Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
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April 2019 #02 Inspiriert denken – glauben – handeln ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA Schönheit Theologie Natur Diakonie Der dreifaltige Gott Der Schönheit des Moments Die Schönheit unter dem selbst ist schön auf der Spur Dreck des Lebens
INHALT 04 Forum/Humor Bildende 05 Kolumnen Kunst 05 Transformation Global: O schöne neue Welt «Bilder müssen nicht 06 Bildende Kunst: Ist Kunst nur eine Frage immer schön aussehen, der Schönheit? aber können ihre 07 Naturwissenschaften: Liegt Schönheit Schönheit in der Kraft im Auge des Betrachters? der Wahrheit, die hinter 25 Wirtschaft: Von den anvertrauten Pfunden ihnen steckt, finden.» 26 Pädagogik: Wir bilden die Zukunft Patrik Alvarez auf Seite 6 27 Diakonie Schweiz: Die Schönheit unter dem Dreck des Lebens 28 Interkulturell: Bete weiter für mich! 29 Kurzrezensionen 30 Bibel: Sechsmal gut gibt sehr gut Lyrik 31 Intern «Erlittene Lieder werden nicht einfach mal so schnell dahingetextet. Sie werden 08 Thema: Schönheit aus einer grossen inneren 09 Peter Henning Tiefe heraus geboren.» Von der Schönheit des Glaubens Sabine Antje Naegeli 12 Interview mit Sabine Antje Naegeli auf Seite 12 «Einen schmerzfreien Glauben gibt es nicht» 14 Interview mit Jonas Baumann-Fuchs und Andreas Tschopp Wahre Schönheit ist nicht perfekt 17 Alexander Arndt Schönheit in der Sehnsucht nach Versöhnung Bibel 18 Umfrage Schönheit und Gebrochenheit müssen «Die Schöpfung ist optimal, nicht unversöhnbar bleiben vollkommen, perfekt! Aber 21 Barbara Haefele nicht wegen der Perfektion Gott will die Farben des Lebens aufleuchten lassen des Einzelnen, sondern auf- 22 Daniela Baumann grund des Zusammenspiels Der Schönheit des Moments auf der Spur der Einzelnen.» Martin Benz auf Seite 30 Vorschau: 3/19 Das Magazin INSIST erscheint 4x jährlich. Angst Impressum Verlag: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Tel. +41 43 344 72 00, info@each.ch. Co-Redaktionsleitung: Daniela Baumann, Kommunikationsverantwortliche SEA, Tel. +41 43 366 60 82, dbaumann@each.ch; Marc Jost, Generalsekretär SEA, Tel. +41 76 206 57 57, mjost@each.ch. Redaktionsschluss: Nr. 3/19: 12.7.19. Redaktionskommissi- on: Daniela Baumann, Dorothea Gebauer, Rolf Höneisen, Marc Jost, Ruth Maria Michel, Hanspeter Schmutz. Layout: mj.design, Matthieu Jordi. Druck/Versand: Jordi das Medienhaus, Belp. B estellungen: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Josefstrasse 32, 8005 Zürich, Tel. +41 43 344 72 00, magazin@insist.ch. Preis: Fr. 50.– inkl. Versandkosten für vier Ausgaben (Richtpreis auf Spendenbasis). Inserate: Jordi AG, 3123 Belp, Tel. +41 31 818 01 26, inserate@insist.ch. Insertionsschluss: Nr. 3/19: 19.8.19. Bilder: Seite 1, 8, 11, 16, 20 & 22 © Martin Mägli; Seite 5 © stockphotosecrets.com; Seite 6 © Papamanila/Wikimedia; Seite 7 © pexels.com; Seiten 12/13 © Dorothea Gebauer; Seite 12 © stockphotosecrets.com; Seite 14 © Daniela Baumann; Seite 18 zVg; Seite 21 zVg; Seite 23 © Daniela Baumann; Seite 25 © nuvolanevicata/AdobeStock; Seite 26 © pexels.com; Seite 27 © stockphotosecrets.com; Seite 28 zVg; Seite 30 © stockphotosecrets.com; Seite 31 SEA 2 - Magazin INSIST 02 April 2019
EDITORIAL Schönheit, die unter die Haut geht Im Zugabteil erzählt eine Teenagerin ihrer Kollegin von ihren Sorgen über ihr erstes Tattoo, das sie sich unter der linken Brust am Bauch stechen lassen möchte. Sie äussert ihre Ängste, ob es dann wirklich schön komme, ob es ihr auch später gefallen und ob es im Sommer im Strandbad auch gut bei anderen ankommen werde. Ihre Kollegin versucht sie zu beruhigen. Sie scheint Erfahrung damit zu haben. Wichtig sei einfach, dass sie ein Sujet auswähle, das eine positive Botschaft verbreite. Und das werde ganz bestimmt schön herauskommen. Das Gespräch zeigt mir einiges auf in Bezug auf unser Thema Schönheit. Ob man Tätowierungen grundsätzlich schön findet, ist offenbar eine relative und sehr persönliche Frage. Mir gefallen Tat- toos nicht wirklich. Und ich vermute, dass es sogar eine Generati- onenfrage sein könnte. Ich kenne relativ wenige Menschen über 55 Jahren mit einem Tattoo. Aber auch wenn man sich einig sein sollte, dass Tätowierungen eine gute Sache sind, gibt es anscheinend so et- was wie ein allgemeines Schönheitsempfinden in der Öffentlichkeit – oder eben im Strandbad. Nun, ich will ja keine Debatte zu Tattoos lostreten. Das Beispiel führt mich aber wunderbar zu verschiedenen Aspekten der aktuellen Ausgabe von INSIST. Wir gehen der Frage nach Schönheit nicht nur oberflächlich – sozu- sagen auf der Hautoberfläche – nach, sondern schürfen wie üblich tiefer mit unseren Beiträgen. Wir fragen nach der schöpferischen Schönheit, nach dem Zusammenhang von gut und schön oder nach dem Umgang mit Ästhetik im Leben des Menschen generell. Zudem dürfte Sie interessieren, weshalb vor rund 1000 Jahren ein Fürst durch die Schönheit von Gottesdiensten zum christlichen Glauben fand. Sie finden die Ge- schichte im theologischen Beitrag. Darüber hinaus haben wir das Thema in dieser Ausgabe nicht nur mit Worten zu fassen und zu be- schreiben versucht, sondern der «Schönheit» mehr Bilderseiten als üblich gewidmet. Unsere Chef- redaktorin hat den Fotografen Martin Mägli auf einer seiner Entdeckungsreisen schöner Natur- und Landschaftsphänomene begleitet und ihm auch die Frage nach der Schönheit gestellt: Schön ist für den Fotografen die «intakte und unberührte Natur». Wie sieht dies wohl für den plastischen Chirurgen aus? Auch das erfahren Sie bei uns, wenn dieser sich mit einem Psychotherapeuten über innere und äussere Schönheit unterhält. Marc Jost Generalsekretär SEA 02 April 2019 Magazin INSIST - 3
FORUM/HUMOR Februar 2019 #01 Inspiriert denken – glauben – handeln Leserbriefe ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA Macht Humor (Magazin 1/19 zum Thema «Macht») Leitsätze Philosophie Kirchen Umgang mit Macht Die Macht, die alles «Wir sind nie mit reinen überwindet Motiven unterwegs» INSIST_01_2019_v1.indd 1 05.02.19 18:38 Macht ausüben heisst Menschen dienen seiner Mitarbeitenden angewiesen ist. Bei der Zusammenstellung der Beiträ- Dadurch entsteht ein Miteinander und Ein Fränkli für Gott ge zum Thema Macht hätte man mei- Füreinander, vergleichbar mit einer (KMe) Die Jugendgruppe sammelt nes Erachtens einen wichtigen Aspekt funktionierenden Familie, welche die für einen guten Zweck und geht noch mehr hervorheben können. Per- Basis ist, um gemeinsam im Reich Got- dafür von Tür zu Tür. Martin läutet sönlich sehe ich in der uns von Gott und tes etwas Nachhaltiges zu bewegen. an der Wohnungstür und fragt: den Menschen anvertrauten Macht die «Geben Sie auch einen Franken für Hanspeter Nüesch, Campus für Christus, Boppelsen schöne Aufgabe, andere zu bevollmäch- den lieben Gott?» Der