Schiffbruch Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten - Alternativer Medienpreis

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Schiffbruch Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten - Alternativer Medienpreis
Wirtschaft

                                          Schiffbruch
       Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten.
               Der Rumäne baut Kreuzfahrtschiffe, schuftet ohne Pause. Lange will er
           nicht wahrhaben, dass er ausgebeutet wird. Die Geschichte einer Enttäuschung.

                                                                                                                                              NORBERT ENKER / DER SPIEGEL
                      Arbeiter Naidin am Gelände der Meyer-Werft in Papenburg: »Wie ein Gefangener auf Ausgang«

S
         ein Leben in Deutschland hat         sagen. Fünfeinhalb Jahre, in denen er be-      Adiletten und führt seinen Dackel aus.
         Constantin Naidin in eine gelbe,     handelt wurde wie ein Mitarbeiter ohne         »Deutsche Wertarbeit«, sagt er und nickt
         abgegriffene Plastiktüte gepackt.    Rechte, wie ein Mensch zweiter, oft auch       Naidin zu, der einen Kopf kleiner, aber ein
         »Danke für Ihren Einkauf«, steht     dritter Klasse. Fünfeinhalb Jahre, in denen    gutes Stück breiter ist. Der Rumäne lächelt.
auf Rumänisch darauf. Fünfeinhalb Jahre       sein Traum von Deutschland zerstob.              Die Wertarbeit entstand ja unter seiner
in einer Tüte – Lohnabrechnungen, Kas-           Nun steht er zum letzten Mal vor dem Tor    Mitwirkung. Das Jucken der Mineralwolle,
senzettel, Kontoauszüge. Und ein kleines      der Meyer-Werft, wo im November 2012           mit der er die stählernen Rumpfteile
silbernes Notizbuch.                          alles begonnen hatte. Bald soll der Bus kom-   dämmte, kann er noch spüren. Das Wuch-
   »Mit Unterlagen«, sagt Naidin, »ist man    men, der ihn zurück nach Rumänien brin-        ten der Bleche, mit denen er die Verscha-
am sichersten.«                               gen wird. 33 Stunden wird die Fahrt dauern.    lung der Kabinen baute, es sitzt ihm noch
   In das silberne Büchlein hat er die Sta-      Neben ihm wartet ein Wohnmobilbesit-        im Kreuz. Und wenn er seit Oktober nicht
tionen seines Arbeitslebens in Deutschland    zer aus Altenburg auf das Auslaufen eines      mehr zu Hause bei seiner Frau und den
notiert. Eines Lebens als Arbeiter auf der    Schiffs, eines 20 Stockwerke hohen, blau       Kindern war, dann nur wegen dieser Rie-
Papenburger Meyer-Werft. Als »Fremd-          lackierten Berges, der aus dem braungrü-       senpötte. Made in Germany, das war auch
arbeiter«, wie sie in Papenburg heute noch    nen Wasser der Ems ragt. Der Mann trägt        das Werk von ihm, von Constantin Naidin,

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Schiffbruch Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten - Alternativer Medienpreis
48 Jahre alt, aus der Nähe von Craiova im
Süden Rumäniens.
   Doch nun ist er nicht mehr dabei. Nai-
din flog raus, am 7. März dieses Jahres. Er
hatte irgendwann angefangen, nicht mehr
bloß zu malochen, sondern Fragen zu stel-
len. Nach dem Zustandekommen des
Lohns, das ihm komisch vorkam, und nach
Urlaubsgeld. Er tat das leise, wie es seine
Art ist. Dennoch war er zum Risiko gewor-
den. Er müsse »sofort weg«, erinnert er
die Worte seines Chefs. Beim Erzählen
fängt Naidin leicht zu zittern an, er wischt
ein paar Tränen in den Ärmel der schwar-
zen Kunstlederjacke. Eigentlich, sagt er,

                                                                                                                                            NORBERT ENKER / DER SPIEGEL
fühle er sich schon lange nur noch »wie
ein Gefangener auf Ausgang«.
