Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz

 
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Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
April 2019 #02

                                                Inspiriert denken – glauben – handeln

ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA      Schönheit
Theologie                              Natur                       Diakonie
Der dreifaltige Gott                   Der Schönheit des Moments   Die Schönheit unter dem
selbst ist schön                       auf der Spur                Dreck des Lebens
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
INHALT

                                                                                                              		 04 Forum/Humor

                                                               Bildende                                       05       Kolumnen
                                                               Kunst                                          		 05 Transformation Global: O schöne neue Welt
                                                               «Bilder müssen nicht                           		       06 Bildende Kunst: Ist Kunst nur eine Frage
                                                               immer schön aussehen,                        		         der Schönheit?
                                                               aber können ihre                               		       07 Naturwissenschaften: Liegt Schönheit
                                                               Schönheit in der Kraft                       		         im Auge des Betrachters?
                                                               der Wahrheit, die hinter
                                                                                                              		       25 Wirtschaft: Von den anvertrauten Pfunden
                                                               ihnen steckt, finden.»
                                                                                                              		       26 Pädagogik: Wir bilden die Zukunft
                                                               Patrik Alvarez
                                                               auf Seite 6                                    		       27 Diakonie Schweiz: Die Schönheit unter
                                                                                                            		         dem Dreck des Lebens

                                                                                                              		       28 Interkulturell: Bete weiter für mich!

                                                                                                              		       29 Kurzrezensionen

                                                                                                              		       30 Bibel: Sechsmal gut gibt sehr gut

Lyrik                                                                                                         		       31 Intern

«Erlittene Lieder werden
nicht einfach mal so schnell
dahingetextet. Sie werden                                                                                     08       Thema: Schönheit
aus einer grossen inneren
                                                                                                              		09 Peter Henning
Tiefe heraus geboren.»
                                                                                                                       Von der Schönheit des Glaubens
Sabine Antje Naegeli
                                                                                                              		       12 Interview mit Sabine Antje Naegeli
auf Seite 12
                                                                                                            		«Einen schmerzfreien Glauben gibt es nicht»

                                                                                                              		       14 Interview mit Jonas Baumann-Fuchs und
                                                                                                            		         Andreas Tschopp
                                                                                                            		Wahre Schönheit ist nicht perfekt

                                                                                                              		       17 Alexander Arndt
                                                                                                            		Schönheit in der Sehnsucht nach Versöhnung

                                                           Bibel                                              		       18 Umfrage
                                                                                                            		Schönheit und Gebrochenheit müssen
                                                           «Die Schöpfung ist optimal,                      		         nicht unversöhnbar bleiben

                                                           vollkommen, perfekt! Aber                          		       21 Barbara Haefele
                                                           nicht wegen der Perfektion                       		Gott will die Farben des Lebens aufleuchten lassen

                                                           des Einzelnen, sondern auf-                        		       22 Daniela Baumann
                                                           grund des Zusammenspiels                         		Der Schönheit des Moments auf der Spur

                                                           der Einzelnen.»
                                                           Martin Benz
                                                           auf Seite 30

      Vorschau: 3/19
                                                                                                                       Das Magazin INSIST erscheint 4x jährlich.
      Angst

      Impressum

      Verlag: Schweizerische Evangelische Allianz SEA, Tel. +41 43 344 72 00, info@each.ch. Co-Redaktionsleitung: Daniela Baumann, Kommunikationsverantwortliche SEA,
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      on: Daniela Baumann, Dorothea Gebauer, Rolf Höneisen, Marc Jost, Ruth Maria Michel, Hanspeter Schmutz. Layout: mj.design, Matthieu Jordi. Druck/Versand: Jordi das
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      Versandkosten für vier Ausgaben (Richtpreis auf Spendenbasis). Inserate: Jordi AG, 3123 Belp, Tel. +41 31 818 01 26, inserate@insist.ch. ­Insertionsschluss: Nr. 3/19: 19.8.19.
      Bilder: Seite 1, 8, 11, 16, 20 & 22 © Martin Mägli; Seite 5 © stockphotosecrets.com; Seite 6 © Papamanila/Wikimedia; Seite 7 © pexels.com; Seiten 12/13 © Dorothea Gebauer;
      Seite 12 © stockphotosecrets.com; Seite 14 © Daniela Baumann; Seite 18 zVg; Seite 21 zVg; Seite 23 © Daniela Baumann; Seite 25 ­© nuvolanevicata/AdobeStock;
      Seite 26 © pexels.com; Seite 27 © stockphotosecrets.com; Seite 28 zVg; Seite 30 © stockphotosecrets.com; Seite 31 SEA

2 - Magazin INSIST         02 April 2019
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
EDITORIAL

Schönheit, die unter
die Haut geht
Im Zugabteil erzählt eine Teenagerin ihrer Kollegin von ihren Sorgen über ihr erstes Tattoo, das sie
sich unter der linken Brust am Bauch stechen lassen möchte. Sie äussert ihre Ängste, ob es dann
wirklich schön komme, ob es ihr auch später gefallen und ob es im Sommer im Strandbad auch gut
bei anderen ankommen werde. Ihre Kollegin versucht sie zu beruhigen. Sie scheint Erfahrung damit
zu haben. Wichtig sei einfach, dass sie ein Sujet auswähle, das eine positive Botschaft verbreite. Und
das werde ganz bestimmt schön herauskommen.

                               Das Gespräch zeigt mir einiges auf in Bezug auf unser Thema
                               Schönheit. Ob man Tätowierungen grundsätzlich schön findet, ist
                               offenbar eine relative und sehr persönliche Frage. Mir gefallen Tat-
                               toos nicht wirklich. Und ich vermute, dass es sogar eine Generati-
                               onenfrage sein könnte. Ich kenne relativ wenige Menschen über 55
                               Jahren mit einem Tattoo. Aber auch wenn man sich einig sein sollte,
                               dass Tätowierungen eine gute Sache sind, gibt es anscheinend so et-
                               was wie ein allgemeines Schönheitsempfinden in der Öffentlichkeit
                               – oder eben im Strandbad. Nun, ich will ja keine Debatte zu Tattoos
                               lostreten. Das Beispiel führt mich aber wunderbar zu verschiedenen
                               Aspekten der aktuellen Ausgabe von INSIST.

                            Wir gehen der Frage nach Schönheit nicht nur oberflächlich – sozu-
                            sagen auf der Hautoberfläche – nach, sondern schürfen wie üblich
                            tiefer mit unseren Beiträgen. Wir fragen nach der schöpferischen
Schönheit, nach dem Zusammenhang von gut und schön oder nach dem Umgang mit Ästhetik im
Leben des Menschen generell. Zudem dürfte Sie interessieren, weshalb vor rund 1000 Jahren ein
Fürst durch die Schönheit von Gottesdiensten zum christlichen Glauben fand. Sie finden die Ge-
schichte im theologischen Beitrag.

Darüber hinaus haben wir das Thema in dieser Ausgabe nicht nur mit Worten zu fassen und zu be-
schreiben versucht, sondern der «Schönheit» mehr Bilderseiten als üblich gewidmet. Unsere Chef-
redaktorin hat den Fotografen Martin Mägli auf einer seiner Entdeckungsreisen schöner Natur-
und Landschaftsphänomene begleitet und ihm auch die Frage nach der Schönheit gestellt: Schön
ist für den Fotografen die «intakte und unberührte Natur». Wie sieht dies wohl für den plastischen
Chirurgen aus? Auch das erfahren Sie bei uns, wenn dieser sich mit einem Psychotherapeuten
über innere und äussere Schönheit unterhält.

Marc Jost

Generalsekretär SEA

                                                                           02 April 2019   Magazin INSIST - 3
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
FORUM/HUMOR
                                                                                                       Februar 2019 #01

                                                                                                      Inspiriert denken – glauben – handeln

    Leserbriefe                                       ISSN-Nr. 1662-4661 / Schweizerische Evangelische Allianz SEA                 Macht

                                                                                                                                                                                       Humor
    (Magazin 1/19 zum Thema «Macht»)
                                                      Leitsätze                              Philosophie                  Kirchen
                                                      Umgang mit Macht                       Die Macht, die alles         «Wir sind nie mit reinen
                                                                                             überwindet                   Motiven unterwegs»

                                                INSIST_01_2019_v1.indd 1                                                                             05.02.19 18:38

