Ifo Schnelldienst - CESifo Group Munich
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
5 2005 ifo Schnelldienst 58. Jg., 10.–11. KW, 18. März 2005 Zur Diskussion gestellt Manfred Wutzlhofer Q Nachtrag: Die Bedeutung des Messeplatzes Deutschland Forschungsergebnisse Wolfgang Ochel Q Dezentrale Lohnverhandlungen – ein Weg zu mehr Beschäftigung? Wolfgang Nierhaus Q Zur Einführung der Vorjahrespreisbasis in der deutschen Statistik Daten und Prognosen Günther Weitzel Q Umsatzstabilisierung im Buchhandel Karin Behring Q Wohnungsbau: nur Deckung des Ersatzbedarfs? Horst Penzkofer Q Anstieg der Industrieinnovationen setzte sich 2004 fort Joachim Gürtler Q DV-Dienstleister: Konjunkturerholung gewinnt an Fahrt Gernot Nerb und Anna Stangl Q Weltwirtschaft: Klimaindikator erneut zurückgegangen Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München
ifo Schnelldienst ISSN 0018-974 X Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München, Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de. Redaktion: Dr. Marga Jennewein. Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Prof. Dr. Gebhard Flaig, Dr. Gernot Nerb, Dr. Wolfgang Ochel, Dr. Heidemarie C. Sherman, Dr. Martin Werding. Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V. Erscheinungsweise: zweimal monatlich. Bezugspreis jährlich: Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,– Studenten EUR 48,– Preis des Einzelheftes: EUR 10,– jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design. Satz: ifo Institut für Wirtschaftsforschung. Druck: Fritz Kriechbaumer, Taufkirchen. Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.
ifo Schnelldienst 5/2005 Zur Diskussion gestellt Nachtrag: Die Bedeutung des Messeplatzes Deutschland 3 Ergänzend zu den im ifo Schnelldienst 3/2005 veröffentlichten Beiträgen unter- streicht Manfred Wutzlhofer, Messe München GmbH, die Bedeutung des Messe- wesens für den Standort Deutschland. Forschungsergebnisse Dezentralisierung der Lohnverhandlungen in Deutschland – ein Weg zu mehr Beschäftigung? 7 Wolfgang Ochel Im Januar 2005 waren in Deutschland 5,04 Mill. Menschen offiziell arbeitslos. Das entsprach einer Quote von etwa 12,1%. Für die hohe Arbeitslosigkeit werden das geringe Ausmaß der Lohnzurückhaltung, die unzureichende Differenzierung der Löhne und ihre ungenügende Flexibilität verantwortlich gemacht. Und diese be- schäftigungsabträgliche Lohnentwicklung wird vor allem auf das deutsche Lohn- verhandlungssystem zurückgeführt. Es stellt sich die Frage, ob über eine weiter- gehende Dezentralisierung der Lohnverhandlungen ein Anstieg der Beschäftigung in Deutschland erreicht werden kann. Zur Einführung der Vorjahrespreisbasis in der deutschen Statistik: Konsequenzen für die Konjunkturanalyse 19 Wolfgang Nierhaus Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP), der wichtigste Indikator für Konjunktur und Wirtschaftswachstum, wurde bisher in den deutschen Volkswirtschaftlichen Ge- samtrechnungen (VGR) in konstanten Preisen eines Basisjahres nachgewiesen (Festpreisbasis). Auf der Grundlage der Entscheidung der EU-Kommission vom 30. November 1998 wird bei der nächsten anstehenden großen VGR-Revision in diesem Frühjahr bei der BIP-Schätzung nun das Konzept der Vorjahrespreisbasis eingeführt. Dieser Beitrag informiert über das neue Rechenverfahren, den Grund des Systemwechsels und über einige Konsequenzen der neuen Volumenrech- nung für die Konjunkturanalyse. Daten und Prognosen Umsatzstabilisierung im Buchhandel mit unterschiedlichen Entwicklungstendenzen 28 Günter Weitzel Nachdem 2003 zum dritten Mal in Folge ein Umsatzrückgang (– 1,7%) zu ver- zeichnen war, konnte der Buchhandel im ersten Halbjahr 2004 ein leichtes Um- satzplus von 1,4% melden. Mit diesem Ergebnis zeichnet sich eine Stabilisierung des Buchmarktes ab. Wohnungsbau: Langfristig nur Deckung des Ersatzbedarfs? 34 Karin Berhing Zwischen 2000 und 2002 ging der Wohnungsneubau in Deutschland um knapp 134 000 Einheiten pro Jahr zurück. 2003 sank die Fertigstellungszahl gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 7,4%. 2004 dürfte sich der Rückgang fortgesetzt ha-
ben. Allerdings wird sich die Schrumpfung auf die neuen Länder beschränken, während in Westdeutschland dank des relativ stabilen Eigenheimbaus eine Stag- nation erwartet werden kann. In der vierten Ausgabe der Bauvorausschätzung Deutschland rechnet das ifo Institut für 2004 mit 260 000 Wohnungsfertigstellun- gen in Deutschland, davon 32 000 in Ost- und 228 000 in Westdeutschland. Anstieg der Industrieinnovationen setzte sich 2004 fort 42 Horst Penzkofer Nach den Ergebnissen des ifo Innovationstests realisierten über 58% der Indus- trieunternehmen im Jahr 2004 Produkt- und/oder Prozessinnovationen. Darüber hinaus erhöhte sich im vergangenen Jahr der Umsatzanteil von Produktinnovatio- nen in der Markteinführungsphase auf annähernd 11%, d.h. die Innovationsan- strengungen wurden intensiviert. Aus den Ergebnissen geht zudem hervor, dass zu Beginn des Jahres 2005 die Unternehmen rund 57% ihres Umsatzes auf Märk- ten erwirtschaften, die sie selbst als wachstumsdynamisch einschätzen. Knapp ein Drittel des Umsatzes der deutschen Industrieunternehmen wird auf Märkten erzielt, die die Möglichkeit schaffen, Erträge zu erwirtschaften, die für die Zu- kunftssicherung des Unternehmens auf der Grundlage von Innovationen erforder- lich sind. DV-Dienstleister: Konjunkturerholung gewinnt zusehends an Fahrt 50 Joachim Gürtler Der ifo Geschäftsklimaindikator für die Software- und DV-Dienstleistungsbranche hat sich im letzten Quartal 2004 zügig verbessert. Positiv ist vor allem zu sehen, dass die DV-Dienstleister nicht nur auf eine bessere Zukunft hoffen, sondern sich auch die Beurteilung der derzeitigen Lage erheblich verbesserte. Gleichzeitig nah- men die Klagen über zu niedrige Auftragsreserven ab. Der Arbeitsmarkt in der deutschen Software- und DV-Dienstleistungsbranche zeigt erste Anzeichen einer Erholung: Bei den Beschäftigungserwartungen überwiegen die zuversichtlichen Stimmen. Weltwirtschaft: Klimaindikator erneut zurückgegangen 55 Gernot Nerb und Anna Stangl Nach den neuen Ergebnissen des Ifo World Economic Survey wird sich das Welt- wirtschaftsklima im ersten Halbjahr 2005 abkühlen. Sowohl die Erwartungen als auch die Urteile zur aktuellen Lage haben sich im Durchschnitt der beobachteten 90 Länder abgeschwächt. Insgesamt spricht die Datenkonstellation jedoch nicht für eine Rezession, sondern lediglich für eine Wachstumsdelle. Mitteilung des Instituts Die 56. Jahresversammlung des ifo Instituts findet am Donnerstag, den 23. Ju- ni 2005, in der Ludwig-Maximilians-Universität München statt. Als Gastredner wird Prof. Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutach- tung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, zur Rentenreform Stellung neh- men. Im Anschluss daran werden sich Prof. Adrian, Dr. Borchert, Prof. Börsch- Supan, Prof. Rürup und Prof. Hans-Werner Sinn in einem Expertengespräch zu der Frage »Kinder und Renten« äußern. Die Tagesordnung wird rechtzeitig be- kannt gegeben.
