln
Berufe, die entstehen, alte Berufe,        bekämpft oder gar verboten.
die verschwinden, Datenschutz,

                                           D
Machtkonzentration bei Konzernen,                 ieser Atlas der Arbeit vermittelt
wachsende Ungleichheit – die                      facettenreich, wie unsere
Transformation der bisherigen                     Arbeitswelt heute gestaltet ist,
Arbeitswelt zur neuen Arbeitswelt ist      wie sie sich ständig wandelt und welche
ein großer Auftrag, für die Politik        Möglichkeiten wir – besonders Politik,
und besonders für Gewerkschaften.          Gewerkschaften, Zivilgesellschaft –
                                           haben, sie zu verändern. Er liefert damit

G
       ewerkschaften sind weltweit         eine solide Grundlage, um über die
       wichtig, um die Arbeits-            Arbeit der Zukunft zu diskutieren.
       bedingungen der Gegenwart
und der Zukunft mitzugestalten. Dort,      Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!
wo sie stark sind, wo es die
Mitbestimmung im Betrieb und
im Aufsichtsrat gibt, geht es
                                           Reiner Hoffmann              Michael Guggemos
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern        Vorsitzender des Deutschen   Sprecher der Geschäftsführung
nachweislich besser. Gewerkschaften        Gewerkschaftsbundes          der Hans-Böckler-Stiftung

                                                                                          ATLAS DER ARBEIT   7
16 KURZE LEKTIONEN

           ÜBER DIE WELT DER ARBEIT

                       1   Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben
                           BESSERE ARBEITSBEDINGUNGEN und höhere Löhne,
                           wenn GEWERKSCHAFTEN ihre Interessen
                           vertreten und für sie Tarifverträge abschließen.

                                          2   Die Einkommen in Deutschland entwickeln sich ungleich.
                                              Die EINKOMMEN AUS ARBEIT steigen – wenn überhaupt – nur
                                              schwach, die AUS KAPITAL weitaus stärker.

                       3   FRAUEN verdienen immer noch weniger als
                           Männer und haben schlechtere Chancen bei der Karriere.
                           Sie erhalten auch GERINGERE RENTEN.

                                     4   Die Arbeit geht uns nicht aus, obwohl die
                                         Arbeitskräfte dank AUTOMATISIERUNG und
                                         Digitalisierung immer produktiver werden.

                                               5   Millionen von Menschen haben heutzutage nur Mini-
                                                   oder Teilzeitjobs, Werk- oder Zeitverträge, weil die Politik
                                                   den ARBEITSMARKT DEREGULIERT hat.

                       6   Der NIEDRIGLOHNSEKTOR ist in DEUTSCHLAND
                           seit den 1990er-Jahren stark angewachsen und
                           mittlerweile einer der größten in Europa.

                                     7   Die DIGITALISIERUNG verändert die Arbeitsabläufe stark
                                         und verlangt von den Arbeitenden, dass sie zeitlich
                                         flexibler arbeiten. Die Grenzen zwischen JOB UND FREIZEIT
                                         verschwimmen.

8   ATLAS DER ARBEIT
8   Obwohl in Deutschland so viele Menschen wie noch nie arbeiten, ist die Zahl der
    LANGZEITARBEITSLOSEN nur geringfügig gesunken. Für sie tut die Politik wenig.

                9    Das STREIKRECHT ist ein Grund- und ein MENSCHENRECHT.
                     Doch in zahlreichen Ländern ist dieses Recht stark bedroht.

10 Weltweit sind 40 Millionen Menschen OPFER
    VON MODERNER SKLAVEREI. In den
    meisten Fällen sind davon Frauen betroffen.

             11 In INDIEN sind mehr als zwei Drittel der Arbeitsplätze durch
                    Automation bedroht, in CHINA sogar noch mehr. Künftige HIGHTECH-
                    Produkte werden wieder in Europa oder den USA hergestellt werden.

     12 Immer öfter werden FRÜHER UNBEZAHLTE TÄTIGKEITEN
         wie Kinderbetreuung, Pflege oder die Haushaltsreinigung
         an private Dienstleister und Dienstleisterinnen ausgelagert.

                          13 Die duale AUSBILDUNG in Berufsschulen und
                              Betrieben garantiert bislang eine hohe Qualifikation
                              von Auszubildenden. Auf die Digitalisierung ist
                              sie noch nicht genügend vorbereitet.

14 Deutsche, skandinavische oder niederländische JUGENDLICHE
    haben gute Chancen auf Arbeit. Südeuropäische Jugendliche
    wissen, dass sie ARBEITSLOSIGKEIT oder Prekariat erwartet.

                              15 Immer mehr Menschen arbeiten NICHT IN IHREN
                                  HEIMATLÄNDERN. Dieser Trend wird in den nächsten
                                  Jahren noch erheblich zunehmen.

     16 Der KAPITALISMUS ist KEIN PERMANENTER KLASSENKAMPF, sondern
         er funktioniert am besten, wenn auch die Arbeitnehmer profitieren.

                                                                                      ATLAS DER ARBEIT   9
GESCHICHTE

     VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG
     Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im                                            wird zum „Beruf“, ja zur „Berufung“. Sie bietet die Mög-
     Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen,                                           lichkeit, die innere und die äußere Natur des Menschen
     und die Gesellschaft wandelte sich zur                                               zu verändern, meinte Adam Smith. Und der Philosoph
     Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care-                                          Immanuel Kant glaubte: „Je mehr wir beschäftigt sind, je
                                                                                          mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir
     Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich.
                                                                                          uns unseres Lebens bewusst.“
                                                                                              Für Teile des Bürgertums mag das so gewesen sein. Für

