Ifo Schnelldienst - CESifo Group Munich

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Ifo Schnelldienst - CESifo Group Munich
5 2005                                ifo Schnelldienst
 58. Jg., 10.–11. KW, 18. März 2005

                                      Zur Diskussion gestellt
                                      Manfred Wutzlhofer
                                      Q Nachtrag: Die Bedeutung des Messeplatzes
                                        Deutschland

                                      Forschungsergebnisse
                                      Wolfgang Ochel
                                      Q Dezentrale Lohnverhandlungen – ein Weg zu mehr
                                         Beschäftigung?

                                      Wolfgang Nierhaus
                                      Q Zur Einführung der Vorjahrespreisbasis in der deutschen
                                        Statistik

                                      Daten und Prognosen
                                      Günther Weitzel
                                      Q Umsatzstabilisierung im Buchhandel

                                      Karin Behring
                                      Q Wohnungsbau: nur Deckung des Ersatzbedarfs?

                                      Horst Penzkofer
                                      Q Anstieg der Industrieinnovationen setzte sich 2004 fort

                                      Joachim Gürtler
                                      Q DV-Dienstleister: Konjunkturerholung gewinnt an Fahrt

                                      Gernot Nerb und Anna Stangl
                                      Q Weltwirtschaft: Klimaindikator erneut zurückgegangen

                                                   Institut für
                                                   Wirtschaftsforschung
                                                   an der Universität München
Ifo Schnelldienst - CESifo Group Munich
ifo Schnelldienst          ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.,
Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,
Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de.
Redaktion: Dr. Marga Jennewein.
Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Prof. Dr. Gebhard Flaig,
Dr. Gernot Nerb, Dr. Wolfgang Ochel, Dr. Heidemarie C. Sherman, Dr. Martin Werding.
Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.
Erscheinungsweise: zweimal monatlich.
Bezugspreis jährlich:
Institutionen EUR 225,–
Einzelpersonen EUR 96,–
Studenten EUR 48,–
Preis des Einzelheftes: EUR 10,–
jeweils zuzüglich Versandkosten.
Layout: Pro Design.
Satz: ifo Institut für Wirtschaftsforschung.
Druck: Fritz Kriechbaumer, Taufkirchen.
Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise):
nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.
ifo Schnelldienst 5/2005

                   Zur Diskussion gestellt

                 Nachtrag: Die Bedeutung des Messeplatzes Deutschland                           3

                 Ergänzend zu den im ifo Schnelldienst 3/2005 veröffentlichten Beiträgen unter-
                 streicht Manfred Wutzlhofer, Messe München GmbH, die Bedeutung des Messe-
                 wesens für den Standort Deutschland.

                   Forschungsergebnisse

                 Dezentralisierung der Lohnverhandlungen in Deutschland –
                 ein Weg zu mehr Beschäftigung?                                                7
                 Wolfgang Ochel
                 Im Januar 2005 waren in Deutschland 5,04 Mill. Menschen offiziell arbeitslos. Das
                 entsprach einer Quote von etwa 12,1%. Für die hohe Arbeitslosigkeit werden das
                 geringe Ausmaß der Lohnzurückhaltung, die unzureichende Differenzierung der
                 Löhne und ihre ungenügende Flexibilität verantwortlich gemacht. Und diese be-
                 schäftigungsabträgliche Lohnentwicklung wird vor allem auf das deutsche Lohn-
                 verhandlungssystem zurückgeführt. Es stellt sich die Frage, ob über eine weiter-
                 gehende Dezentralisierung der Lohnverhandlungen ein Anstieg der Beschäftigung
                 in Deutschland erreicht werden kann.

                 Zur Einführung der Vorjahrespreisbasis in der deutschen Statistik:
                 Konsequenzen für die Konjunkturanalyse                                        19
                 Wolfgang Nierhaus
                 Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP), der wichtigste Indikator für Konjunktur und
                 Wirtschaftswachstum, wurde bisher in den deutschen Volkswirtschaftlichen Ge-
                 samtrechnungen (VGR) in konstanten Preisen eines Basisjahres nachgewiesen
                 (Festpreisbasis). Auf der Grundlage der Entscheidung der EU-Kommission vom
                 30. November 1998 wird bei der nächsten anstehenden großen VGR-Revision in
                 diesem Frühjahr bei der BIP-Schätzung nun das Konzept der Vorjahrespreisbasis
                 eingeführt. Dieser Beitrag informiert über das neue Rechenverfahren, den Grund
                 des Systemwechsels und über einige Konsequenzen der neuen Volumenrech-
                 nung für die Konjunkturanalyse.

                   Daten und Prognosen

                 Umsatzstabilisierung im Buchhandel mit unterschiedlichen
                 Entwicklungstendenzen                                                         28
                 Günter Weitzel
                 Nachdem 2003 zum dritten Mal in Folge ein Umsatzrückgang (– 1,7%) zu ver-
                 zeichnen war, konnte der Buchhandel im ersten Halbjahr 2004 ein leichtes Um-
                 satzplus von 1,4% melden. Mit diesem Ergebnis zeichnet sich eine Stabilisierung
                 des Buchmarktes ab.

                 Wohnungsbau: Langfristig nur Deckung des Ersatzbedarfs?                       34
                 Karin Berhing
                 Zwischen 2000 und 2002 ging der Wohnungsneubau in Deutschland um knapp
                 134 000 Einheiten pro Jahr zurück. 2003 sank die Fertigstellungszahl gegenüber
                 dem Vorjahr noch einmal um 7,4%. 2004 dürfte sich der Rückgang fortgesetzt ha-
ben. Allerdings wird sich die Schrumpfung auf die neuen Länder beschränken,
während in Westdeutschland dank des relativ stabilen Eigenheimbaus eine Stag-
nation erwartet werden kann. In der vierten Ausgabe der Bauvorausschätzung
Deutschland rechnet das ifo Institut für 2004 mit 260 000 Wohnungsfertigstellun-
gen in Deutschland, davon 32 000 in Ost- und 228 000 in Westdeutschland.

Anstieg der Industrieinnovationen setzte sich 2004 fort                        42
Horst Penzkofer
Nach den Ergebnissen des ifo Innovationstests realisierten über 58% der Indus-
trieunternehmen im Jahr 2004 Produkt- und/oder Prozessinnovationen. Darüber
hinaus erhöhte sich im vergangenen Jahr der Umsatzanteil von Produktinnovatio-
nen in der Markteinführungsphase auf annähernd 11%, d.h. die Innovationsan-
strengungen wurden intensiviert. Aus den Ergebnissen geht zudem hervor, dass
zu Beginn des Jahres 2005 die Unternehmen rund 57% ihres Umsatzes auf Märk-
ten erwirtschaften, die sie selbst als wachstumsdynamisch einschätzen. Knapp
ein Drittel des Umsatzes der deutschen Industrieunternehmen wird auf Märkten
erzielt, die die Möglichkeit schaffen, Erträge zu erwirtschaften, die für die Zu-
kunftssicherung des Unternehmens auf der Grundlage von Innovationen erforder-
lich sind.

DV-Dienstleister: Konjunkturerholung gewinnt zusehends an Fahrt                50
Joachim Gürtler
Der ifo Geschäftsklimaindikator für die Software- und DV-Dienstleistungsbranche
hat sich im letzten Quartal 2004 zügig verbessert. Positiv ist vor allem zu sehen,
dass die DV-Dienstleister nicht nur auf eine bessere Zukunft hoffen, sondern sich
auch die Beurteilung der derzeitigen Lage erheblich verbesserte. Gleichzeitig nah-
men die Klagen über zu niedrige Auftragsreserven ab. Der Arbeitsmarkt in der
deutschen Software- und DV-Dienstleistungsbranche zeigt erste Anzeichen einer
Erholung: Bei den Beschäftigungserwartungen überwiegen die zuversichtlichen
Stimmen.

Weltwirtschaft: Klimaindikator erneut zurückgegangen                           55
Gernot Nerb und Anna Stangl
Nach den neuen Ergebnissen des Ifo World Economic Survey wird sich das Welt-
wirtschaftsklima im ersten Halbjahr 2005 abkühlen. Sowohl die Erwartungen als
auch die Urteile zur aktuellen Lage haben sich im Durchschnitt der beobachteten
90 Länder abgeschwächt. Insgesamt spricht die Datenkonstellation jedoch nicht
für eine Rezession, sondern lediglich für eine Wachstumsdelle.