ältere Mann tigen und ihnen ihren Reichtum zu zei- kratzt sich am Kopf, dann fragt er gen. Ist es nicht eine zentrale Aufga- Eine andere Form von Macht Martin: «Wie alt sind Sie?» Martin be von Leitenden, durch Übertragung Die verschiedenen Beiträge zum The- stolz: «Zwanzig.» – «Und ich bin im der Vollmacht wieder andere freizuset- ma Macht sind sehr aufschlussreich. September 87 geworden. Ich werde zen und zu Leitenden zu machen? Das Nur am Rande wurde in einem Ne- den lieben Gott früher sehen als bedeutet zuweilen Aufgaben und Ver- bensatz erwähnt, dass ‹die Liebe eine Sie und ihm das Fränkli persönlich antwortung weiterzugeben, die man im Macht ist, die alle Machtverhältnisse geben.» aktuellen Zeitpunkt selbst besser wahr- überwindet›. Es wäre interessant gewe- Quelle: Arnold Helbling, Wer viel lacht, lebt län- nehmen könnte. Wenn wir als Machtträ- sen, dazu mehr zu lesen. ger, Fribourg 1992, S. 29. ger die Macht gebrauchen, um die Gaben Über die Liebe gibt es bedeutende der uns anvertrauten Personen zur Ent- biblische Aussagen, z.B. im Hohelied, 20 Franken für die Polizei faltung zu bringen und sie immer mehr der Bergpredigt oder mit der goldenen Da fährt doch der Pfarrer mit in ihre göttliche Bestimmung hinein zu Regel. Es sind Prinzipien und Haltun- seinem Velo die Kirchgasse geleiten, dann stehen sie auch wieder gen, die uns Christen eine andere Form hinunter – freihändig. Aber er vollumfänglich hinter unserer Macht- von Macht geben. Aus ihr fliesst die Au- hat nicht mit dem Dorfpolizisten ausübung. So habe ich es auf jeden Fall torität, um uns im Alltag weise und mu- gerechnet: «Das gilt auch für Sie, in über 40 Jahren Leiterschaft auf nati- tig den (gesellschaftlichen) Herausfor- Herr Pfarrer. Freihändig, das macht onaler und internationaler Ebene erlebt. derungen zu stellen. Es ist ein Profil, mit Fr. 10.-.» «Irrtum, Herr Polizist, was Leiten bzw. Macht ausüben heisst welchem wir der Beliebigkeit und dem Sie nicht wissen können: Gott zuallererst den anvertrauten Menschen Zeitgeist entschieden entgegentreten lenkt für mich!» «Auch das noch», dienen und sich von ihnen dienen zu können. – Verantwortung zu überneh- brummt da der Polizist, «Fahren lassen, wo der «Mächtige» die Ergän- men und zu tragen, ist eine kostbare zu zweit, da kommen noch Fr. 10.- zung und Hilfe benötigt. Ein in solcher Vollmacht. Es ist auch unser Auftrag, dazu, total Fr. 20.-.» Weise dienender Leiter ist auch ein für Menschen in wichtigen Positionen Quelle: Simone Rüd, Thomas Thali, Marie-The- lernbereiter und verletzlicher Leiter, im Gebet einzustehen (Jer. 29,7). res Ritter, Toni Bernet-Strahm (Hrsg.), Da lacht selbst Petrus mit. Kirchenwitze aus dem Volk, weil er erkennt, dass er täglich auf die Fribourg 1996, S. 56. Wolfgang Ackerknecht, EVP Thurgau, Frauenfeld Hilfe und Barmherzigkeit Gottes und stammtisch Simon KrUSI 2/19 LEER UND HÄSSLICH! VOLL SCHÖN! HÄSSLICH LEER! SCHÖN VOLL! 4 - Magazin INSIST 02 April 2019
TRANSFORMATION GLOBAL O schöne neue Welt Während im Hintergrund Louis Armstrong in «What a wonderful world» die Schönheit der Welt in der Natur und im Leben der Menschen besingt, fallen Bomben auf Dörfer, werden Zivilisten von Soldaten ermordet und Demonstranten brutal nie- dergeknüppelt. Die Sequenz aus dem amerikanischen Spielfilm «Good Morning Vietnam» um einen US-Radiomoderator in Hanoi während des Vietnamkrieges geht unter die Haut. Das Übereinanderlegen zweier kont- rastierender Sichtweisen auf die Welt bringt auf poetische Weise ein Span- nungsfeld zwischen der Schönheit des Lebens auf der einen und seiner Wider- wärtigkeiten auf der anderen Seite zum Ausdruck. Oder anders gesagt: Die ur- sprüngliche Schöpfung Gottes steht ih- rer gefallenen Version gegenüber. Wäh- rend in dieser Welt beide sichtbar sind, scheint gerade in christlichen Kreisen in den letzten 100 bis 200 Jahren eher die Sichtweise dominiert zu haben, Christen haben einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung der Beziehung zwischen dass wir vor allem auf Erlösung aus Mensch und Schöpfung zu leisten. diesem irdischen Jammertal hoffen. Das richtige, sprich ewige Leben findet drei Erden. Mit den von uns verursach- nicht nur Kulisse des Dramas zwischen dann an einem ganz neuen und ande- ten Treibhausgasen, zum Beispiel durch Gott und Mensch, sondern leidet eben- ren Ort statt. hohen Fleischkonsum oder ausgiebi- falls unter den gestörten Beziehungen. Solch ein Weltbild kann zur Folge ge Flugreisen, oder unserem Bedarf an In den biblischen Berichten lesen wir, haben, dass wir kaum Verantwortung Konsumgütern und Energie leben wir dass das Land infolge der Sünde des übernehmen für das Geschehen in der also deutlich über den Verhältnissen. Menschen keine Früchte mehr hervor- Welt und ängstlich darauf warten, bis Dabei geht es nicht nur darum, dass bringt. Wem das zu alttestamentlich dieses Leben endlich vorbei ist. Auch wir eines Tages keine Gletscher mehr klingt, sei in Erinnerung gebracht, dass die Zerstörung der Natur könnte man werden bewundern können. In ande- auch Paulus davon spricht, dass sich sogar wohlwollend als Vorboten der er- ren Weltgegenden fordert der Klima- die ganze Schöpfung nach Erlösung hofften neuen Welt willkommen heis- wandel Tote, zum Beispiel dann, wenn sehnt und Jesus den ganzen Kosmos – sen. Ist dies möglicherweise ein Grund Menschen auf dürren Böden ihre Le- um das griechische Wort zu benützen dafür, dass Skepsis an den menschli- bensgrundlage verlieren und infolge – mit sich versöhnt hat. Wenn wir also chen Ursachen für den Klimawandel knapper Ressourcen neue Konflikte dreimal mehr Ressourcen verbrauchen, gerade unter Evangelikalen in den USA entstehen. Obwohl dies die Menschen als der Planet hergibt, und uns das auch ziemlich populär ist? landauf, landab vermehrt betroffen noch relativ gleichgültig lässt, haben macht, hat es unser Parlament in der wir ein grösseres Beziehungsproblem. Wir leben deutlich über den Wintersession des vergangenen Jahres So gesehen kommt Christinnen und Verhältnissen nicht fertiggebracht, ein Gesetz zu ver- Christen quasi als Versöhnungsexper- In Europa ist die geschilderte Sichtwei- abschieden, das die Reduktion unserer ten die wichtige Rolle zu, dabei mitzu- se weniger verbreitet. Vielmehr gehört CO2-Emissionen gemäss den Vorgaben helfen, dass auch die gestörte Bezie- es mittlerweile zum medialen Main- des Pariser Klimaabkommens regelt. hung zur Schöpfung wiederhergestellt stream, dass die globale Erwärmung ei- werden kann. Bislang kamen die Fah- nes der grössten Probleme unserer Zeit Ein grösseres nenträger meist aus anderen Reihen. ist. Dass wir daran schuld sind eben- Beziehungsproblem Da die Herausforderungen aber nach so. Was die Mehrheit der akademischen In seinem Buch «Und mittendrin leben wie vor gross genug sind, bleibt genü- Forschung zum Thema herausfindet, ist wir» zeigt der Autor Dave Bookless ein- gend Raum für eine Reaktion. erdrückend. Und zu den düsteren Zu- leuchtend auf, dass die ökologische Kri- kunftsszenarien tragen wir auch hierzu- se auch eine wichtige geistliche Dimen- Olivier Tezgören ist Geschäftsführer des Verbandes christlicher Hilfswerke lande bei. Wenn alle Menschen so leben sion hat. Gott, die Menschen und der INTERACTION. würden, wie wir das in der Schweiz tun, Rest der Schöpfung befinden sich in ei- bräuchte es die Ressourcen von knapp nem Beziehungsdreieck. Die Natur ist b olivier.tezgoeren@interaction-schweiz.ch 02 April 2019 Magazin INSIST - 5