    Macht ausüben heisst Menschen dienen       seiner Mitarbeitenden angewiesen ist.
    Bei der Zusammenstellung der Beiträ-       Dadurch entsteht ein Miteinander und                                                                                                    Ein Fränkli für Gott
    ge zum Thema Macht hätte man mei-          Füreinander, vergleichbar mit einer                                                                                                     (KMe) Die Jugendgruppe sammelt
    nes Erachtens einen wichtigen Aspekt       funktionierenden Familie, welche die                                                                                                    für einen guten Zweck und geht
    noch mehr hervorheben können. Per-         Basis ist, um gemeinsam im Reich Got-                                                                                                   dafür von Tür zu Tür. Martin läutet
    sönlich sehe ich in der uns von Gott und   tes etwas Nachhaltiges zu bewegen.                                                                                                      an der Wohnungstür und fragt:
    den Menschen anvertrauten Macht die                                                                                                                                                «Geben Sie auch einen Franken für
                                               Hanspeter Nüesch, Campus für Christus, Boppelsen
    schöne Aufgabe, andere zu bevollmäch-                                                                                                                                              den lieben Gott?» Der ältere Mann
    tigen und ihnen ihren Reichtum zu zei-                                                                                                                                             kratzt sich am Kopf, dann fragt er
    gen. Ist es nicht eine zentrale Aufga-     Eine andere Form von Macht                                                                                                              Martin: «Wie alt sind Sie?» Martin
    be von Leitenden, durch Übertragung        Die verschiedenen Beiträge zum The-                                                                                                     stolz: «Zwanzig.» – «Und ich bin im
    der Vollmacht wieder andere freizuset-     ma Macht sind sehr aufschlussreich.                                                                                                     September 87 geworden. Ich werde
    zen und zu Leitenden zu machen? Das        Nur am Rande wurde in einem Ne-                                                                                                         den lieben Gott früher sehen als
    bedeutet zuweilen Aufgaben und Ver-        bensatz erwähnt, dass ‹die Liebe eine                                                                                                   Sie und ihm das Fränkli persönlich
    antwortung weiterzugeben, die man im       Macht ist, die alle Machtverhältnisse                                                                                                   geben.»
    aktuellen Zeitpunkt selbst besser wahr-    überwindet›. Es wäre interessant gewe-                                                                                                  Quelle: Arnold Helbling, Wer viel lacht, lebt län-
    nehmen könnte. Wenn wir als Machtträ-      sen, dazu mehr zu lesen.                                                                                                                ger, Fribourg 1992, S. 29.

    ger die Macht gebrauchen, um die Gaben         Über die Liebe gibt es bedeutende
    der uns anvertrauten Personen zur Ent-     biblische Aussagen, z.B. im Hohelied,                                                                                                   20 Franken für die Polizei
    faltung zu bringen und sie immer mehr      der Bergpredigt oder mit der goldenen                                                                                                   Da fährt doch der Pfarrer mit
    in ihre göttliche Bestimmung hinein zu     Regel. Es sind Prinzipien und Haltun-                                                                                                   seinem Velo die Kirchgasse
    geleiten, dann stehen sie auch wieder      gen, die uns Christen eine andere Form                                                                                                  hinunter – freihändig. Aber er
    vollumfänglich hinter unserer Macht-       von Macht geben. Aus ihr fliesst die Au-                                                                                                hat nicht mit dem Dorfpolizisten
    ausübung. So habe ich es auf jeden Fall    torität, um uns im Alltag weise und mu-                                                                                                 gerechnet: «Das gilt auch für Sie,
    in über 40 Jahren Leiterschaft auf nati-   tig den (gesellschaftlichen) Herausfor-                                                                                                 Herr Pfarrer. Freihändig, das macht
    onaler und internationaler Ebene erlebt.   derungen zu stellen. Es ist ein Profil, mit                                                                                             Fr. 10.-.» «Irrtum, Herr Polizist, was
        Leiten bzw. Macht ausüben heisst       welchem wir der Beliebigkeit und dem                                                                                                    Sie nicht wissen können: Gott
    zuallererst den anvertrauten Menschen      Zeitgeist entschieden entgegentreten                                                                                                    lenkt für mich!» «Auch das noch»,
    dienen und sich von ihnen dienen zu        können. – Verantwortung zu überneh-                                                                                                     brummt da der Polizist, «Fahren
    lassen, wo der «Mächtige» die Ergän-       men und zu tragen, ist eine kostbare                                                                                                    zu zweit, da kommen noch Fr. 10.-
    zung und Hilfe benötigt. Ein in solcher    Vollmacht. Es ist auch unser Auftrag,                                                                                                   dazu, total Fr. 20.-.»
    Weise dienender Leiter ist auch ein        für Menschen in wichtigen Positionen                                                                                                    Quelle: Simone Rüd, Thomas Thali, Marie-The-
    lernbereiter und verletzlicher Leiter,     im Gebet einzustehen (Jer. 29,7).                                                                                                       res Ritter, Toni Bernet-Strahm (Hrsg.), Da lacht
                                                                                                                                                                                       selbst Petrus mit. Kirchenwitze aus dem Volk,
    weil er erkennt, dass er täglich auf die                                                                                                                                           Fribourg 1996, S. 56.
                                               Wolfgang Ackerknecht, EVP Thurgau, Frauenfeld
    Hilfe und Barmherzigkeit Gottes und

    stammtisch                                                                                                                                                                                                 Simon KrUSI 2/19

      LEER UND HÄSSLICH!              VOLL SCHÖN!                                                                                                                     HÄSSLICH LEER!                             SCHÖN VOLL!

4 - Magazin INSIST   02 April 2019
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
TRANSFORMATION GLOBAL

O schöne neue Welt
Während im Hintergrund Louis Armstrong in «What a wonderful world» die Schönheit der Welt in der Natur und im Leben
der Menschen besingt, fallen Bomben auf Dörfer, werden Zivilisten von Soldaten ermordet und Demonstranten brutal nie-
dergeknüppelt. Die Sequenz aus dem amerikanischen Spielfilm «Good Morning Vietnam» um einen US-Radiomoderator
in Hanoi während des Vietnamkrieges geht unter die Haut.

Das Übereinanderlegen zweier kont-
rastierender Sichtweisen auf die Welt
bringt auf poetische Weise ein Span-
nungsfeld zwischen der Schönheit des
Lebens auf der einen und seiner Wider-
wärtigkeiten auf der anderen Seite zum
Ausdruck. Oder anders gesagt: Die ur-
sprüngliche Schöpfung Gottes steht ih-
rer gefallenen Version gegenüber. Wäh-
rend in dieser Welt beide sichtbar sind,
scheint gerade in christlichen Kreisen
in den letzten 100 bis 200 Jahren eher
die Sichtweise dominiert zu haben,
                                           Christen haben einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung der Beziehung zwischen
dass wir vor allem auf Erlösung aus
                                           Mensch und Schöpfung zu leisten.
diesem irdischen Jammertal hoffen.
Das richtige, sprich ewige Leben findet    drei Erden. Mit den von uns verursach-           nicht nur Kulisse des Dramas zwischen
dann an einem ganz neuen und ande-         ten Treibhausgasen, zum Beispiel durch           Gott und Mensch, sondern leidet eben-
ren Ort statt.                             hohen Fleischkonsum oder ausgiebi-               falls unter den gestörten Beziehungen.
    Solch ein Weltbild kann zur Folge      ge Flugreisen, oder unserem Bedarf an            In den biblischen Berichten lesen wir,
haben, dass wir kaum Verantwortung         Konsumgütern und Energie leben wir               dass das Land infolge der Sünde des
übernehmen für das Geschehen in der        also deutlich über den Verhältnissen.            Menschen keine Früchte mehr hervor-
Welt und ängstlich darauf warten, bis          Dabei geht es nicht nur darum, dass          bringt. Wem das zu alttestamentlich
dieses Leben endlich vorbei ist. Auch      wir eines Tages keine Gletscher mehr             klingt, sei in Erinnerung gebracht, dass
die Zerstörung der Natur könnte man        werden bewundern können. In ande-                auch Paulus davon spricht, dass sich
sogar wohlwollend als Vorboten der er-     ren Weltgegenden fordert der Klima-              die ganze Schöpfung nach Erlösung
hofften neuen Welt willkommen heis-        wandel Tote, zum Beispiel dann, wenn             sehnt und Jesus den ganzen Kosmos –
sen. Ist dies möglicherweise ein Grund     Menschen auf dürren Böden ihre Le-               um das griechische Wort zu benützen
dafür, dass Skepsis an den menschli-       bensgrundlage verlieren und infolge              – mit sich versöhnt hat. Wenn wir also
chen Ursachen für den Klimawandel          knapper Ressourcen neue Konflikte                dreimal mehr Ressourcen verbrauchen,
gerade unter Evangelikalen in den USA      entstehen. Obwohl dies die Menschen              als der Planet hergibt, und uns das auch
ziemlich populär ist?                      landauf, landab vermehrt betroffen               noch relativ gleichgültig lässt, haben
                                           macht, hat es unser Parlament in der             wir ein grösseres Beziehungsproblem.
Wir leben deutlich über den                Wintersession des vergangenen Jahres                 So gesehen kommt Christinnen und
Verhältnissen                              nicht fertiggebracht, ein Gesetz zu ver-         Christen quasi als Versöhnungsexper-
In Europa ist die geschilderte Sichtwei-   abschieden, das die Reduktion unserer            ten die wichtige Rolle zu, dabei mitzu-
se weniger verbreitet. Vielmehr gehört     CO2-Emissionen gemäss den Vorgaben               helfen, dass auch die gestörte Bezie-
es mittlerweile zum medialen Main-         des Pariser Klimaabkommens regelt.               hung zur Schöpfung wiederhergestellt
stream, dass die globale Erwärmung ei-                                                      werden kann. Bislang kamen die Fah-
nes der grössten Probleme unserer Zeit     Ein grösseres                                    nenträger meist aus anderen Reihen.
ist. Dass wir daran schuld sind eben-      Beziehungsproblem                                Da die Herausforderungen aber nach
so. Was die Mehrheit der akademischen      In seinem Buch «Und mittendrin leben             wie vor gross genug sind, bleibt genü-
Forschung zum Thema herausfindet, ist      wir» zeigt der Autor Dave Bookless ein-          gend Raum für eine Reaktion.
erdrückend. Und zu den düsteren Zu-        leuchtend auf, dass die ökologische Kri-
kunftsszenarien tragen wir auch hierzu-    se auch eine wichtige geistliche Dimen-                        Olivier Tezgören ist Geschäftsführer
                                                                                                          des Verbandes christlicher Hilfswerke
lande bei. Wenn alle Menschen so leben     sion hat. Gott, die Menschen und der
                                                                                                          INTERACTION.
würden, wie wir das in der Schweiz tun,    Rest der Schöpfung befinden sich in ei-
bräuchte es die Ressourcen von knapp       nem Beziehungsdreieck. Die Natur ist                           b olivier.tezgoeren@interaction-schweiz.ch