   Mitteilung des Instituts

Die 56. Jahresversammlung des ifo Instituts findet am Donnerstag, den 23. Ju-
ni 2005, in der Ludwig-Maximilians-Universität München statt. Als Gastredner
wird Prof. Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutach-
tung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, zur Rentenreform Stellung neh-
men. Im Anschluss daran werden sich Prof. Adrian, Dr. Borchert, Prof. Börsch-
Supan, Prof. Rürup und Prof. Hans-Werner Sinn in einem Expertengespräch zu
der Frage »Kinder und Renten« äußern. Die Tagesordnung wird rechtzeitig be-
kannt gegeben.
Nachtrag: Messestandort Deutschland

                                                                                                                                           3

Standortentwicklung ist                         namhaften deutschen Messegesellschaf-
Aufgabe der öffentlichen                        ten bereits als Privatunternehmen in Form
                                                einer GmbH oder AG geführt werden. Sie
Hand
                                                sind private Kapitalgesellschaften und un-
                                                terscheiden sich von Unternehmen mit
Konkretes wirtschaftliches Handeln und
                                                privaten Kapitaleignern lediglich dadurch,
damit auch Wirtschaftsförderung finden
                                                dass ihre Gesellschafter öffentlich-recht-
immer lokal und regional statt. Das gilt
                                                liche Körperschaften sind.
auch und gerade im globalen Wettbe-
werb, in dem dezentral ausgerichtete po-
                                                Das ändert nichts daran, dass sie renta-
litische und wirtschaftliche Strukturen an
                                                bel und rational wirtschaften müssen und
Bedeutung gewinnen. Der allgemeine Ruf
                                                dies auch durch eine betriebswirtschaft-
nach einer Zurückführung des Staatsan-
                                                liche Vollkostenrechnung steuern. Sie un-
teils speziell in Deutschland verbindet sich
                                                terliegen der Bilanzierungspflicht und                    Manfred Wutzlhofer*
immer stärker mit der Einsicht, dass die
                                                werden steuerlich an der Gewinnerzie-
Ausgestaltung politischer und ökonomi-
                                                lungsabsicht gemessen. Sie nehmen kei-
scher Rahmenbedingungen auf regiona-
                                                ne Monopolstellung ein, sondern befin-
ler und kommunaler Ebene mehr Flexibi-
                                                den sich in einem äußerst scharfen
lität erfordert. Das föderale Prinzip erfährt
                                                Standortwettbewerb und sind offen für
so eine ungeahnte Stärkung – vom EU-
                                                die Zusammenarbeit mit Drittveranstal-
Integrationsprozess mit seinen lokalen
                                                tern. Und sie stellen sich auch mit ihrem
Schwerpunktprojekten im Bereich der In-
                                                Auslandsengagement dem internationa-
frastrukturentwicklung angefangen bis
                                                len Wettbewerb, was im Fall Münchens
hinab auf Betriebsebene an einzelnen
                                                von den Gesellschaftern ausdrücklich be-
Standorten mit flexibleren Arbeitszeit- und
                                                grüßt wird.
Vergütungsmodellen.

Erfolgreiche Wirtschaftsförderung misst
                                                Kapazitäten der Großmessen am
sich in Zeiten struktureller Veränderungen
                                                Bedarf orientiert
und anhaltenden Reformdrucks nicht am
Prestige eines Projekts, sondern ganz
                                                Woher rührt also der angebliche Verän-
pragmatisch an der Unterstützung wirt-
                                                derungsbedarf, der in der generellen For-
schaftlichen Wachstums und der Schaf-
                                                derung nach Privatisierung mündet? Zum
fung von Arbeitsplätzen. Wer etwa einen
                                                einen werden pauschal Überkapazitäten
großen Automobilhersteller ansiedelt,
                                                behauptet, die sich nachteilig auf den
kann mit breiter öffentlicher Zustimmung
                                                Wettbewerb auswirken, weil sie zu Dum-
rechnen, und das zu Recht. Niemand
                                                pingpreisen führen und damit zu einer
zieht in Zweifel, dass in einem solchen Fall
                                                Wettbewerbsverzerrung. Das entspricht
Aufwendungen für die Verkehrsanbindung
                                                so pauschal keineswegs den Tatsachen.
oder direkte und indirekte Vergünstigun-
                                                An den Standorten der Großmessen sind
gen für Unternehmen gut investiert sind.
                                                die Kapazitäten eine Voraussetzung, um
Die Ansiedelung und die Standortbindung
                                                das Messeprogramm realisieren zu kön-
von Unternehmen mit Unterstützung
                                                nen. Das belegt das Beispiel Münchens
durch Kommunen oder andere Gebiets-
                                                mit einem, je nach Messejahr mit Veran-
körperschaften ist als zulässige Form des
                                                staltungen in unterschiedlichem Turnus,
Standortwettbewerbs anerkannt.
                                                13- bis 15-maligem Umschlag. Zu den
                                                Hauptmessezeiten im Frühjahr und
Beim Messewesen wird dagegen mit
                                                Herbst ist die Neue Messe München
zweierlei Maß gemessen. Es ist gerade
                                                überbucht. Deren Dimensionierung und
in Deutschland als weltweit führendem
                                                weiterer Ausbau ist am Bedarf orientiert
Messestandort zwar ein etablierter Fak-
                                                – die Kapazitäten wurden auf der Grund-
tor kommunaler Standortentwicklung und
                                                lage des Messeprogramms geschaffen
-sicherung, sieht sich aber einer anhalten-
den und tendenziell verschärften Privati-
sierungsdiskussion ausgesetzt. Dabei            * Manfred Wutzlhofer ist Vorsitzender der Geschäfts-
wird komplett vernachlässigt, dass alle           führung der Messe München GmbH.

                                                                                                 58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
4   Zur Diskussion gestellt

    und keineswegs umgekehrt. Für eine seriöse Aussage zu           Beachtliche Umsatzrenditen
    Überkapazitäten muss folglich nach Standorten und dem
    Umfang des Messeprogramms differenziert werden. Wo              Das Beispiel der Neuen Messe München belegt, dass die-
    erst gebaut und dann am Programm gearbeitet wird, um            se grundsätzlichen Feststellungen durch Zahlen und Fakten
    die Hallen zu füllen, ist eine kritische Bewertung sicherlich   zu erhärten sind und dass insbesondere auch die Aussagen
    angemessen.                                                     zur so genannten Umwegrentabilität belastbar sind. Im tur-
                                                                    nusbedingt vergleichsweise schwachen Messejahr 2003 er-
    Jenseits pauschaler Feststellungen kann es bei der Privati-     zielte die Messe München trotz schwieriger wirtschaftlicher
    sierungsdiskussion demnach allenfalls um die Frage ge-          Rahmenbedingungen ein EBITDA (Betriebsergebnis vor Zin-
    hen, inwieweit Investitionen einer Kommune oder eines Lan-      sen, Steuern und Abschreibungen) von 26,2 Mill. €. Im ope-
    des in das Gelände oder in die Bauten einer Messegesell-        rativen Bereich wurde eine Umsatzrendite von über 17%
    schaft zulässig sind. Dazu ist festzustellen, dass zur Wirt-    erwirtschaftet. Seit der Messeverlagerung im Jahr 1998 wur-
    schaftsförderung der öffentlichen Hand selbstverständlich       de mit der Neuen Messe München in allen Jahren ein posi-
    auch die Unterstützung bei der Entwicklung eines Messe-         tives operatives Ergebnis erzielt – mit einer, abhängig vom
    geländes und beim Bau von Messehallen gehört. Das hat           Messeturnus, Umsatzrendite zwischen 17 und 33%. In dem
    nicht nur Tradition in Deutschland und Europa, sondern gilt     Fünfjahreszeitraum von 1998 bis 2002 haben neben Mün-
    für alle größeren Messeplätze weltweit.                         chen auch Köln, Hannover, Frankfurt und Düsseldorf – die-
                                                                    se fünf zählen international zu den Top-Ten – durchweg ein
                                                                    positives EBITDA ausgewiesen.
    Auffällige Gedächtnislücken
                                                                    In Deutschland hat in der Regel die öffentliche Hand Grund
    Die Ausgestaltung dieser Form der Wirtschaftsförderung          und Boden in die Messegesellschaften eingebracht und die
    kann an den einzelnen Standorten sehr unterschiedlich sein      notwendige Verkehrsanbindung geschaffen. Zum Teil wird
    und reicht von Zuschüssen und Kapitaleinlagen bis zur Er-       auch der Bau der Messehallen vorfinanziert durch Gesell-
    leichterung von Grundstückskäufen. Wann immer bei grö-          schafterdarlehen, die langfristig von den Messegesellschaf-
    ßeren Messeplätzen wirtschaftliche Unterstützung durch die      ten getilgt und mit Zinszahlungen bedient werden. Im Falle
    öffentliche Hand in Abrede gestellt wird, sollte man getrost    der Messe München ist ein Teil der Baumaßnahmen für das
    kritisch nachfragen. Das Gedächtnis erweist sich da häufig      neue Messegelände auf diese Weise vorfinanziert worden.
    als sehr lückenhaft. Nachvollziehbar ist es nicht, warum        Die seit 1998 neu gebauten vier weiteren Messehallen inklu-
    einzelne Messegesellschaften dazu neigen, verschämt die         sive des separaten Eingangs Nord wurden voll von der Mes-
    Vergünstigungen zu verschweigen, die sie beim Aufbau der        se München selbst aus eigener Kraft finanziert. Die getätig-
    eigenen Infrastruktur erfahren haben – in welcher Form auch     ten Gesellschafterdarlehen sind keinesfalls verlorene Zu-
    immer. Dies ist eine zulässige Form des Standortwettbe-         schüsse, sondern fließen langfristig mit Verzinsung an die
    werbs und in jeder Hinsicht zu vergleichen mit der Förde-       öffentliche Hand zurück.
    rung von Unternehmensansiedelungen. Es gibt keinen
    Grund, warum das Messewesen davon ausgeschlossen sein
    sollte.                                                         Klare Erwartungen der Gesellschafter