BILDENDE KUNST Ist Kunst nur eine Frage der Schönheit? Kunst muss nicht schön aussehen, um schön zu sein. Denn ihre Schönheit kann auch darin bestehen, dass sie Wahrheiten und Botschaften vermittelt, die sinnstiftend zu unserer Erfahrung der Welt beitragen. non» einen Wendepunkt in der Malerei und Kunst des 20. Jahrhunderts. Als Pi- casso während des Zweiten Weltkriegs im von der deutschen Wehrmacht be- setzten Paris lebte, besuchte ihn der Deutsche Botschafter in seinem Ate- lier. Als er mit Verachtung das Bild «Guernica» betrachtete, das Picasso in Erwiderung zu den Luftangriffen der franco-spanischen und deutschen Luft- waffe gemalt hatte, fragte er: «Haben Sie das gemacht?» Und Picasso antwor- tete: «Nein, Sie haben’s getan.» Das Bild zeigt die Zerfleischung der Bewohner Das Bild «Guernica» von Pablo Picasso zeigt Bewohner des gleichnamigen spanischen Dorfes während eines Bombenangriffs 1937. des spanischen Dorfes Guernica durch einen Bombenangriff im Jahr 1937. Ästhetik ist ein Begriff, der uns seit der jektiven Geschmack zu urteilen, und Diese Anekdote vermittelt uns, dass griechischen Antike begleitet als die dem Wunsch, ein objektives Verständ- Bilder nicht immer schön aussehen Lehre von der Wahrnehmung des Schö- nis des Kunstwerks zu erhalten, um die müssen, aber ihre Schönheit in der nen. Für die alten Philosophen war Erfahrung von Kunst mit unserer Ver- Kraft der Wahrheit, die hinter ihnen die wichtigste Rolle der Künste die Of- nunft einzuordnen. Auch die Quali- steckt, finden können. Ihre Botschaften fenbarung von göttlichen Wahrheiten tät einer Arbeit als Beurteilungskrite- besitzen eine Kraft, die entweder faszi- und die besten Übermittler waren ih- rium von Schönheit hilft dabei nicht. niert oder die Leute von den Bildern zu- rer Meinung nach nicht die bildenden Zu schwierig ist es, bei zeitgenössi- rückdrängt. Künstler, sondern die Dichter. Später scher Kunst die Qualität einzuschätzen mit A. G. Baumgarten (1714 – 1762) ver- und darüber zu reden. Diese Kontro- Schönheit und Sinn schob sich die Bedeutung der Ästhe- verse beschreibt ganz mutig eine For- Was uns in der Auseinandersetzung tik hin zu dem wissenschaftlichen Ver- schungsarbeit von Magnus Resch über mit den Künsten helfen kann, ist die such, das Schöne über die Vernunft mit die Karrieren von einer halben Million wesentliche Verbindung der Schön- der Erkenntnis der Wahrheit zusam- Künstlern. Sein Fazit ist, dass das Ge- heit mit der Wahrheit. Auch wenn die- menzuführen. Nach Baumgarten sind rede über Qualität nicht massgeblich se nicht schön aussehen muss, wie die Sinne «das Medium des Erkenntnis- sei für ein Kunstwerk oder eine künst- bei Picasso, liegt ihre Kraft in der Bot- zugangs zur Wahrheit [...], deren Urteile lerische Karriere. Entscheidend seien schaft, die sie übermittelt, und diese eine eigene Qualität besitzen»1. einzig die Kontakte und das Netzwerk trägt sinnstiftend zu unserer Erfahrung des Künstlers mit Kunstinstitutionen, der Welt bei. Abschliessend können wir Ist die Kunst heute schön? Sammlern und Fachleuten.2 sagen, dass Kunst ihre Funktion in dem Wie sieht die Kunst heute aus? Können Heisst das, dass es uns nicht mehr Streben findet, das Trinom Schönheit wir, wenn wir uns in den Räumen un- kümmern muss, ob Kunstwerke schön – Wahrheit – Bedeutung zu verbinden. serer Kunstmuseen oder Galerien be- sind? Dürfen wir ohne Gewissensbisse Denn nur die Wahrheit macht Sinn und wegen, noch die Schönheit erkennen Kunstbanausen bleiben? das ist schön. und wenn ja, welches sind die Kriterien, die uns etwas als schön einstufen las- Das Beispiel Picasso sen? Wir finden uns im Dilemma zwi- Der spanische Maler schuf 1907 mit schen dem Hang, nach unserem sub- dem Gemälde «Les Demoiselles d’Avig- Patrik Alvarez (1982) ist freischaffender Künstler und Kunstvermittler. Er wohnt und arbeitet in Basel. 1 Schneider, Norbert: Geschichte der Ästhetik von der 2 https://www.monopol-magazin.de/magnus-resch- Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart, 1996, P. erfolg-kunstmarkt-studie?photo=0#slideshow Reclam (25.2.2019) b info@patrikalvarez.ch 6 - Magazin INSIST 02 April 2019
NATURWISSENSCHAF TEN Liegt Schönheit im Auge des Betrachters? Künstliche Intelligenz kann die Schönheit von Gesichtern bewerten. Das hat schon vor einigen Jahren ein Projekt der ETH Zürich mit der Dating-App Blinq bewiesen. Doch hinter solchen Bewertungen stecken Vorstellungen von einem Schönheitsideal, die vom kulturellen Umfeld und von Erfahrungen geprägt und daher nicht unveränderlich sind. Will man der bekannten Redewendung metrische Gesichter bevorzugt als Glauben schenken, liegt Schönheit im schön beurteilt werden. Das ist jedoch Auge des Betrachters. Ob ich etwas nur bedingt richtig, wie der Psychologe oder jemanden schön finde, ist Ge- Martin Gründl mit seinen Forschungs- schmackssache. Und darüber lässt sich ergebnissen zeigt3. Die Symmetrie hat bekanntlich vorzüglich streiten. Doch einen geringeren Einfluss als bisher ist Schönheit tatsächlich so subjektiv, gedacht. Das gilt auch für die Durch- wie uns das diese Redewendung glau- schnittlichkeit von Gesichtern: Aus ben machen will? Oder gibt es nicht dem Durchschnitt vieler unattrakti- doch ein allgemeines Schönheitsideal, ver Gesichter entsteht nicht urplötzlich auf das jeder von uns anspricht? ein attraktives Gesicht. Das Ideal muss Das suggerierte vor einigen Jahren sich deshalb aus etwas anderem spei- der Wirbel um eine Internet-Seite, die sen. Laut Gründl sind dafür Merkmale aus einer Zusammenarbeit des Compu- verantwortlich, die auf Jugendlichkeit ter Vision Labs (CVL) der ETH Zürich und Gesundheit schliessen lassen, zum und der Dating-App Blinq entstanden Beispiel makellose Haut mit einem gu- war. Unter faces.ethz.ch konnten sich ten Teint. Wichtig ist auch geschlechts- Nutzer einem Schönheitscheck unter- spezifisches Aussehen. Frauengesich- ziehen.1 Dazu lud man ein Foto von sich ter werden durch typisch feminine hoch, anschliessend wurde man auf ei- Merkmale attraktiv, Männer tendenzi- ner Skala eingestuft: von «gottgleich» ell durch – jedoch nicht zu stark ausge- bis zu «hmm». Diese Einstufung gene- formte – maskuline Merkmale. Was ist für das menschliche Auge schön? rierte ein