SCHEIN ODER SEIN DER BÜRGER AUF DER BÜHNE DES 19. JAHRHUNDERTS - März bis 8. September 2019 - Kulturhaus ...
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SCHEIN ODER SEIN DER BÜRGER AUF DER BÜHNE DES 19. JAHRHUNDERTS 30. März bis 8. September 2019 MUSEUM FÜR KUNST UND UNSER KULTURPARTNER IN KOOPERATION MIT TECHNIK DES 19. JAHRHUNDERTS Lichtentaler Allee 8 76530 Baden-Baden www.museum.la8.de PRESSEMAPPE
MUSEUM LA8 Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden PRESSEMITTEILUNG: SCHEIN ODER SEIN. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts 30. März bis 8. September 2019 MUSEUM LA8 Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts Lichtentaler Allee 8 76530 Baden-Baden Tel.: 07221 – 50 07 96-0 info@museum.la8.de www.museum.la8.de Direktor: Prof. Dr. Matthias Winzen Kuratorin: Dr. Irene Haberland PRESSE/PR: Kristina Helena Pavićević Tel.: 040 – 51 90 59 20 kpavicevic@museum.la8.de www.museum.la8.de/presse Emil Bieber (1878---1962), Photoatelier E. Lange, ÖFFNUNGSZEITEN: Adalbert Matkowsky (1858---1903) Carte-de-visite, um 1865, Fotografie, Di. bis So.: 11.00 – 18.00 Uhr als Hamlet in William Kopenhagen, Geöffnet an allen Feiertagen Shakespeares Hamlet, um 1900, Foto: Henrik Elburn Fotografie, Universitätsbibliothek EINTRITT: Johann Christian Senckenberg, Erwachsene: 7,- € Frankfurt a. M. Ermäßigt: 5,- € KATALOG ZUR Am Freitag, den 29. März um 19 Uhr eröffnet das Museum für Kunst und Technik AUSSTELLUNG: Athena Verlag, 19,- € des 19. Jahrhunderts die Ausstellung „SCHEIN ODER SEIN. Der Bürger auf der FÜHRUNGEN: Bühne des 19. Jahrhunderts“. In Kooperation mit dem Theater Baden-Baden Öffentliche Führungen: Sonntags um 15 Uhr erzählt die Schau die Entwicklung des Hoftheaters zum Stadttheater. Der Stifter 2,– € zzgl. Eintritt Familienführungen: des LA8, Wolfgang Grenke sowie Theaterintendantin Nicola May werden die Jeden ersten Sonntag Veranstaltung feierlich eröffnen: der Museumsneubau innerhalb des historischen im Monat um 14 Uhr Gruppenführungen Gebäudekomplexes feiert sein 10-jähriges Bestehen. Im Untergeschoß werden (max. 25 Pers. pro Gruppe): Di. bis Fr.: 70,– € / die Arbeiten der Kinder und Jugendlichen aus zehn Jahren Kinderzeit und den Sa. & So.: 75,– € zzgl. Eintritt melburn@museum.la8.de museumspädagogischen Workshops in einer eigenen Präsentation gezeigt. Tel.: 07221 – 50 07 96-32
Die Ausstellung zeigt die Kunst und Technik des eindrucksvollen Auftritts im 19. Jahrhunderts. Die Besucher gehen durch einen Ausstellungsrundgang, der sie vor, auf und hinter die Bühne führt. Zu sehen sind historische Bühnenbilder aus Zuschauersicht. Dann wieder gelangen die Besucher auf eine Bühne, als seien sie selbst die Schauspieler. Oder sie finden sich hinter den Kulissen wieder, wo Geräuschmaschinen und verborgene Spezialeffekte auf ihren dramatischen Einsatz lauern. Die fließenden Übergänge von Zuschauer- und Bühnenraum machen für die Museumsbesucher räumlich erlebbar, wie alltägliches Sein und theatralischer Schein sich seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend vermischten und es heute noch tun. Schein oder Sein - die leistungsstarke Performerin in der Firma, der unermüdliche Selfie-Poser im Netz, die prominente Selbstvermarktung von allem Privaten – viele heutige Alltagserscheinungen der Selbstdarstellung nehmen ihren Anfang in der Phase des historischen Übergangs von der höfischen Bühne zum Bürgertheater im frühen 19. Jahrhundert. Dem Aufstieg des bürgerlichen Theaters stand die zunehmende Theatralisierung des bürgerlichen Alltags gegenüber. Aus dem festen Gefüge der alten Ständeordnung mit ihren vorgegebenen Lebensbahnen entlassen, musste der Bürger nun etwas aus sich machen und wurde zum Darsteller seiner selbst. Denn seine innovativen Leistungen in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft musste der Bürger nicht nur erbringen. Er musste sie in Konkurrenz zu vielen anderen, ebenfalls fleißigen Individuen gebührend in Szene