Nachtrag: Messestandort Deutschland 3 Standortentwicklung ist namhaften deutschen Messegesellschaf- Aufgabe der öffentlichen ten bereits als Privatunternehmen in Form einer GmbH oder AG geführt werden. Sie Hand sind private Kapitalgesellschaften und un- terscheiden sich von Unternehmen mit Konkretes wirtschaftliches Handeln und privaten Kapitaleignern lediglich dadurch, damit auch Wirtschaftsförderung finden dass ihre Gesellschafter öffentlich-recht- immer lokal und regional statt. Das gilt liche Körperschaften sind. auch und gerade im globalen Wettbe- werb, in dem dezentral ausgerichtete po- Das ändert nichts daran, dass sie renta- litische und wirtschaftliche Strukturen an bel und rational wirtschaften müssen und Bedeutung gewinnen. Der allgemeine Ruf dies auch durch eine betriebswirtschaft- nach einer Zurückführung des Staatsan- liche Vollkostenrechnung steuern. Sie un- teils speziell in Deutschland verbindet sich terliegen der Bilanzierungspflicht und Manfred Wutzlhofer* immer stärker mit der Einsicht, dass die werden steuerlich an der Gewinnerzie- Ausgestaltung politischer und ökonomi- lungsabsicht gemessen. Sie nehmen kei- scher Rahmenbedingungen auf regiona- ne Monopolstellung ein, sondern befin- ler und kommunaler Ebene mehr Flexibi- den sich in einem äußerst scharfen lität erfordert. Das föderale Prinzip erfährt Standortwettbewerb und sind offen für so eine ungeahnte Stärkung – vom EU- die Zusammenarbeit mit Drittveranstal- Integrationsprozess mit seinen lokalen tern. Und sie stellen sich auch mit ihrem Schwerpunktprojekten im Bereich der In- Auslandsengagement dem internationa- frastrukturentwicklung angefangen bis len Wettbewerb, was im Fall Münchens hinab auf Betriebsebene an einzelnen von den Gesellschaftern ausdrücklich be- Standorten mit flexibleren Arbeitszeit- und grüßt wird. Vergütungsmodellen. Erfolgreiche Wirtschaftsförderung misst Kapazitäten der Großmessen am sich in Zeiten struktureller Veränderungen Bedarf orientiert und anhaltenden Reformdrucks nicht am Prestige eines Projekts, sondern ganz Woher rührt also der angebliche Verän- pragmatisch an der Unterstützung wirt- derungsbedarf, der in der generellen For- schaftlichen Wachstums und der Schaf- derung nach Privatisierung mündet? Zum fung von Arbeitsplätzen. Wer etwa einen einen werden pauschal Überkapazitäten großen Automobilhersteller ansiedelt, behauptet, die sich nachteilig auf den kann mit breiter öffentlicher Zustimmung Wettbewerb auswirken, weil sie zu Dum- rechnen, und das zu Recht. Niemand pingpreisen führen und damit zu einer zieht in Zweifel, dass in einem solchen Fall Wettbewerbsverzerrung. Das entspricht Aufwendungen für die Verkehrsanbindung so pauschal keineswegs den Tatsachen. oder direkte und indirekte Vergünstigun- An den Standorten der Großmessen sind gen für Unternehmen gut investiert sind. die Kapazitäten eine Voraussetzung, um Die Ansiedelung und die Standortbindung das Messeprogramm realisieren zu kön- von Unternehmen mit Unterstützung nen. Das belegt das Beispiel Münchens durch Kommunen oder andere Gebiets- mit einem, je nach Messejahr mit Veran- körperschaften ist als zulässige Form des staltungen in unterschiedlichem Turnus, Standortwettbewerbs anerkannt. 13- bis 15-maligem Umschlag. Zu den Hauptmessezeiten im Frühjahr und Beim Messewesen wird dagegen mit Herbst ist die Neue Messe München zweierlei Maß gemessen. Es ist gerade überbucht. Deren Dimensionierung und in Deutschland als weltweit führendem weiterer Ausbau ist am Bedarf orientiert Messestandort zwar ein etablierter Fak- – die Kapazitäten wurden auf der Grund- tor kommunaler Standortentwicklung und lage des Messeprogramms geschaffen -sicherung, sieht sich aber einer anhalten- den und tendenziell verschärften Privati- sierungsdiskussion ausgesetzt. Dabei * Manfred Wutzlhofer ist Vorsitzender der Geschäfts- wird komplett vernachlässigt, dass alle führung der Messe München GmbH. 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
4 Zur Diskussion gestellt und keineswegs umgekehrt. Für eine seriöse Aussage zu Beachtliche Umsatzrenditen Überkapazitäten muss folglich nach Standorten und dem Umfang des Messeprogramms differenziert werden. Wo Das Beispiel der Neuen Messe München belegt, dass die- erst gebaut und dann am Programm gearbeitet wird, um se grundsätzlichen Feststellungen durch Zahlen und Fakten die Hallen zu füllen, ist eine kritische Bewertung sicherlich zu erhärten sind und dass insbesondere auch die Aussagen angemessen. zur so genannten Umwegrentabilität belastbar sind. Im tur- nusbedingt vergleichsweise schwachen Messejahr 2003 er- Jenseits pauschaler Feststellungen kann es bei der Privati- zielte die Messe München trotz schwieriger wirtschaftlicher sierungsdiskussion demnach allenfalls um die Frage ge- Rahmenbedingungen ein EBITDA (Betriebsergebnis vor Zin- hen, inwieweit Investitionen einer Kommune oder eines Lan- sen, Steuern und Abschreibungen) von 26,2 Mill. €. Im ope- des in das Gelände oder in die Bauten einer Messegesell- rativen Bereich wurde eine Umsatzrendite von über 17% schaft zulässig sind. Dazu ist festzustellen, dass zur Wirt- erwirtschaftet. Seit der Messeverlagerung im Jahr 1998 wur- schaftsförderung der öffentlichen Hand selbstverständlich de mit der Neuen Messe München in allen Jahren ein posi- auch die Unterstützung bei der Entwicklung eines Messe- tives operatives Ergebnis erzielt – mit einer, abhängig vom geländes und beim Bau von Messehallen gehört. Das hat Messeturnus, Umsatzrendite zwischen 17 und 33%. In dem nicht nur Tradition in Deutschland und Europa, sondern gilt Fünfjahreszeitraum von 1998 bis 2002 haben neben Mün- für alle größeren Messeplätze weltweit. chen auch Köln, Hannover, Frankfurt und Düsseldorf – die- se fünf zählen international zu den Top-Ten – durchweg ein positives EBITDA ausgewiesen. Auffällige Gedächtnislücken In Deutschland hat in der Regel die öffentliche Hand Grund Die Ausgestaltung dieser Form der Wirtschaftsförderung und Boden in die Messegesellschaften eingebracht und die kann an den einzelnen Standorten sehr unterschiedlich sein notwendige Verkehrsanbindung geschaffen. Zum Teil wird und reicht von Zuschüssen und Kapitaleinlagen bis zur Er- auch der Bau der Messehallen vorfinanziert durch Gesell- leichterung von Grundstückskäufen. Wann immer bei grö- schafterdarlehen, die langfristig von den Messegesellschaf- ßeren Messeplätzen wirtschaftliche Unterstützung durch die ten getilgt und mit Zinszahlungen bedient werden. Im Falle öffentliche Hand in Abrede gestellt wird, sollte man getrost der Messe München ist ein Teil der Baumaßnahmen für das kritisch nachfragen. Das Gedächtnis erweist sich da häufig neue Messegelände auf diese Weise vorfinanziert worden. als sehr lückenhaft. Nachvollziehbar ist es nicht, warum Die seit 1998 neu gebauten vier weiteren Messehallen inklu- einzelne