Computer-Algorithmus, der das Foto mittels künstlicher Intelligenz Ist Üppigkeit schön? ist, wann wir ein Gesicht als schön oder analysierte und entsprechend bewerte- Wir erahnen rasch, dass dieses Ide- nicht schön bewerten. In Studien mit te2. Dahinter steckte die Annahme und al nicht absolut und unveränderlich ein- und zweieiigen Zwillingen konnte die Vorgabe eines mehr oder weniger sein dürfte. Wenn wir uns Malereien sie nachweisen, dass für diese Bewer- objektiven «Ideals», an dem sich der Al- und Skulpturen aus vergangenen Epo- tung nicht unsere Gene, sondern unse- gorithmus orientieren konnte. Ohne chen ansehen, stellen wir fest, dass re Erfahrungen und unser kulturelles dieses Ideal wäre eine Bewertung rein Frauen meist üppig dargestellt sind Umfeld entscheidend sind. Welche Ge- willkürlich und zufällig. und deshalb wohl als schön angese- sichter wir schön finden, ist eine Frage hen wurden. Und auch heute gilt in der Prägung. Die Mehrheitsmeinung vielen Kulturen im Gegensatz zu un- Die Redewendung hat also sowohl bestimmt serer westlichen Kultur üppig(er) sein recht als auch unrecht. Die Schönheit Dieses Ideal entpuppt sich bei genau- als schön. Schönheitsideale scheinen (zumindest von Gesichtern) liegt tat- erem Hinsehen als ein statistisches nicht festgelegt, sondern wandelbar zu sächlich im Auge des Betrachters. Doch Ideal. Es beruht auf der Bewertung von sein. Eine mögliche Erklärung für die- wie der Betrachter bewertet, was er Gesichtern durch eine Gruppe von Test- ses Phänomen liefert Laura Germine sieht, wird durch seine persönlichen personen. Was die Mehrheit als schön von der Harvard Medical School4. Sie Erfahrungen und seine kulturelle Um- befindet, gilt als schön. Lange galt in wollte wissen, ob es genetisch bedingt welt beeinflusst und mitbestimmt. der Attraktivitätsforschung die Annah- 3 Gründl, Martin: Determinanten physischer me, dass durchschnittliche und sym- Attraktivität – der Einfluss von Durchschnittlichkeit, Symmetrie und sexuellem Dimorphismus auf die Attraktivität von Gesichtern, Regensburg, 2012, Beat Schweitzer ist Molekularbiologe 1 Sowohl faces.ethz.ch als auch die Dating-App Blinq verfügbar unter https://epub.uni-regensburg. und Theologe. Er ist Dozent für Ethik am sind in der Zwischenzeit eingestellt worden. de/27663/1/Habil_Gruendl_gesamt_093m.pdf (26.3.2019) Theologischen Seminar St. Chrischona (tsc). 2 vgl. Rothe, Rasmus et al.: Some like it hot – visual 4 Germine, Laura et al.: Individual Aesthetic Preferences guidance for preference prediction, 2015, verfügbar for Faces Are Shaped Mostly by Environments, Not unter http://arxiv.org/pdf/1510.07867v2 (26.3.2019) Genes, 2015, Current Biology, 25 (20), 2684–2689 b beat.schweitzer@tsc.education 02 April 2019 Magazin INSIST - 7
THEMA Schönheit Verschiedenfarbige Moose kurz nach der Schneeschmelze bei den Lacs de Fenêtre 8 - Magazin INSIST 02 April 2019
THEMA THEOLOGIE Von der Schönheit des Glaubens Das Sinnliche im christlichen Glauben hatte in der Geschichte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine unterschiedliche Bedeutung. Zwar spricht die Bibel nicht von der Schönheit des Glaubens. Aber es gibt theologische Gründe dafür, dessen ästhetische Aspekte neu zu entdecken. Traditionell reformierte Frömmigkeit reagierte jahrhunder- Hochamt feiert, Weihrauch anzündet sowie Gesänge und telang allergisch, wenn sich der Glaube nicht allein auf das Chöre erschallen lässt. Man erklärt ihnen die Schönheit der Wort, Christus und die Gnade konzentrierte. Jegliche Ab- Kirche, ihren Dienst für Gott und das Zelebrieren und Mi- lenkung des Geistes etwa durch Schmuck, Bilder und schö- nistrieren der Bischöfe und Diakone. Mit reichen Geschen- ne Musik war verpönt. Im Gemüt und Empfinden von schö- ken versehen, kehren die Russen zurück und erzählen ih- ner christlicher Kunst angesprochen, innerlich bewegt und rem Fürsten: «Wir zogen hin und her, fanden aber keine sinnlich berührt zu werden, das wollte eine reformiert-pu- Fröhlichkeit und Schönheit. Dann gingen wir zu den Grie- ritanische Frömmigkeit nicht zulassen. Mit der barocken chen und sie führten uns dorthin, wo sie ihrem Gott dienen. Ausgestaltung seiner Kirchen hat Und wir wissen es nicht: Wa- der nachreformatorische Katholi- Wir stehen vor einem ren wir im Himmel oder auf der zismus dann darauf reagiert – in Erde? Denn auf der Erde gibt der Üppigkeit zwar oft übertrie- unauflösbaren Paradox: es solche Schau und Schön- ben, in der Absicht aber wohl be- Die Schönheit und Herrlichkeit heit nirgendwo. Wir können rechtigt. Denn der Mensch ver- Gottes offenbart sich es nicht beschreiben. Wir wis- kümmert, wenn er auf Dauer die sen nur, dass dort Gott mit den Bedürfnisse seiner fünf Sinne ab- im geschundenen Leib Jesu Menschen lebt und ihr Got- tötet. Andere evangelische Kir- am Kreuz. tesdienst besser ist als bei al- chen haben deshalb Kunst, Kul- len anderen. Wir können die- tur und Musik weiter als Formen der Verkündigung gepflegt se Schönheit nicht vergessen!» Und Wladimir antwortet: und bleiben damit in einer langen, bis ins Alte Testament «Wäre der griechische Glaube schlecht, hätte ihn meine reichenden Tradition. Es ist doch der Wunsch eines jeden Grossmutter Olga, die weiseste aller Frauen, nicht ange- wahrhaft Frommen, «im Hause des Herrn bleiben zu kön- nommen!», und lässt sich mit den Seinen im Jahr 988 tau- nen ein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste fen.2 des Herrn»1. Seitdem ökumenische, transkulturelle und interkonfes- sionelle Begegnungen in den letzten Jahrzehnten immer «Wir können diese Schönheit nicht mehr zur Normalität geworden sind, begegnen wir einer vergessen!» reichen Vielfalt unterschiedlichster Formen von Frömmig- Das erinnert mich an Wladimir, russischer Fürst in Kiew keit, Glaubensnachfolge und Gottesdienstliturgie. Die Er- (960-1015). Als Heide lässt er die anderen Religionen erfor- kenntnis breitet sich aus, dass christlicher Glaube auch et- schen. Zehn seiner Männer ziehen durch die Lande, ohne was mit Ästhetik zu tun hat, also mit Schönheit und jeweils begeistert zu sein. Schliesslich erleben sie in Kon- Herrlichkeit, mit Lust und Freude am Hören, Sehen, Fühlen, stantinopel, wie der orthodoxe Klerus die Glorie Gottes im Spüren, Riechen, mit der Ausdrucksfähigkeit spiritueller 1 Ps 27,4 2 nach der Nestorchronik von 1113-1118 02 April 2019 Magazin INSIST - 9