    Tatsächlich kritisch wäre dagegen eine Subventionierung         Dieses Modell entspricht normalem Geschäftsgebaren von
    des Messebetriebs zu bewerten. Hier handelt es sich um          Investoren, die sich aus ihrer Sachinvestition eine langfristi-
    den Kern des Veranstaltungsgeschäfts, das nahezu aus-           ge Rendite des Messe-Investments erwarten. Dies ergibt
    schließlich von privaten Kapitalgesellschaften betrieben        sich zum einen aus der laufenden Minderung des gebun-
    wird, wie auch die deutschen Großmessen sie darstellen.         denen Kapitals (ROI) und zum anderen aus der Umwegren-
    Eine Subventionierung der Kosten des Messebetriebs wür-         tabilität, durch die der öffentlichen Hand über ein höheres
    de in der Tat zu einer Verzerrung des Preiswettbewerbs füh-     Steueraufkommen zusätzliche Einnahmen zufließen.
    ren und wäre sicherlich auch nicht mit geltendem EU-Recht
    vereinbar.                                                      Die private Rechtsform der großen Messegesellschaften in
                                                                    Deutschland, ob GmbH oder Aktiengesellschaft, schafft hin-
    In diesem Punkt gilt zumindest für die großen deutschen         sichtlich der Kapitalströme Transparenz und ist klarer Aus-
    Messegesellschaften ganz eindeutig, dass ihr Veranstal-         druck der Verpflichtung, sich als Wirtschaftsunternehmen im
    tungsgeschäft nicht subventioniert wird. Sie erwirtschaften     Wettbewerb durch renditeorientiertes, effizientes Wirtschaf-
    mit zum Teil sehr beachtlicher Umsatzrentabilität die gesam-    ten zu behaupten. Wie jedes andere Unternehmen stehen die
    ten Kosten des laufenden Betriebs und bewältigen auch not-      deutschen Messegesellschaften im Standortwettbewerb zu-
    wendige Investitionen in den Hallenausbau aus eigener Fi-       einander. Und sie müssen sich als Veranstalter im Zuge fort-
    nanzkraft.                                                      schreitender Globalisierung auch der internationalen Konkur-

    ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Zur Diskussion gestellt               5

renz stellen und sich strategisch und operativ in neuen Märk-    und die zweite auf der Grundlage gleicher Methodik die
ten positionieren. Ihre Gesellschafter erwarten ohne jede Ein-   Folgen der Messeverlagerung überprüfte.
schränkung wirtschaftlichen Erfolg und unterscheiden sich
in diesem Punkt in nichts von privaten Investoren.               Während für die Messe auf dem alten Gelände direkte Aus-
                                                                 gaben der Besucher und Aussteller von 532 Mill. € im Jahr
Im Falle der Messe München wurde der Messegrund als              1989 ermittelt wurden, hatten sich diese im Jahr 2000 auf
Sacheinlage der Eigentümer eingebracht, was sich eben-           936 Mill. € erhöht. Durch den Bau der Neuen Messe München
falls nicht von dem Geschäftsverhalten privater Kapitalge-       haben sich demnach die direkten Ausgaben von Ausstellern
ber unterscheidet. Darüber hinaus gibt es für Infrastruktur-     und Besuchern im Vergleichszeitraum um 76% erhöht. Das
investitionen der öffentlichen Hand genügend Beispiele, nicht    Beispiel der Neuen Messe München beweist den zusätzlichen
zuletzt aus den neuen Bundesländern, die aus standortpo-         Nutzen, den auch Kritiker öffentlicher Investitionen in das Mes-
litischen Gründen vollkommen legitim sind. Zudem wären           sewesen nicht ernsthaft in Abrede stellen können.
bestimmte Investitionen ohne flankierende Maßnahmen der
öffentlichen Hand nie getätigt worden. Historische Beispie-
le sind die Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland Mit-        Positive Steuerbilanz
te des 19. Jahrhunderts, wo die Schienenwege staatlich fi-
nanziert wurden, oder der Bau von Autobahnen.                    Nach der ifo Studie von 2001 erzeugt ein durchschnittlich
                                                                 repräsentatives Messejahr direkte Besucherausgaben von
Die deutschen Großmessen verfügen durchschnittlich über          392 Mill. €. Hinzu kommen direkte Ausstellerausgaben im
je 360 000 Quadratmeter Grund. Allein der Erwerb des Bo-         Erhebungszeitraum von 883 Mill. € pro Messejahr. Dies ent-
dens – von den Erschließungsmaßnahmen ganz zu schwei-            spricht insgesamt 1,275 Mrd. € an jährlichen Direktausga-
gen – würde Investitionen erfordern, die ein mittelständi-       ben, von denen zirka 80% oder über 1 Mrd. € dem Inland
sches Privatunternehmen – und das sind nach Größe und            zugute kommen. Auf Bayern und die Stadt München ent-
Umsatz die deutschen Großmessen – gar nicht aufbringen           fallen hierbei 795 Mill. €. Die restlichen Ausgaben sind im
könnte. In Italien, Frankreich oder den USA ist dies nicht       Ausland wirksam.
anders, und direkte oder indirekte Hilfen sind ebenso gän-
gige Praxis. So stellte beispielsweise Paris das Messeareal      Hierbei entstehen Steuereinnahmen in Höhe von 310 Mill. €
kostenlos zur Verfügung, und die Handelskammer finanzier-        p.a., von denen 37% auf Bayern (31% auf den Freistaat, 6%
te den Bau der Messehallen (vgl. Capital 2/2005, 60).            auf die Stadt München) entfallen, also zirka 115 Mill. €. Den
                                                                 Zuschüssen der Gesellschafter der Messe München – in den
                                                                 ersten Jahren nach der Verlagerung jährlich rund 30 Mill. €
Umwegrentabilität ist nicht zu bezweifeln                        für die Grundinvestition – stehen die Steuereinnahmen in
                                                                 Höhe von 115 Mill. € p.a. gegenüber, die diesen öffentlich-
Eine Infrastrukturfinanzierung aus Steuermitteln ist ohne        rechtlichen Körperschaften zugute kommen. Ohne die In-
Zweifel gerechtfertigt, wenn sich der Aufwand langfristig für    vestition in die Neue Messe München würde das Steuer-
die Entwicklung einer Region rechnet. Dies betrifft die so       aufkommen nicht in dieser Höhe generiert, wie die verglei-
genannte Umwegrentabilität, bei der ebenfalls gerne pau-         chende Untersuchung des ifo Instituts belegt.
schal der Multiplikatoreffekt aus den primären Gesamtaus-
gaben von Ausstellern und Besuchern in Frage gestellt wird.      Im Falle der Messe München hängt der Zuschuss mit der
Die Auseinandersetzung um die statistische Methode ist           von den Gesellschaftern gewählten Finanzierungsstruktur
nicht mein Thema. Ich will mich im Folgenden auf die nicht       für den Bau der Neuen Messe München zusammen, wobei
bestrittenen Primäreffekte konzentrieren, auch wenn ich kei-     es sich ausschließlich um eine Teilfinanzierung des ersten
ne Veranlassung sehe, die in den Studien quantifizierten Se-     Bauabschnitts bis zum Jahr 2018 handelt. Dabei sind für die
kundäreffekte am Messestandort München von zusätzli-             erste Hälfte des Finanzierungszeitraums Verluste eingerech-
chen 796 Mill. € in einem durchschnittlichen Messejahr zu        net, die in der zweiten Hälfte durch Jahresüberschüsse kom-
bezweifeln.                                                      pensiert werden. Die bisher geleisteten Zuschüsse für die
                                                                 Zinsen des Baudarlehens lagen von Anfang an im prog-
Die Studie des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsfor-        nostizierten Rahmen und wurden meist nicht voll abgerufen.
schung zu den wirtschaftlichen Wirkungen des Messeplat-          Die Messe München erwirtschaftet über den gesamten Mit-
zes München in den Jahren 1998 bis 2000 wurde unter re-          telbedarf für den Messebetrieb hinaus einen beträchtlichen
präsentativer Befragung von 3000 Besuchern und 4500 Aus-         Anteil an der Finanzierung des ersten Bauabschnitts.
stellern erstellt. Sie bietet einen direkten Vergleich zu den
Zahlen einer Vorgängerstudie aus dem Jahr 1990. Dies ist         Seit 1998, dem Jahr der Verlagerung der Messe München
insofern bedeutsam, als die erste Studie die volkswirtschaft-    an ihren neuen Standort, bis 2004 haben die öffentlichen
liche Rentabilität der Messeverlagerung untersuchen sollte       Gesellschafter zirka 690 Mill. € an steuerlichen Mehrein-