Messegesellschaften dazu neigen, verschämt die sive des separaten Eingangs Nord wurden voll von der Mes- Vergünstigungen zu verschweigen, die sie beim Aufbau der se München selbst aus eigener Kraft finanziert. Die getätig- eigenen Infrastruktur erfahren haben – in welcher Form auch ten Gesellschafterdarlehen sind keinesfalls verlorene Zu- immer. Dies ist eine zulässige Form des Standortwettbe- schüsse, sondern fließen langfristig mit Verzinsung an die werbs und in jeder Hinsicht zu vergleichen mit der Förde- öffentliche Hand zurück. rung von Unternehmensansiedelungen. Es gibt keinen Grund, warum das Messewesen davon ausgeschlossen sein sollte. Klare Erwartungen der Gesellschafter Tatsächlich kritisch wäre dagegen eine Subventionierung Dieses Modell entspricht normalem Geschäftsgebaren von des Messebetriebs zu bewerten. Hier handelt es sich um Investoren, die sich aus ihrer Sachinvestition eine langfristi- den Kern des Veranstaltungsgeschäfts, das nahezu aus- ge Rendite des Messe-Investments erwarten. Dies ergibt schließlich von privaten Kapitalgesellschaften betrieben sich zum einen aus der laufenden Minderung des gebun- wird, wie auch die deutschen Großmessen sie darstellen. denen Kapitals (ROI) und zum anderen aus der Umwegren- Eine Subventionierung der Kosten des Messebetriebs wür- tabilität, durch die der öffentlichen Hand über ein höheres de in der Tat zu einer Verzerrung des Preiswettbewerbs füh- Steueraufkommen zusätzliche Einnahmen zufließen. ren und wäre sicherlich auch nicht mit geltendem EU-Recht vereinbar. Die private Rechtsform der großen Messegesellschaften in Deutschland, ob GmbH oder Aktiengesellschaft, schafft hin- In diesem Punkt gilt zumindest für die großen deutschen sichtlich der Kapitalströme Transparenz und ist klarer Aus- Messegesellschaften ganz eindeutig, dass ihr Veranstal- druck der Verpflichtung, sich als Wirtschaftsunternehmen im tungsgeschäft nicht subventioniert wird. Sie erwirtschaften Wettbewerb durch renditeorientiertes, effizientes Wirtschaf- mit zum Teil sehr beachtlicher Umsatzrentabilität die gesam- ten zu behaupten. Wie jedes andere Unternehmen stehen die ten Kosten des laufenden Betriebs und bewältigen auch not- deutschen Messegesellschaften im Standortwettbewerb zu- wendige Investitionen in den Hallenausbau aus eigener Fi- einander. Und sie müssen sich als Veranstalter im Zuge fort- nanzkraft. schreitender Globalisierung auch der internationalen Konkur- ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt 5 renz stellen und sich strategisch und operativ in neuen Märk- und die zweite auf der Grundlage gleicher Methodik die ten positionieren. Ihre Gesellschafter erwarten ohne jede Ein- Folgen der Messeverlagerung überprüfte. schränkung wirtschaftlichen Erfolg und unterscheiden sich in diesem Punkt in nichts von privaten Investoren. Während für die Messe auf dem alten Gelände direkte Aus- gaben der Besucher und Aussteller von 532 Mill. € im Jahr Im Falle der Messe München wurde der Messegrund als 1989 ermittelt wurden, hatten sich diese im Jahr 2000 auf Sacheinlage der Eigentümer eingebracht, was sich eben- 936 Mill. € erhöht. Durch den Bau der Neuen Messe München falls nicht von dem Geschäftsverhalten privater Kapitalge- haben sich demnach die direkten Ausgaben von Ausstellern ber unterscheidet. Darüber hinaus gibt es für Infrastruktur- und Besuchern im Vergleichszeitraum um 76% erhöht. Das investitionen der öffentlichen Hand genügend Beispiele, nicht Beispiel der Neuen Messe München beweist den zusätzlichen zuletzt aus den neuen Bundesländern, die aus standortpo- Nutzen, den auch Kritiker öffentlicher Investitionen in das Mes- litischen Gründen vollkommen legitim sind. Zudem wären sewesen nicht ernsthaft in Abrede stellen können. bestimmte Investitionen ohne flankierende Maßnahmen der öffentlichen Hand nie getätigt worden. Historische Beispie- le sind die Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland Mit- Positive Steuerbilanz te des 19. Jahrhunderts, wo die Schienenwege staatlich fi- nanziert wurden, oder der Bau von Autobahnen. Nach der ifo Studie von 2001 erzeugt ein durchschnittlich repräsentatives Messejahr direkte Besucherausgaben von Die deutschen Großmessen verfügen durchschnittlich über 392 Mill. €. Hinzu kommen direkte Ausstellerausgaben im je 360 000 Quadratmeter Grund. Allein der Erwerb des Bo- Erhebungszeitraum von 883 Mill. € pro Messejahr. Dies ent- dens – von den Erschließungsmaßnahmen ganz zu schwei- spricht insgesamt 1,275 Mrd. € an jährlichen Direktausga- gen – würde Investitionen erfordern, die ein mittelständi- ben, von denen zirka 80% oder über 1 Mrd. € dem Inland sches Privatunternehmen – und das sind nach Größe und zugute kommen. Auf Bayern und die Stadt München ent- Umsatz die deutschen Großmessen – gar nicht aufbringen fallen hierbei 795 Mill. €. Die restlichen Ausgaben sind im könnte. In Italien, Frankreich oder den USA ist dies nicht Ausland wirksam. anders, und direkte oder indirekte Hilfen sind ebenso gän- gige Praxis. So stellte beispielsweise Paris das Messeareal Hierbei entstehen Steuereinnahmen in Höhe von 310 Mill. € kostenlos zur Verfügung, und die Handelskammer finanzier- p.a., von denen 37% auf Bayern (31% auf den Freistaat, 6% te den Bau der Messehallen (vgl. Capital 2/2005, 60). auf die Stadt München) entfallen, also zirka 115 Mill. €. Den Zuschüssen der Gesellschafter der Messe München – in den ersten Jahren nach der Verlagerung jährlich rund 30 Mill. € Umwegrentabilität ist nicht zu bezweifeln für die Grundinvestition – stehen die Steuereinnahmen in Höhe von 115 Mill. € p.a. gegenüber, die diesen öffentlich- Eine Infrastrukturfinanzierung aus Steuermitteln ist ohne rechtlichen Körperschaften zugute kommen. Ohne die In- Zweifel gerechtfertigt, wenn sich der Aufwand langfristig für vestition in die Neue Messe München würde das Steuer- die Entwicklung einer Region rechnet. Dies betrifft die so aufkommen nicht in dieser Höhe generiert, wie die verglei- genannte Umwegrentabilität, bei der ebenfalls gerne pau- chende Untersuchung des ifo Instituts belegt. schal der Multiplikatoreffekt aus den primären Gesamtaus- gaben von Ausstellern und Besuchern in Frage gestellt wird. Im Falle der Messe München hängt der Zuschuss mit der Die Auseinandersetzung um die statistische Methode ist von den Gesellschaftern gewählten Finanzierungsstruktur nicht mein Thema. Ich will mich im Folgenden auf die nicht für den Bau der Neuen Messe München zusammen, wobei bestrittenen Primäreffekte konzentrieren, auch wenn ich kei- es sich ausschließlich um eine Teilfinanzierung des ersten ne Veranlassung sehe, die in den Studien quantifizierten Se- Bauabschnitts bis zum Jahr 2018 handelt. Dabei sind für die kundäreffekte am Messestandort München von zusätzli- erste Hälfte des Finanzierungszeitraums Verluste eingerech- chen 