THEMA Erfahrungen, Empfindungen und Gefühle. Dieses neue Ent- den Himmel aus wie einen Teppich. Die Herrlichkeit des decken ist keine Reaktion auf die pseudoreligiöse Werbung Herrn bleibe ewiglich, der Herr freue sich seiner Werke.»5 der modernen Schönheitsindustrie, sondern hat theologi- Hosea und Jesaja verheissen ihrem Volk: «Gott wird wie sche Gründe. die schöne Morgenröte hervorbrechen6. Deine Augen wer- den den König sehen in seiner Schönheit. Schaue auf Zion, Glaube öffnet die Sinne für das Schöne die Stadt unserer Feiern. Der Herr wird dort bei uns mächtig Die Bibel kennt allerdings den Begriff «Schönheit des Glau- sein. Und du Zion wirst eine schöne Krone sein in der Hand bens» nicht, und das nicht ohne Grund. Glaube kann zwar des Herrn, ein königlicher Reif in der Hand deines Gottes7.» «schön» sein – das wird sich noch zeigen –, aber die Auf- Wenn der Glaube diesen Gott feiert, wird es schön. zählung der «Glaubenshelden» in Hebräer 11 berichtet von Das Neue Testament bezeugt den Höhepunkt göttlicher unterschiedlichen Begleitumständen eines konsequenten Herrlichkeit: Die «Schönheit Gottes» wird jetzt in einem Men- Glaubens an Gott: Kraft, Hoffnung und Liebe; Sieg, Wunder schen sichtbar, hörbar und erlebbar. Im Prolog seines Evan- und Segen; aber auch Anstrengung, Gehorsam und Opfer; geliums beschreibt ihn Johannes in einzigartig schöner Zweifel, Anfechtung und Schmach; Spott, Widerstand und Sprache: «Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott Tod. Angesichts dieser ambivalenten Erfahrungen provo- und Gott war das Wort. Und das Wort wurde Fleisch und ziert der Begriff «Schönheit des wohnte unter uns und wir sahen Glaubens». Denn bis heute ist es Glaube ist nicht nur Gehorsam, seine Herrlichkeit, eine Herrlich- riskant, wenn sich jüdischer und keit des eingeborenen Sohnes vom christlicher Glaube gefährlichen sondern auch Schönheit, wenn Vater, voll Gnade und Wahrheit.»8 Trends und pseudoreligiösen er Gott in seiner Herrlichkeit Damit stehen wir vor einem Ideologien entgegenstellt. geniesst. tiefgründigen Geheimnis, ja einem Deshalb sollten wir besser sa- unauflösbaren Paradox: Die Schön- gen: Der Glaube öffnet unsere Sinne für alles Schöne in der heit und Herrlichkeit Gottes offenbart sich in einem mensch- Schöpfung und Heilsgeschichte Gottes. Er ist die geheimnis- lichen Leben, Wirken und Leiden von der Krippe bis zum volle, aber erfahrbare Fähigkeit, uns die «Augen des Herzens» Kreuz, ja gerade auch in diesem geschundenen Leib Jesu am für die Herrlichkeit und Schönheit der dreifaltigen Liebesge- Kreuz. Deswegen fragt der Prophet Jesaja weit voraussehend meinschaft Gottes zu öffnen und den «Reichtum der Herr- so herzzerreissend: «Wer glaubt dem noch, was uns verkün- lichkeit, der den Heiligen gegeben ist», zu offenbaren3. det wurde? Er hatte keine Gestalt und keine Schönheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Der dreifaltige Gott selbst ist schön Verachtet war er, ein Mann der Schmerzen und Krankheit.»9 Die theologische Begründung dafür, dass christlicher Glau- Jesaja erfährt den Glauben als ästhetische Zumutung. Diese be auch mit Ästhetik zu tun hat, ist der dreifaltige Gott Skepsis wird nach Ostern und Pfingsten in die Erkenntnis selbst, wie ihn die Bibel durchgehend bezeugt. Er ist nicht «Mein Herr und mein Gott» verwandelt. Gottes Heiliger Geist nur allmächtig, heilig, gerecht, gut, lieb und barmherzig, lässt seine Kirche eine Schönheit entdecken, wie sie in unse- sondern auch «herrlich und schön». Westliche Theologie ren Schönheitsidealen nie zum Ausdruck kommt. Das Wort und Frömmigkeit betonen stärker die Wahrheit, Gerech- «schön» kommt ja von «sehen, schauen». Christlicher Glaube tigkeit und das Gutsein Gottes, während sich in den östli- ist ein liebevolles Anschauen dessen, was uns Gott von sich chen Kirchen eine Frömmigkeit der Anbetung, Ehrfurcht offenbart hat. Und dann drängt es den Glaubenden, die ge- und Betrachtung der trinitarischen Herrlichkeit und Schön- schaute Schönheit Gottes sichtbar und erfahrbar zu gestal- heit Gottes entwickelt hat. Deswegen prägt eine «göttli- ten: in der Theologie, Kunst, Malerei und Musik, in der Litur- che Liturgie» ihre Gottesdienste. Sie wollen den «schönen gie und im Feiern der Sakramente. Wo auch immer die Glanz Gottes aus Zion»4 widerspiegeln und darstellen. «Herr, Schönheit Gottes zum Ausdruck kommt, es tut unserer Seele mein Gott, du bist herrlich, du bist schön und prächtig ge- gut. Glaube ist nicht nur Gehorsam, sondern auch Schönheit, schmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest wenn er Gott in seiner Herrlichkeit geniesst. Da werden wir dann befreit zu einem Lobpreis, der sich in grenzenloser Nächstenliebe und Bewahrung der Schöpfung dienend ver- Literatur: strömt. Von Balthasar, Hans Urs: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bände I-III/2, Einsiedeln, 1988-2009. Pfarrer Peter Henning (M.Th.) ist ehemaliger Rektor und Dozent am TDS Aarau, verheiratet, mehrfacher Grossvater Grün, Anselm: Schönheit – Eine neue Spiritualität der Lebensfreude, und «im aktiven Ruhestand». Münsterschwarzach, 2014, Vier-Türme-Verlag. b p.henning@tdsaarau.ch Bégert, André: Glaube & Schönheit, Basel, 2018, Fontis. (siehe Kurzrezension auf Seite 29) 5 Ps 104,1-2.31 6 Hos 6,3 7 Jes 33,17.20-21; 62,3 3 Eph 1,18 8 Joh 1,1 ff. 4 Ps 50,2 9 Jes 53,1-3 10 - Magazin INSIST 02 April 2019
THEMA Blumenwiese im Frühsommer bei Büren 02 April 2019 Magazin INSIST - 11
THEMA SCHÖNHEIT UND GEBROCHENHEIT «Einen schmerzfreien Glauben gibt es nicht» Interview: Dorothea Gebauer | Loben und Klagen, Ostern und Karfreitag, Schönheit und Gebrochenheit – beides gehört zum Le- ben. Die Lyrikerin, Psychotherapeutin und ehemalige Pfarrerin Sabine Antje Naegeli plädiert dafür, auch das Leid als eine Realität anzunehmen. Denn erst dies ermöglicht wesentliche innere Reifeprozesse und die Verwandlung des Leidens in fruchtbares Leben. Magazin INSIST: Was ist für Sie eine schöne Erfahrung mit Haben Sie Vorbilder? Kunst? Ja, klar. Dazu zählen Hilde Domin, Rose Ausländer, Ingeborg Sabine Antje Naegeli: Ich höre sehr gerne Bachkantaten! Ich Bachmann und andere. Was ich nicht mag, ist eine Haltung bevorzuge generell Barockmusik. Was Literatur betrifft: Da der ‹l‘art pour l‘art›. Schönheit darf durchaus Sinn in sich tra- ist es schwierig geworden, Bücher gen. Es gibt heute so manche zu finden, die schön geschrieben Kunst, die prinzipiell nur die Zer- sind. Meistens muss man auf alte Wenn ich etwas Schönes sagen rissenheit spiegelt. Der katholi- Texte zurückgreifen. Natur ist für kann, dann hat das auch mit schen Künstlerin Luise Rinser mich immer eine wunderbare Er- Spiritualität zu tun, weil sie zu wurde gerne vorgeworfen, dass fahrung. Sie birgt so viel Schön- sie zu viel Glaubenshaltung in heit für den, der offene Augen hat. unserer Ganzheit gehört. ihre Arbeit einbringe. Ich finde, Ich liebe die Meer- und Blumen- wenn ich etwas Schönes sagen bilder von Emil Nolde. Sie beeindrucken mich tief. kann, dann hat das auch mit Spiritualität zu tun, weil sie zu unserer Ganzheit gehört. Nehmen wir beispielsweise Johann Was ist für Sie weniger zu ertragen, weil nicht schön? Sebastian Bach. Er verweist mit seiner Kunst auf etwas, das Alles Hässliche macht mich frieren, egal in welchem Kon- gewissermassen ‹himmlisch› ist. Spirituell sein heisst für text. Wenn etwa ein gottesdienstlicher Ort kalt und unwirt- mich, mich ganz als Person in meine Arbeit hineinzugeben. lich ist und keine Geborgenheit gibt. Wenn Kunst kalt und lieblos, wenn Musik disharmonisch und extrem laut ist. Kann es sein, dass Christen sich deshalb um Kreativität brin- gen, weil sie Gebrochenheit und Schönheit häufig gegeneinan- Wie schafft man es, sich als Lyrikerin von schlechter Lyrik ab- der ausspielen? zugrenzen? Tatsächlich fehlt in gewissen Kreisen neben dem Lobpreis Ich stelle hohe Ansprüche an meine Texte. Ich möchte, dass häufig die Klage. Wer beides zum Ausdruck brachte, war Paul jedes Wort sitzt und dass es etwas wohlklingendes Harmoni- Gerhardt, dessen Choräle ich sehr liebe. Sie verleiden einem sches gibt. Sprache muss natürlich und soll nicht gekünstelt nie! Es ist ja unfassbar, was dieser Mensch durchgemacht sein. hat. Er war ganz lange arbeitslos, verlor Frau und Kinder. Es 12 - Magazin INSIST 02 April 2019