                                                                                      58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
6   Zur Diskussion gestellt

    nahmen verzeichnen können. Dies übertrifft deutlich das           Die Konstruktion, die die deutschen Großmessen so er-
    für die Grundfinanzierung zur Verfügung gestellte Gesell-         folgreich gemacht hat, verbindet klare Besitzverhältnisse,
    schafterdarlehen von 520,7 Mill. €. Die Investition in die Mes-   die dem öffentlichen Interesse an lokaler und regionaler
    se München hat sich für ihre Gesellschafter damit auch un-        Standortentwicklung entspringen, mit einer privatwirtschaft-
    ter Renditeaspekten gelohnt.                                      lichen Organisation, und zwar mit allen Konsequenzen für
                                                                      eine renditeorientierte Betriebsführung. In der Privatisierungs-
    Die wirtschaftliche Wirkung einer Messe beruht aber nicht nur     diskussion sollte deshalb auch berücksichtigt werden, dass
    auf diesen Investitionsgesichtspunkten. Wichtig sind hier vor     die geschilderte herkömmliche Konstruktion eine sehr zeit-
    allem Faktoren für die Attraktivität und Ausstrahlungskraft ei-   gemäße Form von einer Art Public/Private-Partnership ist.
    nes Standorts im Hinblick auf die Globalisierung der Volks-
    wirtschaften und die Internationalisierung des Messewesens.       Ob private Investoren eingebunden werden sollen, obliegt
                                                                      der Entscheidung der Gesellschafter. Sie werden dabei sehr
                                                                      sorgfältig prüfen, wie die bisher getätigten Investitionen zu
    Unverzichtbar für den Mittelstand                                 bewerten sind, und sie werden als öffentlich-rechtliche Kör-
                                                                      perschaften ihr fundamentales Interesse am Bestand des
    Im Ausland konkurriert die Messe München ebenso wie an-           Messeprogramms am Ort und in der Region geltend ma-
    dere deutsche Großmessen unmittelbar mit Betreibergesell-         chen. Die bisherige Privatisierungsdiskussion geht auf die-
    schaften in Privatbesitz, und dies mit Erfolg, wie der welt-      se Interessenslage der Gesellschafter überhaupt nicht ein
    weite Ausbau der deutschen Messeadaptionen zeigt. Grund           und kann daher auch nicht beantworten, was denn eigent-
    des Erfolgs sind die attraktiven Messekonzeptionen und            lich mit einer angeblich überfälligen Neuordnung des Mes-
    die organisatorischen Fähigkeiten der deutschen Messever-         sewesens in Deutschland erreicht werden soll. Dass hier vie-
    anstalter. Sie begleiten mit ihren Messeangeboten in aufstre-     le Messestandorte unterschiedlicher Größe im Wettbewerb
    benden Märkten insbesondere mittelständische Unterneh-            zueinander stehen, kann diese Forderung jedenfalls nicht
    men, die sich den Anforderungen der Globalisierung stellen        begründen. Dieser Wettbewerb ermöglicht schließlich für die
    müssen. Viel stärker noch als international agierende Groß-       ausstellenden Firmen und auch für Standort-ungebundene
    unternehmen ist gerade der Mittelstand auf diese neuen            Messeveranstalter kostengünstige Flächenmieten und Mes-
    Messeplattformen angewiesen, um seine Vertriebs- und Mar-         sebeteiligungen, wie sie vor allem eine mittelständisch struk-
    ketingstrategien umsetzen zu können. Damit sind die deut-         turierte Wirtschaft braucht.
    schen Großmessen Wegbereiter für eine erfolgreiche Han-
    delstätigkeit deutscher Firmen im Ausland.

    Deutschlands Messen verfolgen betriebswirtschaftlich ge-
    sehen das Ziel, Gewinne zu erwirtschaften wie jedes ande-
    re privatrechtlich organisierte Unternehmen. Neben diesem
    Ziel haben sie aber auch einen übergreifenden volkswirt-
    schaftlichen Auftrag, nämlich zur Entwicklung und Siche-
    rung von Standorten beizutragen und zugleich ihren Kun-
    den, insbesondere dem Mittelstand, den Zugang zu neuen
    Märkten zu eröffnen.

    Öffentliche Hand wird entlastet

    Diesen Zweck erfüllt das deutsche Messewesen für das vom
    Welthandel stark abhängige Deutschland auf sehr effektive
    Weise. Würden sonst fünf der zehn umsatzstärksten Ver-
    anstalter aus Deutschland kommen, und würden sonst zwei
    Drittel aller internationalen Leitveranstaltungen hierzulande
    stattfinden? Diese herausragende Position des Messestand-
    orts Deutschland bestätigt, dass die deutschen Großmes-
    sen im internationalen Vergleich ausgesprochen leistungs-
    und wettbewerbsfähig sind. Sie tragen mit ihren Gewinnen
    sowie direkt und indirekt erzeugten Umsätzen zu volkswirt-
    schaftlich messbaren Mehreinnahmen der öffentlichen Hand            Der Beitrag ist in englischer Sprache im CESifo Internet Forum auf unse-
    bei und entlasten deren Haushalte.                                  rer Website www.cesifo.de zu finden.

    ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Dezentralisierung der Lohnverhandlungen in
 Deutschland – ein Weg zu mehr Beschäftigung?
                                                                                                                                   7

                                                                                                              Wolfgang Ochel

Im Januar 2005 waren in Deutschland 5,04 Mill. Menschen offiziell arbeitslos. Das entsprach ei-
ner Quote von etwa 12,1%. Für die hohe Arbeitslosigkeit wird insbesondere die Lohnentwicklung
verantwortlich gemacht. Das Ausmaß der Lohnzurückhaltung ist zu gering, die Differenzierung
der Löhne unzureichend und ihre Flexibilität ungenügend. Die beschäftigungsabträgliche Lohnent-
wicklung wird unter anderem auf das deutsche Lohnverhandlungssystem zurückgeführt. Es stellt
sich die Frage, ob über eine weitergehende Dezentralisierung der Lohnverhandlungen ein Anstieg
der Beschäftigung in Deutschland erreicht werden kann.