setzen. So begann, was viele Alltags- und Berufsfelder bis heute prägt: Mach es nicht nur gut, sondern sprich auch darüber. Die Fotografien von normalen Bürgern auf ihren „Carte de visite“ begannen damals, den Aufnahmen von Schauspielern in ihren Bühnenrollen zu ähneln, private Inneneinrichtungen glichen imposanten Bühnenbildentwürfen, großbürgerliche Villen sahen nun aus wie Palastarchitekturen aus der Oper. Malerei und Karikatur zeigten die Spannung von alltäglicher Realität und dramatischer Fiktion, wirkmächtig in den Gemälden von Anselm Feuerbach (1829– 1880) und Carl Gehrts (1853–1898). Behütete Bürgertöchter konnten sich in solcher Malerei als „Julia“, brave Verwaltungsbeamte als „Minnesänger“ wiedererkennen. Spöttisch kommentieren die Karikaturen von Honoré Daumier (1808–1879), wie der bürgerliche Alltag sich zunehmend theatralisierte, während die routiniert deklamierten Klassiker auf den Bühnen immer alltäglicher und banaler wirkten. Die Ausstellung entstand in enger Zusammenarbeit mit der Kuratorin Dr. Irene Haberland, Bonn. Ein umfangreicher Katalog mit 360 Seiten, Essays und
zahlreichen Abbildungen erscheint im Athena Verlag und begleitet die Ausstellung. (48 Zeilen à 71,2 Anschläge, 3418 Zeichen ohne Überschriften) KURZTEXT: Am Freitag, den 29. März um 19 Uhr eröffnet das Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts die Ausstellung „SCHEIN ODER SEIN. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts“. In Kooperation mit dem Theater Baden-Baden erzählt die Schau die Entwicklung des Hoftheaters zum Stadttheater. Der Stifter des LA8, Wolfgang Grenke sowie Theaterintendantin Nicola May werden die Veranstaltung feierlich eröffnen: der Museumsneubau innerhalb des historischen Gebäudekomplexes feiert sein 10-jähriges Bestehen. Im Untergeschoß werden die Arbeiten der Kinder und Jugendlichen aus zehn Jahren Kinderzeit und den museumspädagogischen Workshops in einer eigenen Präsentation gezeigt. Die Ausstellung zeigt die Kunst und Technik des eindrucksvollen Auftritts im 19. Jahrhunderts. Die Besucher gehen durch einen Ausstellungsrundgang, der sie vor, auf und hinter die Bühne führt. Die fließenden Übergänge von Zuschauer- und Bühnenraum machen für die Museumsbesucher räumlich erlebbar, wie alltägliches Sein und theatralischer Schein sich seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend vermischten und es heute noch tun. (15 Zeilen à 73,4 Anschläge, 1101 Zeichen ohne Überschriften) Ein Projekt der In Kooperation mit Unser Kulturpartner Umfangreiches Text- und Bildmaterial finden Sie auf unserer Presseseite unter www.museum.la8.de/presse oder können Sie auch jederzeit gerne persönlich erfragen: Kristina Helena Pavićević, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, kpavicevic@museum.la8.de, Tel. +49 – 40 – 51 90 59 20
MUSEUM LA8 Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 30. März bis 8. September 2019 BILDAUSWAHL SCHEIN ODER SEIN. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts MUSEUM LA8 Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts Lichtentaler Allee 8 76530 Baden-Baden 07221 – 50 07 96-0 info@museum.la8.de www.museum.la8.de Direktor: Prof. Dr. Matthias Winzen Kuratorin: Dr. Irene Haberland PRESSE/PR: Kristina Helena Pavićević Tel.: 040 – 51 90 59 20 kpavicevic@museum.la8.de www.museum.la8.de/presse Emil Bieber (1878–1962), Photoatelier E. Lange, Adalbert Matkowsky (1858--- Carte-de-visite, um 1865, 1903) als Hamlet in William Fotografie, Kopenhagen, Shakespeares Hamlet, um Foto: Henrik Elburn 1900, Fotografie, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M. Die Abbildungen können in druckfähiger Qualität auf unserer Presseseite herunter geladen werden (www.museum.la8.de/presse). Die Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Ausstellung gestattet. Bei Veröffentlichung bitten wir die Bildunterschriften zu übernehmen. Für die Zusendung eines Belegexemplars oder eines hinweisenden Links sind wir dankbar.