THEMA tobte der 30-jährige Krieg. Erlittene Lieder werden nicht ein- den. Deshalb liess ich mich nach sieben Jahren Pfarramt in fach mal so schnell dahingetextet. Sie werden aus einer gros- humanistischer Psychotherapie ausbilden und sattelte um. sen inneren Tiefe heraus geboren. Nun ergänzt sich alles von selbst: In einigen Freikirchen habe ich Zur inneren Reife und Psychologie, Seelsorge, Theologie, tatsächlich erlebt, dass da eine Ver- Sprachkunst – alles fliesst ineinan- kürzung stattfindet. Karfreitag wird damit zu Kreativität finden der. gerne übersprungen. Zu schnell ist wir nur, wenn wir uns den Eigentlich haben mich zwei Dinge Ostern, sehr schnell ist man beim Hal- immer besonders ausgemacht: die leluja. Einen schmerzfreien Glauben Abgründen des Lebens Freude an der Sprache und das grosse gibt es aber nicht. Die Wirklichkeit stellen. Interesse am leidenden Menschen. unserer Leiderfahrungen wird zu we- Ich publiziere inzwischen über 40 nig ernst genommen. Zur inneren Reife und damit zu Kreati- Jahre und die Verlage haben trotz dem Nischendasein der vität finden wir aber nur, wenn wir uns den Abgründen des Lyrik meine Texte immer gerne gedruckt. Derzeit schreibe Lebens stellen. ich an einem Sachbuch zum Thema Trauer. Woran leiden oder drohen Menschen zu zerbrechen, die in Geben Sie Ihren Klienten den Hinweis, sich die Dinge von der Ihre Praxis kommen? Seele zu schreiben? Das sind zwischenmenschliche Nöte, schwierige Prägun- Ich schaue, für wen es passt. Es ist nicht für jeden ein Weg gen, Selbstwertprobleme, Ängste und Depressionen oder und muss auch nicht so sein. Für alle aber ist wichtig: Das Hochsensibilität. Aber auch unglückliche Partnerwahl oder Kreative sitzt nicht einfach im Kopf. Die Frage ist doch: Wie schwere Krankheit. kommen wir vom Kopf in tiefere Schichten, in das, was in uns leben will? Der ganze Mensch – Leib, Seele und Geist – Wir schieben diese Themen im Gemeindekontext gerne bei- will berührt sein. Spiritualität ist ebenfalls ein wichtiger Fak- seite. Sind wir leidfeindlich? tor, der den Heilungsprozess fördert! Es sei denn, dass ein Ja, das ist so. Das führt dazu, dass es für betroffene Men- Mensch ein negatives Gottesbild hat. schen sehr schwer ist, in der Gemeinde darüber zu sprechen. Zur Spiritualität gehört viel Stille, denn sonst kann sie Sie spüren: Damit sollte ich jetzt lieber nicht kommen, das nicht aufblühen. Diese muss man suchen, sonst kann das stört. Christen bringen sich aber um ganz wesentliche Reife- Kreative nicht anklopfen. Neben der Stille braucht es aber prozesse, wenn sie Leid nicht integrieren. Dabei rede ich aber auch dringend die Begegnung mit Menschen. nicht einer Leidensseligkeit das Wort. Wo man Leid bekämp- fen kann, sollte man es tun. Mit ganzer Kraft und grosser Ent- Jemand sagte mir neulich: Wenn alles andere nicht mehr schiedenheit. Aber es gibt auch Leid, das man nicht abwen- geht, selbst die Bibel nicht, Naegeli geht immer! den kann. Wenn das passiert, dann freue ich mich natürlich! Sehen Sie, es gibt so viele verletzte Menschen, die brauchen Zartheit. Kann Lyrik zu einer Heilung im therapeutischen Prozess bei- Die dürfen nicht überfordert werden. Es gibt im christlichen tragen? Kontext einen Mangel an Behutsamkeit, der mich friert. Wir Ich persönlich mache keine Heilungsversprechen. Ich versu- ahnen gar nicht, wie gross die Bedürftigkeit nach Zartheit ist, che mich einzufühlen und mit dem anderen zusammen nach gerade wenn es Menschen nicht gut geht. dem Heilsamen zu suchen, das speziell für ihn eine Hilfe be- deutet. Hoffnung kann ich nicht vermitteln, sondern nur zu wecken versuchen. Es gibt so viel Leid, das aber auch verwandelt werden kann in fruchtbares Leben. Verwandeln heisst aber nicht, dass es nicht mehr wehtut. Und es ist gut zu wissen: Keiner ist nur gesund, aber keiner ist nur krank. Wenn ich einen Menschen länger begleite, entdecke ich auch das Schöne, das er in sich trägt. Ich freue mich, wenn er es zu erkennen beginnt. Sie dienen Menschen auf unterschiedlichste Weise. Wie kam (DGe) Sabine Antje Naegeli ist Sprachkünstlerin, Theologin und Psychotherapeutin und arbeitet seit über 30 Jahren in es dazu? St. Gallen in eigener Praxis. Schon als Kind fühlte sie sich zu In meiner Arbeit als Pfarrerin kam für mich die Seelsorge zu schöner Sprache hingezogen und arbeitete für eine Kinderzeitung. Sie studierte Theologie und war mit viel kurz. Meine Arbeit drohte zu fragmentieren: Religionsunter- Freude im Pfarramt. Da dort für den leidenden Menschen zu richt erteilen, eine Sitzung nach der anderen leiten. Es war wenig Zeit blieb, liess sie sich zur Psychotherapeutin auch kaum Raum für das, was mir am Herzen lag. Ich fühl- ausbilden. Naegeli ist Autorin zahlreicher Bücher. Das Schreiben und die Freude an der schönen Sprache haben sie te mich nicht genügend vorbereitet auf die Nöte, die es so das ganze Leben begleitet. gibt. Ich musste Schwerpunkte setzen und mich entschei- 02 April 2019 Magazin INSIST - 13