In Anlehnung an Calmfors und Driffill           ebene Tarifverträge abgeschlossen, so
(1988) und Calmfors (1993) werden Lohn-         dass von einem gemischten (dualen)
verhandlungssysteme danach unterschie-          Lohnbildungssystem gesprochen werden
den, ob die Lohnverhandlungen auf ge-           kann.
samtwirtschaftlicher, sektoraler oder Un-
ternehmensebene geführt werden. Der             In den letzten Jahren hat eine Dezentra-
Zentralisierungsgrad reicht aber nicht aus,     lisierung der Lohnverhandlungen in
um Lohnverhandlungssysteme angemes-             Deutschland stattgefunden. Der Flächen-
sen zu charakterisieren. Es ist zusätzlich      tarifvertrag hat an Bedeutung verloren, be-
zu fragen, ob und wie die Lohnverhand-          triebliche Lohnabschlüsse (Firmentarifver-
lungen koordiniert werden. Dabei sind ho-       träge, Betriebsvereinbarungen sowie in-
rizontale und vertikale Koordinierung zu        dividuelle Lohnvereinbarungen) haben an
unterscheiden. Die horizontale Koordinie-       Gewicht gewonnen. Die Dezentralisierung
rung bezieht sich darauf, die Reichweite        ist auf veränderte wirtschaftliche Rahmen-
von Lohnverhandlungen durch Einbezie-           bedingungen, wie die Globalisierung,
hung von Branchen, Berufen usw. zu er-          neue Formen der Arbeitsorganisation
weitern. Neben die Lohnverhandlungen            usw., zurückzuführen. Aber auch der
der Dachverbände der beiden Arbeits-            Machtverlust der Gewerkschaften, wel-
marktparteien können auf zentraler Ebe-         che den Flächentarifvertrag präferieren,
ne die Abstimmung der Lohnpolitik unter         hat zu dieser Entwicklung beigetragen.
den Mitgliedsverbänden der Dachverbän-          Außerdem wird von Seiten der Wissen-
de und die Beteiligung des Staates an den       schaft angesichts der stufenförmig stei-
Lohnverhandlungen treten. Darüber hin-          genden Arbeitslosigkeit in Deutschland in
aus können die Lohnabschlüsse durch             zunehmendem Maße eine Dezentralisie-
Lohnführerschaft, d.h. Orientierung an ei-      rung der Lohnverhandlungen gefordert
nem Leitsektor, koordiniert werden. Die         (Sachverständigenrat, lfd. Jg.; Wissen-
vertikale Koordinierung ist darauf gerich-      schaftlicher Beirat 2004). Teilweise wird
tet, die nachgelagerte (z.B. betriebliche)      auch eine Abschaffung der tariflichen Ent-
Ebene zur Einhaltung der auf der zentra-        lohnung im Interesse der Beschäftigungs-
leren Ebene erzielten Ergebnisse zu ver-        erhöhung für wünschenswert gehalten.
anlassen (Traxler et al. 2001).
                                                Es stellt sich die Frage, ob über eine wei-
Beim deutschen Tarifsystem handelt es           tergehende Dezentralisierung der Lohnver-
sich um eine Lohnführerschaft der Metall-       handlungen ein Anstieg der Beschäftigung
industrie mit Verhandlungen, die zumeist        in Deutschland erreicht werden kann. Um
im Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordba-          diese Frage zu beantworten, sind nicht nur
den beginnen. An dem dortigen Flächen-          die Auswirkungen der Dezentralisierung
tarifabschluss orientieren sich die Tarifver-   auf die Lohnentwicklung zu untersuchen.
handlungen der anderen Branchen und             Gleichzeitig ist auch zu prüfen, welche Pro-
Regionen. Gesetzliche Bestimmungen              duktivitätseffekte hiervon ausgehen. Dar-
sorgen im Zusammenwirken mit der Ver-           über hinaus ist zu fragen, ob eine weitere
bändestruktur dafür, dass die Unterneh-         Dezentralisierung der Lohnverhandlungen
mensebene in starkem Maße in die sek-           durchsetzbar ist. In diesem Zusammen-
torale Tarifpolitik eingebunden ist. Gleich-    hang ist von Belang, ob die Dezentralisie-
wohl werden auch auf der Unternehmens-          rung der Interessenlage der Unternehmen

                                                                                         58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
8   Forschungsergebnisse

    und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen entspricht. Au-         Laut Tarifvertragsgesetz sind vom Tarifvertrag abweichen-
    ßerdem ist es für die Durchsetzung der Dezentralisierung          de Abmachungen nur zulässig, wenn sie eine Änderung
    von Bedeutung, aus welcher Machtposition heraus Wider-            der Regelung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten
    stand von den Arbeitgeberverbänden bzw. von den Gewerk-           (Günstigkeitsprinzip), zum Beispiel ein höheres Entgelt als
    schaften geleistet werden kann und ob Verfassungsnormen           den Tariflohn vereinbaren, oder wenn sie durch den Tarif-
    einer solchen Entwicklung entgegenstehen. Bevor auf diese         vertrag gestattet sind (Öffnungsklauseln). Meist weisen Öff-
    Fragen eingegangen wird, sollen das deutsche Lohnverhand-         nungsklauseln den Betriebsparteien (also Unternehmenslei-
    lungssystem dargestellt und die Erosion seines wichtigsten        tung und Betriebsrat) eine gewisse Regelungsbefugnis durch
    Bestandteils, des Flächentarifvertrags, während der letzten       Betriebsvereinbarung zu. Es lassen sich im Wesentlichen
    Jahre untersucht werden.                                          vier Kategorien von Tariföffnungsklauseln unterscheiden:

                                                                      • Härteklauseln sehen vor, dass Arbeitgeber und Betriebs-
    Das deutsche Lohnverhandlungssystem                                 rat zur Abwendung einer drohenden Insolvenzgefahr,
                                                                        zur Sicherung von Arbeitsplätzen oder zur Verbesserung
    In der Bundesrepublik Deutschland gilt das Prinzip der Ta-          der Sanierungschancen bei den Tarifvertragsparteien ei-
    rifautonomie. Gewerkschaften auf der einen Seite und Ar-            ne tarifliche Sonderregelung beantragen können, die von
    beitgeberverbände oder einzelne Unternehmen auf der an-             letzteren auszuhandeln ist.
    deren Seite regeln durch verbindliche Verträge die Ausge-         • Öffnungsklauseln mit Zustimmungsvorbehalt überlassen
    staltung der Löhne sowie der sonstigen Arbeitsbedingun-             zwar die Aushandlung einer vom Tarifvertrag abweichen-
    gen. Die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie bilden             den Betriebsvereinbarung den Betriebsparteien, machen
    Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes und das Tarifvertragsge-            deren Gültigkeit aber abhängig von der Zustimmung der
    setz. Verträge zwischen einer Gewerkschaft und einem Ar-            Tarifvertragsparteien.
    beitgeberverband werden als Flächentarifverträge (oder Ver-       • Öffnungsklauseln ohne Zustimmungsvorbehalt erlauben
    bandstarifverträge) bezeichnet. Sie werden überwiegend              den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, ohne dass
    auf regionaler Ebene und für einzelne Branchen abgeschlos-          diese von den Tarifvertragsparteien noch genehmigt wer-
    sen. Sind eine Gewerkschaft und ein einzelnes Unterneh-             den müssen.
    men Vertragspartner, so spricht man von einem Firmenta-           • Kleinbetriebsklauseln erlauben Kleinbetrieben, auf einzel-
    rifvertrag (oder Haustarifvertrag). Am Jahresende 2004 wa-          vertraglicher Basis geringere Entgelte als im Flächenta-
    ren rund 34 000 Flächentarifverträge und rund 27 800 Fir-           rifvertrag festzulegen (Schnabel 2000).
    mentarifverträge gültig (Bundesministerium für Wirtschaft
    und Arbeit 2005).                                                 Tarifvertragliche Öffnungsklauseln für Tarifentgelte, die seit
                                                                      Mitte der neunziger Jahre in Deutschland eine größere
    Eine rechtliche Bindung an einen Tarifvertrag besteht dann,       Rolle spielen, erlauben eine Berücksichtigung der Belan-
    wenn der Arbeitgeber Mitglied des tarifschließenden Ver-          ge einzelner Betriebe. Betriebliche Regelungen können
    bandes bzw. selbst Partei eines Firmentarifvertrages und          nur einvernehmlich durch Unternehmensleitung und Be-
    der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerk-           triebsrat vereinbart werden. Streiks und Aussperrungen
    schaft ist. Eine Tarifbindung ist des Weiteren dann gegeben,      zur Durchsetzung einer gewünschten Regelung sind nicht
    wenn der maßgebende Tarifvertrag für allgemein verbindlich        zulässig.
    erklärt worden ist. Die Anwendung des Tarifvertrages kann
    schließlich auch einzelvertraglich zwischen Arbeitgeber und       Sofern keine tarifvertraglichen Öffnungsklauseln existieren,
    Arbeitnehmer vereinbart werden. Dies wird in der Regel von        können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen,
    tarifgebundenen Arbeitgebern gegenüber Beschäftigten              die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise ge-
    praktiziert, die nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerk-     regelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung
    schaft sind. Für tarifgebundene Arbeitsverhältnisse gilt, dass    sein (§ 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz). Selbst ein
    mindestens der Tariflohn gezahlt werden muss.                     tarifungebundenes Unternehmen darf also nicht mit sei-
                                                                      nem Betriebsrat über Löhne verhandeln, weil das in die Zu-
    Unternehmen, die aus dem Arbeitgeberverband austreten,            ständigkeit der Tarifparteien fällt (Regelungssperre). Es kann
    müssen die Nachwirkung des Tarifvertrags beachten. Ge-            allerdings individuelle Lohnvereinbarungen treffen.
    mäß Tarifvertragsgesetz bleibt die Tarifgebundenheit so lan-
    ge bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Danach gelten sei-
    ne Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abma-           Die äußere Erosion des Flächentarifvertrags
    chung ersetzt werden. Allerdings verliert der Tarifvertrag dann
    seine zwingende Wirkung, so dass arbeitsvertragliche Re-          Die Relevanz tarifvertraglicher Regelungen wird durch das
    gelungen zu Ungunsten des Arbeitnehmers nunmehr zuläs-            Ausmaß der Tarifbindung widergespiegelt. Sie gibt Auf-
    sig sind (Brox und Rüthers 2004).                                 schluss darüber, für welchen Anteil der Betriebe und Be-

    ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Forschungsergebnisse               9

  Tab. 1
  Tarifbindung der Betriebe/Beschäftigten in West- und Ostdeutschlanda), 2003

                                                                    Betriebe                                    Beschäftigte
                                                    Flächentarif-              Firmentarif-          Flächentarif-           Firmentarif-
  Branche                                              vertrag                    vertrag               vertrag                 vertrag
                                                  West           Ost         West       Ost         West        Ost     West          Ost
  Landwirtschaft u. a.                             46              9           3          4          60         19         8            6
  Bergbau/Energie                                  58             35           8         11          82         65        13           23
  Grundstoffverarbeitung                           46             19           4          7          71         40         7           12
  Investitionsgüter                                44             15           2          7          65         27         9           16
  Verbrauchsgüter                                  56             26           4          5          68         36         8           13
  Baugewerbe                                       64             28           2          4          78         39         2            8
  Handel/Reparatur                                 49             19           2          6          63         34         5            8
  Verkehr/Nachrichten                              36             10           7          5          52         21        21           34
  Kredit/Versicherung                              59             26           2          7          86         72         6            5
  Dienste für Unternehmen                          18             13           2          4          29         33         6            8
  Sonstige Dienste                                 40             21           3          4          58         45         7           11
  Org. ohne Erwerbszweck                           48             37           3          8          61         37         7           12
  Gebietskörperschaften/                           84             84           5         10          89         92         9            7
  Sozialversicherung
  Insgesamt                                         43            21           3          5          62         43           8         11
  a)
       Anteil der jeweils betroffenen Betriebe/Beschäftigten in Prozent.
 Quelle: IAB-Betriebspanel, 11. Welle West/8. Welle Ost 2003.

schäftigten die Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen                      chentarifvertrag unterlag. Für 8% der westdeutschen und
durch Tarifvertrag geregelt werden.                                         11% der ostdeutschen Beschäftigten galt ein Firmentarif-
                                                                            vertrag (vgl. Tab. 1).
Das Ausmaß und die Entwicklung der Tarifbindung lassen
sich anhand des Betriebspanels des Instituts für Arbeits-                   Die Tatsache, dass in West- wie Ostdeutschland die Flä-
markt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit                     chentarifbindung der Beschäftigten deutlich höher ausfällt
(IAB) ermitteln. Bei dem Betriebspanel handelt es sich um                   als die der Betriebe, deutet darauf hin, dass für größere Be-
einen festgelegten Kreis von Betrieben aller Wirtschafts-                   triebe häufiger Tarifverträge gelten. Dies bestätigt Tabelle 2.
zweige mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig                    Sowohl Flächentarif- als auch Firmentarifverträge finden sich
Beschäftigten. Die Betriebe wurden aus der Betriebsdatei                    in mittleren und größeren Unternehmen häufiger als in Klein-
der Beschäftigtenstatistik als Zufallsstichprobe gezogen.                   betrieben.
Die durch Befragung der Betriebe gewonnenen Ergebnis-
se werden auf Basis der Beschäftigtenstatistik hochge-                      Wie ökonometrische Untersuchungen zeigen, ist die Wahr-
rechnet.                                                                    scheinlichkeit einer Flächentarifbindung auch dann grö-
                                                                            ßer, wenn die Betriebe schon lange existieren und wenn
Im Jahr 2003 waren 43% der westdeutschen, aber nur 21%
der ostdeutschen Betriebe durch Flächenta-
rifverträge gebunden. Den höchsten De-
ckungsgrad wiesen die Branchen Gebiets-        Tab. 2
                                               Tarifbindung nach Betriebsgrößea), 2003
körperschaften/Sozialversicherung, Berg-
bau/Energie, Baugewerbe sowie Kredit/Ver-      Beschäftigte           Flächentarifvertrag                             Firmentarifvertrag
sicherung auf. Für 3% der Betriebe in den al-  (am 30. Juni 2003)
                                                                      West           Ost                              West            Ost
ten und gut 5% der Betriebe in den neuen
                                                 1 bis 9               37             17                                 2              4
Bundesländern galten Firmentarifverträge
                                                10 bis 49              55             31                                 3              7
(vgl. Tab. 1).
                                                               50 bis 199                     62           47            8             15
Betrachtet man statt der Betriebe die Be-                 200 bis 499                         71           57           11             20
schäftigten, so zeigt sich ein größerer Gel-              500 und mehr                        80           71           11             20
tungsbereich von Tarifverträgen. Im Jahre
                                                          Insgesamt                           43           21            3              5
2003 haben rund 62% der westdeutschen
                                                          a)
und 43% der ostdeutschen Beschäftigten                         Anteil der jeweils betroffenen Betriebe in Prozent.
in einem Betrieb gearbeitet, der einem Flä-              Quelle: IAB-Betriebspanel, 11. Welle West/8. Welle Ost 2003.

                                                                                                   58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
10   Forschungsergebnisse