                                                                                                          02 April 2019    Magazin INSIST - 5
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
BILDENDE KUNST

    Ist Kunst nur eine Frage
    der Schönheit?
    Kunst muss nicht schön aussehen, um schön zu sein. Denn ihre Schönheit kann auch darin bestehen, dass sie Wahrheiten
    und Botschaften vermittelt, die sinnstiftend zu unserer Erfahrung der Welt beitragen.

                                                                                                           non» einen Wendepunkt in der Malerei
                                                                                                           und Kunst des 20. Jahrhunderts. Als Pi-
                                                                                                           casso während des Zweiten Weltkriegs
                                                                                                           im von der deutschen Wehrmacht be-
                                                                                                           setzten Paris lebte, besuchte ihn der
                                                                                                           Deutsche Botschafter in seinem Ate-
                                                                                                           lier. Als er mit Verachtung das Bild
                                                                                                           «Guernica» betrachtete, das Picasso in
                                                                                                           Erwiderung zu den Luftangriffen der
                                                                                                           franco-spanischen und deutschen Luft-
                                                                                                           waffe gemalt hatte, fragte er: «Haben
                                                                                                           Sie das gemacht?» Und Picasso antwor-
                                                                                                           tete: «Nein, Sie haben’s getan.» Das Bild
                                                                                                           zeigt die Zerfleischung der Bewohner
    Das Bild «Guernica» von Pablo Picasso zeigt Bewohner des gleichnamigen spanischen Dorfes
    während eines Bombenangriffs 1937.                                                                     des spanischen Dorfes Guernica durch
                                                                                                           einen Bombenangriff im Jahr 1937.
    Ästhetik ist ein Begriff, der uns seit der             jektiven Geschmack zu urteilen, und                  Diese Anekdote vermittelt uns, dass
    griechischen Antike begleitet als die                  dem Wunsch, ein objektives Verständ-            Bilder nicht immer schön aussehen
    Lehre von der Wahrnehmung des Schö-                    nis des Kunstwerks zu erhalten, um die          müssen, aber ihre Schönheit in der
    nen. Für die alten Philosophen war                     Erfahrung von Kunst mit unserer Ver-            Kraft der Wahrheit, die hinter ihnen
    die wichtigste Rolle der Künste die Of-                nunft einzuordnen. Auch die Quali-              steckt, finden können. Ihre Botschaften
    fenbarung von göttlichen Wahrheiten                    tät einer Arbeit als Beurteilungskrite-         besitzen eine Kraft, die entweder faszi-
    und die besten Übermittler waren ih-                   rium von Schönheit hilft dabei nicht.           niert oder die Leute von den Bildern zu-
    rer Meinung nach nicht die bildenden                   Zu schwierig ist es, bei zeitgenössi-           rückdrängt.
    Künstler, sondern die Dichter. Später                  scher Kunst die Qualität einzuschätzen
    mit A. G. Baumgarten (1714 – 1762) ver-                und darüber zu reden. Diese Kontro-             Schönheit und Sinn
    schob sich die Bedeutung der Ästhe-                    verse beschreibt ganz mutig eine For-           Was uns in der Auseinandersetzung
    tik hin zu dem wissenschaftlichen Ver-                 schungsarbeit von Magnus Resch über             mit den Künsten helfen kann, ist die
    such, das Schöne über die Vernunft mit                 die Karrieren von einer halben Million          wesentliche Verbindung der Schön-
    der Erkenntnis der Wahrheit zusam-                     Künstlern. Sein Fazit ist, dass das Ge-         heit mit der Wahrheit. Auch wenn die-
    menzuführen. Nach Baumgarten sind                      rede über Qualität nicht massgeblich            se nicht schön aussehen muss, wie
    die Sinne «das Medium des Erkenntnis-                  sei für ein Kunstwerk oder eine künst-          bei Picasso, liegt ihre Kraft in der Bot-
    zugangs zur Wahrheit [...], deren Urteile              lerische Karriere. Entscheidend seien           schaft, die sie übermittelt, und diese
    eine eigene Qualität besitzen»1.                       einzig die Kontakte und das Netzwerk            trägt sinnstiftend zu unserer Erfahrung
                                                           des Künstlers mit Kunstinstitutionen,           der Welt bei. Abschliessend können wir
    Ist die Kunst heute schön?                             Sammlern und Fachleuten.2                       sagen, dass Kunst ihre Funktion in dem
    Wie sieht die Kunst heute aus? Können                      Heisst das, dass es uns nicht mehr          Streben findet, das Trinom Schönheit
    wir, wenn wir uns in den Räumen un-                    kümmern muss, ob Kunstwerke schön               – Wahrheit – Bedeutung zu verbinden.
    serer Kunstmuseen oder Galerien be-                    sind? Dürfen wir ohne Gewissensbisse            Denn nur die Wahrheit macht Sinn und
    wegen, noch die Schönheit erkennen                     Kunstbanausen bleiben?                          das ist schön.
    und wenn ja, welches sind die Kriterien,
    die uns etwas als schön einstufen las-                 Das Beispiel Picasso
    sen? Wir finden uns im Dilemma zwi-                    Der spanische Maler schuf 1907 mit
    schen dem Hang, nach unserem sub-                      dem Gemälde «Les Demoiselles d’Avig-                        Patrik Alvarez (1982) ist freischaffender
                                                                                                                       Künstler und Kunstvermittler. Er wohnt
                                                                                                                       und arbeitet in Basel.
    1
     Schneider, Norbert: Geschichte der Ästhetik von der   2
                                                            https://www.monopol-magazin.de/magnus-resch-
    Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart, 1996, P.    erfolg-kunstmarkt-studie?photo=0#slideshow
    Reclam                                                 (25.2.2019)                                                 b info@patrikalvarez.ch

6 - Magazin INSIST      02 April 2019
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
NATURWISSENSCHAF TEN

Liegt Schönheit im Auge des
Betrachters?
Künstliche Intelligenz kann die Schönheit von Gesichtern bewerten. Das hat schon vor einigen Jahren ein Projekt der
ETH Zürich mit der Dating-App Blinq bewiesen. Doch hinter solchen Bewertungen stecken Vorstellungen von einem
Schönheitsideal, die vom kulturellen Umfeld und von Erfahrungen geprägt und daher nicht unveränderlich sind.