   Im Oktober 2014 notierte Naidin in sein
silbernes Notizbuch: »Wir wurden ge-
zwungen, 15 Stunden täglich zu arbeiten,
auch sonntags.« Mitte August 2016, so Nai-
din, verlangte sein Boss von ihm und eini-
gen Kollegen die Karten ihrer kurz zuvor                   Unterwegs nach Rumänien: Menschen, die lautlos neben uns herleben
bei der Deutschen Bank eröffneten Kon-
ten. Ein paar Transfers müsse er machen,
hieß es, Naidin bekomme sein Geld in bar.      19 Uhr wartet. In der Facebook-Werbung            1985 baute Meyer das erste Kreuzfahrt-
Für den Oktober 2016 hielt Naidin in einer     des rumänischen Busunternehmers war            schiff.
Tabelle seine Arbeitszeit fest: 292 Stun-      noch von Fünfsternequalität die Rede, nun         Über 20 000 direkte und indirekte Ar-
den – 132 mehr als in der offiziellen Ver-     sieht es nicht mehr ganz so gut aus: Der ab-   beitsplätze hängen von der Werft ab, sagt
dienstabrechnung.                              getakelte Mercedes-Sprinter mit litauischem    eine Frau von Papenburg Marketing, die
   Damit wäre der Mindestlohn de facto         Kennzeichen liegt in der Hand zweier mol-      durchs Besucherzentrum führt. Dann be-
ausgehebelt. Mit Glück kam Naidin auf          dauischer Fahrer, die ihrem russischen Na-     schreibt sie die Farbenlehre auf der Werft.
etwa sechs Euro pro Stunde, trotz ständi-      vigationsgerät auch nach stundenlangen         »Die 3300 Leute der Stammbelegschaft
ger Samstagsarbeit selten über 1300 Euro       Umwegen noch artig folgen werden. Sie          tragen die gelben Helme.« Die Arbeiter
im Monat.                                      werden Kette rauchen und nach jeder Ziga-      der Fremdfirmen hätten andere Farben,
   Die Notizen passten nicht so recht zu       rette auf einen kleinen Parfumflakon drü-      »und die Schwarzarbeiter tragen schwarze
seiner Vorstellung von Deutschland. Ka-        cken, der die Luft noch beißender macht.       Helme«. Sie kichert.
putt machen lassen wollte er sie sich aber        Naidin stellt seine kleine schwarze            Seit 2010 flossen der Werft vom Bund
nicht. Jedenfalls nicht durch ein paar Über-   Sporttasche in den Gepäckraum. Der In-         rund 35 Millionen Euro Subventionen aus
stunden. Die Schikanen tat er lange als        halt besteht im Wesentlichen aus ein paar      dem Programm »Innovativer Schiffbau
Schönheitsfehler ab. Seine Nachsicht war       Rumkugeln, einem metallisch glänzenden         sichert wettbewerbsfähige Arbeitsplätze«
groß. Das nächtliche Röcheln der Asthma-       Trainingsanzug, etwas Unterwäsche und          zu, wovon in erster Linie die Stammbeleg-
tiker im schimmligen Dachzimmer, wo sie        der gelben Plastiktüte. Das war’s.             schaft profitiert.
zu acht wohnten? Geschenkt. Das Zigaret-          Am selben Tag erscheint in der »Frank-         Um die Schwerstarbeit auf der Werft
tengeld, das man auch ihm, dem Nichtrau-       furter Allgemeinen Sonntagszeitung« ein        kümmert sich allerdings längst eine Schat-
cher, vom Lohn abzog? Nicht der Rede           großes Interview mit dem Besitzer der Pa-      tenarmee, die nicht finanziell gestützt
wert. Dass sein Chef ihm die Bankkarte         penburger Werft, Bernard Meyer. Nach           wird. Männer wie Naidin. »Menschen, die
für das Lohnkonto wegnahm? War ver-            den 2000 Arbeitsnomaden, die sich bei Sub-     lautlos neben uns herleben, deren Sorgen
mutlich normal.                                unternehmen für die Werft abrackern, wird      man kaum kennt und die kein Deutsch
   Auch als sein neuer Boss begann, sie als    er nicht gefragt. Meyer spricht über Kart-     können, weil sie abends zu platt sind, um
»behinderte Bauern« zu beschimpfen, hör-       bahnen, Riesenrutschen und Theaterbüh-         in den Sprachkurs zu gehen«, wie ein ehe-
te Naidin lange weg. Er blieb bescheiden,      nen, die sie in die Schiffe einbauen würden.   maliger Betriebsrat sagt.