796 Mill. € in einem durchschnittlichen Messejahr zu net, die in der zweiten Hälfte durch Jahresüberschüsse kom- bezweifeln. pensiert werden. Die bisher geleisteten Zuschüsse für die Zinsen des Baudarlehens lagen von Anfang an im prog- Die Studie des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsfor- nostizierten Rahmen und wurden meist nicht voll abgerufen. schung zu den wirtschaftlichen Wirkungen des Messeplat- Die Messe München erwirtschaftet über den gesamten Mit- zes München in den Jahren 1998 bis 2000 wurde unter re- telbedarf für den Messebetrieb hinaus einen beträchtlichen präsentativer Befragung von 3000 Besuchern und 4500 Aus- Anteil an der Finanzierung des ersten Bauabschnitts. stellern erstellt. Sie bietet einen direkten Vergleich zu den Zahlen einer Vorgängerstudie aus dem Jahr 1990. Dies ist Seit 1998, dem Jahr der Verlagerung der Messe München insofern bedeutsam, als die erste Studie die volkswirtschaft- an ihren neuen Standort, bis 2004 haben die öffentlichen liche Rentabilität der Messeverlagerung untersuchen sollte Gesellschafter zirka 690 Mill. € an steuerlichen Mehrein- 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
6 Zur Diskussion gestellt nahmen verzeichnen können. Dies übertrifft deutlich das Die Konstruktion, die die deutschen Großmessen so er- für die Grundfinanzierung zur Verfügung gestellte Gesell- folgreich gemacht hat, verbindet klare Besitzverhältnisse, schafterdarlehen von 520,7 Mill. €. Die Investition in die Mes- die dem öffentlichen Interesse an lokaler und regionaler se München hat sich für ihre Gesellschafter damit auch un- Standortentwicklung entspringen, mit einer privatwirtschaft- ter Renditeaspekten gelohnt. lichen Organisation, und zwar mit allen Konsequenzen für eine renditeorientierte Betriebsführung. In der Privatisierungs- Die wirtschaftliche Wirkung einer Messe beruht aber nicht nur diskussion sollte deshalb auch berücksichtigt werden, dass auf diesen Investitionsgesichtspunkten. Wichtig sind hier vor die geschilderte herkömmliche Konstruktion eine sehr zeit- allem Faktoren für die Attraktivität und Ausstrahlungskraft ei- gemäße Form von einer Art Public/Private-Partnership ist. nes Standorts im Hinblick auf die Globalisierung der Volks- wirtschaften und die Internationalisierung des Messewesens. Ob private Investoren eingebunden werden sollen, obliegt der Entscheidung der Gesellschafter. Sie werden dabei sehr sorgfältig prüfen, wie die bisher getätigten Investitionen zu Unverzichtbar für den Mittelstand bewerten sind, und sie werden als öffentlich-rechtliche Kör- perschaften ihr fundamentales Interesse am Bestand des Im Ausland konkurriert die Messe München ebenso wie an- Messeprogramms am Ort und in der Region geltend ma- dere deutsche Großmessen unmittelbar mit Betreibergesell- chen. Die bisherige Privatisierungsdiskussion geht auf die- schaften in Privatbesitz, und dies mit Erfolg, wie der welt- se Interessenslage der Gesellschafter überhaupt nicht ein weite Ausbau der deutschen Messeadaptionen zeigt. Grund und kann daher auch nicht beantworten, was denn eigent- des Erfolgs sind die attraktiven Messekonzeptionen und lich mit einer angeblich überfälligen Neuordnung des Mes- die organisatorischen Fähigkeiten der deutschen Messever- sewesens in Deutschland erreicht werden soll. Dass hier vie- anstalter. Sie begleiten mit ihren Messeangeboten in aufstre- le Messestandorte unterschiedlicher Größe im Wettbewerb benden Märkten insbesondere mittelständische Unterneh- zueinander stehen, kann diese Forderung jedenfalls nicht men, die sich den Anforderungen der Globalisierung stellen begründen. Dieser Wettbewerb ermöglicht schließlich für die müssen. Viel stärker noch als international agierende Groß- ausstellenden Firmen und auch für Standort-ungebundene unternehmen ist gerade der Mittelstand auf diese neuen Messeveranstalter kostengünstige Flächenmieten und Mes- Messeplattformen angewiesen, um seine Vertriebs- und Mar- sebeteiligungen, wie sie vor allem eine mittelständisch struk- ketingstrategien umsetzen zu können. Damit sind die deut- turierte Wirtschaft braucht. schen Großmessen Wegbereiter für eine erfolgreiche Han- delstätigkeit deutscher Firmen im Ausland. Deutschlands Messen verfolgen betriebswirtschaftlich ge- sehen das Ziel, Gewinne zu erwirtschaften wie jedes ande- re privatrechtlich organisierte Unternehmen. Neben diesem Ziel haben sie aber auch einen übergreifenden volkswirt- schaftlichen Auftrag, nämlich zur Entwicklung und Siche- rung von Standorten beizutragen und zugleich ihren Kun- den, insbesondere dem Mittelstand, den Zugang zu neuen Märkten zu eröffnen. Öffentliche Hand wird entlastet Diesen Zweck erfüllt das deutsche Messewesen für das vom Welthandel stark abhängige Deutschland auf sehr effektive Weise. Würden sonst fünf der zehn umsatzstärksten Ver- anstalter aus Deutschland kommen, und würden sonst zwei Drittel aller internationalen Leitveranstaltungen hierzulande stattfinden? Diese herausragende Position des Messestand- orts Deutschland bestätigt, dass die deutschen Großmes- sen im internationalen Vergleich ausgesprochen leistungs- und wettbewerbsfähig sind. Sie tragen mit ihren Gewinnen sowie direkt und indirekt erzeugten Umsätzen zu volkswirt- schaftlich messbaren Mehreinnahmen der öffentlichen Hand Der Beitrag ist in englischer Sprache im CESifo Internet Forum auf unse- bei und entlasten deren Haushalte. rer Website www.cesifo.de zu finden. ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Dezentralisierung der Lohnverhandlungen in Deutschland – ein Weg zu mehr Beschäftigung? 7 Wolfgang Ochel Im Januar 2005 waren in Deutschland 5,04 Mill. Menschen offiziell arbeitslos. Das entsprach ei- ner Quote von etwa 12,1%. Für die hohe Arbeitslosigkeit wird insbesondere die Lohnentwicklung verantwortlich gemacht. Das Ausmaß der Lohnzurückhaltung ist zu gering, die Differenzierung der Löhne unzureichend und ihre Flexibilität ungenügend. Die beschäftigungsabträgliche Lohnent- wicklung wird unter anderem auf das deutsche Lohnverhandlungssystem zurückgeführt. Es stellt sich die Frage, ob über eine weitergehende Dezentralisierung der Lohnverhandlungen ein Anstieg der Beschäftigung in Deutschland erreicht werden kann. In Anlehnung an Calmfors und Driffill ebene Tarifverträge abgeschlossen, so (1988) und Calmfors (1993) werden Lohn- dass von einem gemischten (dualen) verhandlungssysteme danach unterschie- Lohnbildungssystem gesprochen werden den, ob die Lohnverhandlungen auf ge- kann. samtwirtschaftlicher, sektoraler oder Un- ternehmensebene geführt werden. Der In den letzten Jahren hat eine Dezentra- Zentralisierungsgrad reicht aber nicht aus, lisierung der Lohnverhandlungen in um Lohnverhandlungssysteme angemes- Deutschland stattgefunden. Der Flächen- sen zu charakterisieren. Es ist zusätzlich tarifvertrag hat an