Will man der bekannten Redewendung                       metrische Gesichter bevorzugt als
Glauben schenken, liegt Schönheit im                     schön beurteilt werden. Das ist jedoch
Auge des Betrachters. Ob ich etwas                       nur bedingt richtig, wie der Psychologe
oder jemanden schön finde, ist Ge-                       Martin Gründl mit seinen Forschungs-
schmackssache. Und darüber lässt sich                    ergebnissen zeigt3. Die Symmetrie hat
bekanntlich vorzüglich streiten. Doch                    einen geringeren Einfluss als bisher
ist Schönheit tatsächlich so subjektiv,                  gedacht. Das gilt auch für die Durch-
wie uns das diese Redewendung glau-                      schnittlichkeit von Gesichtern: Aus
ben machen will? Oder gibt es nicht                      dem Durchschnitt vieler unattrakti-
doch ein allgemeines Schönheitsideal,                    ver Gesichter entsteht nicht urplötzlich
auf das jeder von uns anspricht?                         ein attraktives Gesicht. Das Ideal muss
     Das suggerierte vor einigen Jahren                  sich deshalb aus etwas anderem spei-
der Wirbel um eine Internet-Seite, die                   sen. Laut Gründl sind dafür Merkmale
aus einer Zusammenarbeit des Compu-                      verantwortlich, die auf Jugendlichkeit
ter Vision Labs (CVL) der ETH Zürich                     und Gesundheit schliessen lassen, zum
und der Dating-App Blinq entstanden                      Beispiel makellose Haut mit einem gu-
war. Unter faces.ethz.ch konnten sich                    ten Teint. Wichtig ist auch geschlechts-
Nutzer einem Schönheitscheck unter-                      spezifisches Aussehen. Frauengesich-
ziehen.1 Dazu lud man ein Foto von sich                  ter werden durch typisch feminine
hoch, anschliessend wurde man auf ei-                    Merkmale attraktiv, Männer tendenzi-
ner Skala eingestuft: von «gottgleich»                   ell durch – jedoch nicht zu stark ausge-
bis zu «hmm». Diese Einstufung gene-                     formte – maskuline Merkmale.                                Was ist für das menschliche Auge schön?
rierte ein Computer-Algorithmus, der
das Foto mittels künstlicher Intelligenz                 Ist Üppigkeit schön?                                        ist, wann wir ein Gesicht als schön oder
analysierte und entsprechend bewerte-                    Wir erahnen rasch, dass dieses Ide-                         nicht schön bewerten. In Studien mit
te2. Dahinter steckte die Annahme und                    al nicht absolut und unveränderlich                         ein- und zweieiigen Zwillingen konnte
die Vorgabe eines mehr oder weniger                      sein dürfte. Wenn wir uns Malereien                         sie nachweisen, dass für diese Bewer-
objektiven «Ideals», an dem sich der Al-                 und Skulpturen aus vergangenen Epo-                         tung nicht unsere Gene, sondern unse-
gorithmus orientieren konnte. Ohne                       chen ansehen, stellen wir fest, dass                        re Erfahrungen und unser kulturelles
dieses Ideal wäre eine Bewertung rein                    Frauen meist üppig dargestellt sind                         Umfeld entscheidend sind. Welche Ge-
willkürlich und zufällig.                                und deshalb wohl als schön angese-                          sichter wir schön finden, ist eine Frage
                                                         hen wurden. Und auch heute gilt in                          der Prägung.
Die Mehrheitsmeinung                                     vielen Kulturen im Gegensatz zu un-                              Die Redewendung hat also sowohl
bestimmt                                                 serer westlichen Kultur üppig(er) sein                      recht als auch unrecht. Die Schönheit
Dieses Ideal entpuppt sich bei genau-                    als schön. Schönheitsideale scheinen                        (zumindest von Gesichtern) liegt tat-
erem Hinsehen als ein statistisches                      nicht festgelegt, sondern wandelbar zu                      sächlich im Auge des Betrachters. Doch
Ideal. Es beruht auf der Bewertung von                   sein. Eine mögliche Erklärung für die-                      wie der Betrachter bewertet, was er
Gesichtern durch eine Gruppe von Test-                   ses Phänomen liefert Laura Germine                          sieht, wird durch seine persönlichen
personen. Was die Mehrheit als schön                     von der Harvard Medical School4. Sie                        Erfahrungen und seine kulturelle Um-
befindet, gilt als schön. Lange galt in                  wollte wissen, ob es genetisch bedingt                      welt beeinflusst und mitbestimmt.
der Attraktivitätsforschung die Annah-
                                                         3
                                                           Gründl, Martin: Determinanten physischer
me, dass durchschnittliche und sym-                      Attraktivität – der Einfluss von Durchschnittlichkeit,
                                                         Symmetrie und sexuellem Dimorphismus auf die
                                                         Attraktivität von Gesichtern, Regensburg, 2012,                          Beat Schweitzer ist Molekularbiologe
1
  Sowohl faces.ethz.ch als auch die Dating-App Blinq     verfügbar unter https://epub.uni-regensburg.                             und Theologe. Er ist Dozent für Ethik am
sind in der Zwischenzeit eingestellt worden.             de/27663/1/Habil_Gruendl_gesamt_093m.pdf (26.3.2019)
                                                                                                                                  Theologischen Seminar St. Chrischona (tsc).
2
  vgl. Rothe, Rasmus et al.: Some like it hot – visual   4
                                                           Germine, Laura et al.: Individual Aesthetic Preferences
guidance for preference prediction, 2015, verfügbar      for Faces Are Shaped Mostly by Environments, Not
unter http://arxiv.org/pdf/1510.07867v2 (26.3.2019)      Genes, 2015, Current Biology, 25 (20), 2684–2689                         b beat.schweitzer@tsc.education

                                                                                                                                  02 April 2019     Magazin INSIST - 7
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

                                               Schönheit

      Verschiedenfarbige Moose kurz nach der Schneeschmelze bei den Lacs de Fenêtre

8 - Magazin INSIST    02 April 2019
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

THEOLOGIE

Von der Schönheit des Glaubens
Das Sinnliche im christlichen Glauben hatte in der Geschichte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten eine
unterschiedliche Bedeutung. Zwar spricht die Bibel nicht von der Schönheit des Glaubens. Aber es gibt theologische
Gründe dafür, dessen ästhetische Aspekte neu zu entdecken.

Traditionell reformierte Frömmigkeit reagierte jahrhunder-     Hochamt feiert, Weihrauch anzündet sowie Gesänge und
telang allergisch, wenn sich der Glaube nicht allein auf das   Chöre erschallen lässt. Man erklärt ihnen die Schönheit der
Wort, Christus und die Gnade konzentrierte. Jegliche Ab-       Kirche, ihren Dienst für Gott und das Zelebrieren und Mi-
lenkung des Geistes etwa durch Schmuck, Bilder und schö-       nistrieren der Bischöfe und Diakone. Mit reichen Geschen-
ne Musik war verpönt. Im Gemüt und Empfinden von schö-         ken versehen, kehren die Russen zurück und erzählen ih-
ner christlicher Kunst angesprochen, innerlich bewegt und      rem Fürsten: «Wir zogen hin und her, fanden aber keine
sinnlich berührt zu werden, das wollte eine reformiert-pu-     Fröhlichkeit und Schönheit. Dann gingen wir zu den Grie-
ritanische Frömmigkeit nicht zulassen. Mit der barocken        chen und sie führten uns dorthin, wo sie ihrem Gott dienen.
Ausgestaltung seiner Kirchen hat                                                            Und wir wissen es nicht: Wa-
der nachreformatorische Katholi-           Wir stehen vor einem                             ren wir im Himmel oder auf der
zismus dann darauf reagiert – in                                                            Erde? Denn auf der Erde gibt
der Üppigkeit zwar oft übertrie-
                                          unauflösbaren Paradox:                            es solche Schau und Schön-
ben, in der Absicht aber wohl be-     Die Schönheit und Herrlichkeit                        heit nirgendwo. Wir können
rechtigt. Denn der Mensch ver-
                                           Gottes offenbart sich                            es nicht beschreiben. Wir wis-
kümmert, wenn er auf Dauer die                                                              sen nur, dass dort Gott mit den
Bedürfnisse seiner fünf Sinne ab-      im geschundenen Leib Jesu                            Menschen lebt und ihr Got-
tötet. Andere evangelische Kir-                  am Kreuz.                                  tesdienst besser ist als bei al-
chen haben deshalb Kunst, Kul-                                                              len anderen. Wir können die-
tur und Musik weiter als Formen der Verkündigung gepflegt      se Schönheit nicht vergessen!» Und Wladimir antwortet:
und bleiben damit in einer langen, bis ins Alte Testament      «Wäre der griechische Glaube schlecht, hätte ihn meine
reichenden Tradition. Es ist doch der Wunsch eines jeden       Grossmutter Olga, die weiseste aller Frauen, nicht ange-
wahrhaft Frommen, «im Hause des Herrn bleiben zu kön-          nommen!», und lässt sich mit den Seinen im Jahr 988 tau-
nen ein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste       fen.2
des Herrn»1.                                                       Seitdem ökumenische, transkulturelle und interkonfes-
                                                               sionelle Begegnungen in den letzten Jahrzehnten immer
«Wir können diese Schönheit nicht                              mehr zur Normalität geworden sind, begegnen wir einer
vergessen!»                                                    reichen Vielfalt unterschiedlichster Formen von Frömmig-
Das erinnert mich an Wladimir, russischer Fürst in Kiew        keit, Glaubensnachfolge und Gottesdienstliturgie. Die Er-
(960-1015). Als Heide lässt er die anderen Religionen erfor-   kenntnis breitet sich aus, dass christlicher Glaube auch et-
schen. Zehn seiner Männer ziehen durch die Lande, ohne         was mit Ästhetik zu tun hat, also mit Schönheit und
jeweils begeistert zu sein. Schliesslich erleben sie in Kon-   Herrlichkeit, mit Lust und Freude am Hören, Sehen, Fühlen,
stantinopel, wie der orthodoxe Klerus die Glorie Gottes im     Spüren, Riechen, mit der Ausdrucksfähigkeit spiritueller

1
    Ps 27,4                                                    2
                                                                   nach der Nestorchronik von 1113-1118

