Schadensminderung zwischen Prävention und Behandlung
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SCHADENSMINDERUNG, SUCHTPOLITIK, SUCHTHILFE KONKRET
Schadensminderung zwischen
Prävention und Behandlung
2019-6 Das Konzept der Schadensminderung weist zahlreiche Schnittstellen mit den
Jg. 45 Konzepten der Behandlung und der Prävention auf. Vor dem Hintergrund des
S. 4-9
Bestrebens, die Schadensminderung auf legale Suchtmittel und Verhaltens-
süchte wie Geldspiel auszuweiten, bietet sich eine vertiefte Auseinanderset-
zung mit diesen Schnittstellen an. Aus dieser Auseinandersetzung ergeben
sich Argumente für, aber auch gegen eine inhaltliche Ausweitung der Scha-
densminderung.
MARTIN HAFEN1
Sozialarbeiter HFS und Soziologe Dr. phil., Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Werftestr. 1, CH-6002 Luzern,
Tel. +41 (0)41 367 48 81, martin.hafen@hslu.ch, www.fen.ch
Die Schadensminderung ist seit den Für die angestrebte Formbestim- (etwa im Kontext einer Psychotherapie).
1990er-Jahren eine von vier Säulen der mung werden zuerst die Konzepte der Lässt sich ein Problem nicht einfach
Schweizerischen Suchtpolitik (Schwei- Behandlung und der Prävention geklärt beseitigen (wie z. B. eine chronische
zer Bundesrat 2001). Sie etablierte sich und in Bezug zueinander gesetzt; dann Krankheit), so kann die Behandlung auch
unter dem Eindruck der Probleme, die erfolgt eine Analyse des Konzepts der darauf ausgerichtet sein, die Funktions-
im Rahmen der offenen Drogenszenen in Schadensminderung vor dem Hinter- fähigkeit einer Person trotz der Krank-
Schweizer Städten zum Ausdruck kamen. grund dieser Konzepte. Abgeschlossen heit zu erhalten oder eine Verschlimme-
Mit der Schadensminderung (vormals wird der Text mit einigen fachlich-theo- rung des Problems zu verhindern resp.
Überlebenshilfe, engl. harm reduction) retischen, praxisbezogen-pragmatischen zu verlangsamen.
sollten die Folgeprobleme des Konsums und ethischen Überlegungen zur wei- Im Gegensatz zur Behandlung hat
von illegalen Drogen besser bewältigt teren Nutzung des Konzepts der Scha- es die Prävention mit noch nicht be-
werden. Vor diesem Hintergrund lässt densminderung. stehenden Problemen zu tun, also mit
sich sagen, dass die Schadensminderung Problemen, bei denen das Risiko besteht,
ursprünglich weniger die Folgeprobleme Die Konzepte der Behandlung und dass sie in der Zukunft auftreten. Anders
des Drogenkonsums als die Folgeprob- der Prävention als die Behandlung ist die Prävention
leme der Prohibition bekämpfte. Prävention und Behandlung sind einer- entsprechend nicht darauf ausgerichtet,
In diesem Text geht es um eine theo- seits getrennt, stehen andererseits aber eine problembelastete Gegenwart so zu
retisch begründete Formbestimmung auch in einer engen Beziehung zuein- beeinflussen, dass sie sich verbessert
des Konzepts der Schadensminderung. ander (Hafen 2005; 2014). Behandlung oder zumindest nicht verschlimmert.
Im Fokus soll die Frage stehen, ob und, setzt dann ein, wenn ein Problem bereits Die Prävention hat die paradoxe Auf-
falls ja, wie sich die Schadensminderung aufgetreten ist, wenn also Leute krank, gabe, eine an sich erwünschte Gegenwart
von den herkömmlichen Interventions- süchtig, gewalttätig geworden sind oder (die Probleme bestehen noch nicht) so
positionen der Behandlung (in der Form sonst irgendwelche Symptome von zu verändern, dass sie bleibt, wie sie ist.
