AMNESTY - CORONA-KRISE: EIN VIRUS VERÄNDERT DIE WELT - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE
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AMNESTY Nr. 102 Juni 2020 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE CORONA-KRISE: EIN VIRUS VERÄNDERT DIE WELT IN ACTION SUDAN AMNESTY SCHWEIZ Jetzt in diesem Heft Die Ikone der Freiheit Stabwechsel
EINLADUNG VIRTUELLE GENERALVERSAMMLUNG Aufgrund der Corona-Pandemie musste der Die Anmeldung ist bis am Vorstand die für den 2. und 3. Mai 2020 16. Juni 2020 möglich. Alle geplante Jahres- und Generalversammlung von Angemeldeten erhalten schriftli- Amnesty Schweiz absagen. che Informationen dazu, wie sie an dieser virtuellen GV teilnehmen Es ist für das Vereinsleben dennoch wichtig, können. Am 23. Juni bieten wir unsere Mitglieder zusammenzubringen. eine Einführung in die digitale Deshalb lädt der Vorstand alle Mitglieder herz- Plattform an, welche wir für die lich zu einer verkürzten, virtuellen GV verwenden werden. Generalversammlung ein. Sie findet Anmeldung: www.amnesty.ch/gv am 30. Juni von 18.00 bis etwa 20.30 Uhr statt. Der Fokus wird auf dem statutarischen Teil liegen. Wir freuen uns darauf, diese Erfahrung mit Ihnen zu teilen, und hoffen, dass sich viele anmelden und beteiligen werden! © Vic Josh / shutterstock.com EINSATZ FÜR DIE MENSCHENRECHTE: JETZT ERST RECHT! Unterstützen Sie Amnesty International mit einer regelmässigen Spende. WWW.AMNESTY.CH
Titelbild INHALT_JUNI 2020 © Nik Andr THEMA 22 Sudan Das Bild einer Anführerin 25 Amnesty Schweiz «Eine enorme Chance» AKTUELL 4 Good News Manon Schick und 6 Aktuell im Bild Alexandra Karle im Interview. 7 Nachrichten 9 Brennpunkt 28 Irak Zwei Rädchen der Höllenmaschinerie Schwieriger als die Flucht ist die Rückkehr DOSSIER 30 LGBTI* Corona und Menschenrechte «Das Problem sind die traditionellen Rollenbilder» KULTUR 32 Buch Das Leben gewinnt 33 Buch Schonungslos 34 Kino 10 Herausforderung für die Menschenrechte Film ab – hoffentlich 12 Jetzt die richtigen Fragen stellen Die Menschenrechte müssen im Zentrum stehen. CARTE BLANCHE 14 «Der Staat hat Verantwortung» Die Rechtsprofessorin Evelyne Schmid über den Schutz 35 Pedro Lenz der Grundrechte. Der einstige Lockdown 16 Angst und Ausgrenzung Südafrika: Das Virus verstärkt die Ungleichheiten. IN ACTION 18 Luxusgut Gesundheit USA: Die Krise stürzt viele Menschen in die Armut. 37 Das können Sie tun Aktiv trotz Corona-Krise 19 Das Virus und die Menschenrechte 38 Saudi-Arabien Beispiele von Rechten, die jetzt missachtet werden. Repressiver denn je 20 Keine Arbeit, grosser Hunger 39 Asyl und Migration Indien: Der Lockdown trifft die Ärmsten. Petition: Jetzt Flüchtlinge evakuieren Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 102, Juni 2020. Redaktion: Carole Scheidegger (cas, verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Ulla Bein, Nadia Boehlen, Vanessa Dougnac, Hannah El-Hitami, Ralf Kaminski, Cristina Karrer, Pedro Lenz, Emilie Mathys, Kessava Packiry, Klaus Petrus, Maik Söhler, Patrick Walder. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 19. Juni 2020. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich un- terstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 80 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Social Distancing. Lockdown. #StayAtHome. R-Wert. Seit ich Sie das letzte Mal an dieser Stelle begrüsst habe, sind neue Wörter in unserem Alltag aufge- GOO Beschneidung von Mädchen unter Strafe gestellt SUDAN – Laut Unicef sind im Sudan 87 Prozent der 15- bis 49-jähri- gen Mädchen und Frauen beschnitten. Jetzt hat die sudanesische Übergangsregierung entschieden, die Beschneidung unter Strafe zu stellen. Wer ein Mädchen verstümmelt, muss drei Jahre ins Gefängnis. © Albert Gonzalez Farran / flickr taucht. Mit den Wörtern kam eine neue Realität. Wochen- lang geschlossene Schulen und Geschäfte, Kurzarbeit und Entlassungen, zwei Meter Abstand, Hände desinfizieren im Supermarkt – hätten Sie vor sechs Monaten erwartet, dass unser Leben plötzlich so aussieht? Ich nicht. Ein kleines Virus hat die Welt auf den Kopf gestellt. Auch