                                                                                                          02 April 2019   Magazin INSIST - 9
Schönheit - Schweizerische Evangelische Allianz
THEMA

    Erfahrungen, Empfindungen und Gefühle. Dieses neue Ent-                    den Himmel aus wie einen Teppich. Die Herrlichkeit des
    decken ist keine Reaktion auf die pseudoreligiöse Werbung                  Herrn bleibe ewiglich, der Herr freue sich seiner Werke.»5
    der modernen Schönheitsindustrie, sondern hat theologi-                    Hosea und Jesaja verheissen ihrem Volk: «Gott wird wie
    sche Gründe.                                                               die schöne Morgenröte hervorbrechen6. Deine Augen wer-
                                                                               den den König sehen in seiner Schönheit. Schaue auf Zion,
    Glaube öffnet die Sinne für das Schöne                                     die Stadt unserer Feiern. Der Herr wird dort bei uns mächtig
    Die Bibel kennt allerdings den Begriff «Schönheit des Glau-                sein. Und du Zion wirst eine schöne Krone sein in der Hand
    bens» nicht, und das nicht ohne Grund. Glaube kann zwar                    des Herrn, ein königlicher Reif in der Hand deines Gottes7.»
    «schön» sein – das wird sich noch zeigen –, aber die Auf-                  Wenn der Glaube diesen Gott feiert, wird es schön.
    zählung der «Glaubenshelden» in Hebräer 11 berichtet von                       Das Neue Testament bezeugt den Höhepunkt göttlicher
    unterschiedlichen Begleitumständen eines konsequenten                      Herrlichkeit: Die «Schönheit Gottes» wird jetzt in einem Men-
    Glaubens an Gott: Kraft, Hoffnung und Liebe; Sieg, Wunder                  schen sichtbar, hörbar und erlebbar. Im Prolog seines Evan-
    und Segen; aber auch Anstrengung, Gehorsam und Opfer;                      geliums beschreibt ihn Johannes in einzigartig schöner
    Zweifel, Anfechtung und Schmach; Spott, Widerstand und                     Sprache: «Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott
    Tod. Angesichts dieser ambivalenten Erfahrungen provo-                     und Gott war das Wort. Und das Wort wurde Fleisch und
    ziert der Begriff «Schönheit des                                                                     wohnte unter uns und wir sahen
    Glaubens». Denn bis heute ist es                 Glaube ist nicht nur Gehorsam,                      seine Herrlichkeit, eine Herrlich-
    riskant, wenn sich jüdischer und                                                                     keit des eingeborenen Sohnes vom
    christlicher Glaube gefährlichen
                                                     sondern auch Schönheit, wenn                        Vater, voll Gnade und Wahrheit.»8
    Trends und pseudoreligiösen                       er Gott in seiner Herrlichkeit                         Damit stehen wir vor einem
    Ideologien entgegenstellt.                                   geniesst.                               tiefgründigen Geheimnis, ja einem
        Deshalb sollten wir besser sa-                                                                   unauflösbaren Paradox: Die Schön-
    gen: Der Glaube öffnet unsere Sinne für alles Schöne in der                heit und Herrlichkeit Gottes offenbart sich in einem mensch-
    Schöpfung und Heilsgeschichte Gottes. Er ist die geheimnis-                lichen Leben, Wirken und Leiden von der Krippe bis zum
    volle, aber erfahrbare Fähigkeit, uns die «Augen des Herzens»              Kreuz, ja gerade auch in diesem geschundenen Leib Jesu am
    für die Herrlichkeit und Schönheit der dreifaltigen Liebesge-              Kreuz. Deswegen fragt der Prophet Jesaja weit voraussehend
    meinschaft Gottes zu öffnen und den «Reichtum der Herr-                    so herzzerreissend: «Wer glaubt dem noch, was uns verkün-
    lichkeit, der den Heiligen gegeben ist», zu offenbaren3.                   det wurde? Er hatte keine Gestalt und keine Schönheit. Wir
                                                                               sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
    Der dreifaltige Gott selbst ist schön                                      Verachtet war er, ein Mann der Schmerzen und Krankheit.»9
    Die theologische Begründung dafür, dass christlicher Glau-                 Jesaja erfährt den Glauben als ästhetische Zumutung. Diese
    be auch mit Ästhetik zu tun hat, ist der dreifaltige Gott                  Skepsis wird nach Ostern und Pfingsten in die Erkenntnis
    selbst, wie ihn die Bibel durchgehend bezeugt. Er ist nicht                «Mein Herr und mein Gott» verwandelt. Gottes Heiliger Geist
    nur allmächtig, heilig, gerecht, gut, lieb und barmherzig,                 lässt seine Kirche eine Schönheit entdecken, wie sie in unse-
    sondern auch «herrlich und schön». Westliche Theologie                     ren Schönheitsidealen nie zum Ausdruck kommt. Das Wort
    und Frömmigkeit betonen stärker die Wahrheit, Gerech-                      «schön» kommt ja von «sehen, schauen». Christlicher Glaube
    tigkeit und das Gutsein Gottes, während sich in den östli-                 ist ein liebevolles Anschauen dessen, was uns Gott von sich
    chen Kirchen eine Frömmigkeit der Anbetung, Ehrfurcht                      offenbart hat. Und dann drängt es den Glaubenden, die ge-
    und Betrachtung der trinitarischen Herrlichkeit und Schön-                 schaute Schönheit Gottes sichtbar und erfahrbar zu gestal-
    heit Gottes entwickelt hat. Deswegen prägt eine «göttli-                   ten: in der Theologie, Kunst, Malerei und Musik, in der Litur-
    che Liturgie» ihre Gottesdienste. Sie wollen den «schönen                  gie und im Feiern der Sakramente. Wo auch immer die
    Glanz Gottes aus Zion»4 widerspiegeln und darstellen. «Herr,               Schönheit Gottes zum Ausdruck kommt, es tut unserer Seele
    mein Gott, du bist herrlich, du bist schön und prächtig ge-                gut. Glaube ist nicht nur Gehorsam, sondern auch Schönheit,
    schmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest                 wenn er Gott in seiner Herrlichkeit geniesst. Da werden wir
                                                                               dann befreit zu einem Lobpreis, der sich in grenzenloser
                                                                               Nächstenliebe und Bewahrung der Schöpfung dienend ver-
         Literatur:                                                            strömt. 
         Von Balthasar, Hans Urs: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik,
         Bände I-III/2, Einsiedeln, 1988-2009.                                                   Pfarrer Peter Henning (M.Th.) ist ehemaliger Rektor und
                                                                                                 Dozent am TDS Aarau, verheiratet, mehrfacher Grossvater
         Grün, Anselm: Schönheit – Eine neue Spiritualität der Lebensfreude,                     und «im aktiven Ruhestand».
         Münsterschwarzach, 2014, Vier-Türme-Verlag.
                                                                                                 b p.henning@tdsaarau.ch
         Bégert, André: Glaube & Schönheit, Basel, 2018, Fontis.
         (siehe Kurzrezension auf Seite 29)
                                                                               5
                                                                                 Ps 104,1-2.31
                                                                               6
                                                                                 Hos 6,3
                                                                               7
                                                                                 Jes 33,17.20-21; 62,3
    3
        Eph 1,18                                                               8
                                                                                 Joh 1,1 ff.
    4
        Ps 50,2                                                                9
                                                                                 Jes 53,1-3

10 - Magazin INSIST        02 April 2019
THEMA

Blumenwiese im Frühsommer bei Büren

      02 April 2019   Magazin INSIST - 11
THEMA

     SCHÖNHEIT UND GEBROCHENHEIT

     «Einen schmerzfreien Glauben
     gibt es nicht»
    Interview: Dorothea Gebauer | Loben und Klagen, Ostern und Karfreitag, Schönheit und Gebrochenheit – beides gehört zum Le-
    ben. Die Lyrikerin, Psychotherapeutin und ehemalige Pfarrerin Sabine Antje Naegeli plädiert dafür, auch das Leid als eine
    Realität anzunehmen. Denn erst dies ermöglicht wesentliche innere Reifeprozesse und die Verwandlung des Leidens in
    fruchtbares Leben.