Georg E. Hansen (1833–1891), Unbekannter Fotograf, Adelina Patti unbekanntes Modell, o. J., Carte-de- (1843–1919) als Juliette in Charles Gounods visite, Kopenhagen, Privatbesitz, Roméo et Juliette, 1849, Fotografie, Foto: Henrik Elburn Kabinettformat, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M. Carl Teufel (1845–1912), Carl Teufel (1845–1912), Künstleratelier von Gustav Krausche Künstleratelier von Franz von Lenbach (1850–1917), um 1890, Fotografie, (1836–1904), Fotografie, Bildarchiv Foto Marburg Bildarchiv Foto Marburg
Carl Gehrts (1853–1898), Anton Radl (1874–1852) nach Giorgio Fuentes Minnesänger in einer bürgerlichen (1756–1821), Bühnendekoration der Oper Familie/Der Hofnarr, 1878, Öl auf Palmira, Prinzessin von Persien, um 1810, Leinwand, Hamburger Kunsthalle, Foto: kolorierte Aquatinta, Freies Deutsches Elke Walford Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Foto: David Hall Anselm Feuerbach (1829–1880), Honoré Daumier (1808–1879), Monsieur Romeo und Julia, 1864, Öl auf Leinwand, Colimard, wenn Sie nicht aufhören, Thüringer Museum Eisenach, Stiftung die Tänzerinnen in so unverschämter Art zu Curt Elschner-Galerie, Foto: AKG Images beäugen, gehen wir vor Schluss des Stückes nach Hause,1864, Lithografie, Daumier Gesellschaft Honoré Daumier (1808–1879), Betörend und jung bricht er alle Herzen; Göttlich ist er, nicht fühlend der Liebe Schmerzen, (Phèdre, Tragödie in fünf Akten von Jean Racine), 1839, Lithografie, Honoré-Daumier-Gesellschaft, Foto: Henrik Elburn
TEXTAUSZÜGE aus dem Katalog zur Ausstellung: SCHEIN ODER SEIN. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts Erschienen im Athena Verlag: ISBN 978-3-7455-1059-1; Mit Beiträgen Johannes Bilstein (Erzie- hungswissenschaftler, Kunstakademie Düsseldorf), Lutz Ellrich (Medienwissenschaftler, Univer- sität Köln), Ines Heisig (Dipl. Kulturwissenschaftlerin, Saarbrücken), Nicola May (Intendantin Theater Baden-Baden), Solveig Palm (Ludwig van B., Netzwerk Junge Bonner Klassik e. V.), Sabine Schroyen (Künstlerverein Malkasten, Archiv, Düsseldorf), Horst Weber (Musikwissenschaftler, Berlin/Baden-Baden), Matthias Winzen (Direktor Museum LA8, Hrsg.), Lisa Wolfson (Theater- und Medienwissenschaftlerin, Universität Bochum) Katalogbeitrag von Matthias Winzen: „Ohne Schein kein Sein“ (Auszüge): Das 19. Jahrhundert wurde und wird als das Jahrhundert des Bürgertums beschrieben […]. Der Hauptakteur und -profiteur der politischen, kulturellen und technologischen Umbrüche war der sich emanzipativ bildende, der befreit wirtschaftende Bürger. Der epochale Wandel vollzog sich auf viele Weisen in den verschiedensten Institutionen und Arbeitswelten der damaligen Gesellschaft. Der Schauspielerberuf zum Beispiel verlagerte sich im frühen 19. Jahrhundert vom adeligen Hoftheater zunehmend ins bürgerliche Stadttheater, vom Schloss in die urbane Öffentlichkeit. […] Während das Theater sich institutionell, inhaltlich und stilistisch verbürgerlichte, theatralisierte sich das tägliche Leben des Bürgertums. Nach dem Ende der alten Ständeordnung mit ihren vorgegebenen Lebensbahnen musste der Bürger seine innovativen Leistungen in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur erbringen. In freier Konkurrenz zu vielen anderen, ebenfalls fleißigen Individuen musste er sein berufliches Können und seinen sozialen