     W
                er nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.                             die Mehrheit blieb Arbeit Mühsal und Plage, um die eigene
                Diesen Satz des Apostels Paulus aus der Bibel                             Existenz zu sichern – doch mit wachsendem Bewusstsein
                zitieren Kirchenleute, aber auch Ungläubige                               für den Wert des eigenen Tuns, wie die Arbeiterbewegung
     gerne. Selbst in die Verfassung der Sowjetunion von 1936                             zeigte. Arbeit wurde mit dem Aufschwung des Kapitalis-
     hat er es geschafft. Ihr Artikel 12 verpflichtet jeden arbeits-                      mus seit dem späten 18. Jahrhundert zur Erwerbsarbeit
     fähigen Bürger auf diesen Grundsatz – bei seiner Ehre.                               und damit zur Säule der „Arbeitsgesellschaft“, die mit
     Doch damit wird das Bibelwort gehörig missverstanden.                                der Industrialisierung entstand. Ihr folgten die Industrie-
     Schließlich bezieht es sich auf das Leben seit der Vertrei-                          gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts, in der
     bung aus dem Paradies. Arbeit ist Mühsal und Plage, mit                              die Mehrheit der Werktätigen in der Industrie arbeitete,
     der die Menschen von Gott bestraft werden, und daher                                 und dann die Dienstleistungsgesellschaft, die seit den
     nichts Erstrebenswertes.                                                             1970er-Jahren in den westlichen Staaten vorherrschte. In
        Nicht nur in der Bibel, auch im antiken Griechenland                              den vergangenen zwei Jahrzehnten bildete sich schließ-
     war der Begriff negativ konnotiert. Arbeit und Bürger-                               lich die postindustrielle Gesellschaft heraus, in der vor al-
     recht waren Gegensätze. Körperliche Arbeit verrichteten                              lem die Digitalisierung die Arbeitswelt zu revolutionieren
     Unfreie. Wenn der Stadtbürger auf dem Versammlungs-                                  begonnen hat.
     platz diskutierte, galt das nicht als Arbeit, sondern als                                Gleich geblieben ist, dass der Kapitalismus das Wirt-
     eine geistige Tätigkeit. Diese Einschätzung vertrat das                              schaftssystem dominiert – und in ihm die Erwerbsarbeit,
     Christentum noch bis nach der ersten Jahrtausendwende.                               vor allem die abhängige Lohnarbeit. Zwar gab es Lohn-
        Seit dem Mittelalter und vor allem der Frühen Neuzeit                             arbeit schon seit den frühesten Gesellschaften, doch nun
     wandelt sich in Europa der Arbeitsbegriff ins Positive.                              wurde sie zum Massenphänomen – und zum Gegenstand
     Von Luthers „Ora et labora“ („Bete und arbeite“) über die                            marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, also zur Ware. Für
     Werke der Aufklärer bis zu Max Webers „protestantischer                              Friedrich Engels war Arbeit „eine Ware wie jede andere,
     Ethik“ lässt sich eine Aufwertung der Arbeit nachzeich-                              und ihr Preis wird daher genau nach denselben Geset-
     nen, die nun als Quelle von Eigentum, Wohlstand und                                  zen bestimmt werden wie der jeder anderen Ware“. Karl
     menschlicher Selbstverwirklichung gesehen wird. Arbeit                               Marx entwickelte im „Kapital“ 1867 die Mehrwerttheorie
                                                                                          und definierte den Tauschwert eines Gutes durch die in
                                                                                          ihm repräsentierte Arbeitszeit. Da ein Mensch länger ar-
                                                                                          beiten könne, als er an Gütern für sein Überleben benöti-
        ENTFREMDUNG ODER SINNHAFTIGKEIT
        Meinungsumfrage über die Wahrnehmung der eigenen
                                                                                          ge, werde dieser Mehrwert vom Kapitalisten abgeschöpft.
        Arbeit, 2016, in Prozent                                                          Marx wurde jedoch schon zu seinen Lebzeiten empirisch
                                                                                          widerlegt, weil die Arbeiter sich zu schlagkräftigen Ge-
             Leisten Sie                                                                  werkschaften zusammenschlossen, die Lohnerhöhungen
           mit Ihrer Arbeit                      9                                        durchsetzten – und damit Anteile am Mehrwert.
           einen wichtigen            21
           Beitrag für die                                                                    Seitdem haben sich die Vorstellungen von Arbeit ver-
            Gesellschaft?                                                                 ändert. Zwischenzeitlich etablierte sich die Idee des Nor-
                                                         26                               malarbeitsverhältnisses, das in der Regel dazu führte, dass
                                                                                          der Mann den Lebensunterhalt für die Familie verdient.
                                                                                          Tatsächlich reichte der Verdienst jenseits von Bürgertum
                                                                 ATLAS DER ARBEIT / DGB

           gar nicht
           in geringem Maße             44
           in hohem Maße
                                                                                          Arbeit nützt nicht nur dem Einzelnen, sie
           in sehr hohem Maße
                                                                                          bildet auch eine Grundlage der Gesellschaft.
                                                                                          Vielen ist bewusst, dass sie dazu beitragen

10   ATLAS DER ARBEIT
EIN KONTINENT VOLLER MÜHSAL
   Ausgewählte „Arbeitswörter“ und ihre Verwandten in Europa
                                                                   fjord „Bucht“      fora „Weg“
                                                                                   värk „Schmerz“
                                                                                     jobb „Job“
                                     porter „Träger“                               arbete „Arbeit“                         trud „Arbeit,
                                         to ferry                                    verk „Werk“                           Anstrengung“
                                  „tragen, verschiffen“                                arm „arm“                         rabota „Arbeit“
                                          job „Job“                  fare „reisen“
                     obair           wright „Macher“             arbeijde „Arbeit“
                     „Arbeit“ orphan „Waise“                      virke „werken“
                                 robot „Roboter“                                                                                  russisch-
                                                         werken
                                    travel „Reise“ voer „Transport“                                                               kirchenslawisch
                                 to fare „bewegen“ arbeid                                                                         pero „Feder“
                       walisisch                               job Job „kurzfristige        trud „Mühe“
                                                      „Arbeit,      Beschäftigung“         praca „Arbeit“
                         llafur „Arbeit“
                                                      Elend“ Arbeit Werk                pierzchnąc „fliegen“
                                                               fahren, Fuhre, führen
                                                                 verdrießen arm
                                                                Erbe wirken        robota „Arbeit“
                                         travail „Arbeit“              Labor práce „Arbeit“                         robota „Arbeit“
                                       travailler „anstrengen,     „Werkraum“ prchnouti „fliehen“
                                       sich bewegen, reisen“      labil „schwankend“        práca „Arbeit“
                                        pierre „Stein“
                                                                                       labor „Labor“
                                      port „Hafen“
                                    gober „verschlingen“
                                                                              serbisch, kroatisch, bosnisch   laboare
                                                                              prhati „auffliegen“
                                          job „Job“                               - d „Arbeit“                „Arbeit“
      trabalho                                                                  tru
      „Arbeit“
                   labor „Arbeit“                                travaglio „Arbeit“                           trud „Arbeit“
     lavor                                                                                                           altkirchenslawisch
               trabajo „Arbeit“                   lateinisch
                                                                   lavoro „Arbeit“                              rabotati „dienen“
     „Arbeit“                                  orbus „verwaist“                                   trud
                  piedra „Stein“                                                                                  rabu „Knecht, Sklave“
     pedra                                   tripalium „Dreipfahl“     pietra „Stein“    ndrydh „Arbeit“
    „Stein“                            labor „Mühe, Arbeit“         -urgia, -ergia    „verstauchen“
                                           labare „schwanken“       „-kunst“, „-werkskunst“
                                              trudere „fortstoßen“                         poreúō „bewegen, gehen“
                                                   portare „tragen“                          orphanos „Waise“
                                                                                                ergon „Tat“
   Wortwurzeln (*rekonstruierte Formen)                                                      energeia „Energie, Aktivität“
     *orbho- „arm, Waise, Sklave, muss arbeiten“ (indoeuropäisch)

                                                                                                                                                ATLAS DER ARBEIT / ARCHIV
     *uerg- „bewirken, machen“ (indoeuropäisch)
     *trewd- „drücken“ (indoeuropäisch)
     *per- „hintragen“ (indoeuropäisch), *portiti „senden“ (altslawisch)
     *leb- „abhängen, schwach sein“ (indoeuropäisch), labor „Wanken unter einer Last“ (lateinisch)
     tripalium „Dreipfahl, ein Folterinstrument“ (lateinisch)
     *gob „Mund“ (galloromanisch), job „Stück, Klumpen“ (mittelenglisch)