    Magazin INSIST: Was ist für Sie eine schöne Erfahrung mit         Haben Sie Vorbilder?
    Kunst?                                                            Ja, klar. Dazu zählen Hilde Domin, Rose Ausländer, Ingeborg
    Sabine Antje Naegeli: Ich höre sehr gerne Bachkantaten! Ich       Bachmann und andere. Was ich nicht mag, ist eine Haltung
    bevorzuge generell Barockmusik. Was Literatur betrifft: Da        der ‹l‘art pour l‘art›. Schönheit darf durchaus Sinn in sich tra-
    ist es schwierig geworden, Bücher                                                               gen. Es gibt heute so manche
    zu finden, die schön geschrieben                                                                Kunst, die prinzipiell nur die Zer-
    sind. Meistens muss man auf alte
                                          Wenn ich etwas Schönes sagen                              rissenheit spiegelt. Der katholi-
    Texte zurückgreifen. Natur ist für     kann, dann hat das auch mit                              schen Künstlerin Luise Rinser
    mich immer eine wunderbare Er-        Spiritualität zu tun, weil sie zu                         wurde gerne vorgeworfen, dass
    fahrung. Sie birgt so viel Schön-                                                               sie zu viel Glaubenshaltung in
    heit für den, der offene Augen hat.
                                            unserer Ganzheit gehört.                                ihre Arbeit einbringe. Ich finde,
    Ich liebe die Meer- und Blumen-                                                                 wenn ich etwas Schönes sagen
    bilder von Emil Nolde. Sie beeindrucken mich tief.                kann, dann hat das auch mit Spiritualität zu tun, weil sie zu
                                                                      unserer Ganzheit gehört. Nehmen wir beispielsweise Johann
    Was ist für Sie weniger zu ertragen, weil nicht schön?            Sebastian Bach. Er verweist mit seiner Kunst auf etwas, das
    Alles Hässliche macht mich frieren, egal in welchem Kon-          gewissermassen ‹himmlisch› ist. Spirituell sein heisst für
    text. Wenn etwa ein gottesdienstlicher Ort kalt und unwirt-       mich, mich ganz als Person in meine Arbeit hineinzugeben.
    lich ist und keine Geborgenheit gibt. Wenn Kunst kalt und
    lieblos, wenn Musik disharmonisch und extrem laut ist.            Kann es sein, dass Christen sich deshalb um Kreativität brin-
                                                                      gen, weil sie Gebrochenheit und Schönheit häufig gegeneinan-
    Wie schafft man es, sich als Lyrikerin von schlechter Lyrik ab-   der ausspielen?
    zugrenzen?                                                        Tatsächlich fehlt in gewissen Kreisen neben dem Lobpreis
    Ich stelle hohe Ansprüche an meine Texte. Ich möchte, dass        häufig die Klage. Wer beides zum Ausdruck brachte, war Paul
    jedes Wort sitzt und dass es etwas wohlklingendes Harmoni-        Gerhardt, dessen Choräle ich sehr liebe. Sie verleiden einem
    sches gibt. Sprache muss natürlich und soll nicht gekünstelt      nie! Es ist ja unfassbar, was dieser Mensch durchgemacht
    sein.                                                             hat. Er war ganz lange arbeitslos, verlor Frau und Kinder. Es

12 - Magazin INSIST   02 April 2019
THEMA

tobte der 30-jährige Krieg. Erlittene Lieder werden nicht ein-   den. Deshalb liess ich mich nach sieben Jahren Pfarramt in
fach mal so schnell dahingetextet. Sie werden aus einer gros-    humanistischer Psychotherapie ausbilden und sattelte um.
sen inneren Tiefe heraus geboren.                                                       Nun ergänzt sich alles von selbst:
    In einigen Freikirchen habe ich
                                           Zur inneren Reife und                        Psychologie, Seelsorge, Theologie,
tatsächlich erlebt, dass da eine Ver-                                                   Sprachkunst – alles fliesst ineinan-
kürzung stattfindet. Karfreitag wird     damit zu Kreativität finden                    der.
gerne übersprungen. Zu schnell ist       wir nur, wenn wir uns den                          Eigentlich haben mich zwei Dinge
Ostern, sehr schnell ist man beim Hal-                                                  immer besonders ausgemacht: die
leluja. Einen schmerzfreien Glauben
                                           Abgründen des Lebens                         Freude an der Sprache und das grosse
gibt es aber nicht. Die Wirklichkeit               stellen.                             Interesse am leidenden Menschen.
unserer Leiderfahrungen wird zu we-                                                     Ich publiziere inzwischen über 40
nig ernst genommen. Zur inneren Reife und damit zu Kreati-       Jahre und die Verlage haben trotz dem Nischendasein der
vität finden wir aber nur, wenn wir uns den Abgründen des        Lyrik meine Texte immer gerne gedruckt. Derzeit schreibe
Lebens stellen.                                                  ich an einem Sachbuch zum Thema Trauer.

Woran leiden oder drohen Menschen zu zerbrechen, die in          Geben Sie Ihren Klienten den Hinweis, sich die Dinge von der
Ihre Praxis kommen?                                              Seele zu schreiben?
Das sind zwischenmenschliche Nöte, schwierige Prägun-            Ich schaue, für wen es passt. Es ist nicht für jeden ein Weg
gen, Selbstwertprobleme, Ängste und Depressionen oder            und muss auch nicht so sein. Für alle aber ist wichtig: Das
Hochsensibilität. Aber auch unglückliche Partnerwahl oder        Kreative sitzt nicht einfach im Kopf. Die Frage ist doch: Wie
schwere Krankheit.                                               kommen wir vom Kopf in tiefere Schichten, in das, was in
                                                                 uns leben will? Der ganze Mensch – Leib, Seele und Geist –
Wir schieben diese Themen im Gemeindekontext gerne bei-          will berührt sein. Spiritualität ist ebenfalls ein wichtiger Fak-
seite. Sind wir leidfeindlich?                                   tor, der den Heilungsprozess fördert! Es sei denn, dass ein
Ja, das ist so. Das führt dazu, dass es für betroffene Men-      Mensch ein negatives Gottesbild hat.
schen sehr schwer ist, in der Gemeinde darüber zu sprechen.          Zur Spiritualität gehört viel Stille, denn sonst kann sie
Sie spüren: Damit sollte ich jetzt lieber nicht kommen, das      nicht aufblühen. Diese muss man suchen, sonst kann das
stört. Christen bringen sich aber um ganz wesentliche Reife-     Kreative nicht anklopfen. Neben der Stille braucht es aber
prozesse, wenn sie Leid nicht integrieren. Dabei rede ich aber   auch dringend die Begegnung mit Menschen.
nicht einer Leidensseligkeit das Wort. Wo man Leid bekämp-
fen kann, sollte man es tun. Mit ganzer Kraft und grosser Ent-   Jemand sagte mir neulich: Wenn alles andere nicht mehr
schiedenheit. Aber es gibt auch Leid, das man nicht abwen-       geht, selbst die Bibel nicht, Naegeli geht immer!
den kann.                                                        Wenn das passiert, dann freue ich mich natürlich! Sehen Sie,
                                                                 es gibt so viele verletzte Menschen, die brauchen Zartheit.
Kann Lyrik zu einer Heilung im therapeutischen Prozess bei-      Die dürfen nicht überfordert werden. Es gibt im christlichen
tragen?                                                          Kontext einen Mangel an Behutsamkeit, der mich friert. Wir
Ich persönlich mache keine Heilungsversprechen. Ich versu-       ahnen gar nicht, wie gross die Bedürftigkeit nach Zartheit ist,
che mich einzufühlen und mit dem anderen zusammen nach           gerade wenn es Menschen nicht gut geht. 
dem Heilsamen zu suchen, das speziell für ihn eine Hilfe be-
deutet. Hoffnung kann ich nicht vermitteln, sondern nur zu
wecken versuchen.
    Es gibt so viel Leid, das aber auch verwandelt werden
kann in fruchtbares Leben. Verwandeln heisst aber nicht,
dass es nicht mehr wehtut. Und es ist gut zu wissen: Keiner
ist nur gesund, aber keiner ist nur krank. Wenn ich einen
Menschen länger begleite, entdecke ich auch das Schöne,
das er in sich trägt. Ich freue mich, wenn er es zu erkennen
beginnt.

Sie dienen Menschen auf unterschiedlichste Weise. Wie kam                         (DGe) Sabine Antje Naegeli ist Sprachkünstlerin, Theologin
                                                                                  und Psychotherapeutin und arbeitet seit über 30 Jahren in
es dazu?                                                                          St. Gallen in eigener Praxis. Schon als Kind fühlte sie sich zu
In meiner Arbeit als Pfarrerin kam für mich die Seelsorge zu                      schöner Sprache hingezogen und arbeitete für eine
                                                                                  Kinderzeitung. Sie studierte Theologie und war mit viel
kurz. Meine Arbeit drohte zu fragmentieren: Religionsunter-
                                                                                  Freude im Pfarramt. Da dort für den leidenden Menschen zu
richt erteilen, eine Sitzung nach der anderen leiten. Es war                      wenig Zeit blieb, liess sie sich zur Psychotherapeutin
auch kaum Raum für das, was mir am Herzen lag. Ich fühl-                          ausbilden. Naegeli ist Autorin zahlreicher Bücher. Das
                                                                                  Schreiben und die Freude an der schönen Sprache haben sie
te mich nicht genügend vorbereitet auf die Nöte, die es so                        das ganze Leben begleitet.
gibt. Ich musste Schwerpunkte setzen und mich entschei-

                                                                                                       02 April 2019      Magazin INSIST - 13
THEMA

                                                                                        Jonas Baumann-Fuchs arbeitet als Fachpsychologe für
                                                                                        Psychotherapie (FSP), verfügt über einen Executive Master of
       Andreas Tschopp ist Facharzt für Plastische, Rekonstruktive und                  Business Administration (EMBA), ist Sozialunternehmer,
       Ästhetische Chirurgie FMH in der Klinik im Spiegel in Bern, die                  diplomierter Seelsorger, Coach/Supervisor und
       er vor 16 Jahren mitbegründete.                                                  Organisationsberater und seit 2008 Stadtrat in Thun.

       b andreas.tschopp@klinikimspiegel.ch                                             b info@kultivierer.ch
       O www.klinikimspiegel.ch                                                         O www.kultivierer.ch

    INNERE UND ÄUSSERE SCHÖNHEIT

    Wahre Schönheit ist nicht perfekt
    Interview: Daniela Baumann | Es geht um Menschen, ihr Dasein, ihr Glück, ihr Empfinden, ihre Sehnsucht: Im Gespräch mit dem
    plastischen Chirurgen Andreas Tschopp und dem Psychotherapeuten Jonas Baumann-Fuchs wird deutlich, wie stark die
    beiden Berufsfelder beim Thema Schönheit ineinandergreifen und dass der Chirurg nicht selten auch ‹Psychologe› ist.