Bedeutung verloren, be- zu fragen, ob und wie die Lohnverhand- triebliche Lohnabschlüsse (Firmentarifver- lungen koordiniert werden. Dabei sind ho- träge, Betriebsvereinbarungen sowie in- rizontale und vertikale Koordinierung zu dividuelle Lohnvereinbarungen) haben an unterscheiden. Die horizontale Koordinie- Gewicht gewonnen. Die Dezentralisierung rung bezieht sich darauf, die Reichweite ist auf veränderte wirtschaftliche Rahmen- von Lohnverhandlungen durch Einbezie- bedingungen, wie die Globalisierung, hung von Branchen, Berufen usw. zu er- neue Formen der Arbeitsorganisation weitern. Neben die Lohnverhandlungen usw., zurückzuführen. Aber auch der der Dachverbände der beiden Arbeits- Machtverlust der Gewerkschaften, wel- marktparteien können auf zentraler Ebe- che den Flächentarifvertrag präferieren, ne die Abstimmung der Lohnpolitik unter hat zu dieser Entwicklung beigetragen. den Mitgliedsverbänden der Dachverbän- Außerdem wird von Seiten der Wissen- de und die Beteiligung des Staates an den schaft angesichts der stufenförmig stei- Lohnverhandlungen treten. Darüber hin- genden Arbeitslosigkeit in Deutschland in aus können die Lohnabschlüsse durch zunehmendem Maße eine Dezentralisie- Lohnführerschaft, d.h. Orientierung an ei- rung der Lohnverhandlungen gefordert nem Leitsektor, koordiniert werden. Die (Sachverständigenrat, lfd. Jg.; Wissen- vertikale Koordinierung ist darauf gerich- schaftlicher Beirat 2004). Teilweise wird tet, die nachgelagerte (z.B. betriebliche) auch eine Abschaffung der tariflichen Ent- Ebene zur Einhaltung der auf der zentra- lohnung im Interesse der Beschäftigungs- leren Ebene erzielten Ergebnisse zu ver- erhöhung für wünschenswert gehalten. anlassen (Traxler et al. 2001). Es stellt sich die Frage, ob über eine wei- Beim deutschen Tarifsystem handelt es tergehende Dezentralisierung der Lohnver- sich um eine Lohnführerschaft der Metall- handlungen ein Anstieg der Beschäftigung industrie mit Verhandlungen, die zumeist in Deutschland erreicht werden kann. Um im Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordba- diese Frage zu beantworten, sind nicht nur den beginnen. An dem dortigen Flächen- die Auswirkungen der Dezentralisierung tarifabschluss orientieren sich die Tarifver- auf die Lohnentwicklung zu untersuchen. handlungen der anderen Branchen und Gleichzeitig ist auch zu prüfen, welche Pro- Regionen. Gesetzliche Bestimmungen duktivitätseffekte hiervon ausgehen. Dar- sorgen im Zusammenwirken mit der Ver- über hinaus ist zu fragen, ob eine weitere bändestruktur dafür, dass die Unterneh- Dezentralisierung der Lohnverhandlungen mensebene in starkem Maße in die sek- durchsetzbar ist. In diesem Zusammen- torale Tarifpolitik eingebunden ist. Gleich- hang ist von Belang, ob die Dezentralisie- wohl werden auch auf der Unternehmens- rung der Interessenlage der Unternehmen 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
8 Forschungsergebnisse und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen entspricht. Au- Laut Tarifvertragsgesetz sind vom Tarifvertrag abweichen- ßerdem ist es für die Durchsetzung der Dezentralisierung de Abmachungen nur zulässig, wenn sie eine Änderung von Bedeutung, aus welcher Machtposition heraus Wider- der Regelung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten stand von den Arbeitgeberverbänden bzw. von den Gewerk- (Günstigkeitsprinzip), zum Beispiel ein höheres Entgelt als schaften geleistet werden kann und ob Verfassungsnormen den Tariflohn vereinbaren, oder wenn sie durch den Tarif- einer solchen Entwicklung entgegenstehen. Bevor auf diese vertrag gestattet sind (Öffnungsklauseln). Meist weisen Öff- Fragen eingegangen wird, sollen das deutsche Lohnverhand- nungsklauseln den Betriebsparteien (also Unternehmenslei- lungssystem dargestellt und die Erosion seines wichtigsten tung und Betriebsrat) eine gewisse Regelungsbefugnis durch Bestandteils, des Flächentarifvertrags, während der letzten Betriebsvereinbarung zu. Es lassen sich im Wesentlichen Jahre untersucht werden. vier Kategorien von Tariföffnungsklauseln unterscheiden: • Härteklauseln sehen vor, dass Arbeitgeber und Betriebs- Das deutsche Lohnverhandlungssystem rat zur Abwendung einer drohenden Insolvenzgefahr, zur Sicherung von Arbeitsplätzen oder zur Verbesserung In der Bundesrepublik Deutschland gilt das Prinzip der Ta- der Sanierungschancen bei den Tarifvertragsparteien ei- rifautonomie. Gewerkschaften auf der einen Seite und Ar- ne tarifliche Sonderregelung beantragen können, die von beitgeberverbände oder einzelne Unternehmen auf der an- letzteren auszuhandeln ist. deren Seite regeln durch verbindliche Verträge die Ausge- • Öffnungsklauseln mit Zustimmungsvorbehalt überlassen staltung der Löhne sowie der sonstigen Arbeitsbedingun- zwar die Aushandlung einer vom Tarifvertrag abweichen- gen. Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie bilden den Betriebsvereinbarung den Betriebsparteien, machen Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes und das Tarifvertragsge- deren Gültigkeit aber abhängig von der Zustimmung der setz. Verträge zwischen einer Gewerkschaft und einem Ar- Tarifvertragsparteien. beitgeberverband werden als Flächentarifverträge (oder Ver- • Öffnungsklauseln ohne Zustimmungsvorbehalt erlauben bandstarifverträge) bezeichnet. Sie werden überwiegend den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, ohne dass auf regionaler Ebene und für einzelne Branchen abgeschlos- diese von den Tarifvertragsparteien noch genehmigt wer- sen. Sind eine Gewerkschaft und ein einzelnes Unterneh- den müssen. men Vertragspartner, so spricht man von einem Firmenta- • Kleinbetriebsklauseln erlauben Kleinbetrieben, auf einzel- rifvertrag (oder Haustarifvertrag). Am Jahresende 2004 wa- vertraglicher Basis geringere Entgelte als im Flächenta- ren rund 34 000 Flächentarifverträge und rund 27 800 Fir- rifvertrag festzulegen (Schnabel 2000). mentarifverträge gültig (Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2005). Tarifvertragliche Öffnungsklauseln für Tarifentgelte, die seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland eine größere Eine rechtliche Bindung an einen Tarifvertrag besteht dann, Rolle spielen, erlauben eine Berücksichtigung der Belan- wenn der Arbeitgeber Mitglied des tarifschließenden Ver- ge einzelner Betriebe. Betriebliche Regelungen können bandes bzw. selbst Partei eines Firmentarifvertrages und nur einvernehmlich durch Unternehmensleitung und Be- der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerk- triebsrat vereinbart werden. Streiks und Aussperrungen schaft ist. Eine Tarifbindung ist des Weiteren dann gegeben, zur Durchsetzung einer gewünschten Regelung sind nicht wenn der maßgebende Tarifvertrag für allgemein verbindlich zulässig. erklärt worden ist. Die Anwendung des Tarifvertrages kann schließlich