                                                                                            Auch wenn es ihnen heute nicht mehr
und Adel nur bei einer Minderheit für dieses Modell. Vor                        anzumerken ist – in vielen europäischen Sprachen
der Industrialisierung genügten die Einkünfte aus einer                           haben die Wörter für „Arbeit“ negative Wurzeln
Quelle noch seltener für den Lebensunterhalt einer gan-
zen Familie. Frauen haben zu allen Zeiten gearbeitet, in
jüngster Zeit tun sie dies mehr denn je. Dies ist nicht nur           rung diese Trennung wieder durchbrochen. Das bedeu-
auf die Emanzipation zurückzuführen, sondern auch auf                 tet für Arbeitende mehr Flexibilität, aber auch höheren
ökonomische Zwänge. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka                 Leistungsdruck, weil sie quasi immer im Dienst sind und
meint daher, dass das Normalarbeitsverhältnis nur zwi-                Arbeit weder zeitlich noch räumlich von Nichtarbeit zu
schen 1950 und 1975, also in Zeiten des ausgebauten So-               trennen ist.
zialstaates, existiert hat. Ansonsten sei es „eher die Norm               Währenddessen erweitert der öffentliche Diskurs den
als die Normalität“ gewesen.                                          Arbeitsbegriff wieder über die Erwerbsarbeit hinaus auf
    Im Zuge der sich verändernden Arbeitswelt gibt es                 bisher unbezahlte Tätigkeiten wie das Ehrenamt oder
weitere Pendelbewegungen. So hat sich mit der Industria-              Care-Arbeit. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, die längst
lisierung und Verstädterung die Arbeit vom Wohnhaus in                nicht ausgelotet sind. Sie könnten dazu führen, dass Men-
die Bergwerke, Fabriken und Büros verlagert. Die Sphären              schen künftig ihr Leben nicht mehr wie der Industrielle
von Arbeit und Nichtarbeit – später: Freizeit – trennten              Werner von Siemens 1892 mit dem 90. Psalm bilanzieren:
sich, wobei Nichtarbeit auch die unbezahlte Haushalts-                „Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Ar-
und Care-Arbeit umfasst. Heute wird mit der Digitalisie-              beit gewesen.“

                                                                                                                                 ATLAS DER ARBEIT                           11
ARBEITSMARKT

     SCHNELLER WANDEL
     Zwischen Überstunden und                                                                   Das produzierende Gewerbe trägt überdurchschnitt-
     Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst                                                  lich viel zur deutschen Wirtschaftsleistung bei. Hier ar-
     und Minijob – die Arbeitswelt                                                          beiten rund 29 Prozent aller Beschäftigten. Gewinner des
     wird vielfältiger, aber auch instabiler.                                               jüngsten Strukturwandels der Arbeitswelt ist der Dienst-
                                                                                            leistungssektor, in dem 2015 bereits etwa 70 Prozent al-
                                                                                            ler Erwerbstätigen arbeiteten. Gegenüber 1999 stieg die

     I
         n Deutschland arbeiten offiziell 75 Prozent der Men-                               Beschäftigung um mehr als fünf Millionen – besonders
         schen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren.                                kräftig im Gesundheitsbereich sowie bei Pflege und Kin-
         Tendenz: steigend. Zur deutschen Wirtschaftsleistung                               derbetreuung.
     haben 2017 mehr als 44 Millionen Menschen beigetragen,                                     Deutliche Unterschiede zeigen sich im Ost-West-Ver-
     32 Millionen von ihnen in sozialversicherungspflichtigen                               gleich. Die Zahl der Einwohner im Osten schrumpft,
     Jobs. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts hat sich diese                             während der Altersdurchschnitt steigt. Die Arbeitskräfte
     Zahl um mehr als 20 Prozent erhöht. Ein Achtel der Er-                                 sind etwas häufiger in kleineren Betrieben tätig sowie
     werbstätigen hat einen Minijob oder einen Ein-Euro-Job.                                im Bausektor und der öffentlichen Verwaltung. Weniger
     Weitere zehn Prozent sind selbstständig oder arbeiten als                              stark vertreten als im Westen sind die forschungs- und
     Familienangehörige im Betrieb mit.                                                     entwicklungsintensiven Wirtschaftszweige, die neue Pro-
         Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine große Dynamik                              dukte auf den Markt bringen.
     am Arbeitsmarkt. Jahr für Jahr werden bis zu zehn Milli-                                   Auffallend ist die deutliche Zunahme atypischer
     onen Arbeitsverhältnisse beendet und neue begründet.                                   Beschäftigungen, deren Anteil sich seit Anfang der
     Junge Menschen nehmen unmittelbar nach Schule und                                      1990er-Jahre mehr als verdoppelt hat. Dies sind insbeson-
     Ausbildung eine Arbeit auf; andere wechseln von einem                                  dere Minijobs, befristete Jobs, Leiharbeit und Solo-Selbst-
     zum anderen Betrieb oder die Stelle im selben Unterneh-                                ständigkeit. Diese Arbeitsverhältnisse sind schlechter
     men, legen eine Familienpause ein oder kehren danach                                   bezahlt und weniger stabil, und die soziale Absicherung
     auf den Arbeitsmarkt zurück.                                                           bei Arbeitslosigkeit und im Alter ist meist mangelhaft. In
         Arbeitslose sind nur an etwa jeder dritten bis vierten                             diesen prekären Arbeitsverhältnissen landen vor allem
     dieser Bewegungen beteiligt. Auch bei guter Konjunktur                                 Arbeitskräfte, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind.
     werden jährlich etwa 2,5 Millionen Beschäftigte arbeits-                                   Befristete Beschäftigung wird in der öffentlichen Ver-
     los, etwa ebenso viele Arbeitslose finden einen neuen Job.                             waltung und auch im privaten Sektor genutzt. Minijobs
     Besonders hoch ist der Personalwechsel in der Leiharbeit.                              sind vor allem im privaten Dienstleistungssektor zu fin-
     Viele Arbeitsverhältnisse sind von kurzer Dauer, und das                               den. Die Einkommen aus diesen Jobs sind steuer- und
     Risiko der Arbeitslosigkeit ist hier mehr als fünfmal so                               abgabenfrei. Derzeit gibt es allein drei Millionen Erwerbs-
     hoch wie in der Wirtschaft insgesamt. Im produzierenden
     Gewerbe – im Wesentlichen Industrie, Handwerk und
     Bau – werden beispielsweise weniger Menschen arbeits-                                                     Arbeitsstatistiken bedienen sich einer eigenen
     los, obwohl hier zehnmal mehr Beschäftigte tätig sind als                                                               Fachsprache. Aus ihren Begriffen
     in der Leiharbeit.                                                                                        ergibt sich die Struktur der Arbeitsgesellschaft

         SYSTEMATIK
         Offizielle Begriffe der Arbeitsstatistik

                                                 alle Erwerbstätigen                                                           Beschäftigungslose

                                                             Erwerbspersonen                                                             stille Reserve*

                                 abhängig Beschäftigte
                                                                                             Selbstständige,                                          im
                                                                                                                      registrierte   in Maß-
                                                                                                                                                              ATLAS DER ARBEIT / BA

                                                                                              mithelfende                                           engeren
          sozialversicherungs-             geringfügig          Beamte, Richter,                                      Arbeitslose    nahmen
                                                                                           Familienangehörige                                        Sinn*
          pflichtig Beschäftigte           Beschäftigte            Soldaten

         * Die stille Reserve besteht aus Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und im engeren Sinne
           aus unregistrierten Arbeitsuchenden sowie potenziellen Rückkehrern auf den Arbeitmarkt.