Aufstieg auch gebührend in Szene setzen. In der historischen Phase, in der der Bürger als freies und authentisches Individuum endlich zu sich selbst zu kommen schien, war er darauf verwiesen, zum Darsteller seiner selbst zu werden. Die leistungsstarke Performerin in der Firma, der unermüdliche Selfie-Poser im Netz, die prominente Selbstvermarktung von allem Persönlichen – viele heutige Alltagserscheinungen des Performativen nehmen ihren Anfang in der Phase des historischen Übergangs vom Hof- zum Stadttheater. […] Die reale Wirkmacht des Idealbildes des Bürgers von sich selbst konnte […] die ebenso realen Produktions-, Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse des nun von bürgerlichem Fleiß und Gewinnstreben angetriebenen Kapitalismus nicht in Luft auflösen. […] Sigmund Freud stellte dem
stolzen Bürger, der geglaubt hatte, nur auf sich selbst zu hören und sein Selbst besitzen zu können, 1917 die Diagnose aus, dass in Wirklichkeit „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. […] Für unseren Zusammenhang soll es beim Schauspieler um sein berufliches Tun, um seine professionelle Kompetenz gehen. So wie es zur Berufsrolle des Postboten gehört, Briefe zu bringen, und zur der des Rechtsanwalts, die Interessen des Mandanten zu vertreten, müssen Schauspieler ihre eigene Stimme, ihre innersten Emotionen und ihre persönliche Präsenz aktivieren, um jemand ganz anderen auf der Bühne authentisch zu verkörpern. […] Diese schauspielerische Grundkompetenz ist auf der Bühne berufspraktische Selbstverständlichkeit und doch eine identitätstheoretische Paradoxie. […] Nach und nach kommt Kleist der Problematik und so auch der Wahrheit des angeblich vernünftig- einheitlichen, mit sich selbst identischen Ich künstlerisch auf die Spur. Der aus großem Rechtsempfinden zum Terroristen und Marodeur werdende Michael Kohlhaas (1810), Pentesilea (1808), die denjenigen buchstäblich auffrisst, den sie eigentlich liebt, der gehorsame Befehlsverweigerer Prinz von Homburg (1809/10) – viele von Kleists literarischen Figuren zeigen sich zutiefst ambivalent, wenn es darum geht, wer sie jeweils wirklich sind. In der berühmt gewordenen essayistischen Erzählung Über das Marionettentheater (1810) […] verknüpft Kleist das Wissen über die konstitutive Gespaltenheit des vernunftbürgerlichen Ichs mit der Sphäre der Schauspielerei. Es ist kein Zufall, dass Kleists Erzähler die Unmöglichkeit des Individuums, volle Ich-Identität zu empfinden, im Gespräch mit einem Bühnenkünstler entfaltet. Als jemand, der in seiner Bühnenrolle eine Figur verkörpert, tritt der Tänzer bei Kleist als Experte dafür auf, zugleich Ich und ein Anderer zu sein. Solches Erfahrungswissen gehört zur professionellen Bühnenkompetenz, ohne die kein Tänzer, noch weniger ein Schauspieler seinen Beruf ausüben kann. […] Im 20. Jahrhundert haben psychoanalytische, entwicklungspsychologische, rollentheoretische, phänomenologische und sozialphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Selbst und der Ich- Identität paradigmatische Umwertungen erbracht, exemplarisch anzudeuten etwa mit The presentation of self in everyday life (1959) von Erving Goffman (1922–1987), auf Deutsch: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1969). […] Solche späteren Einsichten konnten dem Bürger des 19. Jahrhunderts noch nicht zu