THEMA Jonas Baumann-Fuchs arbeitet als Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP), verfügt über einen Executive Master of Andreas Tschopp ist Facharzt für Plastische, Rekonstruktive und Business Administration (EMBA), ist Sozialunternehmer, Ästhetische Chirurgie FMH in der Klinik im Spiegel in Bern, die diplomierter Seelsorger, Coach/Supervisor und er vor 16 Jahren mitbegründete. Organisationsberater und seit 2008 Stadtrat in Thun. b andreas.tschopp@klinikimspiegel.ch b info@kultivierer.ch O www.klinikimspiegel.ch O www.kultivierer.ch INNERE UND ÄUSSERE SCHÖNHEIT Wahre Schönheit ist nicht perfekt Interview: Daniela Baumann | Es geht um Menschen, ihr Dasein, ihr Glück, ihr Empfinden, ihre Sehnsucht: Im Gespräch mit dem plastischen Chirurgen Andreas Tschopp und dem Psychotherapeuten Jonas Baumann-Fuchs wird deutlich, wie stark die beiden Berufsfelder beim Thema Schönheit ineinandergreifen und dass der Chirurg nicht selten auch ‹Psychologe› ist. Magazin INSIST: Was macht einen schönen Menschen aus? te mit und stören sich täglich an ihrem ‹Makel›. Das sind für Jonas Baumann-Fuchs: Bei der Entwicklung der eigenen mich gute Indikatoren für ihren subjektiven Leidensdruck. Identität geht es um eine Balance, eine Verbindung zwischen Objektiv stütze ich mich auf eine Art westlichen Kanon von innerer und äusserer Schönheit. Sie bedingen sich gegensei- ästhetischen Massstäben, etwa den Goldenen Schnitt. Da- tig, bergen aber auch die Gefahr, dass man sozusagen ‹von neben verlasse ich mich aber auch auf meine Erfahrung und beiden Seiten vom Ross fällt›: dass man auf der einen Seite mein eigenes ästhetisches Empfinden. zu stark nur die inneren Werte betont oder auf der anderen Seite Äusserlichkeiten übertreibt. Wer schön ist, aber keine J. Baumann-Fuchs: Alles, was wir tun, ist mit Empfindungen Ausstrahlung hat, der ist nicht in einem ganzheitlichen Sinn und Bewertungen verbunden, die persönlich gefärbt sind. Als schön. Schönheit muss nicht per- Therapeut nehme ich die Sorge fekt sein; etwas zu Perfektes be- Schönheit ist wie ein ‹Tagtraum eines Klienten in seinem subjek- rührt uns nicht direkt, weil es tiven Empfinden ernst, ohne sie nicht menschlich ist. des Lebens›: etwas, das man meinerseits zu werten. Ich beglei- nicht rational erfasst, sondern te ihn im Prozess, seine Schön- Andreas Tschopp: Die Forschung primär erfährt. heit zu erkennen und seine Iden- hat sogar gezeigt, dass Durch- tität zu entwickeln, mit dem Ziel, schnittlichkeit am attraktivsten ist. Zum Beispiel wird Sym- Leiden zu vermindern und Wohlbefinden zu verbessern. Die- metrie grundsätzlich als attraktiv eingestuft, aber perfekte ser Prozess ist nicht objektivierbar, sondern stark vom Indi- Symmetrie löst Unbehagen aus, da sie dem Lebendigen wi- viduum mit seiner Geschichte und Lebenswelt geprägt. derspricht. Ich finde ausserdem den Begriff der Harmonie wichtig: dass der Mensch in einem Gleichgewicht ist. Kommt es vor, dass Ihr eigenes Empfinden und dasjenige des Patienten nicht übereinstimmen? Welche Rolle spielen objektive Kriterien, aber auch die sub- A. Tschopp: Ja, ich muss sensibel sein für verzerrte Selbst- jektive Wahrnehmung in Ihrer Arbeit? wahrnehmungen, die von aussen nicht nachvollziehbar sind. A. Tschopp: Aus meiner Sicht sind die Anliegen, mit denen Wenn jemand eine nur geringfügige Korrektur wünscht und Menschen zu mir in die Praxis kommen, häufig eine ‹Laune gleichzeitig einen sehr hohen Leidensdruck empfindet, ist der Natur›, eine Variante von der Norm, die durchaus hübsch das für mich ein Zeichen für eine Wahrnehmungsstörung. und interessant ist. Doch der Respekt vor der subjektiven Wahrnehmung der Patienten ist sehr wichtig. Denn häufig J. Baumann-Fuchs: Es gibt Menschen, die sich in einem bringen sie tatsächlich eine mehrjährige Leidensgeschich- ungesunden Mass mit ihrem Körper auseinandersetzen, 14 - Magazin INSIST 02 April 2019
THEMA ysmorphophobie genannt, und von einer Operation den D J. Baumann-Fuchs: Schönheit ist insofern ein Thema, als ich grossen Wandel des Lebens, das grosse Glück erwarten. Da- sie nicht rein ästhetisch definiere, sondern damit verbin- hinter stecken eine Sehnsucht und eine Vorstellung von Le- de, dass Menschen eine Ausstrahlung haben, mit dem Um- ben und Glück, die sich so nicht erfüllen lassen. Fairerwei- feld interagieren und das Leben kreativ und positiv gestal- se muss ein plastischer Chirurg genau hier vorsichtig sein, ten können. Wenn jemand daran scheitert, strahlt er oder sie denn die äussere Schönheit schafft es nicht, allfällige innere auch keine Attraktivität mehr aus. Defizite zu kompensieren. Kann auch etwas schön sein, das von der Norm abweicht? Herr Tschopp, inwiefern sind falsche Hoffnungen ein Thema J. Baumann-Fuchs: Definitiv! Alles, was normiert ist, wird ir- in Ihrem Arbeitsalltag? gendwann langweilig. Schönheit braucht immer auch Indivi- A. Tschopp: Eine meiner Haupttätigkeiten ist es, Erwartun- dualität und neue Impulse. Die heutige gesellschaftliche Re- gen auf ein realistisches Mass herunterzuholen. Häufig wird alität fördert jedoch den Normierungsdruck: Nicht zuletzt der Wunsch nach einem ästheti- durch die auf Social Media in- schen Eingriff von einem wich- Äussere Schönheit schafft es szenierte Schönheit nimmt der tigen Lebensereignis ausgelöst, Zwang zum Perfektionismus in zum Beispiel dem Verlust des nicht, allfällige innere Defizite allen Bereichen zu. Menschen, die Partners. Die Person muss sich in zu kompensieren. den Idealen nicht entsprechen, dieser Situation neu orientieren geraten in Stress und Selbstzwei- und definieren. Ich investiere meist mehr Zeit in Gespräche fel. Ich wünschte uns vermehrt den Mut, auch Unperfektes – als in die Operation selber. Als Arzt versuche ich, jeden Pa- das letztlich menschlich ist – stehen lassen zu können. tienten in seiner Ganzheit zu erfassen und abzuschätzen, ob eine Operation, die nicht zwingend ist, im jeweiligen Kontext Stellen Sie Veränderungen in den Vorstellungen von Schön- Sinn macht. In etwa 20 Prozent der Fälle sehe ich – zumin- heit im Verlauf der Zeit fest? dest vorerst – von einem Eingriff ab. Kürzlich riet ich einer A. Tschopp: Ich sehe vor allem konstante Schönheitsmerk- Frau, die mit Kindern, eigenem Geschäft und dem Tod ihrer male, mit denen 90 Prozent der Menschen zufrieden wären. Mutter an ihre Grenzen stiess, zuerst Rat bei einer Psycholo- Es gibt Tendenzen, eine Evolution, aber keine Revolution von gin zu suchen. Schönheitsidealen. Die Hemmschwelle, einen Eingriff vorzu- nehmen, ist jedoch gesunken und das Angebot hat zugenom- J. Baumann-Fuchs: Dieses Beispiel zeigt, dass es wichtig ist, men. die innere und die äussere Seite von Schönheit nicht gegen- einander auszuspielen. Wer zu mir in die Praxis kommt, sagt Der Theologe Peter Henning schreibt (siehe Seite 9), dass der zwar nicht, sie oder er wolle schöner werden. In meinem Me- Glaube einem die Sinne für das Schöne öffne. Können Sie die- tier spricht man eher von Identitätsentwicklung, Erlangung se Erfahrung aus Ihrem Berufsalltag teilen? von psychischer Stabilität, Kompetenztraining oder mo- A. Tschopp: Alle Sinne dienen dazu, Schönheit wahrzu- dern ausgedrückt Selbstmanagement – allesamt Faktoren, nehmen. Glaube sehe ich als eine von vielen Möglichkei- die für die Zufriedenheit wichtig sind. Das ist die Grundlage, ten, Schönheit zu finden. Spiritualität ist allerdings in mei- um allenfalls auch äusserlich eine Veränderung anzugehen. nen Gesprächen selten ein Thema, obwohl ich auch schon Es kommt zwar kaum vor, dass ich einen Klienten an einen gläubige Menschen operiert habe. Selten äussern Patien- plastischen Chirurgen weiterverweise. Aber ich habe auch ten gewisse Vorbehalte gegenüber einer Operation, weil sie schon Menschen