12   ATLAS DER ARBEIT
DIE STRUKTUR IM ÜBERBLICK                                                       0,7                   0,7                  0,6
   Eckdaten des deutschen Arbeitsmarktes, 2007–2017, in Millionen Personen
                                                                                     10,1                    10,4                  10,7
      Erwerbstätige im Inland                Land-, Forstwirtschaft,
        Selbstständige                       Fischerei                            2007                  2012                 2017
        Arbeitnehmer                         Industrie, Handwerk, Bau         29,5                    31,0                  33,0
                                             Dienstleistungen
                         4,3
                4,6
        4,5
                                                        sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
                                                        geringfügig Entlohnte                                      in Maßnahmen
                                                        registrierte Arbeitslose                                   gemeldete Stellen

                                                        2007    27,1               5,0         3,8           1,6      0,4
                37,5    40,0
       35,8

                                                                                                                                           ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS, BA
                                                        2012     29,3                5,0        2,9          1,0      0,5

                                                        2017      32,2                   4,8      2,5        0,9      0,7
       2007     2012     2017

                                                                                                Die Beschäftigung nimmt zu, aber
tätige, die zusätzlich zu ihrem Hauptjob eine solche Ne-                                    noch viele Millionen Schlechtverdiener
bentätigkeit ausüben.                                                                                       und Arbeitslose bleiben
    Auch die Zahl der regulär sozialversicherten Teilzeit-
kräfte hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt.
Meist sind es, wie bei den Minijobs, Frauen. Dass insge-         Bürotätigkeit stark digitalisiert. Aufstiegschancen erföff-
samt mehr weibliche Arbeitskräfte beschäftigt sind, ist          net dies nur qualifizierten Arbeitskräften. Betriebliche
auf die wachsende Zahl an Teilzeitjobs zurückzuführen.           Prozesse flexibilisieren und beschleunigen sich. Die An-
Wenn Frauen Familien gründen, reduzieren sie oder un-            forderungen an vernetztes Arbeiten steigen ebenso wie
terbrechen ihre Erwerbstätigkeit, während Männer über            psychosoziale Belastungen. Mit dem digitalen Wandel
die Lebensphasen relativ konstant in Vollzeit arbeiten.          entstehen neue Produktions- und Logistikketten, etwa
Eine etwas größere Teilzeitquote zeigt sich bei Männern          im Onlinehandel. Die Arbeitswelt wird vielfältiger, aber
nur bei Berufseintritt sowie vor dem Ruhestand.                  auch instabiler. Die gesellschaftliche Bedeutung von und
    Insgesamt verschwimmen bei der Arbeit zu einem               die Orientierung auf Erwerbsarbeit hat dies jedoch nicht
Gutteil die Grenzen von Arbeitswelt und Freizeit. Arbeits-       verringert, sondern eher erhöht.
rhythmen außerhalb der „normalen“ Wochenarbeitszeit
nehmen zu. Zwar liegt die Arbeitszeit in Deutschland un-
ter dem EU-Durchschnitt, doch ein Neuntel aller Vollzeit-
                                                                    UNGLEICH MIT KINDERN
beschäftigten arbeitet mehr als 48 Stunden pro Woche.               Erwerbstätigenquoten von Kinderlosen und Eltern,
Die Zahl der nicht bezahlten Überstunden ist höher als              2015/16, in Prozent
die der vergüteten. Ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitet
wieder samstags und der Anteil derjenigen, die sonntags
arbeiten, hat sich auf 14 Prozent erhöht. Hohe Anforde-                       71               66                                    60
                                                                                                                     83
rungen an die zeitliche Flexibilität werden auch an die
                                                                         Männer          Frauen                    Männer     Frauen
Beschäftigten gestellt, die Bereitschaftsdienste haben
oder Nacht- und Schichtarbeit verrichten.                                      ohne Kind                              mit Kindern
                                                                                                                      allen Alters
    Reine Fertigungstätigkeiten und körperliche Arbeiten
verlieren an Bedeutung. Zugenommen hat die Verdich-
tung der Arbeit, während ihre Spielräume abnehmen. Die                                                                               37
                                                                                               45
Industrieproduktion ist heute hochautomatisiert und die
                                                                                                                                           ATLAS DER ARBEIT / BA, WSI

                                                                             82                                      84
                                                                         Väter           Mütter                     Väter      Mütter

                        Die größten Unterschiede auf dem                     mit einem Kind                       mit zwei Kindern,
                                                                             unter 6 Jahren                    jüngstes unter 6 Jahren
                          Arbeitsmarkt bestehen zwischen
                   Vätern und Müttern mit kleinen Kindern

                                                                                                                              ATLAS DER ARBEIT                               13
EINKOMMEN

     IM KAMPF UM BRANCHEN-
     TARIFVERTRÄGE
     Von steigenden Löhnen profitieren vor allem                                                                    40 Prozent der Einkommensbezieherinnen und -bezieher
     Gutverdienende – auch tarifgebundene                                                                           nehmen nicht stark genug zu, um die steigenden Preise –
     Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst                                                                   allen voran die Mieten – zu kompensieren.
     der Niedriglohnsektor.                                                                                             Dass in immer weniger Betrieben Tarifverträge gelten,
                                                                                                                    trägt dazu bei, dass sich Einkommen auseinanderentwi-
                                                                                                                    ckeln. Löhne und Gehälter werden maßgeblich durch Tarif-