auch einzelvertraglich zwischen Arbeitgeber und Sofern keine tarifvertraglichen Öffnungsklauseln existieren, Arbeitnehmer vereinbart werden. Dies wird in der Regel von können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, tarifgebundenen Arbeitgebern gegenüber Beschäftigten die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise ge- praktiziert, die nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerk- regelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung schaft sind. Für tarifgebundene Arbeitsverhältnisse gilt, dass sein (§ 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz). Selbst ein mindestens der Tariflohn gezahlt werden muss. tarifungebundenes Unternehmen darf also nicht mit sei- nem Betriebsrat über Löhne verhandeln, weil das in die Zu- Unternehmen, die aus dem Arbeitgeberverband austreten, ständigkeit der Tarifparteien fällt (Regelungssperre). Es kann müssen die Nachwirkung des Tarifvertrags beachten. Ge- allerdings individuelle Lohnvereinbarungen treffen. mäß Tarifvertragsgesetz bleibt die Tarifgebundenheit so lan- ge bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Danach gelten sei- ne Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abma- Die äußere Erosion des Flächentarifvertrags chung ersetzt werden. Allerdings verliert der Tarifvertrag dann seine zwingende Wirkung, so dass arbeitsvertragliche Re- Die Relevanz tarifvertraglicher Regelungen wird durch das gelungen zu Ungunsten des Arbeitnehmers nunmehr zuläs- Ausmaß der Tarifbindung widergespiegelt. Sie gibt Auf- sig sind (Brox und Rüthers 2004). schluss darüber, für welchen Anteil der Betriebe und Be- ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Forschungsergebnisse 9 Tab. 1 Tarifbindung der Betriebe/Beschäftigten in West- und Ostdeutschlanda), 2003 Betriebe Beschäftigte Flächentarif- Firmentarif- Flächentarif- Firmentarif- Branche vertrag vertrag vertrag vertrag West Ost West Ost West Ost West Ost Landwirtschaft u. a. 46 9 3 4 60 19 8 6 Bergbau/Energie 58 35 8 11 82 65 13 23 Grundstoffverarbeitung 46 19 4 7 71 40 7 12 Investitionsgüter 44 15 2 7 65 27 9 16 Verbrauchsgüter 56 26 4 5 68 36 8 13 Baugewerbe 64 28 2 4 78 39 2 8 Handel/Reparatur 49 19 2 6 63 34 5 8 Verkehr/Nachrichten 36 10 7 5 52 21 21 34 Kredit/Versicherung 59 26 2 7 86 72 6 5 Dienste für Unternehmen 18 13 2 4 29 33 6 8 Sonstige Dienste 40 21 3 4 58 45 7 11 Org. ohne Erwerbszweck 48 37 3 8 61 37 7 12 Gebietskörperschaften/ 84 84 5 10 89 92 9 7 Sozialversicherung Insgesamt 43 21 3 5 62 43 8 11 a) Anteil der jeweils betroffenen Betriebe/Beschäftigten in Prozent. Quelle: IAB-Betriebspanel, 11. Welle West/8. Welle Ost 2003. schäftigten die Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen chentarifvertrag unterlag. Für 8% der westdeutschen und durch Tarifvertrag geregelt werden. 11% der ostdeutschen Beschäftigten galt ein Firmentarif- vertrag (vgl. Tab. 1). Das Ausmaß und die Entwicklung der Tarifbindung lassen sich anhand des Betriebspanels des Instituts für Arbeits- Die Tatsache, dass in West- wie Ostdeutschland die Flä- markt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit chentarifbindung der Beschäftigten deutlich höher ausfällt (IAB) ermitteln. Bei dem Betriebspanel handelt es sich um als die der Betriebe, deutet darauf hin, dass für größere Be- einen festgelegten Kreis von Betrieben aller Wirtschafts- triebe häufiger Tarifverträge gelten. Dies bestätigt Tabelle 2. zweige mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Sowohl Flächentarif- als auch Firmentarifverträge finden sich Beschäftigten. Die Betriebe wurden aus der Betriebsdatei in mittleren und größeren Unternehmen häufiger als in Klein- der Beschäftigtenstatistik als Zufallsstichprobe gezogen. betrieben. Die durch Befragung der Betriebe gewonnenen Ergebnis- se werden auf Basis der Beschäftigtenstatistik hochge- Wie ökonometrische Untersuchungen zeigen, ist die Wahr- rechnet. scheinlichkeit einer Flächentarifbindung auch dann grö- ßer, wenn die Betriebe schon lange existieren und wenn Im Jahr 2003 waren 43% der westdeutschen, aber nur 21% der ostdeutschen Betriebe durch Flächenta- rifverträge gebunden. Den höchsten De- ckungsgrad wiesen die Branchen Gebiets- Tab. 2 Tarifbindung nach Betriebsgrößea), 2003 körperschaften/Sozialversicherung, Berg- bau/Energie, Baugewerbe sowie Kredit/Ver- Beschäftigte Flächentarifvertrag Firmentarifvertrag sicherung auf. Für 3% der Betriebe in den al- (am 30. Juni 2003) West Ost West Ost ten und gut 5% der Betriebe in den neuen 1 bis 9 37 17 2 4 Bundesländern galten Firmentarifverträge 10 bis 49 55 31 3 7 (vgl. Tab. 1). 50 bis 199 62 47 8 15 Betrachtet man statt der Betriebe die Be- 200 bis 499 71 57 11 20 schäftigten, so zeigt sich ein größerer Gel- 500 und mehr 80 71 11 20 tungsbereich von Tarifverträgen. Im Jahre Insgesamt 43 21 3 5 2003 haben rund 62% der westdeutschen a) und 43% der ostdeutschen Beschäftigten Anteil der jeweils betroffenen Betriebe in Prozent. in einem Betrieb gearbeitet, der einem Flä- Quelle: IAB-Betriebspanel, 11. Welle West/8. Welle Ost 2003. 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
10 Forschungsergebnisse es sich nicht um Einzelunternehmen und Abb. 1 Personengesellschaften handelt, in denen die Person des Eigentümers sich selbst in die Entlohnung der Mitarbeiter einschal- ten möchte. Weitere Einflussgrößen für die Tarifbindung von Betrieben bilden der ge- werkschaftliche Organisationsgrad der Be- schäftigten und das Vorhandensein eines Betriebsrats. Betriebe mit einem hohen An- teil hochqualifizierter Mitarbeiter, deren Be- zahlung in der Regel in Einzelarbeitsver- trägen geregelt wird und die ihre Interes- sen kaum durch Gewerkschaften vertreten lassen, sind selten tarifgebunden. Dominie- ren dagegen Facharbeiter, die in überdurch- schnittlichem Maße gewerkschaftlich or- ganisiert sind, ist die Tarifbindung häufi- ger (Franz und Pfeiffer 2001; Kohaut und Schnabel 2003). Erosion des Flächentarifvertrags zu verzeichnen, welche die Die Flächentarifbindung in Deutschland weist eine deutlich beschriebenen Tendenzen noch verstärkt. rückläufige Tendenz auf. Verschiedene Faktoren dürften zur äußeren Erosion des Flächentarifvertrags beigetragen ha- ben. Mit der Globalisierung der Wirtschaft ist es für Unter- Die innere Erosion des Flächentarifvertrags nehmen nicht mehr so wichtig, dass Flächentarifverträge auf nationaler Ebene gleiche Wettbewerbsbedingungen herstel- Während die äußere Erosion des Flächentarifvertrags auf die len. Vielmehr benötigen sie eine hinreichende Lohnflexibili- Abnahme seines formalen Geltungsbereichs abstellt, be- tät, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz bestehen zeichnet der Begriff der inneren Erosion die abnehmende zu können. Deshalb befürworten viele Unternehmen eine Gestaltungskraft und Normierungsfähigkeit flächentariflicher