beklagte sich nicht.                              Der Meyer-Clan ist eine Macht in Pa-           Für ihre Arbeitgeber sind diese Wander-
   Erst als Vorarbeiter anfingen, handgreif-   penburg und Umgebung. Der größte Ar-           arbeiter mit den Werkverträgen Austausch-
lich zu werden, und als einige seiner Freun-   beitgeber der Region, ein wichtiger Steu-      ware, und Meyer bekommt durch die Kon-
de und Kollegen nach Rumänien zurück-          erzahler, die bekannteste Familie. Nach        struktion eine Art Sorglospaket: Es macht
geschickt wurden, wagte Naidin es zum          Meyer kommt lange nichts – und irgend-         es möglich, Arbeiter zu beschäftigen, ohne
ersten Mal, sich zu »erkundigen«, wie er       wann die Schnapsbrenner Berentzen.             sie anzustellen.
sagt. Der Kontakt zu Gewerkschaften sei           Von 23 Bootsbauern in der einst moras-         Für Diskussionen sorgt diese Schatten-
ihm verboten worden, aber nun wollte er        tigen Torfregion sind die Meyers die Einzi-    wirtschaft nur kurzfristig – wenn etwas
wissen, ob es üblich sei, dass ein Chef von    gen, die übrig blieben. Früh hat die Fami-     passiert. Wenn ein griechischer Lackierer
seinen Mitarbeitern das Urlaubs- und           lie von Holz- auf Stahlbau umgestellt. Es      in den Tod stürzt, wie im November.
Krankengeld einkassiere. Er machte sich        gibt amüsante Unternehmensgeschichten          Wenn zwei rumänische Arbeiter in einer
Sorgen um sein Konto, bei dem er nicht         wie die von der Fähre, die 1913 in 5000 Kis-   der klaustrophobisch engen Unterkünfte
überblickte, was damit passierte.              ten nach Tansania verschifft und dort zusam-   verbrennen, wie im Sommer 2013. Solche
   Um 22.30 Uhr am Abend seiner Abreise        mengesetzt wurde und bis heute auf dem         Arbeitsverhältnisse gibt es nicht nur im
trifft der Kleinbus ein, auf den Naidin seit   Tanganjika-See ihren Dienst tut.               Schiffbau. Gut 10 000 Wanderarbeiter aus

                                                                                                                                      71
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Südosteuropa sind heute allein in Nieder-       Hause, wie er konnte, kam aber selbst in                              vernetzt: Auf einer Raststätte eilt ein
sachsen im Einsatz.                             Deutschland irgendwie nicht vom Fleck.                                Schrauber mit seiner mobilen Werkstatt her-
   Nach fünf Stunden Fahrt hat es Naidins       Aus Papenburg schaffte er es nicht hinaus,                            bei. Bis Craiova sind es noch 15 Stunden.