    Magazin INSIST: Was macht einen schönen Menschen aus?                te mit und stören sich täglich an ihrem ‹Makel›. Das sind für
    Jonas Baumann-Fuchs: Bei der Entwicklung der eigenen                 mich gute Indikatoren für ihren subjektiven Leidensdruck.
    Identität geht es um eine Balance, eine Verbindung zwischen          Objektiv stütze ich mich auf eine Art westlichen Kanon von
    innerer und äusserer Schönheit. Sie bedingen sich gegensei-          ästhetischen Massstäben, etwa den Goldenen Schnitt. Da-
    tig, bergen aber auch die Gefahr, dass man sozusagen ‹von            neben verlasse ich mich aber auch auf meine Erfahrung und
    beiden Seiten vom Ross fällt›: dass man auf der einen Seite          mein eigenes ästhetisches Empfinden.
    zu stark nur die inneren Werte betont oder auf der anderen
    Seite Äusserlichkeiten übertreibt. Wer schön ist, aber keine         J. Baumann-Fuchs: Alles, was wir tun, ist mit Empfindungen
    Ausstrahlung hat, der ist nicht in einem ganzheitlichen Sinn         und Bewertungen verbunden, die persönlich gefärbt sind. Als
    schön. Schönheit muss nicht per-                                                                Therapeut nehme ich die Sorge
    fekt sein; etwas zu Perfektes be-          Schönheit ist wie ein ‹Tagtraum                      eines Klienten in seinem subjek-
    rührt uns nicht direkt, weil es                                                                 tiven Empfinden ernst, ohne sie
    nicht menschlich ist.
                                                 des Lebens›: etwas, das man                        meinerseits zu werten. Ich beglei-
                                                nicht rational erfasst, sondern                     te ihn im Prozess, seine Schön-
    Andreas Tschopp: Die Forschung
                                                        primär erfährt.                             heit zu erkennen und seine Iden-
    hat sogar gezeigt, dass Durch-                                                                  tität zu entwickeln, mit dem Ziel,
    schnittlichkeit am attraktivsten ist. Zum Beispiel wird Sym-         Leiden zu vermindern und Wohlbefinden zu verbessern. Die-
    metrie grundsätzlich als attraktiv eingestuft, aber perfekte         ser Prozess ist nicht objektivierbar, sondern stark vom Indi-
    Symmetrie löst Unbehagen aus, da sie dem Lebendigen wi-              viduum mit seiner Geschichte und Lebenswelt geprägt.
    derspricht. Ich finde ausserdem den Begriff der Harmonie
    wichtig: dass der Mensch in einem Gleichgewicht ist.                 Kommt es vor, dass Ihr eigenes Empfinden und dasjenige des
                                                                         Patienten nicht übereinstimmen?
    Welche Rolle spielen objektive Kriterien, aber auch die sub-         A. Tschopp: Ja, ich muss sensibel sein für verzerrte Selbst-
    jektive Wahrnehmung in Ihrer Arbeit?                                 wahrnehmungen, die von aussen nicht nachvollziehbar sind.
    A. Tschopp: Aus meiner Sicht sind die Anliegen, mit denen            Wenn jemand eine nur geringfügige Korrektur wünscht und
    Menschen zu mir in die Praxis kommen, häufig eine ‹Laune             gleichzeitig einen sehr hohen Leidensdruck empfindet, ist
    der Natur›, eine Variante von der Norm, die durchaus hübsch          das für mich ein Zeichen für eine Wahrnehmungsstörung.
    und interessant ist. Doch der Respekt vor der subjektiven
    Wahrnehmung der Patienten ist sehr wichtig. Denn häufig              J. Baumann-Fuchs: Es gibt Menschen, die sich in einem
    bringen sie tatsächlich eine mehrjährige Leidensgeschich-            ungesunden Mass mit ihrem Körper auseinandersetzen,

14 - Magazin INSIST   02 April 2019
THEMA

­ ysmorphophobie genannt, und von einer Operation den
D                                                                J. Baumann-Fuchs: Schönheit ist insofern ein Thema, als ich
grossen Wandel des Lebens, das grosse Glück erwarten. Da-        sie nicht rein ästhetisch definiere, sondern damit verbin-
hinter stecken eine Sehnsucht und eine Vorstellung von Le-       de, dass Menschen eine Ausstrahlung haben, mit dem Um-
ben und Glück, die sich so nicht erfüllen lassen. Fairerwei-     feld interagieren und das Leben kreativ und positiv gestal-
se muss ein plastischer Chirurg genau hier vorsichtig sein,      ten können. Wenn jemand daran scheitert, strahlt er oder sie
denn die äussere Schönheit schafft es nicht, allfällige innere   auch keine Attraktivität mehr aus.
Defizite zu kompensieren.
                                                                 Kann auch etwas schön sein, das von der Norm abweicht?
Herr Tschopp, inwiefern sind falsche Hoffnungen ein Thema        J. Baumann-Fuchs: Definitiv! Alles, was normiert ist, wird ir-
in Ihrem Arbeitsalltag?                                          gendwann langweilig. Schönheit braucht immer auch Indivi-
A. Tschopp: Eine meiner Haupttätigkeiten ist es, Erwartun-       dualität und neue Impulse. Die heutige gesellschaftliche Re-
gen auf ein realistisches Mass herunterzuholen. Häufig wird      alität fördert jedoch den Normierungsdruck: Nicht zuletzt
der Wunsch nach einem ästheti-                                                               durch die auf Social Media in-
schen Eingriff von einem wich-        Äussere Schönheit schafft es                           szenierte Schönheit nimmt der
tigen Lebensereignis ausgelöst,                                                              Zwang zum Perfektionismus in
zum Beispiel dem Verlust des
                                      nicht, allfällige innere Defizite                      allen Bereichen zu. Menschen, die
Partners. Die Person muss sich in            zu kompensieren.                                den Idealen nicht entsprechen,
dieser Situation neu orientieren                                                             geraten in Stress und Selbstzwei-
und definieren. Ich investiere meist mehr Zeit in Gespräche      fel. Ich wünschte uns vermehrt den Mut, auch Unperfektes –
als in die Operation selber. Als Arzt versuche ich, jeden Pa-    das letztlich menschlich ist – stehen lassen zu können.
tienten in seiner Ganzheit zu erfassen und abzuschätzen, ob
eine Operation, die nicht zwingend ist, im jeweiligen Kontext    Stellen Sie Veränderungen in den Vorstellungen von Schön-
Sinn macht. In etwa 20 Prozent der Fälle sehe ich – zumin-       heit im Verlauf der Zeit fest?
dest vorerst – von einem Eingriff ab. Kürzlich riet ich einer    A. Tschopp: Ich sehe vor allem konstante Schönheitsmerk-
Frau, die mit Kindern, eigenem Geschäft und dem Tod ihrer        male, mit denen 90 Prozent der Menschen zufrieden wären.
Mutter an ihre Grenzen stiess, zuerst Rat bei einer Psycholo-    Es gibt Tendenzen, eine Evolution, aber keine Revolution von
gin zu suchen.                                                   Schönheitsidealen. Die Hemmschwelle, einen Eingriff vorzu-
                                                                 nehmen, ist jedoch gesunken und das Angebot hat zugenom-
J. Baumann-Fuchs: Dieses Beispiel zeigt, dass es wichtig ist,    men.
die innere und die äussere Seite von Schönheit nicht gegen-
einander auszuspielen. Wer zu mir in die Praxis kommt, sagt      Der Theologe Peter Henning schreibt (siehe Seite 9), dass der
zwar nicht, sie oder er wolle schöner werden. In meinem Me-      Glaube einem die Sinne für das Schöne öffne. Können Sie die-
tier spricht man eher von Identitätsentwicklung, Erlangung       se Erfahrung aus Ihrem Berufsalltag teilen?
von psychischer Stabilität, Kompetenztraining oder mo-           A. Tschopp: Alle Sinne dienen dazu, Schönheit wahrzu-
dern ausgedrückt Selbstmanagement – allesamt Faktoren,           nehmen. Glaube sehe ich als eine von vielen Möglichkei-
die für die Zufriedenheit wichtig sind. Das ist die Grundlage,   ten, Schönheit zu finden. Spiritualität ist allerdings in mei-
um allenfalls auch äusserlich eine Veränderung anzugehen.        nen Gesprächen selten ein Thema, obwohl ich auch schon
Es kommt zwar kaum vor, dass ich einen Klienten an einen         gläubige Menschen operiert habe. Selten äussern Patien-
plastischen Chirurgen weiterverweise. Aber ich habe auch         ten gewisse Vorbehalte gegenüber einer Operation, weil sie
schon Menschen mit auffälligen Körpermerkmalen begleitet.        denken, dass sie sich so akzeptieren sollten, wie Gott sie ge-
Da lohnt sich die Abklärung, ob ein Eingriff zielführend ist,    schaffen hat.
um dieser Zweiseitigkeit von Innerem und Äusserem gerecht
zu werden. Eine Operation kann dann durchaus ein Bestand-        J. Baumann-Fuchs: In der Schönheit steckt auch Vergäng-
teil einer positiven Identitätsentwicklung sein.                 lichkeit: Jede Blume verwelkt irgendwann. Identität muss
                                                                 irgendwoher kommen. Die Liebe und Anerkennung, die der
Inwiefern ist Schönheit überhaupt ein explizites Thema in        Mensch im Glauben erhält, schaffen einen Wert, der es ihm
der Arbeit mit Ihren Klienten?                                   erlaubt, seine Identität – auch ausserhalb von Normen –
A. Tschopp: Schönheit spiegelt sehr viele Facetten unserer       und damit auch seine Schönheit zu entwickeln und zu se-
Existenz; sie ist wie ein ‹Tagtraum des Lebens›: etwas, das      hen. Zudem denke ich, dass wir die Erfahrung des Schönen
man nicht rational erfasst, sondern primär erfährt. In diesem    brauchen, um auch das Leiden auszuhalten. Diese Erfahrung
philosophischen Sinn ist Schönheit in meinem Arbeitsalltag       kann in einer Gottesbeziehung stattfinden, aber auch in Be-
kein Thema. Ich bin dankbar, dass man von mir nicht erwar-       gegnungen mit Menschen oder in Naturerlebnissen. Beson-
tet, dass ich in einem umfassenden Sinn Schönheit geben          ders bei Menschen, die sehr schwierige Situationen erlebt
kann, und dass ich sie auf konkrete Makel herunterbrechen        haben, ist spürbar, wie die Verankerung in einer gesunden
kann, die ich zu korrigieren weiss. Auf dieser konkreten Ebe-    und über das Körperliche hinausgehenden Identität ihnen
ne ist das Thema Schönheit aber natürlich präsent.               Kraft gibt, über ihr Leiden hinwegzukommen.