von Nothilfe, Therapie, Rehabilitation Phänomenen zeigen, die von der Ge- Sie löst diese Paradoxie dadurch auf,
etc.) und der Prävention unterscheidet. sellschaft als unerwünscht bezeichnet dass sie Faktoren (Risikofaktoren und
Diese Formbestimmung erfolgt vor dem werden. Für das «Zuvorkommen» (lat. Schutzfaktoren) bestimmt, denen ein
Hintergrund der in der Fachwelt dis- prävenire) der Prävention ist es dann Einfluss auf das Entstehen des zu ver-
kutierten Idee, das Konzept der Scha- zu spät. Das Problem besteht bereits hindernden Problems (z. B. einer Sucht,
densminderung auch auf den Gebrauch und die Massnahmen haben zum Ziel, einer Krankheit, eines Unfalls oder eines
von legalen psychoaktiven Substanzen seine Symptome direkt zu beseitigen sozialen Phänomens wie Jugendgewalt)
(Alkohol, Tabak) und auf substanzunge- (etwa durch die Vergabe eines Anti-Cra- zugeschrieben wird. Wenn es gelingt, die
bundene, risikoreiche Verhaltensweisen ving-Medikamentes bei einem sucht- Risikofaktoren zu reduzieren bzw. die
wie Geldspiel oder Risikosportarten aus- kranken Menschen) und gleichzeitig die Schutzfaktoren zu stärken, dann redu-
zuweiten. Ursachen für das Problem anzugehen ziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass
das Problem in Zukunft auftritt.
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SUCHTMAGAZIN 06/2019
Die wechselseitige Bedingtheit von gen versucht und dadurch der Chronifi- regelmässig Heroinkonsumierende re-
Prävention und Behandlung zierung des Problems und dem Auftreten serviert und richten sich nicht an Gele-
Wir haben gesehen, dass es ein wich- von Folgeproblemen entgegenwirkt. genheitskonsumierende mit rekreativem
tiges Ziel der Behandlung sein kann, Das wiederum entspricht – wie oben be- Heroingebrauch.
eine Verschlimmerung eines Problems schrieben – der präventiven Funktion,
wie einer Krankheit zu verhindern oder die jeder Behandlung eigen ist. Individuelle und soziale Schäden
Folgeproblemen (etwa eine Arbeitslosig- Wie bei den «illegalen» Substanzen sind
keit infolge eines Burnouts) zuvorzu- Schädliche individuelle Verhaltens- auch die «legalen» individuellen Verhal-
kommen. Daraus lässt sich folgern, dass weisen im Fokus tensweisen mit dem Risiko der Schädi-
sich Prävention und Behandlung nicht Setzt man die Schadensminderung in Be- gung der individuellen psychischen und
ausschliessen, sondern sich wechsel- zug zu Prävention und Behandlung, stel- körperlichen Gesundheit verbunden (in-
seitig bedingen. Das bedeutet, dass jede len sich drei Fragen: Auf welche «Verhal- dividuelle Dimension der Schädigung).
Behandlung immer auch präventive As- tensweisen» bezieht sich das Konzept, Gleichzeitig gehen sie aber auch mit
pekte umfasst – so wie die Behandlung um welche «Schäden» geht es und was potenziellen Schädigungen im sozialen
einer Depression einen Suizidversuch heisst «Minderung». Im Hinblick auf Umfeld der betreffenden Personen (so-
der PatientInnen verhindern soll. Ca- die erste Frage fällt auf, dass sich das ziale Dimension der Schädigung) einher.
plan (1964) spricht in diesem Fall von Konzept der Schadensminderung aus- Diese sozialen Schäden können sowohl
«Tertiärprävention» und Gordon (1987) schliesslich auf zwar gesellschaftlich das unmittelbare Umfeld der Betroffe-
von «indizierter Prävention». Die «be- problematisierte, aber letztlich immer nen (z. B. die familiären Beziehungen
handelnden» Aspekte der Prävention individuelle Verhaltensweisen bezieht. oder die Arbeitstätigkeit) als auch die
wiederum beziehen sich auf die Beseiti- Formal gesehen wäre es ohne weiteres übrige Gesellschaft (z. B. durch Beschaf-
gung von Risikofaktoren und Schutzfak- möglich, das Konzept der Schadensmin- fungskriminalität, Gefährdung Dritter
tordefiziten. Wird Rauchen als wichtiger derung auch für hochriskante Verhal- durch Spritzenmaterial) betreffen.