Bus gerade mal bis nördlich von Bremen          im Kino war er kein einziges Mal. Er hatte                               Naidin unterschrieb im März 2016 bei
geschafft. Ein liegen gebliebenes Fahrzeug      einen Job. Ein Leben hatte er nicht.                                  Isofonics den Arbeitsvertrag. Da war er erst
eines Kollegen der Fahrer muss abge-               Naidin spricht nicht schlecht über die                             mal glücklich. Ein Job in Deutschland mit
schleppt werden. In Rostock werden zwei         Werft. Sein Stolz, an großen Schiffen mit-                            9,50 Euro pro Stunde und Urlaub. Wie lan-
weitere Arbeiter eingesammelt, am Mor-          gebaut zu haben, ist nicht verschwunden,                              ge hatte er darauf gewartet? Und was für
gen kommen in Berlin ein paar Wäsche-           vielleicht etwas eingetrübt. »Die Herren                              ein Vergleich zu den Anfängen, als ihn der
säcke und ein Kühlschrank einer mol-            der Werft konnten nichts dafür«, sagt er.                             Boss seiner ersten Firma Ende 2012 mit ei-
dauischen Kundin hinzu. Naidin schläft          Die seien sauber.                                                     nem Pulk von Kollegen auf das Gemeinde-
ein bisschen. Craiova lässt auf sich warten.       Zumindest tun sie einiges dafür, sauber                            amt mitnahm, Zettel unterschrieben ließ –
   Viele der Werftarbeiter in Papenburg         dazustehen. Tatsächlich ist das Netz der                              und sie erst Monate später an den Nach-
kommen aus derselben Gegend wie Nai-            Meyer-Firmen mit ihren Standorten in Pa-                              zahlungsaufforderungen merkten, dass sie
din. Kleine Walachei wurde die Ecke frü-        penburg, Rostock und Turku schwer zu                                  ein eigenes Gewerbe angemeldet hatten.
her genannt, weitab vom Schuss liegt sie heu-   entwirren. Aber es gibt eine Verbindung                                  Mit Isofonics sah es für Naidin so aus,
te noch. Nach Mindestlohn fragt dort keiner.    zum Subunternehmen, für das auch Naidin                               als wäre er endlich in Deutschland ange-
   Als die aufgeblähte sozialistische Wirt-     arbeitete. Und diese Verbindung führt nach                            kommen, so, als würde er »die deutschen
schaft implodierte, erwischte es auch Nai-      Luxemburg. Dorthin hatte Bernard Meyer                                Rechte bekommen«, wie er sagt.
din, den gelernten Klempner: Erst verlor        2015 seine Dachgesellschaft verlegt – auch                               Naidin ist mit seiner Geschichte jetzt an
er seine Arbeit im großen Donauwasser-          um die Gründung eines Aufsichtsrats zu                                einem wichtigen Punkt angekommen,
werk, dann den Job im Kohlekraftwerk.           vermeiden, den er in Deutschland hätte                                denn jetzt trennen sich zwei Welten, zwei
Im Sommer 2012, als absehbar war, dass          einrichten müssen. Von der Dachgesell-                                Welten mitten in Deutschland.
die beiden Kinder bald mit der Ausbildung       schaft aus geht es über zwei Meyer-Firmen                                Dem einen Deutschland, in dem Werft-
beginnen würden, erzählte ihm ein Freund        in Rostock zur Meyer-Tochter ND Coa-                                  eigner Bernard Meyer sogar eine Sozial-
von einer Werft in Deutschland, die Kreuz-      tings in Papenburg – der Drehscheibe für                              charta unterschrieb, die »gesundheits-
fahrtschiffe baue und Leute brauche.            den Einsatz von Subunternehmern.                                      gerechte« Beschäftigung verspricht und
   Für Naidin hörte sich das an wie ein Sech-      ND Coatings organisiert viel von dem,                              alle »Nachunternehmer« auf Zahlung des
ser im Lotto. Er sah eine Zukunft aufblitzen    was die Werft früher mit eigenen Monteu-                              Mindestlohns verpflichtet. Zur Überprü-
mit einem kleinen Haus in Deutschland, in       ren, Lackierern und Schiffszimmerern als                              fung der Firmen heuerte die Werft sogar
das er seine Familie nachholen wollte. Er       Generalunternehmer selbst besorgt hatte.                              den TÜV Rheinland an.