Dezentralisierung der Lohnverhandlungen (Calmfors et al. Standards auch in solchen Fällen, in denen formal noch ein 2001). Des Weiteren verlangen neue, differenzierte Formen Tarifvertrag betriebliche Gültigkeit besitzt. Es lassen sich zwei der Arbeitsorganisation variable Entlohnungsmöglichkeiten Formen der inneren Erosion des Flächentarifvertrags unter- auf betrieblicher Ebene. Um eine Bindung an den Flächen- scheiden: die regulierte Flexibilisierung und der Tarifbruch. tarifvertrag zu vermeiden, treten immer mehr Unternehmen Eine regulierte Flexibilisierung liegt dann vor, wenn die be- aus den Arbeitgeberverbänden aus bzw. gar nicht erst in triebliche Abweichung von den formal gültigen Tarifnormen diese ein. Ebenso trägt der Rückgang des gewerkschaftli- nicht einseitig durch die Geschäftsleitung verfügt wird, son- chen Organisationsgrades der Beschäftigten zum Rückgang dern Gegenstand betrieblicher Aushandlungsprozesse ist. der Flächentarifbindung bei. Schließlich dürfte auch durch Diese Verhandlungen können mit oder ohne Einbeziehung den sektoralen Strukturwandel (tariflich geregelte Bereiche der Tarifparteien erfolgen. Von einem Tarifbruch wird dann schrumpfen, ungeregelte expandieren) der Flächentarifver- gesprochen, wenn der Betrieb zwar in juristischer Hinsicht trag erodieren. der tariflichen Bindung unterliegt, die Geschäftsleitung je- doch einseitig, teilweise mit stillschweigender Duldung der Auf den Rückgang der Flächentarifbindung deuten wieder- Beschäftigten, die tariflichen Normen nicht einhält (Artus um die Daten des IAB-Betriebspanels hin, die in West- 2001, 111 ff. und 125 ff.). deutschland bis 1995 und in Ostdeutschland bis 1996 zu- rückreichen. In Westdeutschland ging die Flächentarifbin- Obwohl die Tarifparteien im Falle tariflich regulierter Flexibi- dung bezogen auf die Beschäftigten von 72% (1995) auf lisierung noch einen erheblichen Einfluss auf die betriebliche 62% (2003) zurück. In Ostdeutschland war ein Rückgang Tarifgestaltungspraxis ausüben, trägt diese Art der Flexibi- von 56% (1996) auf 43% (2003) zu verzeichnen (vgl. Abb. 1). lisierung doch zur Erosion des Flächentarifvertragssystems Bezogen auf die Betriebe betrugen die entsprechenden bei. Zwei Formen lassen sich unterscheiden: die Inanspruch- Rückgänge der Flächentarifbindung im Westen etwa 11 und nahme tariflicher Härtefall- und Öffnungsklauseln und der – im Osten 7 Prozentpunkte. Mit dem schrumpfenden for- oben schon erwähnte – Abschluss von Firmentarifverträgen. malen Geltungsbereich branchenweiter Tarifverträge ist nur Tarifliche Öffnungsklauseln haben in Deutschland große Ver- eine Komponente der Erosion des Flächentarifvertrags dar- breitung gefunden. Mittlerweile existiert kaum noch eine gestellt worden. Neben dieser äußeren ist auch eine innere Tarifbranche, in der nicht im Rahmen von Öffnungsklauseln ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Forschungsergebnisse 11 bestimmte betriebliche Abweichungsmöglichkeiten von den Neben der tariflich und der betrieblich regulierten Flexibili- durch den Flächentarifvertrag gesetzten Standards verein- sierung trägt der Tarifbruch zur inneren Erosion des Flächen- bart wurden. Die WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung1 tarifvertrags bei. Nach Angaben der Betriebsräte im Rah- ergab für das Jahr 2002, dass in 35% der Betriebe und 22% men der WSI-Befragung haben im Jahr 2002 10% der Be- der Behörden tarifliche Öffnungsklauseln genutzt wurden. triebe gelegentlich und 5% öfter gültige Tarifstandards un- Im Jahre 1999/2000 war die Nutzung tariflicher Öffnungs- terschritten. In Ostdeutschland kommen Tarifverstöße häu- klauseln in 22% der Betriebe noch deutlich niedriger. In- figer vor als in Westdeutschland. In öffentlichen Unterneh- haltlich sind tarifliche Öffnungsklauseln vor allem ein Instru- men und Behörden ist die Tariftreue weitaus ausgeprägter ment der Arbeitszeitpolitik. Entgeltbezogene Öffnungsklau- als in privaten Betrieben (Bispinck und Schulten 2003). Zu seln werden aber immerhin von einem Sechstel der Betrie- ähnlichen Ergebnissen gelangt Bahnmüller (2002) in einer be und Dienststellen für niedrigere Einstiegstarife sowie Kür- Befragung von Managern und Betriebsräten tarifgebunde- zungen bzw. Aussetzungen von Jahressonderzahlungen ge- ner Betriebe der Metall-, Textil- und Bekleidungsindustrie nutzt. Auch betrieblichen Bündnissen für Arbeit (siehe un- und des Bankengewerbes. Danach wird in gut 10% der ten) dienen sie als Grundlage (Bispinck 2001; Bispinck und Betriebe erheblich vom Flächentarifvertrag abgewichen. In Schulten 2003). Tarifliche Öffnungsklauseln werden in Ost- 37% der Betriebe werden die Abweichungen als unbedeu- deutschland in höherem Maße genutzt als in Westdeutsch- tend qualifiziert, während in knapp 53% der Betriebe die land. Bei der Regelung der Entgelte beteiligen die Betriebs- Tarifverträge strikt eingehalten werden. räte im Osten die Gewerkschaften weitaus seltener als im Westen (Artus 2001, 129–30; Artus, Schmidt und Sterkel Durch die innere ist die äußere Erosion des Flächentarifver- 2000). trags in Deutschland verstärkt worden. Im Jahre 2003 ha- ben – wie oben dargestellt wurde – rund 62% der westdeut- Neben diesen legalen gibt es auch illegale Formen der re- schen und 43% der ostdeutschen Beschäftigten in einem gulierten Flexibilisierung. Illegal sind solche Flexibilisierungs- Betrieb gearbeitet, der einem Flächentarifvertrag unterlag maßnahmen dann, wenn Management und Betriebsrat oh- (für 8 bzw. 11% galt ein Firmentarifvertrag). Welcher Anteil ne Einbeziehung der Tarifvertragsparteien Regelungen ver- dieser Beschäftigten nicht in den Genuss einer Bezahlung einbaren, die vom geltenden Tarifvertrag abweichen. Bei die- (mindestens) nach Tarif kam, kann allerdings nicht angege- sen Vereinbarungen kann es sich um Betriebsvereinbarun- ben werden, da repräsentative Angaben über das Ausmaß gen oder Regelungsabreden handeln. Über die Häufigkeit der inneren Erosion des Flächentarifvertrags fehlen. Die WSI- solcher Vereinbarungen und ihre Inhalte liegen naturgemäß Befragungen deuten jedoch an, dass die Unterschreitungen keine Informationen vor. von Tarifnormen nicht unerheblich sind. Gleichzeitig muss allerdings auch in Betracht gezogen werden, dass die Prä- Tarifliche Öffnungsklauseln bilden häufig die Grundlage für gekraft der Tarifverträge über ihren formellen Geltungsbe- betriebliche Bündnisse für Arbeit. Der Kern dieser Bünd- reich hinaus reicht und auch die nicht tarifgebundenen Be- nisse besteht in einem betrieblichen Tauschgeschäft, in triebe sich in hohem Maße an ihnen orientieren. Nach dem dem die Arbeitnehmerseite bestimmten einkommenspo- IAB-Betriebspanel gab es 2003 keinen Tarifvertrag für an- litischen Konzessionen zustimmt und hierfür vom Arbeit- nähernd 30% der westdeutschen und 46% der ostdeut- geber