Risikofaktor für das Auftreten einer tensweisen sozialer AkteurInnen (z. B. Im Gegensatz zur Behandlung (z. B.
nicht übertragbaren Krankheit wie Lun- einer Organisation auf dem Finanz- in Form einer Therapie) ist die Scha-
genkrebs betrachtet, so reduziert eine markt) zu nutzen. Dieser Fokuswechsel densminderung nicht darauf ausgerich-
erfolgreiche Rauchstopp-Behandlung die wird auch vorgenommen, wenn man – tet, das Ausgangsproblem (den regel-
Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser wie weiter oben ausgeführt – vermutet, mässigen Heroinkonsum) grundsätzlich
Krankheit. dass die Schadensminderung ursprüng- in Frage zu stellen, oder seine Frequenz
Das Beispiel deutet darauf hin, dass lich weniger die Folgeprobleme des Dro- zu reduzieren. Vielmehr wird versucht,
eine klare Trennung von Prävention und genkonsums als die Folgeprobleme der durch Veränderung der Rahmenbedin-
Behandlung nur dann möglich ist, wenn Prohibition im Fokus hatte. Auch bei die- gungen des Konsums, die Wahrschein-
deklariert wird, worauf sich die zur Dis- ser Vermutung wird der Fokus vom Indi- lichkeit des Auftretens von individuellen
kussion stehenden Massnahmen bezie- viduum auf einen sozialen Akteur (hier und sozialen Folgeproblemen zu redu-
hen. Bezieht sich die Rauchstopp-Mass- den Staat oder die Staatengemeinschaft) zieren (zu mindern). So wird durch die
nahme auf das Rauchen selbst (das als verschoben, der mit seiner repressiven Abgabe von reinem Heroin die Wahr-
eigenständiges Problem angeschaut Drogenpolitik individuelle und soziale scheinlichkeit einer Vergiftung durch
wird), dann handelt es sich um eine Be- Folgeprobleme begünstigt. Strecksubstanzen eliminiert und das Ri-
handlungsmassnahme, die versucht, In der ursprünglichen Fassung des siko eines Atemstillstands reduziert, weil
dieses manifeste Problem «Rauchen» Konzepts der Schadensminderung geht der Reinheitsgrad der Substanz bekannt
zu beseitigen. Steht jedoch der Lun- es bei diesen Verhaltensweisen aber ist und die Dosierung entsprechend prä-
genkrebs im Fokus, so wird die gleiche nicht um eine verfehlte Drogenpolitik, zise eingestellt werden kann. Und durch
Rauchstopp-Behandlung zu einer Prä- sondern um den exzessiven Konsum von einen Fixerraum werden Konsumbedin-
ventionsmassnahme, weil ein wichtiger illegalen psychotropen Substanzen wie gungen geschaffen, die den Tausch von
Risikofaktor eliminiert wird. Heroin, Kokain, Cannabis oder syntheti- Spritzen unnötig machen und dadurch
Die Früherkennung wird an dieser sche Drogen. Mit einer Erweiterung des das Risiko der Übertragung von über-
Stelle nicht in die Überlegungen ein- Konzepts auf legale Verhaltensweisen tragbaren Krankheiten wie Hepatitis
bezogen, weil es sich bei der Früh- rücken Rauchen, übermässiger Alko- oder HIV reduzieren. Zudem wird durch
erkennung um eine rein diagnostische holkonsum, exzessives Geldspiel oder die Präsenz von medizinisch ausgebil-
Massnahme handelt, die für sich keine Risikosportarten in den Fokus, ohne den detem Personal die Wahrscheinlichkeit
präventive Wirkung erzeugt. Eine solche Fokus auf das Individuum zu verlassen. einer medizinischen Intervention bei ei-
Wirkung wird nur durch die Frühinter- Entsprechend richten sich die Schadens- nem Atemstillstand erhöht. Schliesslich
vention generiert, die formidentisch mit minderungsmassnahmen ausschliesslich bewirkt der Fixerraum, dass der Dro-
der Behandlung ist. Das bedeutet, dass an Personen, die das problematisierte genkonsum nicht im öffentlichen Raum
sie an einem (frühzeitig) diagnostizier- Verhalten aufweisen. So sind die Metha- stattfindet. Interessanterweise werden