ertappte sich sogar dabei, wie er an eine       Und hier kam irgendwann George-Cristian                                  Und dem anderen Deutschland, das Nai-
Kreuzfahrt dachte. Seine Hoffnung trübte        Toader ins Spiel, ein Mann, der einst selbst                          din und ein halbes Dutzend weiterer Iso-
sich etwas, als er feststellte, dass der Weg    auf der Werft gearbeitet hatte und sich dann                          fonics-Arbeiter erlebten, deren Unterlagen
zur Werft immer nur über Firmen lief, die       mit seiner Isofonics GmbH zum Unterneh-                               dem SPIEGEL vorliegen. Es ist eine Ge-
Radoja oder Intelcon Electro Construct hie-     mer aufschwang. Inzwischen arbeiten etwa                              schichte systematischen Betrugs. Und völ-
ßen. Oder Isofonics, wo er 2016 landete.        150 Leute auf der Werft für ihn.                                      liger Hilflosigkeit, die im Sommer 2016 in
   Geschont hat er sich deshalb nicht. Er          Der Kleinbus mit Naidin ist inzwischen                             bizarre Ausbeutung umschlägt. Damals,
war fleißig, gehörte zu denjenigen Arbei-       bis in die Nähe von Brünn in Tschechien                               erzählen die Betroffenen, sammelte Toa-
tern, die unter Zeitdruck noch auf den          gekommen. Es gibt Probleme mit dem rech-                              der die Bankkarten ein. In der Folgezeit,
Schiffen rumwerkelten, wenn diese sich be-      ten Vorderlicht, dessen Gehäuse sich aus                              so ist an Auszügen zu sehen, werden die
reits auf der engen Ems Richtung Nordsee        der Halterung löst. Naidin nimmt es gelas-                            Konten mit teils fünfstelligen Summen ge-
zwängten. Er schickte so viel Geld nach         sen, die moldauischen Fahrer scheinen gut                             füllt, die kurz darauf wieder abfließen, of-
                                                                                                                      fensichtlich an Verwandte von Toader. Auf
                                                                                                                      die Fragen des SPIEGEL, so Toader, werde
                                                                                                                      man nicht antworten.
                                                                                                                         Für den Isofonics-Chef lief es gut. Viel-
                                                                                                                      leicht etwas zu gut. Fast 300 000 Euro Ge-
                                                                                                                      winnvortrag wies seine Firma für 2016
                                                                                                                      aus – ein ziemliches Kunststück bei nur
                                                                                                                      1,2 Millionen Euro Bilanzsumme.
                                                                                                                         Womöglich lag das daran, dass bei To-
                                                                                                                      ader ganz eigene Gesetze galten: Statt
                                                                                                                      Lohnfortzahlung hieß es Lohnrückzah-
                                                                                                                      lung im Krankheitsfall. Auch Urlaubsgeld
                                                                                                                      habe er sich erstatten lassen. Arbeitern
                                                                                                                      wie Naidin, die ihren Lohn in bar abhol-
                                                                                                                      ten, zahlte man diese Lohnbestandteile
                                                                                                                      erst gar nicht aus.
                                                                                        NORBERT ENKER / DER SPIEGEL

                                                                                                                         Wer es wagte, die Zahlungsmodalitäten
                                                                                                                      infrage zu stellen, sei in der Firmenhalle
                                                                                                                      in Papenburg vor versammelter Mann-
                                                                                                                      schaft fertiggemacht worden, berichten Ar-
                                                                                                                      beiter. Diese Meetings hätten den Charak-
                                                                                                                      ter von »Gehirnwäsche« gehabt. Gerade-
                                                                                                                      zu hysterisch habe der Firmenchef auf den
      Posten an der ungarisch-rumänischen Grenze: Craiova lässt auf sich warten                                       Namen Daniela Reim reagiert. »Ihre Tele-

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Schiffbruch Schicksale Constantin Naidin kommt nach Deutschland, um auf einer Werft zu arbeiten - Alternativer Medienpreis
fonnummer könnt ihr gern haben, aber
gleichzeitig auch eure Kündigung.«
   Reim, 45, leitet seit vier Jahren die Be-
ratungsstelle für Mobile Beschäftigte in Ol-
denburg, eine Art Ersatzbetriebsrat für
Entrechtete. Reim ist Rumänin, gelernte
Lehrerin und stört mit ihrer resoluten
Freundlichkeit das eingespielte Gefüge
zwischen den Meyers und ihren Subunter-
nehmen. »Engel« wird sie von manchen
Arbeitern genannt.