Gebote stehen, auch dem Bildungsbürger nicht. Bemerkenswert ist allerdings, dass mit der Kulturtechnik des Schauspiels, also der professionellen Bühnenkompetenz, zugleich Ich und ein Anderer zu sein, schon seit den Hochzeiten des idealistisch überhöhten Staatsbürger-Ichs ein weniger neurotisierendes Verhaltensmodell zur Debatte hätte stehen können. […] Was den Bürgern im 19. Jahrhundert unvereinbar mit ihrem normativen Idealbild eines Vernunft-Ichs erschien, fiel den Schauspielern berufsbedingt ganz leicht. Dem kunstpraktisch erlernten Schauspielerwissen von der konstitutiven Paradoxie von Ich- Identität kam Kleist nicht philosophisch, sondern künstlerisch auf die Spur. Er bewerkstelligte […] den Übergang von abstrahierender, starrer, theoretischer Begrifflichkeit zu anschaulich erfahrbarer, lebendiger Bildlichkeit, von der Festschreibung einer identitätspolitischen Grundgrammatik zum Mitschreiben real beobachtbarer Entzweiung als unausweichlicher Dynamik individueller Ich-Entwicklung. […] In heutigen Sozialisationstheorien wird die seelische Gesundheit des Individuums unter anderem anhand von Kriterien wie Ambiguitätstoleranz, Frustrationstoleranz und Rollendistanz beschrieben. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, das Individuum möge möglichst gekonnt zugleich als Schauspieler und als Regisseur seiner selbst agieren, um mit Hilfe dieser performativen Zweideutigkeit in allen möglichen, unterschiedlichen Situationen eine Einheitlichkeit des eigenen Ichs empfinden zu können […]: ohne Schein kein Sein.
Katalogbeitrag von Nicola May: „Theater! Theater!“ (Auszüge) Das größte Theater-Erbe des 19. Jahrhunderts ist unser heutiges Stadttheatersystem. Jeder Hof, der etwas auf sich hielt, unterhielt ein Theater zur eigenen Unterhaltung und für seine Gäste. Aus diesen Hoftheatern entstanden die Stadttheater, wie wir sie heute kennen. Das erstarkte bürger- liche Selbstbewusstsein machte sich die ehemaligen Hoftheater zu eigen. Aus dem Statussymbol der Duodezfürsten wurde ein Standortfaktor für die Städte. Und da es in der Kleinstaaterei des 18. Jahrhunderts jede Menge dieser Hoftheater gab, hat Deutschland heute die höchste Theaterdichte der Welt. […] Mit dem Übergang in die öffentliche Hand veränderte sich auch der Auftrag des Theaters. Es sollte nun nicht mehr nur der Unterhaltung dienen, sondern auch Ort der Bildung und der Weiterent- wicklung von theatralischer Kunst in ihren vielfaltigen Ausformungen sein. Und die öffentliche Trägerschaft sichert bis heute die Zugänglichkeit für den Bürger durch moderate Eintrittspreise. Dieses Theater-System wirkt immer noch fort, allerdings wird in den letzten Jahren der Theater- betrieb selber als feudalistisches System mit einem allmächtigen Intendanten oder einer Inten- dantin wieder diskutiert und in Frage gestellt. Nicht unbedingt vom Bürger, also vom Zuschauer, sondern von den Mitarbeitenden. Auch hier, innerhalb des künstlerischen Kleinkosmos, bilden sich eine gesellschaftliche Strömung und ein neues Demokratie- und Selbstverständnis ab. Die Gestal- tung von Leben und Arbeit soll nicht mehr nur an einen gewählten Vertreter abgegeben bleiben, sondern die/der Einzelne will seine Meinung gehört und seine Bedürfnisse befriedigt sehen. [...] Der Bürger hat nun also sich selbst das Theater erobert, die Trägerschaft