ten Problem ansetzt, dieses zu beseiti- don- und Heroinabgabeprogramme für die heroingestützte Behandlung (He-
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GeBe) und Methadonabgabeprogramme moderater gefasst. Er deutet auf eine Massnahmen durchaus als «Schadens-
im schweizerischen Viersäulenmodell Risikoreduktion, nicht auf eine Eliminie- minderung» und nicht nur als «Unfall-
seit einigen Jahren nicht mehr der Säule rung des Risikos hin. Eine solche kann prävention» bezeichnet werden. Ob das
«Schadensminderung», sondern der freilich in der Prävention auch kaum je Sinn macht, ist eine andere Frage. Das
Säule «Therapie» zugeordnet, obwohl erreicht werden, weshalb die Prävention Verbot des Fahrens in angetrunkenem
bei einer Therapie (alt. gr. therapeia) wie die Schadensminderung tendenziell Zustand wird ja auch als Massnahme der
die Beseitigung («Heilbehandlung») des auf eine Risikoreduktion und kaum auf Unfallprävention und nicht als Scha-
fokussierten Problems im Fokus steht. eine komplette Risikoeliminierung aus- densminderungsmassnahme im Hinblick
Eine mögliche Hypothese ist, dass die gerichtet sind. auf den Alkoholkonsum bezeichnet.
stark medizinalisierte Ausgestaltung der
Substitution zu dieser Umdeutung ge- Der Problemgrad des «Ausgangs- Risikofaktoren als eigenständige
führt hat. problems» Probleme
Das Konzept der Schadensminderung Weiter oben wurde argumentiert, dass
Prävention und Behandlung in der verschiebt sich auf dem Kontinuum von die Schadensminderung im Gegensatz
Schadensminderung Prävention und Behandlung noch weiter zur Behandlung nicht darauf ausgerich-
Die Beispiele zeigen, dass die wechsel- in Richtung Prävention, wenn sich die tet ist, das Ausgangsproblem grund-
seitige Bedingtheit von Prävention und Problematisierung des ursprünglichen sätzlich in Frage zu stellen. Zwar setzt
Behandlung auch in der Schadensminde- Verhaltens reduziert. Diesbezüglich stellt auch die Schadensminderung direkt an
rung erkennbar ist. Den Ausgangspunkt sich die Frage, ob die Bewertung als der problematisierten Verhaltensweise
bildet wie bei der Behandlung ein beste- «problematisch» überhaupt eine unab- an, im Gegensatz zur Behandlung stellt
hendes Problem (der Drogenkonsum); dingbare Komponente des Konzepts der sie jedoch weder ihre Funktion (z. B.
der Fokus der Aktivität liegt jedoch auf Schadensminderung ist. Sollte Heroin-, Lustgewinn, Vermeidung von Entzugs-
der Prävention von Folgeproblemen, die Kokain- oder Cannabiskonsum dereinst erscheinungen) in Frage, noch versucht
das Individuum oder die Gesellschaft legalisiert und entsprechend auch zum sie die Frequenz der Funktionserfül-
betreffen könnten. Durch die Reduktion rekreativen Gebrauch freigegeben wer- lung zu reduzieren, wie das in der Be-
von Risikofaktoren (gestreckter Stoff mit den, wird die Problematisierungskompo- handlung z. B. beim Therapieziel des
unbekanntem Reinheitsgrad) resp. der nente zumindest abgeschwächt werden. kontrollierten Trinkens gemacht wird.
Förderung von Schutzfaktoren (Einrich- Es könnte dereinst gleich «normal» (d. h. Eine Eliminierung des Verhaltens wie in
tung eines Fixerraums mit medizinisch gesellschaftlich legitimiert) sein, am Wo- einer Therapie, die dem Abstinenzpara-
ausgebildetem Personal) wird das Risiko chenende eine Linie Kokain zu schnup- digma folgt, steht schon gar nicht im
verringert, dass ein zukünftiges Problem fen, einen Joint zu rauchen oder ein Glas Fokus. Die Prävention wiederum kann
(Vergiftung, Atemstillstand, Tod) auf- Rotwein zu geniessen. Auch im Fall einer durchaus auf die Eliminierung resp.