     es sich nicht um Einzelunternehmen und              Abb. 1
     Personengesellschaften handelt, in denen
     die Person des Eigentümers sich selbst in
     die Entlohnung der Mitarbeiter einschal-
     ten möchte. Weitere Einflussgrößen für die
     Tarifbindung von Betrieben bilden der ge-
     werkschaftliche Organisationsgrad der Be-
     schäftigten und das Vorhandensein eines
     Betriebsrats. Betriebe mit einem hohen An-
     teil hochqualifizierter Mitarbeiter, deren Be-
     zahlung in der Regel in Einzelarbeitsver-
     trägen geregelt wird und die ihre Interes-
     sen kaum durch Gewerkschaften vertreten
     lassen, sind selten tarifgebunden. Dominie-
     ren dagegen Facharbeiter, die in überdurch-
     schnittlichem Maße gewerkschaftlich or-
     ganisiert sind, ist die Tarifbindung häufi-
     ger (Franz und Pfeiffer 2001; Kohaut und
     Schnabel 2003).
                                                                    Erosion des Flächentarifvertrags zu verzeichnen, welche die
     Die Flächentarifbindung in Deutschland weist eine deutlich     beschriebenen Tendenzen noch verstärkt.
     rückläufige Tendenz auf. Verschiedene Faktoren dürften zur
     äußeren Erosion des Flächentarifvertrags beigetragen ha-
     ben. Mit der Globalisierung der Wirtschaft ist es für Unter-   Die innere Erosion des Flächentarifvertrags
     nehmen nicht mehr so wichtig, dass Flächentarifverträge auf
     nationaler Ebene gleiche Wettbewerbsbedingungen herstel-       Während die äußere Erosion des Flächentarifvertrags auf die
     len. Vielmehr benötigen sie eine hinreichende Lohnflexibili-   Abnahme seines formalen Geltungsbereichs abstellt, be-
     tät, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz bestehen        zeichnet der Begriff der inneren Erosion die abnehmende
     zu können. Deshalb befürworten viele Unternehmen eine          Gestaltungskraft und Normierungsfähigkeit flächentariflicher
     Dezentralisierung der Lohnverhandlungen (Calmfors et al.       Standards auch in solchen Fällen, in denen formal noch ein
     2001). Des Weiteren verlangen neue, differenzierte Formen      Tarifvertrag betriebliche Gültigkeit besitzt. Es lassen sich zwei
     der Arbeitsorganisation variable Entlohnungsmöglichkeiten      Formen der inneren Erosion des Flächentarifvertrags unter-
     auf betrieblicher Ebene. Um eine Bindung an den Flächen-       scheiden: die regulierte Flexibilisierung und der Tarifbruch.
     tarifvertrag zu vermeiden, treten immer mehr Unternehmen       Eine regulierte Flexibilisierung liegt dann vor, wenn die be-
     aus den Arbeitgeberverbänden aus bzw. gar nicht erst in        triebliche Abweichung von den formal gültigen Tarifnormen
     diese ein. Ebenso trägt der Rückgang des gewerkschaftli-       nicht einseitig durch die Geschäftsleitung verfügt wird, son-
     chen Organisationsgrades der Beschäftigten zum Rückgang        dern Gegenstand betrieblicher Aushandlungsprozesse ist.
     der Flächentarifbindung bei. Schließlich dürfte auch durch     Diese Verhandlungen können mit oder ohne Einbeziehung
     den sektoralen Strukturwandel (tariflich geregelte Bereiche    der Tarifparteien erfolgen. Von einem Tarifbruch wird dann
     schrumpfen, ungeregelte expandieren) der Flächentarifver-      gesprochen, wenn der Betrieb zwar in juristischer Hinsicht
     trag erodieren.                                                der tariflichen Bindung unterliegt, die Geschäftsleitung je-
                                                                    doch einseitig, teilweise mit stillschweigender Duldung der
     Auf den Rückgang der Flächentarifbindung deuten wieder-        Beschäftigten, die tariflichen Normen nicht einhält (Artus
     um die Daten des IAB-Betriebspanels hin, die in West-          2001, 111 ff. und 125 ff.).
     deutschland bis 1995 und in Ostdeutschland bis 1996 zu-
     rückreichen. In Westdeutschland ging die Flächentarifbin-      Obwohl die Tarifparteien im Falle tariflich regulierter Flexibi-
     dung bezogen auf die Beschäftigten von 72% (1995) auf          lisierung noch einen erheblichen Einfluss auf die betriebliche
     62% (2003) zurück. In Ostdeutschland war ein Rückgang          Tarifgestaltungspraxis ausüben, trägt diese Art der Flexibi-
     von 56% (1996) auf 43% (2003) zu verzeichnen (vgl. Abb. 1).    lisierung doch zur Erosion des Flächentarifvertragssystems
     Bezogen auf die Betriebe betrugen die entsprechenden           bei. Zwei Formen lassen sich unterscheiden: die Inanspruch-
     Rückgänge der Flächentarifbindung im Westen etwa 11 und        nahme tariflicher Härtefall- und Öffnungsklauseln und der –
     im Osten 7 Prozentpunkte. Mit dem schrumpfenden for-           oben schon erwähnte – Abschluss von Firmentarifverträgen.
     malen Geltungsbereich branchenweiter Tarifverträge ist nur     Tarifliche Öffnungsklauseln haben in Deutschland große Ver-
     eine Komponente der Erosion des Flächentarifvertrags dar-      breitung gefunden. Mittlerweile existiert kaum noch eine
     gestellt worden. Neben dieser äußeren ist auch eine innere     Tarifbranche, in der nicht im Rahmen von Öffnungsklauseln

     ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
Forschungsergebnisse                11

bestimmte betriebliche Abweichungsmöglichkeiten von den                           Neben der tariflich und der betrieblich regulierten Flexibili-
durch den Flächentarifvertrag gesetzten Standards verein-                         sierung trägt der Tarifbruch zur inneren Erosion des Flächen-
bart wurden. Die WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung1                         tarifvertrags bei. Nach Angaben der Betriebsräte im Rah-
ergab für das Jahr 2002, dass in 35% der Betriebe und 22%                         men der WSI-Befragung haben im Jahr 2002 10% der Be-
der Behörden tarifliche Öffnungsklauseln genutzt wurden.                          triebe gelegentlich und 5% öfter gültige Tarifstandards un-
Im Jahre 1999/2000 war die Nutzung tariflicher Öffnungs-                          terschritten. In Ostdeutschland kommen Tarifverstöße häu-
klauseln in 22% der Betriebe noch deutlich niedriger. In-                         figer vor als in Westdeutschland. In öffentlichen Unterneh-
haltlich sind tarifliche Öffnungsklauseln vor allem ein Instru-                   men und Behörden ist die Tariftreue weitaus ausgeprägter
ment der Arbeitszeitpolitik. Entgeltbezogene Öffnungsklau-                        als in privaten Betrieben (Bispinck und Schulten 2003). Zu
seln werden aber immerhin von einem Sechstel der Betrie-                          ähnlichen Ergebnissen gelangt Bahnmüller (2002) in einer
be und Dienststellen für niedrigere Einstiegstarife sowie Kür-                    Befragung von Managern und Betriebsräten tarifgebunde-
zungen bzw. Aussetzungen von Jahressonderzahlungen ge-                            ner Betriebe der Metall-, Textil- und Bekleidungsindustrie
nutzt. Auch betrieblichen Bündnissen für Arbeit (siehe un-                        und des Bankengewerbes. Danach wird in gut 10% der
ten) dienen sie als Grundlage (Bispinck 2001; Bispinck und                        Betriebe erheblich vom Flächentarifvertrag abgewichen. In
Schulten 2003). Tarifliche Öffnungsklauseln werden in Ost-                        37% der Betriebe werden die Abweichungen als unbedeu-
deutschland in höherem Maße genutzt als in Westdeutsch-                           tend qualifiziert, während in knapp 53% der Betriebe die
land. Bei der Regelung der Entgelte beteiligen die Betriebs-                      Tarifverträge strikt eingehalten werden.
räte im Osten die Gewerkschaften weitaus seltener als im
Westen (Artus 2001, 129–30; Artus, Schmidt und Sterkel                            Durch die innere ist die äußere Erosion des Flächentarifver-
2000).                                                                            trags in Deutschland verstärkt worden. Im Jahre 2003 ha-
                                                                                  ben – wie oben dargestellt wurde – rund 62% der westdeut-
Neben diesen legalen gibt es auch illegale Formen der re-                         schen und 43% der ostdeutschen Beschäftigten in einem
gulierten Flexibilisierung. Illegal sind solche Flexibilisierungs-                Betrieb gearbeitet, der einem Flächentarifvertrag unterlag
maßnahmen dann, wenn Management und Betriebsrat oh-                               (für 8 bzw. 11% galt ein Firmentarifvertrag). Welcher Anteil
ne Einbeziehung der Tarifvertragsparteien Regelungen ver-                         dieser Beschäftigten nicht in den Genuss einer Bezahlung
einbaren, die vom geltenden Tarifvertrag abweichen. Bei die-                      (mindestens) nach Tarif kam, kann allerdings nicht angege-
sen Vereinbarungen kann es sich um Betriebsvereinbarun-                           ben werden, da repräsentative Angaben über das Ausmaß
gen oder Regelungsabreden handeln. Über die Häufigkeit                            der inneren Erosion des Flächentarifvertrags fehlen. Die WSI-
solcher Vereinbarungen und ihre Inhalte liegen naturgemäß                         Befragungen deuten jedoch an, dass die Unterschreitungen
keine Informationen vor.                                                          von Tarifnormen nicht unerheblich sind. Gleichzeitig muss
                                                                                  allerdings auch in Betracht gezogen werden, dass die Prä-
Tarifliche Öffnungsklauseln bilden häufig die Grundlage für                       gekraft der Tarifverträge über ihren formellen Geltungsbe-
betriebliche Bündnisse für Arbeit. Der Kern dieser Bünd-                          reich hinaus reicht und auch die nicht tarifgebundenen Be-
nisse besteht in einem betrieblichen Tauschgeschäft, in                           triebe sich in hohem Maße an ihnen orientieren. Nach dem
dem die Arbeitnehmerseite bestimmten einkommenspo-                                IAB-Betriebspanel gab es 2003 keinen Tarifvertrag für an-
litischen Konzessionen zustimmt und hierfür vom Arbeit-                           nähernd 30% der westdeutschen und 46% der ostdeut-
geber eine (befristete) Beschäftigungsgarantie erhält (Sei-                       schen Arbeitnehmer. Jeweils gut die Hälfte dieser Arbeitneh-
fert 2002). In der WSI-Befragung 2002 gaben 29% der                               mer wurde jedoch indirekt von Tarifverträgen abgedeckt,
Betriebsräte und 23% der Personalräte an, über eine be-                           da sich ihre Betriebe daran orientierten (Ellguth und Kohaut
triebliche Vereinbarung zur Beschäftigungs- und Stand-                            2004).
ortsicherung zu verfügen. Dabei liegt der Anteil bei den
Großbetrieben (mit mehr als 1000 Beschäftigten) mit 46%
deutlich über dem Durchschnitt (Bispinck und Schulten                             Zum makroökonomischen Zusammenhang
2003; Hassel und Rehder 2001). Innerhalb der metallver-                           zwischen Zentralisierungsgrad von
arbeitenden Industrie sind ungefähr 40% der Betriebe »be-                         Lohnverhandlungen und Beschäftigung
triebliche Bündnisse für Arbeit« eingegangen (Berthold et
al. 2003).
                                                                                  Ein Lohnverhandlungssystem muss drei Kriterien erfüllen,
                                                                                  um positive Beschäftigungsergebnisse zu erzielen. Das
                                                                                  Lohnverhandlungssystem sollte dafür sorgen, dass sich die
1   Die Betriebs- und Personalrätebefragung des Wirtschafts- und Sozial-          Lohnerhöhung (bei Vollbeschäftigung) an der gesamtwirt-
    wissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) stellt eine   schaftlichen Produktivitätsentwicklung orientiert. Bei Un-
    Befragung von Betriebs- und Personalräten aus Betrieben und Dienst-
    stellen mit 20 und mehr Beschäftigten in allen Wirtschafts- und Verwal-       terbeschäftigung ist ein Abschlag vom Produktivitätsfort-
    tungsbereichen West- und Ostdeutschlands dar. Gut 46% (Westdeutsch-           schritt vorzunehmen. Es sollte des Weiteren eine hohe Lohn-
    land) bzw. 40% (Ostdeutschland) dieser Betriebe verfügen über eine be-
    triebliche Interessenvertretung. Die Befragung wurde 1997/98, 1999/2000
                                                                                  flexibilität aufweisen, um angemessen auf gesamtwirtschaft-
    und 2002 durchgeführt.                                                        liche Schocks reagieren zu können. Schließlich sollte es ei-