eine (befristete) Beschäftigungsgarantie erhält (Sei- schen Arbeitnehmer. Jeweils gut die Hälfte dieser Arbeitneh- fert 2002). In der WSI-Befragung 2002 gaben 29% der mer wurde jedoch indirekt von Tarifverträgen abgedeckt, Betriebsräte und 23% der Personalräte an, über eine be- da sich ihre Betriebe daran orientierten (Ellguth und Kohaut triebliche Vereinbarung zur Beschäftigungs- und Stand- 2004). ortsicherung zu verfügen. Dabei liegt der Anteil bei den Großbetrieben (mit mehr als 1000 Beschäftigten) mit 46% deutlich über dem Durchschnitt (Bispinck und Schulten Zum makroökonomischen Zusammenhang 2003; Hassel und Rehder 2001). Innerhalb der metallver- zwischen Zentralisierungsgrad von arbeitenden Industrie sind ungefähr 40% der Betriebe »be- Lohnverhandlungen und Beschäftigung triebliche Bündnisse für Arbeit« eingegangen (Berthold et al. 2003). Ein Lohnverhandlungssystem muss drei Kriterien erfüllen, um positive Beschäftigungsergebnisse zu erzielen. Das Lohnverhandlungssystem sollte dafür sorgen, dass sich die 1 Die Betriebs- und Personalrätebefragung des Wirtschafts- und Sozial- Lohnerhöhung (bei Vollbeschäftigung) an der gesamtwirt- wissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) stellt eine schaftlichen Produktivitätsentwicklung orientiert. Bei Un- Befragung von Betriebs- und Personalräten aus Betrieben und Dienst- stellen mit 20 und mehr Beschäftigten in allen Wirtschafts- und Verwal- terbeschäftigung ist ein Abschlag vom Produktivitätsfort- tungsbereichen West- und Ostdeutschlands dar. Gut 46% (Westdeutsch- schritt vorzunehmen. Es sollte des Weiteren eine hohe Lohn- land) bzw. 40% (Ostdeutschland) dieser Betriebe verfügen über eine be- triebliche Interessenvertretung. Die Befragung wurde 1997/98, 1999/2000 flexibilität aufweisen, um angemessen auf gesamtwirtschaft- und 2002 durchgeführt. liche Schocks reagieren zu können. Schließlich sollte es ei- 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
12 Forschungsergebnisse ne marktgerechte Lohndifferenzierung ermöglichen. Außer- gativen Folgewirkungen überhöhter Lohnabschlüsse wieder- dem sollte das Lohnverhandlungssystem so ausgestaltet um nicht auf Dritte überwälzt werden (vgl. die Hump-shape- sein, dass es die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten Kurve in Abb. 2). erhöht. Die bisher unterstellten Wirkungszusammenhänge sind pri- Lohnzurückhaltung mär für eine geschlossene Volkswirtschaft entwickelt wor- den. In einer offenen Volkswirtschaft gelten diese Zusam- Der Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen beeinflusst menhänge nur noch in eingeschränktem Maße. Hier führt die Lohnentwicklung auf der makroökonomischen Ebene zum einen die Integration der Produktmärkte zu einer In- vor allem durch zwei Wirkungsmechanismen: die Internali- tensivierung des Wettbewerbs auf diesen Märkten. Der Lohn- sierung von externen Lohneffekten und die Ausnutzung von erhöhungsspielraum wird damit insbesondere auch in Län- Marktmacht (Calmfors et al. 2001; Berthold und Fehn 1996). dern mit einem mittleren Zentralisierungsgrad der Lohnver- Allein auf Internalisierungseffekten basiert die Korporatis- handlungen eingeschränkt. Zum anderen hat die interna- musthese. Zentrale Tarifpartner würden die gesamtwirt- tionale Mobilität des Kapitals zur Folge, dass überhöhte schaftlichen Konsequenzen (d.h. insbesondere die Inflati- Lohnabschlüsse (abgesehen von einem Inflationsanstieg) zu onswirkungen) der von ihnen vereinbarten Lohnerhöhungen Produktionsverlagerungen ins Ausland führen können. Die- berücksichtigen und deshalb moderate Lohnabschlüsse be- se Gefahr trägt dazu bei, dass auch auf der mittleren und vorzugen. Je dezentraler die Lohnverhandlungen erfolgten, der dezentralen Ebene die Folgen hoher Lohnabschlüsse umso weniger würden Lohnexternalitäten internalisiert. Es bei den Lohnverhandlungen berücksichtigt werden. Beide bestünde deshalb der in Abbildung 2 als Korporatismus Faktoren haben zur Konsequenz, dass in einer offenen Volks- bezeichnete Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad wirtschaft der Einfluss des Zentralisierungsgrades von Lohn- und Lohnmäßigung. verhandlungen auf die Reallohnentwicklung abnimmt (Lesch 1999).2 Die von Calmfors und Driffill (1988) entwickelte Hump- shape-These berücksichtigt neben den Internalisierungsef- Lohnflexibilität fekten auch die mit unterschiedlichen Preissetzungsspielräu- men verbundenen Lohnerhöhungsmöglichkeiten. Bei be- Ein weiterer Aspekt von Lohnverhandlungen betrifft den trieblichen Lohnverhandlungen sind diese gering, da Lohn- Grad der nominalen Lohnflexibilität als einem Anpassungs- erhöhungen auf Grund der hohen Substitutionselastizität der instrument beim Auftreten makroökonomischer Schocks. Nachfrage in Bezug auf die eigenen Produkte nicht auf die Hier scheinen dezentrale Lohnvereinbarungen eindeutig vor- Preise überwälzt werden können. Auf der Branchenebene teilhafter zu sein, da sie auf Nachfrageveränderungen rela- sind die Überwälzungsmöglichkeiten dagegen größer, weil tiv flexibel reagieren können. Auf der anderen Seite ist zu alle konkurrierenden Unternehmen von der Lohnerhöhung berücksichtigten, dass aufgrund von Nachfrageinterdepen- betroffen sind und die Nachfrager nicht ohne weiteres auf die denzen auf den Produktmärkten die Vorteilhaftigkeit von Produkte anderer Branchen ausweichen können (die Subs- Lohn- (und Preis-)anpassungen in einzelnen Firmen davon titutionselastizität zwischen Produkten unterschiedlicher abhängt, ob andere Firmen sich gleichgerichtet verhalten. Branchen ist gering). Auf der zentralen Ebene können die ne- Das Verhalten einer Firma hängt damit von den Erwartun- gen hinsichtlich der Lohnanpassungen in an- deren Firmen ab. Die Koordination von Lohn- Abb. 2 verhandlungen kann mögliche Erwartungs- Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen und Reallohnentwicklung unsicherheiten reduzieren und damit die Lohnflexibilität sogar erhöhen (Ball und Ro- Reallohn mer 1991). Empirische Untersuchungen zu diesem Zusammenhang liegen nicht vor (EE- AG 2004, Kap. 3). Hump shape 2 Nach Fitzenberger und Franz (1999) müssen weitere als die genannten Faktoren bei der Bestimmung des optimalen Zentralisierungsgrades der Lohnverhand- lungen berücksichtigt werden. Aus ihrer Sicht ist ins- besondere eine Verknüpfung mit der Insider-Outsider- Problematik erforderlich. Sie vermuten, dass das In- Korporatismus sider-Verhalten besonders auf der betrieblichen Ebe- ne anzutreffen ist, weil die Macht der Arbeitsplatzbe- sitzer (mit höherer Qualifikation) dort stärker ist als auf der Verbandsebene. Dezentralere Lohnverhandlungen niedrig mittel hoch würden deshalb nicht zu gemäßigteren Lohnabschlüs- Zentralisierungsgrad sen führen als zentralere Verhandlungen. ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Sie können auch lesen