tritt. Und wie in anderen Präventions- solchen gesellschaftlichen Entproblema- Reduktion des fokussierten Verhaltens
feldern können sich die Massnahmen tisierung kann es sinnvoll sein, im Sinne ausgerichtet sein. Das liegt daran, dass
sowohl an die konsumierende Person der Prävention die Rahmenbedingungen die Risikofaktoren (und bisweilen auch
(verhaltensorientierter Ansatz, z. B. in einer riskanten Verhaltensweise so zu die Schutzfaktorendefizite) als eigen-
Form der Spritzenabgabe), als auch an gestalten, dass das Risiko von (Folge-) ständige Probleme beobachtet werden
die sozial-strukturellen Rahmenbedin- Problemen reduziert wird. In diesem können. Ein Rauchstopp-Programm ist
gungen (verhältnisorientierter Ansatz, Sinn lässt sich z. B. formulieren, dass in diesem Sinn mit Blick auf das Rau-
z. B. durch die Einrichtung des Fixer- «Safer Sex» ein Schadensminderungs- chen eine Behandlungsmassnahme und
raums) richten. Es handelt sich demnach ansatz ist, ohne dass Geschlechtsverkehr gleichzeitig eine adäquate Präventions-
sowohl bei der Schadensminderung wie mit einer Person, die man vor kurzem massnahme zur Erreichung der Ziele der
auch bei der Prävention um die Ver- kennengelernt hat, grundsätzlich als Krebsprävention. Andererseits müssen
hinderung von zukünftigen Schäden, problematische Verhaltensweise an- verhaltensbezogene Risikofaktoren auch
die sich aus der problematisierten Ver- geschaut würde (was in stark religions- aus der Perspektive der Prävention nicht
haltensweise (dem gleichen Ausgangs- geprägten Zeiten durchaus der Fall war). zwangsläufig eliminiert werden, wenn
punkt wie bei einer Behandlung) ergeben Oder nehmen wir Risikosportarten: ihr negativer Einfluss auch anderweitig
können. Downhill-Biking, Fallschirmspringen, beseitigt werden kann. Wenn z. B. ein
Schliesslich lässt sich eine leichte Bungee-Jumping oder gar das Fliegen in Verdampfungsmechanismus entwickelt
semantische Differenz zwischen den einem Wingsuit werden nicht grundsätz- wird, der die Lungenkrebs fördernde
Begriffen «Schadensminderung» und lich als problematisch bezeichnet oder Wirkung des Rauchens eliminiert, dann
«Prävention» feststellen. Während die gar verboten. Diese Tätigkeiten gehören ist das durchaus im Sinne der Krebs-
Prävention prinzipiell auf ein «Zuvor- zu unserer Erlebnisgesellschaft, und prävention und der Verhinderung von
kommen» und damit auf eine «Verhin- trotzdem bieten sich Massnahmen zur Problemen, die sich in Folge des Passiv-
derung» der Folgeschäden ausgerichtet Reduktion des Risikos von Folgeproble- rauchens ergeben. Im Kontext dieser
ist, ist der Begriff «Minderung» etwas men an. Formal gesehen könnten solche Massnahme wäre dann zu prüfen, ob die
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neue Technologie Nebenwirkungen mit und auch strukturelle Massnahmen wie minieren und sie als ethische Grundhal-
sich bringt, die ihren Zielen zuwiderlau- Verlagerung von Geldautomaten aus tung zu betrachten, die in allen anderen
fen. Weiter wird sich die Frage nach der den Casinos sind grundsätzlich darauf Dimensionen (bei ihm Suchtprävention,
schädigenden Wirkung des eigentlichen ausgerichtet, das Verhalten selbst zu re- Suchthilfe und Sicherheit) von Bedeu-
Wirkstoffes (Nikotin, das ja ein Nerven- duzieren. Auf der anderen Seite können tung ist.