übernommen. Drängte der Bürger auf die Bühne? In der Literatur ja, als Akteur durchaus im Zuschauerraum und in den Foyers, aber nicht als Darsteller auf der Bühne. [...] Dass Bürger als Protagonisten eines Theaterstückes auftreten konnten und auch ernsthafte Inhalte verhandeln, begann bereits Ende des 18. Jahrhun- derts. Es ist Frucht und Folge der französischen Revolution und dem Fall der Stande. In der dra- matischen Literatur gilt Miss Sarah Sampson (1751) von Gotthold Ephraim Lessing als erstes bürgerliches Trauerspiel. Populärer sind heute Emilia Galotti oder Kabale und Liebe von Schiller (1784). Das wirklich Revolutionäre daran war, dass Bürger vorher nur in Komödien und Hans- wurstiaden auftraten und die hohe Kunst der Tragödie dem Adel vorbehalten war. Später dann im Laufe des 19. Jahrhunderts verschwindet die höfische Welt mehr und mehr aus den Stücken. Der Bürger hat sich sozusagen das Recht auf eigene Probleme und Gefühle erobert, es gibt nicht mehr unbedingt Reibungen mit dem Adel, wenngleich das Sich-Wehren gegenüber Höhergestellten natürlich immer ein Thema in der Literatur bleiben wird und soziale Themen in Zeiten gesellschaft- licher Umbrüche besonders auf die Bühne drangen. Im 19. Jahrhundert ist dies später besonders mit Beginn der Industrialisierung zu beobachten. Berühmtes Beispiel hierfür ist Gerhart Haupt-
manns Die Weber über den Weber-Aufstand gegen Fabrikbesitzer und die Obrigkeit – aber bis dahin dauert es noch eine Weile: Zwischen Kabale und Liebe und der Uraufführung von Die Weber (1894) liegen immerhin 110 Jahre. [...]. Und der Bürger? Die Spezies, von der doch die Ausstellung handeln soll? Sie erweitert die thea- tralen Formen durch ihr Expertentum und ihre Authentizität. An vielen Orten sprießen Bürger- bühnen aus dem Boden, bei uns in Baden-Baden hat zuletzt ein Bürgerchor an der Aufführung von Biedermann und die Brandstifter teilgenommen. Wir erleben heute in vielen, fast allen Lebens- bereichen die Durchmischung von Autoren und Rezipienten, von Experten und Kommentatoren, von Schöpfern und Usern. Das hat mit der Gleichzeitigkeit von Ereignissen und der Zugänglichkeit von Informationen zu tun. Jeder kann alles wissen und manchmal hat man auch das Gefühl, jeder kann überhaupt alles. Und vielleicht wird der Bürger auch eines Tages die Bühnen der von ihm gegründeten Theater erklimmen, wie es der Theatermann Stephan Kaegi von Rimini Protokoll als seine Vision beschreibt: ≫Ins Theater gehen hieß lange, sich vom Alltag verabschieden, den Mantel in der Garderobe eintauschen gegen ein Recht auf Passivität. Sich in einen dunklen Zuschauerraum setzen und nach vorne schauen, wo virtuose Genies das Leben abbildeten, so gut das eben ging. Aber seither sind neue Vorstellungen von Repräsentation entstanden, neue Öffentlichkeiten, neue Schauplätze. Neue Sprachen wurden entwickelt, neue Zeichen, neue Bedürfnisse von Teilhabe. Eine ganze Generation ist mittlerweile mit sozialen Netzwerken aufgewachsen, in denen Erfahrungen geteilt statt von oben herab mitgeteilt werden. Heute kommt Welt-Interpretation nicht mehr in gedruckter Form in den Briefkasten oder als Einweg-Kommunikation aus dem Fernseher. In dieser Welt sollte auch Theater mehr sein als eine hell erleuchtete Bühne, von der herab in den Zuschauerraum gepredigt wird. […] Ich persönlich glaube fest an die Beständigkeit und an die Wandelbarkeit des Theaters. An die Verzauberung durch die starke Darstellung einer Schauspielerin wie an die Kraft der Überraschung und manchmal auch der Provokation. Das Theater bleibt eine Welt der Fragen, also der Frage- zeichen, und eine Welt der Postulate, der Ausrufezeichen. […]