   Der litauisch-moldauische Kleinbus hat
sich inzwischen durch den südlichen Kar-
patenbogen geschlängelt. Die Sonne scheint,
es ist nicht mehr weit bis Craiova. In Naidin

                                                                                                                                               NORBERT ENKER / DER SPIEGEL
kommt Leben. Eine weite Tiefebene tut sich
auf, mit viel Brachland. Naidin zeigt mit ei-
nigem Stolz auf die Ford-Fabrik, etwas wei-
ter liege der Raketenabwehrschild der US-
Armee. Wirtschaftlich war es das schon fast,
die Geschichte vom alten Kohlenmeiler und
dem kaputten Lokomotivenwerk möchte
Naidin nicht vertiefen.                               Heimkehrer Naidin, Ehefrau Madalina: »Die Herren der Werft konnten nichts dafür«
   Unter den Hunderten Fällen von Lohn-
betrug, die Reim und ihre Kollegin bear-
beiten, ist auch der von Marian Pirva*, der        Solche Lohntricksereien setzen den         ihnen auf der Bank erschien, erinnert sich
zusammen mit seiner Frau und seiner             Sozialsystemen mächtig zu: Das Wirt-          Christian, sei er empfangen worden »wie
Tochter in einer Art renoviertem Schup-         schafts- und Sozialwissenschaftliche Insti-   ein alter Bekannter«. Er selbst habe dann
pen am Rand von Papenburg wohnt.                tut der Hans-Böckler-Stiftung beziffert die   einige Formulare unterschreiben müssen,
   »Im September hat er eine Woche Ur-          Einbußen durch Lohnbetrug für 2016 auf        »das schien normal«. Es folgten Briefe zum
laub genommen für die Taufe seiner Toch-        9,9 Milliarden Euro.                          Telefonbanking, obwohl er kaum ein Wort
ter«, sagt Reim. Das Urlaubsgeld sei ihm           Ein Sprecher der Werft sagt, über die      Deutsch sprach. Auch Constantin Naidin
zwar überwiesen worden, »aber für Herrn         Sozialcharta sichere man ab, »alle Regeln«    bekam Unterlagen für das Onlinebanking,
Toader waren das Schulden, die er eintrei-      zur Entlohnung einzuhalten. Im Übrigen        »obwohl ich keine Ahnung davon hatte«.
ben wollte«. Um den Druck zu erhöhen,           verweist er an Isofonics. Die Reaktion,          Wie einige andere Arbeiter hat auch
behielt Isofonics den Januarlohn ein. Pirva     sagt der Ex-Betriebsrat, sei »eine ziem-      Naidin Kontoauszüge aufbewahrt und
geriet mit den Raten für den Fernseher          liche Verrenkung«. Meyer selbst habe sich     nicht vernichtet, wie angeordnet wurde.
und den Gebrauchtwagen in Verzug. Er            doch Subunternehmen wie Isofonics »her-       Bleibt die Frage der teils fünfstelligen Be-
kündigte. »Ich habe das Klima der Angst         angezüchtet«. Und wenn mal einer von          träge, die da munter hin- und herbewegt
nicht mehr ertragen.«                           denen hochgehe, kämen drei neue.              wurden und am Ende wohl in Toaders Um-
   Als Reim sich an Toader wandte, antwor-         »Ein Blick auf die Torerfassung der        feld versickerten. »Für mich sieht das nach
tete dessen Assistentin per E-Mail, Reim        Werft hätte einen Hinweis geben können,       Geldwäsche aus«, sagt Daniela Reim.