gift ist) stellen. regulierende Massnahmen im Kontext Mit Blick auf die obigen Ausfüh-
der Abschaffung der Drogenprohibition rungen kann Schadensminderung als
Ist Schadensminderung bei allen (z. B. Sicherung der Stoffqualität) durch- Konzept bezeichnet werden, das wie
Problemen möglich? aus eine Wirkung erzeugen, die sich im die Behandlung an einem besonderen
Aus dieser Argumentation ergibt sich Sinne der Schadensminderung nicht auf Problem anschliesst, ohne jedoch auf die
eine weitere, sehr praxisbezogene Frage, die Funktionserfüllung des Substanzen- Eliminierung dieses Ausgangsproblems
die vor allem im Hinblick auf die Er- konsums (Rausch, Beruhigung etc.) aus- ausgerichtet zu sein. Vielmehr ist die
weiterung des Konzepts der Schadens- wirkt, sondern ausschliesslich auf den Schadensminderung wie die Prävention
minderung auf legale Verhaltensweisen Abbau eines mit dem Konsum verbunde- bestrebt, Probleme zu verringern, die
von Bedeutung ist: Ergeben sich bei allen nen Risikofaktors (verunreinigte Subs- sich aus dem Ausgangsproblem ergeben
im Fokus stehenden Verhaltensweisen tanzen) bezieht. Solche Massnahmen können. Anders als in der Behandlung
Möglichkeiten zur Schadensminderung sind jedoch ebenfalls im Sinne der Prä- wird nicht angestrebt, diese Verhal-
oder können bei bestimmten Problemen vention und der Behandlung und werden tensweisen zu eliminieren, oder ihre
zukünftige Schädigungen (im Sinne der ja aktuell auch unter Prohibitionsbedin- Frequenz oder Intensität zu reduzieren.
Behandlung) nur durch die Minimierung gungen im Kontext der kontrollierten Im Fokus der Schadensminderung ste-
resp. Elimination des zur Diskussion Heroinabgabe bereits umgesetzt. hen demnach als Risikofaktor nicht die
stehenden Verhaltens (also durch Be- Angesichts der Nähe der Schadens- Verhaltensweise selbst, sondern Risiko-
handlung) erreicht werden? Das ist eine minderung zu den Konzepten der Be- faktoren oder fehlende Schutzfaktoren,
empirische Frage, die sich leicht an prak- handlung und vor allem der Prävention die mit der Verhaltensweise zusammen-
tischen Beispielen überprüfen lässt. So stellt sich nun die Frage, inwiefern es hängen und das Auftreten von Folge-
ist anzunehmen, dass die schädigende Sinn macht, dieses aus einer prohibiti- problemen wahrscheinlicher machen. In
Nebenwirkung des Rauchens durch tech- onsbedingten Notsituation entstandene diesem Sinn ist das Konzept der Scha-
nische Mittel massiv reduziert werden Konzept noch weiter zu stärken, indem densminderung formal identisch mit
kann, ohne die erwünschte psychische man es auf legale Verhaltensweisen dem Konzept der selektiven Prävention,
Wirkung einzuschränken, während das überträgt. Diese Frage soll aus drei Per- also der Prävention, die sich an spezi-
Gleiche jedoch bei übermässigem Alko- spektiven angeschaut werden: Aus einer fische Risikogruppen richtet. Heroinkon-
holkonsum aktuell nicht möglich ist, da fachlich-theoretischen, aus einer praxis- sumierende sind im Hinblick auf Prob-
die Wirksubstanz (Ethanol) gleichzeitig bezogen-pragmatischen und aus einer leme wie Atemstillstand genauso eine
die Schäden verursacht. Beim Rauchen ethischen Perspektive. Risikogruppe wie Tabakkonsumierende
ist es ja nicht die Wirksubstanz Nikotin, im Hinblick auf Lungenkrebs oder Risi-
die das Risiko der Bildung von Lungen- Schadensminderung aus fach- kosportlerinnen und -sportler im Hin-
krebs erhöht, sondern die Teerstoffe. lich-theoretischer Perspektive blick auf Unfälle mit Verletzungsfolgen.