                                                                                                  02 April 2019   Magazin INSIST - 15
THEMA

      Namenloser Bach an einem regnerischen Frühsommertag im Kanton Waadt

16 - Magazin INSIST   02 April 2019
THEMA

OBJEKTIVE SCHÖNHEIT

Schönheit in der Sehnsucht
nach Versöhnung
Wenig verdeutlicht den Mangel an Objektivität in der Ästhetik wie die Vergänglichkeit von Modetrends. Im Fremdschä-
men beim Anblick von Modesünden vergangener Dekaden geht oft vergessen, dass diese einst vermeintlich «objektiv»
der letzte Schrei gewesen sein müssen. Auf die Frage nach den Bedingungen des Schönen gibt es offensichtlich keine ein-
fache Antwort.

Mode ist nur ein Mittel zum Zweck der Aufwertung der ei-         kürliche Abscheu vor dem, was uns tatsächlich gefährlich
genen Schönheit. Der Satz, dass Schönheit im Auge des Be-        werden könnte.
trachters läge, zeugt davon, dass Menschen sich der Eigen-           Die Überhöhung äusserlicher Attraktivität als evolutionär
willigkeit des Ästhetischen bewusst sind. Das Objektive liegt    geprägte Vorsortierung des Nächsten in Partner oder Gegner
im Subjektiven. Dennoch würden die wenigsten einer völli-        verweist auf die unreflektierte «zweite Natur» in uns: Etwas
gen Beliebigkeit des Schönen das Wort reden. Wäre Schön-         sozial Konstruiertes vermag Zwänge und Ängste zu erzeu-
heit vollständig relativ, gäbe es keine Referenz, keinen so-     gen, als drohe der Ausschluss aus der Gemeinschaft, wenn
zialen Lernprozess, der Menschen dazu bringt, heute Dinge        wir den Konventionen nicht entsprechen. Die existenzielle
schön zu finden, die gestern als unattraktiv galten.             Dimension ist im Zeitalter von Instagram gewachsen, da sich
                                                                 das vermeintlich «objektiv» Schöne durch global gesammel-
Schönheit ist mehr als Attraktivität                             te Likes ins Recht gesetzt sieht. Schönheit wird so verding-
Sind die Schönheit von Menschen und die Schönheit der Na-        licht zu einer Ware, mit dem Resultat, dass wir uns selbst
tur überhaupt mit demselben Begriff objektiv zu fassen? Die      nach dem Zuspruch der Welt bemessen lernen.
Ästhetik macht da zunächst keinen Unterschied. Die Frage
nach den notwendigen Bedingungen des sinnlich als schön          Schönheit weist auf eine versöhnte Welt
Erfahrenen ist nicht neu. Platon lässt im «Symposion»1 sei-      Doch wie verhält es sich mit der Schönheit der Natur, wie sie
nen Lehrer Sokrates Eros als Begehren des Schönen zum            uns vielleicht bei Sonnenuntergängen begegnen mag? In der
Zwecke des Schönwerdens definieren. Schönheit erschöpft          «Ästhetischen Theorie» Adornos2 entspringt die Sehnsucht
sich hier nicht allein in Äusserlichkeit, sondern weist darü-    des Menschen nach Orten absichtsloser Schönheit der Ah-
ber hinaus, auf «das göttlich schöne selbst in seiner Eigenar-   nung einer versöhnten Welt. In diesen projiziert sich das ver-
tigkeit».                                                        loren gegangene und noch nicht wieder gefundene Paradies.
    Die heutige Attraktivitätsforschung belässt es pragma-       Der Versuch, diese Orte abzubilden, so Adorno am Beispiel
tisch bei der Frage danach, was Menschen objektiv anzie-         des «gemalte(n) Matterhorns», wird notwendig zum Kitsch,
hend macht. Mithilfe von Evolutionspsychologie und Neuro-        weil so das Schöne zu einem weiteren Ding gemacht wird.
biologie werden die anthropologischen Bedingungen von            Darin sieht Adorno die Parallele zum alttestamentlichen
Schönheit analysiert und so die mutmassliche Attraktivität       Bilderverbot. Die Sehnsucht sei legitim. «Das Naturschöne
von Menschen vermessen. Markierungen wie Jugendlich-             bleibt Allegorie dieses Jenseitigen.» Es weist über sich hi-
keit, Symmetrie, Proportionalität, Hautbild, Körpergeruch        naus auf die Versöhnung und rührt das Subjekt, das diese
und ähnliches werden dabei auf ihre kulturübergreifende          nicht erzwingen kann, ohne zu freveln.
Rolle hin untersucht.                                                Es ist dieses Berührtwerden, das tiefer geht als evoluti-
    Diese Reduktion des Schönen vermag die Ganzheitlich-         onspsychologisch erklärbare Reflexe, das dem Begriff des
keit des Menschen nicht zu erfassen. Visuelle Attraktivität      objektiv Schönen näherkommt als die Parameter der Attrak-
bedient vielleicht biologische Reflexe, ersetzt aber nicht Be-   tivität. Zugleich bewahrt es aber auch das Geheimnis des
ziehung zum Nächsten, die auf intersubjektiver Begegnung         Schönen in seiner Eigenartigkeit.
gründet. Da war Platon weiter, der den äusserlich unattrakti-
ven Sokrates für dessen innere Schönheit pries. Die primäre                      Alexander Arndt hat Geschichte, Literatur- und
Bindung des neugeborenen Kindes an die Eltern wird nicht                         Kulturwissenschaft studiert und promoviert zurzeit. Er ist
                                                                                 in der Erwachsenenbildung tätig und arbeitet als Online-
von der Frage getrübt, ob diese den Schönheitsidealen der                        Redaktor für das «Jerusalem Center for Public Affairs».
Gesellschaft entsprechen. Die Hinwendung Jesu zu den
                                                                                 b alex.arndt@gmx.net
durch optische Versehrtheit als gesellschaftlich «Tote» ge-
zeichneten Aussätzigen transzendiert sogar die ganz unwill-
                                                                 2
                                                                  Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bd 7, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.,
1
    Platon: Symposion, München, 2008                             1997, Suhrkamp Verlag

                                                                                                             02 April 2019        Magazin INSIST - 17
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