Katalogbeitrag von Solveig Palm: „»Hier wo mein Wähnen Frieden fand« – Richard Wagners mythische Wohnzimmer in Festspielhaus und Villa Wahnfried“ (Auszüge) ≫Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts≪ war Richard Wagner (1813–1883) höchst selbst – als Vollblut-Künstler, der ja nicht nur als Komponist, Librettist, Musikschriftsteller und bedeu- tender Kapellmeister eine Laufbahn vorzuweisen hatte, sondern der als Erster sein eigenes Festspielhaus – also viel mehr als nur ein Theater – errichtete, und hier selbst auch nicht nur diri- gierte, sondern alles: Buhnenbilder, Inszenierung, Rollenauffassung, Gesang mit seinen Protago- nisten einstudierte. Er sang ihnen alles vor, auch Brünnhilde und Isolde, er kroch wie Kundry über den Bretterboden, er umarmte und küsste seinen Tristan, wie Isolde es tun sollte. Als jemand, der sich in Sachen Gesamtkunstwerk omnipotent fühlte, war er sich für nichts zu schade. Zugleich aber baute er sich quasi zu Füßen seines Festspielhauses auch die erste Künstlervilla [...] In Wagners 19. Jahrhundert drängt sich der marxistische Klassenbegriff in die soziologische Betrachtung der Gesellschaft. Der Bürger war nun nicht mehr das selbstbewusste Individuum als Teil eines sich aus dem Kleinststaaten-Feudalismus emanzipierenden Volkes, sondern der ≫Bourgeois≪, der sich an etwas klammert, das ihm nicht zusteht, nämlich die ≫Produktions- mittel≪, und der damit die Ungleichheit der Klassen erzeugt. Der ≫Großbürger≪ war nach dieser Lesart derjenige, der seine Machtstellung durch Bildung und Wohlstand befestigen und ausbauen kann, und dies zu Lasten der ≫zu erlösenden≪ Klasse, dem eigentlichen ≫nackten≪ Mensch, dem ausgebeutete, geknechtete Proletarier. Soweit das, zugegeben verkürzte, marxistische Menschen- und Gesellschaftsbild, dem Wagner zumindest vorübergehend sehr zugeneigt war. Wagners Ziel allerdings war keineswegs die Diktatur des Proletariats, sondern die Vereinigung der Massen in der Kunst. [...] Auch wenn vieles wegen Wagners wortreich verschachtelter Diktion schwer lesbar ist, so erfährt man doch Aufschlussreiches über seine künstlerische Selbst- und Welt-Reflektion. Wagner liebte den Diskurs und regte weit über sein Jahrhundert hinaus nicht nur künstlerische Partner und Kritiker, sondern auch Philosophen vom Format eines Nietzsche und Adorno zu gesellschafts- theoretischer Auseinandersetzung über die Frage an, wie menschliche Wahrnehmung, Musik und Politik miteinander verzahnt sind. In Wagners enzyklopädischem Bildungshorizont geht es um die Rolle der Kunst in Geschichte, Politik, Philosophie und last but not least um Religion. Er selbst war ein Bildungsbürger par excellence, wobei der Umfang seiner gesammelten Schriften es leicht mit dem Werk Schillers oder Nietzsches aufnehmen kann. Hier beglaubigen viele gescheite Ideen und Aussagen Wagners ungeheure Belesenheit und eine gedankliche und ästhetische Durchdringung seiner an zwei Händen abzahlbaren Hauptwerke. [...]
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