müsse sich Gedanken machen, ob sie ihr          was läuft«, sagt Wentingmann, die seit Jah-      Die Deutsche Bank sagt, Kontoeröffnun-
Amt so »rumänisch destruktiv« weiterfüh-        ren Meyer bearbeitet. »Jeder Arbeiter         gen könnten auch dann erfolgen, wenn der
ren wolle. Eine Kopie des Schreibens ging       loggt sich am Eingang mit seiner Chipkarte    Kontoinhaber »die deutsche Sprache nicht
an die Geschäftsführung der Meyer-Toch-         ein.« Der Werftsprecher behauptet, eine       perfekt beherrscht«. Kein Wort zur Frage
terfirma ND Coatings.                           Arbeitszeitkontrolle gehe aus »daten-         nach Geldwäsche. Aus dem Umfeld der
   Bei Pirva lief es wie bei vielen anderen:    schutzrechtlichen« Gründen nicht.             Bank ist aber zu erfahren, dass man dort
Er bekam eine Lohnabrechnung, die sau-             Dass bei Isofonics mit den Lohnabrech-     hellhörig wurde, rechtliche Schritte einlei-
ber wirkte – 160 Stunden à 9,50 Euro. Tat-      nungen etwas nicht stimmt, wusste man         tete und betroffene Konten kündigte. Der
sächlich arbeitete er oft 100 Stunden mehr      bei der Meyer-Tochter ND Coatings schon       Werftsprecher meldet sich noch mal. Isofo-
im Monat – unbezahlt. Auf den Mindest-          seit Sommer 2016. Zwei Arbeitern, die         nics, sagt er, sei dreimal erfolgreich geprüft
lohn von 8,84 Euro kam er nie.                  sich beschwerten, wurde sogar eine Abfin-     worden. Beim aktuellen Audit gebe es aller-
   Ursula Wentingmann von der IG Metall         dung gezahlt, damit sie Ruhe gaben. Der       dings »Abweichungen«.
in Leer hat nachgerechnet, dass Pirva von       ND-Coatings-Geschäftsführer, sagt der            Naidins Neffe Christian kommt gut zu-
Februar 2017 bis Januar 2018 exakt              Sprecher, habe »zum Teil« davon gewusst.      recht in England. Für ihn ist Deutschland
11 754,56 Euro vorenthalten wurden. Das            Und dann? Wurde geschwiegen.               erst mal durch. Naidin selbst würde trotz
hieße: Sozialversicherungsbetrug, Verstoß          Constantin Naidin ist angekommen. Er       allem gern zurück auf die Werft, es müsse
gegen Arbeitszeitgesetze, Verstoß gegen         steigt aus dem Bus. In einem Café wartet      nur »etwas mehr Ehrlichkeit« geben.
den Mindestlohn und womöglich Sitten-           sein Neffe Christian auf ihn. Auch Chris-        Nach 33 Stunden Fahrt steht er vor sei-
widrigkeit: Viele Werkvertragsarbeiter wa-      tian arbeitete früher auf der Meyer-Werft,    nem kleinen Haus. Hinten im Garten, an
ren als Fachkräfte angestellt und müssten       auch er für Toader. Inzwischen hat er ei-     der verrosteten Hollywoodschaukel, wartet
mindestens zwei Drittel des Tariflohns be-      nen Job auf einer Obstfarm in England.        seine Frau. Naidin läuft den Weg hoch. Toto,
kommen. »Und der liegt in ganz anderen             Ganz abnabeln von Deutschland konnte       sein alter Mischlingshund, bellt ihn an wie
Bereichen«, sagt Wentingmann.                   er sich nicht. »Ich hab ja noch mein Konto    einen Fremden. Er hat Naidin nicht erkannt.
                                                da, bei der Deutschen Bank.« Die Karte da-       Nils Klawitter
* Name geändert.                                für musste auch er abgeben. Als Toader mit

DER SPIEGEL Nr. 14 / 31. 3. 2018                                                                                                         73
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