Diese beeinflussen die erwünschte psy- Aus fachlich-theoretischer Sicht bringt Professionelle Fachlichkeit sollte
chotrope Wirkung des Rauchens nicht das Konzept der Schadensminderung durch eine sparsame ( ja geradezu as-
und können so problemlos eliminiert kaum einen Mehrwert. Da jede behan- ketische) Verwendung von Begriffen
werden. Andererseits können beim Alko- delnde und jede präventive Massnahme gekennzeichnet sein, um begriffliche
holkonsum Nebenwirkungen verhindert zur Minderung von Schäden beiträgt Unschärfen und die damit einherge-
werden, die aus der geringen Qualität (oder zumindest beitragen sollte), trägt henden Unklarheiten im Fachdiskurs
des alkoholischen Getränks oder proble- das Konzept in seiner Unschärfe zur möglichst zu vermeiden. In diesem Sinn
matischem Mischkonsum (z. B. die Kom- Begriffsverwirrung bei, die in diesem Be- wäre durchaus zu diskutieren, ob es Sinn
bination von «Red Bull» und Wodka) reich ohnehin herrscht, z. B. durch die macht, dem Konzept der Schadensmin-
resultieren. unklare Abgrenzung von Prävention und derung durch die Erweiterung auf legale
Wie beim Alkoholkonsum ist auch Gesundheitsförderung oder durch die Verhaltensweisen noch mehr Bedeutung
beim exzessiven Geldspiel schwierig ab- Konzepte der Primär-, Sekundär- und zu verschaffen.
zusehen, wie die negativen Nebenfolgen Tertiärprävention, welche die Grenze
(z. B. Schulden, Arbeitsplatzverlust etc.) von Prävention und Behandlung verwi- Schadensminderung aus praxisbe-
ohne Reduktion der Spielfrequenz oder schen (Hafen 2001). Uhl (2013) schlägt zogen-pragmatischer Perspektive
Minimierung der Einsätze gemindert in seinen Ausführungen zu einem für Anders sieht es aus der praxisbezo-
werden können. Mit wertlosem Spielgeld Österreich angepassten Würfelmodell gen-pragmatischen Perspektive aus.
zu spielen, würde massiv in die Funk- der Suchtarbeit entsprechend vor, die Durch seine Verankerung als eine von
tionserfüllung des Geldspiels eingreifen, Dimension «Schadensminderung» zu eli- vier Säulen der schweizerischen Drogen-
7politik hat das Konzept der Schadens- öffentlichen Raum), die durch die Scha- ihre Entscheidung für das Ausüben einer
minderung nicht nur in der Fachöffent- densminderung bewirkt werden. potenziell schädigenden Verhaltensweise
lichkeit, sondern auch in Politik und Auf der anderen Seite ist aber auch auch dann nicht in Frage, wenn diese
Verwaltung eine gewisse Popularität zu beachten, dass die Erweiterung des Verhaltensweise gesellschaftlich prob-
erreicht. Die in diesem Text vorgenom- Konzepts der Schadensminderung auf lematisiert wird. Vielmehr versucht sie,
mene theoretische Beurteilung des legale Substanzen und Verhaltensweisen die negativen Auswirkungen dieser Ver-
Konzepts ist für den Kontakt mit diesen herkömmliche Präventionsaktivitäten haltensweise mit ihren Massnahmen im
Instanzen und mit der Praxis von unter- gefährden kann, weil die Finanzmittel Sinne der Prävention so weit wie mög-
geordneter Bedeutung. Im Gegenteil: Be- für die «neue» Schadensminderung lich abzuschwächen. Gleichzeitig stellt
griffsumstellungen sorgen in der Praxis einfach von der Prävention abgezweigt die Schadensminderung auch nicht in
gerne für Verwirrung und verunsichern werden, obwohl die damit bezeichneten Frage, dass es (behandlungsorientierte)
die Entscheidungsträger, da sie sich Massnahmen sich nicht von den Präven- Angebote geben muss, welche motivierte
nicht mehr an den gewohnten (wenn tionsmassnahmen unterscheiden. Personen dabei unterstützen, bestimmte
auch unpräzisen) Semantiken orientie- Verhaltensweisen (wie übermässigen
ren können. Das kann dazu führen, dass Schadensminderung aus ethischer Alkoholkonsum oder den Konsum von
gewisse Gelder für Massnahmen der Perspektive Kokain) zu reduzieren oder ganz aufzu-
selektiven Prävention nicht gesprochen Aus ethischer Perspektive sieht die geben. Es ist nur nicht die Aufgabe der
werden, die zuvor für die gleichen, aber Sache nochmals anders aus. Wenn wir Schadensminderung, diese Angebote
noch als «Schadensminderung» be- von den Werten einer liberalen, auf den bereitzustellen.