     S
             eit Jahrzehnten wächst in Deutschland die Un-                                                          verträge festgelegt, die Arbeitgeberverbände oder einzelne
             gleichheit sowohl bei den Einkommen wie den                                                            Unternehmen mit Gewerkschaften abschließen – sie gelten
             Vermögen. Das birgt ökonomische, soziale und                                                           faktisch für alle Beschäftigten der tarifgebundenen Betrie-
     politische Probleme und rückt daher immer stärker ins                                                          be, nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. Deutschland ist
     Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Zu erkennen ist                                                        von Branchentarifverträgen (auch „Flächentarifverträge“
     die ungleiche Entwicklung, wenn die Einkommen von ab-                                                          genannt) geprägt. Tarifgebundene Arbeitnehmerinnen
     hängig Beschäftigten mit denen der Selbstständigen ver-                                                        und Arbeitnehmer verdienten im Jahr 2014 mit 20,74 Euro
     glichen werden. Präzise formuliert: wenn die Lohnquote                                                         pro Stunde rund 18 Prozent mehr als Beschäftigte in nicht
     untersucht wird, der Anteil der Arbeitnehmerentgelte                                                           tarifgebundenen Betrieben (17,52 Euro). Viele Unterneh-
     am Volkseinkommen. Sie ging in den vergangenen Jah-                                                            men fliehen aus der Tarifbindung, weil sie die Lohnkosten
     ren zurück und umgekehrt stieg der Anteil der Gewinn-                                                          senken wollen. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet
     und Vermögenseinkommen. Anfang der 2000er-Jahre be-                                                            in einem tarifgebundenen Betrieb.
     trug die Lohnquote rund 72 Prozent, derzeit liegt sie bei                                                          Grundsätzlich fallen die Verdienste der Beschäftigten
     68 Prozent.                                                                                                    je nach Branche und Betriebsgröße sehr unterschiedlich
         Hinzu kommt: Der Anteil der Menschen, die wenig                                                            aus. So reichen die Bruttostundenverdienste von 9,63
     Geld zur Verfügung haben, wird größer. Die Einkommens-                                                         Euro im Gastgewerbe am unteren Ende über 14,95 Euro
     mitte wird dünner, während die Gruppe der Menschen                                                             im Handel, 21,05 Euro im verarbeitenden Gewerbe bis zu
     mit hohem Einkommen wächst. Die Löhne der unteren                                                              27,80 Euro in der Energieversorgung.
                                                                                                                        Teilzeitbeschäftigte erhalten im Schnitt über drei Euro
                                                                                                                    je Stunde weniger als Vollzeitbeschäftigte. In Großbe-
                                                                                                                    trieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten liegt der durch-
        POLARISIERTE LOHNSTRUKTUR
        Stundenlöhne nach Einkommenszehnteln (Dezilen),
                                                                                                                    schnittliche Bruttostundenverdienst bei 21,99 Euro und
        durchschnittliche Veränderung 1995–2015, in Prozent                                                         damit sehr viel höher als in Kleinbetrieben mit bis zu
                                                                                                                    neun Beschäftigten (12,39 Euro). Frauen verdienen weni-
                          höchstes
                                      10. Dezil                           +8                                        ger als Männer. Der Lohnabstand beträgt seit Jahren rund
                 Einkommenszehntel
                                                                                                                    22 Prozent.
                                       9. Dezil                                +10                                      Eine wichtige Ursache für die polarisierte Lohnstruk-
                                       8. Dezil                                +10                                  tur in der Bundesrepublik ist der seit den 1990er-Jahren
                                                                                                                    wachsende Niedriglohnsektor. Er gehört mittlerweile zu
                                       7. Dezil                           +8
                                                                                                                    den größten in Europa. Fast jeder und jede vierte abhän-
                                       6. Dezil              +4                                                     gig Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und
                                                                                                                    lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobberin-
                                       5. Dezil         +1
                                                                                                                    nen, gering Qualifizierte, junge Menschen und ausländi-
                                     -4               4. Dezil                                                      sche Beschäftigte arbeiten besonders häufig für niedrige
                                                                                                                    Löhne. Dies hat politische Gründe wie die Hartz-Refor-
                               -6                     3. Dezil
                                                                                                                    men, mit denen der Arbeitsmarkt dereguliert wurde und
                                                                                          ATLAS DER ARBEIT / BMAS

                         -7                           2. Dezil

                                                                 niedrigstes
                         -7                           1. Dezil
                                                                 Einkommenszehntel
                                                                                                                    Während die höheren Einkommen zugelegt
           -10                -5                  0                 5                10                             haben, sind die niedrigsten 40 Prozent
                                                                                                                    der Stundenlöhne sogar deutlich gesunken

14   ATLAS DER ARBEIT
OHNE FORTSCHRITT: DER NIEDRIGLOHNSEKTOR
   Stundenlöhne unter zwei Drittel des mittleren Lohnes in Ost-, West- und Gesamtdeutschland,
   1995–2015, in Prozent der Beschäftigten

   50

   45                                   Ostdeutschland
                                                                            40,6
                       38,7
   40                                                                                                                 36,3
   35

   30
                                               35,3
                                                                                    24,2
   25                         Deutschland gesamt                                                                      22,6

   20      16,2
                                                                                    21,2                              19,7
   15

   10                                                  Westdeutschland
           11,7

                                                                                                                                                            ATLAS DER ARBEIT / IAQ
    5

    0
     1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

   Die Niedriglohnschwelle lag 2015 bei einem Stundenlohn von 10,22 Euro.

                                                                                                              Die Niedriglöhne sind verfestigt. Dabei
die einen erheblichen wirtschaftlichen Druck auf Arbeits-                                                    hat der Mindestlohn bewiesen, dass die
lose ausüben. Daher erlebt auch die Leiharbeit seitdem                                                       Wirtschaft Erhöhungen verkraften kann
einen starken Aufschwung.
    Ursachen für den wachsenden Niedriglohnsektor
sind zudem Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur.                              erst, wenn er in den kommenden Jahren stärker steigen
Deutschland ist zwar mit einem 23-prozentigen Anteil der                           würde als die Tariflöhne.
Industrie an der Wertschöpfung ein vergleichsweise star-                               Angemessene Verdienste oberhalb des Mindestlohns
kes Industrieland, aber der Anteil der Dienstleistungen                            wären wiederum nur mit gestärkten Tarifvertragssyste-
wächst und damit auch der Anteil an einfachen, schlecht                            men zu erreichen. Seit 2015 ist es immerhin leichter gewor-
bezahlten Jobs. Unterstützt wird der Trend durch das ge-                           den, einen Tarifvertrag für alle Betriebe einer Branche als
zielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen,                              allgemeinverbindlich zu erklären, also auch für die nicht
Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst zu                             tarifgebundenen. Bei allgemeinverbindlichen Tarifver-
Industriebetrieben gehörend.                                                       trägen gelten die Bedingungen und neu ausgehandelten
    Als Gegenmaßnahme zum wachsenden Niedriglohn-                                  Lohnerhöhungen für alle Beschäftigten einer Branche.
sektor wurde nach langen Auseinandersetzungen 2015                                 Derzeit sind rund 440 Tarifverträge allgemeinverbindlich,
erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn                               das sind lediglich 1,5 Prozent der Branchentarifverträge.
von 8,50 Euro eingeführt. 2018 stieg er, orientiert an den                         Hier gibt es offenkundig noch Luft nach oben.
vorausgegangenen Tariferhöhungen, auf 8,84 Euro. Die
Prognosen vieler Wirtschaftsexperten, dass mit dem Min-
destlohn die Arbeitslosigkeit steige, bewahrheiteten sich
                                                                                      DIE KLUFT BLEIBT GROSS
nicht. Im Gegenteil: Die Arbeitsmarktlage hat sich weiter                             Einkommensverläufe in Deutschland, 2000–2017,
verbessert. Die Zahl der Minijobs ging zurück, sie wurden                             2000 = 100
teilweise in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhält-                           180
                                                                                                                                                    175,2
nisse umgewandelt. Der Mindestlohn hat das Arbeitsein-                               170
                                                                                                  Unternehmens- und
kommen am unteren Ende also stabilisiert.                                                        Vermögenseinkommen
                                                                                     160
    Zahlreiche Arbeitgeber umgehen allerdings den ge-                                                                                               149,3
                                                                                     150
setzlichen Mindestlohn; die Kontrollen, um dieses illega-
                                                                                     140
le Verhalten zu bekämpfen, reichen nicht aus. Der Min-
                                                                                     130
destlohn liegt aktuell bei etwa der Hälfte des mittleren
                                                                                                                                                            ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