                                                                                                      58. Jahrgang – ifo Schnelldienst 5/2005
12   Forschungsergebnisse

     ne marktgerechte Lohndifferenzierung ermöglichen. Außer-                 gativen Folgewirkungen überhöhter Lohnabschlüsse wieder-
     dem sollte das Lohnverhandlungssystem so ausgestaltet                    um nicht auf Dritte überwälzt werden (vgl. die Hump-shape-
     sein, dass es die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten                Kurve in Abb. 2).
     erhöht.
                                                                              Die bisher unterstellten Wirkungszusammenhänge sind pri-
     Lohnzurückhaltung                                                        mär für eine geschlossene Volkswirtschaft entwickelt wor-
                                                                              den. In einer offenen Volkswirtschaft gelten diese Zusam-
     Der Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen beeinflusst               menhänge nur noch in eingeschränktem Maße. Hier führt
     die Lohnentwicklung auf der makroökonomischen Ebene                      zum einen die Integration der Produktmärkte zu einer In-
     vor allem durch zwei Wirkungsmechanismen: die Internali-                 tensivierung des Wettbewerbs auf diesen Märkten. Der Lohn-
     sierung von externen Lohneffekten und die Ausnutzung von                 erhöhungsspielraum wird damit insbesondere auch in Län-
     Marktmacht (Calmfors et al. 2001; Berthold und Fehn 1996).               dern mit einem mittleren Zentralisierungsgrad der Lohnver-
     Allein auf Internalisierungseffekten basiert die Korporatis-             handlungen eingeschränkt. Zum anderen hat die interna-
     musthese. Zentrale Tarifpartner würden die gesamtwirt-                   tionale Mobilität des Kapitals zur Folge, dass überhöhte
     schaftlichen Konsequenzen (d.h. insbesondere die Inflati-                Lohnabschlüsse (abgesehen von einem Inflationsanstieg) zu
     onswirkungen) der von ihnen vereinbarten Lohnerhöhungen                  Produktionsverlagerungen ins Ausland führen können. Die-
     berücksichtigen und deshalb moderate Lohnabschlüsse be-                  se Gefahr trägt dazu bei, dass auch auf der mittleren und
     vorzugen. Je dezentraler die Lohnverhandlungen erfolgten,                der dezentralen Ebene die Folgen hoher Lohnabschlüsse
     umso weniger würden Lohnexternalitäten internalisiert. Es                bei den Lohnverhandlungen berücksichtigt werden. Beide
     bestünde deshalb der in Abbildung 2 als Korporatismus                    Faktoren haben zur Konsequenz, dass in einer offenen Volks-
     bezeichnete Zusammenhang zwischen Zentralisierungsgrad                   wirtschaft der Einfluss des Zentralisierungsgrades von Lohn-
     und Lohnmäßigung.                                                        verhandlungen auf die Reallohnentwicklung abnimmt (Lesch
                                                                              1999).2
     Die von Calmfors und Driffill (1988) entwickelte Hump-
     shape-These berücksichtigt neben den Internalisierungsef-                Lohnflexibilität
     fekten auch die mit unterschiedlichen Preissetzungsspielräu-
     men verbundenen Lohnerhöhungsmöglichkeiten. Bei be-            Ein weiterer Aspekt von Lohnverhandlungen betrifft den
     trieblichen Lohnverhandlungen sind diese gering, da Lohn-      Grad der nominalen Lohnflexibilität als einem Anpassungs-
     erhöhungen auf Grund der hohen Substitutionselastizität der    instrument beim Auftreten makroökonomischer Schocks.
     Nachfrage in Bezug auf die eigenen Produkte nicht auf die      Hier scheinen dezentrale Lohnvereinbarungen eindeutig vor-
     Preise überwälzt werden können. Auf der Branchenebene          teilhafter zu sein, da sie auf Nachfrageveränderungen rela-
     sind die Überwälzungsmöglichkeiten dagegen größer, weil        tiv flexibel reagieren können. Auf der anderen Seite ist zu
     alle konkurrierenden Unternehmen von der Lohnerhöhung          berücksichtigten, dass aufgrund von Nachfrageinterdepen-
     betroffen sind und die Nachfrager nicht ohne weiteres auf die  denzen auf den Produktmärkten die Vorteilhaftigkeit von
     Produkte anderer Branchen ausweichen können (die Subs-         Lohn- (und Preis-)anpassungen in einzelnen Firmen davon
     titutionselastizität zwischen Produkten unterschiedlicher      abhängt, ob andere Firmen sich gleichgerichtet verhalten.
     Branchen ist gering). Auf der zentralen Ebene können die ne-   Das Verhalten einer Firma hängt damit von den Erwartun-
                                                                                     gen hinsichtlich der Lohnanpassungen in an-
                                                                                     deren Firmen ab. Die Koordination von Lohn-
      Abb. 2                                                                         verhandlungen kann mögliche Erwartungs-
      Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen und Reallohnentwicklung             unsicherheiten reduzieren und damit die
                                                                                     Lohnflexibilität sogar erhöhen (Ball und Ro-
         Reallohn                                                                    mer 1991). Empirische Untersuchungen zu
                                                                                     diesem Zusammenhang liegen nicht vor (EE-
                                                                                     AG 2004, Kap. 3).

                                                       Hump shape

                                                                                                  2   Nach Fitzenberger und Franz (1999) müssen weitere
                                                                                                      als die genannten Faktoren bei der Bestimmung des
                                                                                                      optimalen Zentralisierungsgrades der Lohnverhand-
                                                                                                      lungen berücksichtigt werden. Aus ihrer Sicht ist ins-
                                                                                                      besondere eine Verknüpfung mit der Insider-Outsider-
                                                                                                      Problematik erforderlich. Sie vermuten, dass das In-
                                              Korporatismus                                           sider-Verhalten besonders auf der betrieblichen Ebe-
                                                                                                      ne anzutreffen ist, weil die Macht der Arbeitsplatzbe-
                                                                                                      sitzer (mit höherer Qualifikation) dort stärker ist als auf
                                                                                                      der Verbandsebene. Dezentralere Lohnverhandlungen
            niedrig                  mittel                         hoch                              würden deshalb nicht zu gemäßigteren Lohnabschlüs-
                                                                           Zentralisierungsgrad
                                                                                                      sen führen als zentralere Verhandlungen.

     ifo Schnelldienst 5/2005 – 58. Jahrgang
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