zeichneten Massnahmen zugesprochen Menschenrechten basierenden demo- Abgesehen davon, dass Schadensmin-
wurden. Das geht in der Regel auf Kosten kratischen Gesellschaft ausgehen, dann derung in Sinne von Uhl überhaupt eine
der Zielgruppen, also der spezifischen entspricht die Schadensminderung mit ethische Grundlage aller Dimensionen
Risikogruppen, aber auch zulasten der ihrer akzeptierenden Haltung diesen der Suchtarbeit sein sollte, kann man
positiven sozialen Effekte (z. B. Ent- Werten in hohem Mass. Sie stellt die sich auch fragen, ob das Konzept der
fernung des Drogenkonsums aus dem Eigenverantwortung der Individuen und Schadensminderung nicht die eigent-
8lichen Ursachen verschleiert, die zu den Verhaltensweisen mit einem hohen Ri- Literatur
Caplan, Gerald (1964): Principles of preventive
zu verhindernden Folgeproblemen füh- sikopotenzial verhindert demnach den
psychiatry. New York, London: Basic Books.
ren. Im Hinblick auf die Prohibition tut Blick auf die Notwendigkeit der Verände- Gordon, Robert (1987): An operational classifi-
sie das insofern, als sie den fokussierten rung gesellschaftlicher Strukturen. cation of disease prevention. S. 20-26 in: J.A.
«Schaden» primär mit den individuellen Sternbert/M.M. Silverman (Hrsg.), Preventing
mental disorders: A research perspective.
Verhaltensweisen (dem Konsum von il- Abschliessende Bemerkungen
Washington, DC: Steinberg books.
legalen Suchtmitteln) und nicht mit der Die Ausführungen zeigen, dass es Hafen, Martin (2014): Grundlagen der systemi-
Prohibition selbst in Zusammenhang Gründe für und gegen die Ausweitung schen Prävention. Ein Theoriebuch für Lehre
stellt. Damit wird die gesellschaftliche des Konzepts der Schadensminderung und Praxis. 2. umfassend überarbeitete Auf-
lage. Heidelberg: Carl Auer.
Bereitschaft reduziert, mit der Pro- auf legale Verhaltensweisen mit Risiko-
Hafen, Martin (2005): Systemische Prävention
hibition die eigentliche Ursache der potenzial gibt. Aus professioneller Sicht – Grundlagen für eine Theorie präventiver
Probleme zu beseitigen, die durch die bedeutet dies, dass eine angemessene Massnahmen. Dissertation. Heidelberg: Carl
Schadensminderung verhindert werden Diskussion um die Vor- und die Nach- Auer.
Hafen, Martin (2001): Die Begrifflichkeit im
sollen. Ähnlich liegt der Fall bei An- teile eines solchen Schritts geführt wer-
Präventionsbereich – Verwirrung auf allen
geboten für sozial Benachteiligte wie den sollte. Unbesehen wie ein solcher Ebenen. Abhängigkeiten 7(1): 33-49.
Gassenküchen oder Notschlafstellen, Entscheid letztlich ausfällt, die Fach- Schweizer Bundesrat (2001): Botschaft zur Re-
die bisweilen unter dem Begriff der leute können nach einer solchen Dis- vision des Betäubungsmittelgesetzes. Bern:
Bundesbehörden der Schweizerischen Eid-
Schadensminderung angeboten werden. kussion fundierte Gründe für ihren Ent-
genossenschaft. www.tinyurl.com/nxhm6pr,
Auch sie legen nahe, dass Problemlasten scheid benennen. Das erleichtert ihnen Zugriff 05.09.2013.
dieser Bevölkerungsgruppen indivi- auch, die Verantwortung für die Folgen Uhl, Alfred (2013): Österreich: Der Weg zum
duell begründet sind und nicht durch zu übernehmen, die der Entscheid mit «erweiterten Suchtwürfel». SuchtMagazin
39(5): 11-14.
eine unzureichende Sozialpolitik oder sich bringt.
Wohnbaupolitik. Die Fokussierung der
Endnote
Schadensminderung auf individuelle 1
Ich danke Mirjam Weber für ihre Anregungen.
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