Stundenlohns (Medianlohn). Existenzsichernd wäre er                                  120

                                                                                     110

                                                                                     100                              Arbeitnehmerentgelt
                          Selbst während der Weltfinanzkrise                           0
             stiegen die deutschen Unternehmenseinkommen                                2000   2002   2004     2006   2008   2010   2012   2014   2016

                           stärker als die Löhne und Gehälter

                                                                                                                                              ATLAS DER ARBEIT                            15
GEWERKSCHAFTEN

     VERHANDELN BIS ZUM STREIK
     Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung –                                                           den letzten Jahren durch neue Anwerbestrategien wieder
     das sind in Deutschland die beiden                                                                      steigern können.
     wichtigsten Elemente der Beziehungen                                                                        Wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist die Tarif-
     zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.                                                            politik, sind also die regelmäßigen Verhandlungen mit
                                                                                                             Arbeitgebern über Tarifverträge. Dabei geht es um quan-
                                                                                                             titative Ziele wie Lohn und Gehalt, aber auch um qualita-

     M
               enschen müssen nicht mehr 16 Stunden am Tag                                                   tive wie Arbeitszeit, Urlaubstage, Sicherung der Beschäf-
               arbeiten. Ihr Lohn wird bei Krankheit weiterge-                                               tigung oder Ausstattung mit Personal. Allein 2018 werden
               zahlt. Und er steigt regelmäßig. All das haben                                                Tarifverträge für fast zehn Millionen Beschäftigte verhan-
     die Beschäftigten den Gewerkschaften zu verdanken, die                                                  delt. Von den Verhandlungsergebnissen profitieren nicht
     seit Mitte des 19. Jahrhunderts für diese Ziele kämpfen.                                                nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschäf-
     Immer noch gilt weltweit: Wo Gewerkschaften stark sind,                                                 tigten eines tarifgebundenen Betriebes. Insgesamt gibt es
     haben es Beschäftigte besser. Die acht Gewerkschaften,                                                  derzeit in Deutschland über 70.000 Tarifverträge. Jährlich
     die unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes                                                    werden zwischen 5.000 und 6.000 von ihnen erneuert.
     (DGB) organisiert sind, bilden zusammen die größte zivil-                                                   Die meisten Tarifverhandlungen führen ohne Streiks
     gesellschaftliche Organisation des Landes.                                                              zu einem Ergebnis. Doch als letztes Mittel wird dieses In-
         Allerdings sinkt die Zahl der Gewerkschaftsmitglie-                                                 strument von den Gewerkschaften in Tarifkonflikten im-
     der. Damit geht auch ihr Einfluss auf Arbeitsbedingungen                                                mer wieder eingesetzt. Im internationalen Vergleich wird
     und Löhne zurück. Ende 2017 verfügten die DGB-Gewerk-                                                   in Deutschland relativ wenig gestreikt. Zu den Gründen
     schaften über knapp sechs Millionen Mitglieder – von                                                    gehört auch, dass politische Streiks – etwa, um eine Re-
     insgesamt rund 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und                                                       gierung unter Druck zu setzen – im Gegensatz zu anderen
     Arbeitnehmern. Zur Jahrtausendwende waren es noch 7,8                                                   europäischen Ländern hier verboten sind.
     Millionen. Gründe dafür gibt es viele: In den Betrieben                                                     Die Zahl der Streiks schwankt von Jahr zu Jahr sehr
     wurden Arbeitsplätze umstrukturiert, durch Maschinen                                                    stark. In der mitgliederstarken Metallindustrie beteili-
     ersetzt oder verlagert, besonders in der gewerkschaftlich                                               gen sich oft Hunderttausende an den Arbeitskämpfen.
     gut organisierten Industrie. Hinzu kommen die Privati-                                                  Aber auch im Dienstleistungssektor (Handel, Sozial- und
     sierung von Bahn und Post sowie der wachsende Dienst-                                                   Erziehungsdienst, Krankenhäuser) wird zunehmend
     leistungssektor mit kleineren Betrieben. Dort arbeiten                                                  gestreikt. Neben den DGB-Gewerkschaften haben auch
     häufig prekär Beschäftigte, die sich seltener organisieren                                              Berufsgewerkschaften wie die Vereinigung Cockpit, die
     als Arbeiter und Angestellte in der Industrie. Der Mitglie-                                             Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die
     derschwund hat sich allerdings deutlich verlangsamt.                                                    Ärztegewerkschaft Marburger Bund gezeigt, dass sie zu
     Einzelne Gewerkschaften haben ihre Mitgliederzahlen in                                                  wirksamen Streiks bereit und in der Lage sind.
                                                                                                                 Doch die Tarifwelt verändert sich, weil immer mehr
                                                                                                             Arbeitgebende aus den branchenbezogenen Flächen-
                                                                                                             tarifverträgen flüchten, um billiger zu produzieren. Ar-
        VEREINZELUNG BEI DEN ARBEITSVERTRÄGEN
        Tarifbindung der Beschäftigten 1998–2016, in Prozent
                                                                                                             beitskämpfe um Haustarifverträge werden wichtiger. Mit
                                                                                                             der Digitalisierung stellen sich auch den Gewerkschaften
         80    76
                                                                                                             neue schwierige Aufgaben. Denn bei Dienstleistungsplatt-
         70
              63                                                            59                               formen wie Deliveroo, Uber oder Helpling arbeiten häufig
         60                                                                                                  Selbstständige, die nicht von einem Tarifvertrag geschützt
         50                                                                                                  werden. Das beginnt sich zu ändern, weil die Arbeitsbe-
                                                                                                             dingungen so schlecht sind. Im Januar 2018 gründeten
         40                                                                 47
                                                                                                             Fahrradkuriere bei Deliveroo einen Betriebsrat.
         30               Branchen- und Firmentarife West
                                                                                                                 Das zweite zentrale Element der deutschen Arbeits-
         20                    Branchen- und Firmentarife Ost                                                beziehungen ist die Mitbestimmung. Von der Belegschaft
                                                                                    ATLAS DER ARBEIT / WSI

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          1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016                                                  Die Löhne werden umso niedriger, je weniger
        Tarifverträge werden zwischen einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgeberver-
        bänden und den Gewerkschaften für die Arbeitnehmerschaft abgeschlossen.                              Beschäftigte mit einem durch Gewerkschaften
                                                                                                             ausgehandelten Tarifvertrag geschützt werden

16   ATLAS DER ARBEIT
ATLAS DER ARBEIT / DGB
   SCHWUND, ABER NOCH KEINE SCHWÄCHE
   Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften, 2005 und 2017, in 1.000                        216 200
                                                                                                    Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
          2005
                                                  252 278
          2017
                                            Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft                                260 190
                  392 255                                                                              Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft*