mit auffälligen Körpermerkmalen begleitet. denken, dass sie sich so akzeptieren sollten, wie Gott sie ge- Da lohnt sich die Abklärung, ob ein Eingriff zielführend ist, schaffen hat. um dieser Zweiseitigkeit von Innerem und Äusserem gerecht zu werden. Eine Operation kann dann durchaus ein Bestand- J. Baumann-Fuchs: In der Schönheit steckt auch Vergäng- teil einer positiven Identitätsentwicklung sein. lichkeit: Jede Blume verwelkt irgendwann. Identität muss irgendwoher kommen. Die Liebe und Anerkennung, die der Inwiefern ist Schönheit überhaupt ein explizites Thema in Mensch im Glauben erhält, schaffen einen Wert, der es ihm der Arbeit mit Ihren Klienten? erlaubt, seine Identität – auch ausserhalb von Normen – A. Tschopp: Schönheit spiegelt sehr viele Facetten unserer und damit auch seine Schönheit zu entwickeln und zu se- Existenz; sie ist wie ein ‹Tagtraum des Lebens›: etwas, das hen. Zudem denke ich, dass wir die Erfahrung des Schönen man nicht rational erfasst, sondern primär erfährt. In diesem brauchen, um auch das Leiden auszuhalten. Diese Erfahrung philosophischen Sinn ist Schönheit in meinem Arbeitsalltag kann in einer Gottesbeziehung stattfinden, aber auch in Be- kein Thema. Ich bin dankbar, dass man von mir nicht erwar- gegnungen mit Menschen oder in Naturerlebnissen. Beson- tet, dass ich in einem umfassenden Sinn Schönheit geben ders bei Menschen, die sehr schwierige Situationen erlebt kann, und dass ich sie auf konkrete Makel herunterbrechen haben, ist spürbar, wie die Verankerung in einer gesunden kann, die ich zu korrigieren weiss. Auf dieser konkreten Ebe- und über das Körperliche hinausgehenden Identität ihnen ne ist das Thema Schönheit aber natürlich präsent. Kraft gibt, über ihr Leiden hinwegzukommen. 02 April 2019 Magazin INSIST - 15
THEMA Namenloser Bach an einem regnerischen Frühsommertag im Kanton Waadt 16 - Magazin INSIST 02 April 2019
THEMA OBJEKTIVE SCHÖNHEIT Schönheit in der Sehnsucht nach Versöhnung Wenig verdeutlicht den Mangel an Objektivität in der Ästhetik wie die Vergänglichkeit von Modetrends. Im Fremdschä- men beim Anblick von Modesünden vergangener Dekaden geht oft vergessen, dass diese einst vermeintlich «objektiv» der letzte Schrei gewesen sein müssen. Auf die Frage nach den Bedingungen des Schönen gibt es offensichtlich keine ein- fache Antwort. Mode ist nur ein Mittel zum Zweck der Aufwertung der ei- kürliche Abscheu vor dem, was uns tatsächlich gefährlich genen Schönheit. Der Satz, dass Schönheit im Auge des Be- werden könnte. trachters läge, zeugt davon, dass Menschen sich der Eigen- Die Überhöhung äusserlicher Attraktivität als evolutionär willigkeit des Ästhetischen bewusst sind. Das Objektive liegt geprägte Vorsortierung des Nächsten in Partner oder Gegner im Subjektiven. Dennoch würden die wenigsten einer völli- verweist auf die unreflektierte «zweite Natur» in uns: Etwas gen Beliebigkeit des Schönen das Wort reden. Wäre Schön- sozial Konstruiertes vermag Zwänge und Ängste zu erzeu- heit vollständig relativ, gäbe es keine Referenz, keinen so- gen, als drohe der Ausschluss aus der Gemeinschaft, wenn zialen Lernprozess, der Menschen dazu bringt, heute Dinge wir den Konventionen nicht entsprechen. Die existenzielle schön zu finden, die gestern als unattraktiv galten. Dimension ist im Zeitalter von Instagram gewachsen, da sich das vermeintlich «objektiv» Schöne durch global gesammel- Schönheit ist mehr als Attraktivität te Likes ins Recht gesetzt sieht. Schönheit wird so verding- Sind die Schönheit von Menschen und die Schönheit der Na- licht zu einer Ware, mit dem Resultat, dass wir uns selbst tur überhaupt mit demselben Begriff objektiv zu fassen? Die nach dem Zuspruch der Welt bemessen lernen. Ästhetik macht da zunächst keinen Unterschied. Die Frage nach den notwendigen Bedingungen des sinnlich als schön Schönheit weist auf eine versöhnte Welt Erfahrenen ist nicht neu. Platon lässt im «Symposion»1 sei- Doch wie verhält es sich mit der Schönheit der Natur, wie sie nen Lehrer Sokrates Eros als Begehren des Schönen zum uns vielleicht bei Sonnenuntergängen begegnen mag? In der Zwecke des Schönwerdens definieren. Schönheit erschöpft «Ästhetischen Theorie» Adornos2 entspringt die Sehnsucht sich hier nicht allein in Äusserlichkeit, sondern weist darü- des Menschen nach Orten absichtsloser Schönheit der Ah- ber hinaus, auf «das göttlich schöne selbst in seiner Eigenar- nung einer versöhnten Welt. In diesen projiziert sich das ver- tigkeit». loren gegangene und noch nicht wieder gefundene Paradies. Die heutige Attraktivitätsforschung belässt es pragma- Der Versuch, diese Orte abzubilden, so Adorno am Beispiel tisch bei der Frage danach, was Menschen objektiv anzie- des «gemalte(n) Matterhorns», wird notwendig zum Kitsch, hend macht. Mithilfe von Evolutionspsychologie und Neuro- weil so das Schöne zu einem weiteren Ding gemacht wird. biologie werden die anthropologischen Bedingungen von Darin sieht Adorno die Parallele zum alttestamentlichen Schönheit analysiert und so die mutmassliche Attraktivität Bilderverbot. Die Sehnsucht sei legitim. «Das Naturschöne von Menschen vermessen. Markierungen wie Jugendlich- bleibt Allegorie dieses Jenseitigen.» Es weist über sich hi- keit, Symmetrie, Proportionalität, Hautbild, Körpergeruch naus auf die Versöhnung und rührt das Subjekt, das diese und ähnliches werden dabei auf ihre kulturübergreifende nicht erzwingen kann, ohne zu freveln. Rolle hin untersucht. Es ist dieses Berührtwerden, das tiefer geht als evoluti- Diese Reduktion des Schönen vermag die Ganzheitlich- onspsychologisch erklärbare Reflexe, das dem Begriff des keit des Menschen nicht zu erfassen. Visuelle Attraktivität objektiv Schönen näherkommt als die Parameter der Attrak- bedient vielleicht biologische Reflexe, ersetzt aber nicht Be- tivität. Zugleich bewahrt es aber auch das Geheimnis des ziehung zum Nächsten, die auf intersubjektiver Begegnung Schönen in seiner Eigenartigkeit. gründet. Da war Platon weiter, der den äusserlich unattrakti- ven Sokrates für dessen innere Schönheit pries. Die primäre Alexander Arndt hat Geschichte, Literatur- und Bindung des neugeborenen Kindes an die Eltern wird nicht Kulturwissenschaft studiert und promoviert zurzeit. Er ist in der Erwachsenenbildung tätig und arbeitet als Online- von der Frage getrübt, ob diese den Schönheitsidealen der Redaktor für das «Jerusalem Center for Public Affairs». Gesellschaft entsprechen. Die Hinwendung Jesu zu den b alex.arndt@gmx.net durch optische Versehrtheit als gesellschaftlich «Tote» ge- zeichneten Aussätzigen transzendiert sogar die ganz unwill- 2 Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bd 7, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M., 1 Platon: Symposion, München, 2008 1997, Suhrkamp Verlag 02 April 2019 Magazin INSIST - 17
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