        IG Bauen-Agrar-Umwelt
                                                                                                            ver.di
                                            749 638
            IG Bergbau, Chemie, Energie                                            174 185                         2.359 1.987
                                                                            Gewerkschaft der Polizei
                                                  IG Metall

          2.376 2.263                                                              DGB gesamt

   * 2005: Transnet; 2010 mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA zur EVG verschmolzen               6.778 5.995
                                                                                                         Sinkende Mitgliederzahlen: In den gewerk-
gewählte Betriebsräte vertreten in Betrieben mit mindes-                                             schaftlich gut organisierten industriellen Groß-
tens fünf Beschäftigten deren Interessen. Im öffentlichen                                              betrieben wird besonders stark rationalisiert
Dienst sind es die Personalräte. In Großbetrieben sind
Betriebsräte der Regelfall, in Kleinbetrieben hat nicht ein-
mal jeder zehnte Beschäftigte eine betriebliche Interes-                             Während weltweit in Ländern die Arbeitslosigkeit schlag-
senvertretung. Wer einen Betriebsrat gründen will, muss                              artig anstieg, entwickelten in Deutschland Gewerkschaf-
häufig mit Widerstand von Arbeitgebern rechnen.                                      ten, betriebliche Interessenvertretungen und Arbeitgeber
    Eine weitere Ebene der Mitbestimmung sind die Ar-                                gemeinsam Konzepte, um Arbeitsplätze zu schützen –
beitnehmervertretungen in den Aufsichtsräten, für die es                             insbesondere durch Nutzung von betrieblichen Arbeits-
unterschiedliche Modelle gibt. Die paritätische Montan-                              zeitkonten und Kurzarbeit. Mit der Digitalisierung stehen
mitbestimmung von 1951 gilt für Betriebe der Bergbau-,                               die Gewerkschaften bei der Tarifpolitik wie bei der Mitbe-
Eisen- und Stahlindustrie mit über 1.000 Beschäftigten.                              stimmung vor neuen Herausforderungen. Sie sehen es als
Die Aufsichtsräte dieser Unternehmen werden zu gleichen                              ihre Zukunftsaufgabe, die Arbeitsbedingungen und die
Teilen von Kapital- und Arbeitnehmerseite gestellt. Die im                           soziale Absicherung zu verbessern und dabei auch neue
Jahr 1976 in Kraft getretene Mitbestimmung in Kapitalge-                             Wege zu beschreiten.
sellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten schreibt
zwar ebenfalls die paritätische Zusammensetzung des
Aufsichtsrates vor, räumt aber dem von der Kapitalseite
                                                                                                                                                                      ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

                                                                                        WARNUNG AN DIE ARBEITGEBER
gestellten Vorsitzenden ein Doppelstimmrecht ein. Das                                   Ausfalltage wegen Streik und Aussperrung,
Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 für Kapitalgesellschaf-                              je 1.000 Beschäftigte
ten, deren Beschäftigtenzahl zwischen 500 und 2.000                                     30                                                           28,3
liegt, sieht in den Aufsichtsräten, wie der Name schon
                                                                                        25
sagt, ein Drittel Arbeitnehmervertreter vor. Die Zahl der
mitbestimmten Unternehmen sinkt allerdings. Die Arbeit-                                 20
geber nutzen Schlupflöcher in der deutschen Gesetzge-
                                                                                        15
bung oder weichen auf europäische Rechtsformen aus.                                                                         12,2
    Wie wirkungsvoll das Prinzip der Mitbestimmung sein                                 10                       8,8
                                                                                              7,3
kann, zeigte sich zum Beispiel in der Finanzkrise 2007/08.
                                                                                         5                                                                    ca. 3

                                                                                         0
        Streiks im personalintensiven Dienstleistungssektor                                  1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017

                      können die großen Arbeitskämpfe der                               2015 streikten vor allem Erzieher/innen und Beschäftigte im Paketdienst.

           Metallindustrie durchaus in den Schatten stellen

                                                                                                                                                      ATLAS DER ARBEIT                              17
ARBEITSLOSIGKEIT

     WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM
     Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls                                                   EU-Drittel. Im Vergleich weist der deutsche Arbeitsmarkt
     von Hartz IV abhängigen Familien                                                              eine Besonderheit auf: Ungewöhnlich viele Menschen ar-
     geraten wieder in den Fokus der Politik,                                                      beiten Teilzeit. Im Jahr 2016 waren es 8,5 Millionen von
     weil sich für viele andere Arbeitslose bereits                                                31,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
                                                                                                   Das ist zu 2006 eine Steigerung um über 70 Prozent. Hinzu
     die Perspektiven verbessern.
                                                                                                   kommen 5 Millionen Nur-Minijobber. Bemerkenswert ist
                                                                                                   zudem, dass viermal so viele Frauen wie Männer in Teil-

     H
             istorisch gesehen sind Arbeitskräfteangebot und                                       zeit arbeiten. Das liegt vor allem daran, dass der Staat die
             Arbeitskräftenachfrage nur selten ausgeglichen.                                       sogenannten Minijobs steuerlich begünstigt.
             Während in den 1950er- und 1960er-Jahren in                                               Obwohl der Arbeitsmarkt wächst, sind immer noch
     Deutschland ständig Arbeitskräfte gesucht wurden, stieg                                       2,5 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Eine
     danach die Arbeitslosigkeit stark an. Vor allem im Zuge                                       weitere Million sucht Arbeit, zählt aber nicht als arbeits-
     der deutschen Wiedervereinigung haben viele Menschen                                          los, unter anderem, weil sie an Weiterbildungsmaßnah-
     ihren Arbeitsplatz verloren. Erst seit 2005 geht die Arbeits-                                 men teilnimmt, in öffentlich geförderter Beschäftigung
     losigkeit wieder zurück. Mittlerweile sind 44 Millionen                                       arbeitet oder durch private Vermittler betreut wird. Jede
     Menschen in Deutschland erwerbstätig, davon 32 Millio-                                        Arbeitslosenstatistik ist hoch politisch und deswegen im-
     nen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsver-                                       mer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzun-
     hältnis. Im Jahr 2017 erreichte die Erwerbstätigkeit den                                      gen. Umstritten ist besonders die wahre Zahl der Arbeits-
     höchsten Stand in der deutschen Geschichte.                                                   losen, weil Regierungen gern bestimmte Gruppen aus der
         Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und 80 Pro-                                        Statistik herausrechnen, damit sie besser dastehen.
     zent der Männer zwischen 15 und 65 Jahren, sei es als                                             In der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosen – und
     Angestellte oder Selbstständige, Teilzeitkräfte oder Mi-                                      daher auch keine entsprechende Statistik. Die Bundesre-
     nijobber – das sind Beschäftigte, die maximal 450 Euro                                        publik erreichte den niedrigsten Stand der Arbeitslosig-
     im Monat verdienen. Damit liegt Deutschland im oberen                                         keit im September 1965 mit 85.000 Arbeitslosen. Das ist
                                                                                                   heute nicht mehr zu schaffen, vor allem, weil die Beschäf-
                                                                                                   tigung immer anspruchsvoller wird. Die Arbeitslosenquo-
                                                                                                   te erfasst zudem Menschen, die keine Arbeit mehr finden,
                                                                           ATLAS DER ARBEIT / BA

        NORD-SÜD-GEFÄLLE
        Arbeitlosenquoten im März 2018 nach Bundesländern,
                                                                                                   weil sie gesundheitliche Einschränkungen haben, unge-
        in Prozent                                                                                 nügend qualifiziert oder dem Rentenalter nahe sind.
                                                                                                       Auffällig ist, dass allein in den vergangenen vier Jah-
              Schleswig-Holstein                                                                   ren über zwei Millionen sozialversicherungspflichtige
                            6,0                                                                    Arbeitsplätze entstanden sind, die Zahl der Arbeitslosen
                                      Mecklenburg-Vorpommern
                        Hamburg                                                                    aber nur um 400.000 zurückgegangen ist. Der Zuwachs
                                                8,8
              Bremen 10,1 6,6                                                                      wird in hohem Maße von Arbeitsmigrantinnen und
                                                                                                   -migranten besetzt, aber auch aus der „stillen Reserve“.
                                                 8,5 Berlin
                    Niedersachsen                                                                  Das sind Menschen, die zwar Arbeit suchen, dies aber
                                          8,3
                                                          Brandenburg
                             5,6 Sachsen-Anhalt                                                    nicht offiziell melden.
                                                          6,8                                          Als wirksame Hilfe für Arbeitslose gilt die Weiter-
         Nordrhein-
         Westfalen                                                                                 bildung, die Arbeitsagenturen und Jobcenter anbieten
                                    6,0             6,5    Sachsen
              7,1          4,8                                                                     können. Doch vor allem in den Jobcentern, in denen be-
                                    Thüringen
                                                                3,2–4,6                            sonders viele Langzeitarbeitslose betreut werden, fehlen
                          Hessen                                4,7–5,9
                4,7                                                                                dafür Mittel. Auch deshalb sind rund eine Millionen Men-
                                                                6,0–7,3
                                                                7,4–8,7
                                                                                                   schen inzwischen langzeitarbeitslos. Ihre Chancen am Ar-
               Rheinland-Pfalz            3,2
        6,4                                                     8,8–10,1                           beitsmarkt sind gering und sinken mit jedem Tag, an dem
           Saarland                        Bayern                                                  sie keine Beschäftigung finden.
                            3,3
                 Baden-Württemberg

                                                                                                   Noch immer Krisengebiete: die vom
                                                                                                   Strukturwandel überrollten früheren
                                                                                                   Industriestandorte in West- und Ostdeutschland

18   ATLAS DER ARBEIT
STETER RÜCKGANG – BIS ZUR NÄCHSTEN REZESSION
   Arbeitslose in 1.000 und wichtige Einflussfaktoren
                                                                                                  Ende des New-        Weltfinanzkrise
 5.000                                                                                           Economy-Booms 4.861
                      Westdeutschland                                             Zusammenbruch der
 4.500                Ostdeutschland                                             ostdeutschen Wirtschaft             Hartz-IV-Effekt
                      Gesamtdeutschland
 4.000                                                                                          Rezession
                                                                                                                                                Abbau der
 3.500
                                                                                                                                              Arbeitslosigkeit
                 Abbau der                                                     Rezession durch
 3.000          Nachkriegs-                                                      Ölpreiskrise
                                                                                                                                                      2.533
               arbeitslosigkeit                            Rezession durch
 2.500                                                                            2.304
                                                             Ölpreiskrise
           1.869                                                                                                                                      1.894
 2.000
                                   Vollbeschäftigung,
 1.500
                                    zwischenzeitlich
                                    milde Rezession           1.074
 1.000                                                                                                                                                 639

                                                                                                                                                                 ATLAS DER ARBEIT / BA
                                              459
  500

    0
     1950          1955     1960       1965         1970      1975      1980      1985      1990       1995       2000     2005        2010       2015 2017

                                                                                                       Früher stieg der „Sockel“ der Arbeitslosigkeit
    Der Arbeitsmarkt ist kein gewöhnlicher Markt wie ein                                                    von Krise zu Krise an. Der Trend scheint
Markt für Lebensmittel oder Autos. Für die Beschäftigten                                                gebrochen, der Sockel ist allerdings noch da
ist Arbeit die wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz.
Daher schützen Gesetze und andere Regelungen die Be-
schäftigten und fördern die Schaffung von Arbeitsplät-                              stehen von Arbeitsplätzen – durch soziale Sicherung zu
zen. Den Gewerkschaften kommt die Aufgabe zu, die Ar-                               unterstützen. Der wichtigste Hebel ist das Arbeitslosen-
beitsbedingungen – vor allem auch die Entlohnung – mit                              geld, das Arbeitslose gezahlt bekommen, wenn sie ihren
zu regeln. Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben zudem                                Arbeitsplatz verloren haben.
die Bildungs- und Sozialpolitik sowie ganz allgemein die                                Auch aus Sicht der Arbeitgeber hat die Arbeitslosenver-
Wirtschafts- und Strukturpolitik, um Krisen zu verhin-                              sicherung eine wichtige Funktion. Da sie verhindert, dass
dern oder zu bekämpfen. Zur Absicherung der Risiken am                              Beschäftigte unmittelbar in Existenznot geraten, werden
Arbeitsmarkt gibt es die Arbeitslosenversicherung, in die                           die Konflikte bei Entlassungsprozessen entschärft. Die
sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber Beiträ-                           Arbeitgeber verlagern einen Teil ihrer Verantwortung auf
ge einzahlen. Sie hat den Zweck, die Ausgleichsprozesse                             das Versicherungssystem. Deswegen ist es auch richtig,
des Arbeitsmarktes – also das Verschwinden und Ent-                                 dass sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber
                                                                                    sich an den Kosten beteiligen. Durch die Förderung von
                                                                                    Aus- und Fortbildungen sorgt die Arbeitslosenversiche-
Auch für ein bis zwei Millionen Abgehängte                                          rung zudem dafür, dass die Arbeitsuchenden sich weiter
könnte der Arbeitsmarkt langsam                                                     qualifizieren und als Fachkräfte zur Verfügung stehen
wieder öffnen. Aber der Zugang ist schwer                                           können. Auch dies liegt im Interesse der Arbeitgeber.
                                                                                                                                                                 ATLAS DER ARBEIT / IAB

   HARTZ IV – DER HARTE KERN
   Empfang von Arbeitslosengeld und Grundsicherung,                                                     Langzeitarbeitslose und Fluktuation, 2016,
   in 1.000 Personen                                                                                    in 1.000 Personen
                                                                                                                                  89

                      902                     933                     822                 819                      888
               2.897                   2.898                   2.691                2.480                                     2.691
                                                                                                                                                122
              1.995                    1.965                   1.869               1.661                                                       60

               2012                     2014                    2016            2018 (Prognose)
                                                                                                              sind länger als 1 Jahr arbeitslos
         Arbeitslosengeld            Grundsicherung (ALG II, „Hartz IV“)                                      finden innerhalb eines Monats neue Stelle

                                                                                                                                                  ATLAS DER ARBEIT                        19
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