aus menschenrechtlicher Sicht ist die Corona- Pandemie eine grosse Herausforderung, wie wir in Diese Hebammen in Ausbildung engagieren sich für ein Ende der Beschneidung diesem Magazin aufzeigen. Wann unsere Grundrechte von Frauen in Sudan. eingeschränkt werden dürfen, erklärt Rechtsprofesso- rin Evelyne Schmid im Interview. Dass die Krise jene Abschaffung Ahmed Alwadaei, einem der Leiter der Todesstrafe der Organisation Bahrain Institute besonders hart trifft, die schon zuvor marginalisiert TSCHAD – Die tschadische Natio- for Rights and Democracy, der in waren, zeigen die Reportagen aus Indien, Südafrika nalversammlung stimmte am Grossbritannien lebt. Seine Fami- 28. April einstimmig für die Ab- lie in Bahrein wird von den Behör- und den USA. Warum wir jetzt die Weichen für die schaffung der Todesstrafe für Ter- den seit Jahren verfolgt. Am Zukunft richtig stellen müssen und was wir dafür aus rorakte. Das Land hatte 2015 die 30. Oktober 2017 waren Hajer, ihr früheren Krisen lernen können, erläutert Amnesty- Todesstrafe im Kampf gegen die Sohn Sayed Nizar und ihr Neffe Terrorgruppe Boko Haram wieder Mahmood Marzooq Mansoor Kollege Patrick Walder. Ans Herz legen möchte ich eingeführt. Die aktuelle Änderung schuldig gesprochen worden: Sie Ihnen darüber hinaus die «Carte blanche» von zielt darauf ab, «unsere Gesetze sollen Ende Januar 2017 in einer in Einklang mit allen Ländern der Schriftsteller Pedro Lenz über einen «einstigen Lock- © privat G5-Sahelgruppe zu bringen», sag- down». te der Justizminister Djimet Arabi gegenüber den Medien. Er glaube nicht, dass die Todesstrafe eine Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und ein Netz von abschreckende Wirkung habe. Menschen, das Sie durch diese Zeiten trägt. Auf Ab- Hajer Mansoor Hassan frei stand – aber trotzdem zusammen! BAHREIN − Am 5. März 2020 wur- de Hajer Mansoor Hassan nach Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin Verbüssen einer dreijährigen Haft- strafe aus dem Frauengefängnis Sippenhaft: Hajer Mansoor Hassan entlassen. Hajer Mansoor Hassan sass wegen ihres Schwiegersohns im ist die Schwiegermutter von Sayed Gefängnis. 4 AMNESTY Juni 2020
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS Gegend südwestlich der Haupt- stadt Manama «Bombenattrappen deponiert» haben. Das Verfahren entsprach nicht den Standards für faire Gerichtsverfahren, und die Angeklagten sagen, dass sie gefol- tert worden seien, um ein «Ge- ständnis» zu erzwingen. Hajer Wang Quanzhang freigelassen CHINA − Nach viereinhalb Jahren im Gefängnis konnte Wang Quan zhang endlich zu seiner Familie zurückkehren. Der Menschen- rechtsanwalt wurde 2015 im Rahmen einer grossen Repressions welle gegen mehr als 250 MenschenrechtsverteidigerInnen, Anwältinnen und Aktivisten verhaftet. Wang Quanzhang war fast drei Jahre lang ohne Kontakt zur Aussenwelt inhaftiert und hatte keinen Rechtsbeistand; erst IN KÜRZE NIGER – Der Journalist Mamane Kaka Touda ist nach drei Wochen Haft freigelassen worden. Er hat- te in sozialen Medien gepostet, dass es in der Notfallstation ei- nes Krankenhauses in Niamey © privat Mansoor Hassans Neffe Mah- 2018 erfuhr seine einen Covid-19-Verdachtsfall mood Marzooq Mansoor wurde Familie, dass er gebe. Ihm wird vorgeworfen, Da- am 11. März freigelassen, ihr noch lebte und wo er ten verbreitet zu haben, «die die Sohn befindet sich weiterhin in sich befand. 2019 öffentliche Ordnung stören». Haft. wurde er in einem unfairen Gerichtsver- SENEGAL – Der senegalesische Nun sind es 22 fahren zu viereinhalb Aktivist Guy Marius Sagna ist im USA – Als 22. US-Bundesstaat Jahren Haft verur- März nach drei Monaten Haft ge- hat Colorado Ende März die To- teilt. gen Kaution freigelassen worden. desstrafe offiziell abgeschafft. Grund seiner Inhaftierung waren Bestehende Todesurteile wurden «Rebellion» sowie ein Aufruf zu von Gouverneur Jared Polis in einer nicht genehmigten Ver- lebenslange Gefängnisstrafen Der Menschenrechts sammlung. umgewandelt. Das Gesetz zur anwalt mit Frau und Abschaffung der Todesstrafe Kind. RUSSLAND – Die Künstlerin hatte das Parlament des Bun- und LGBTI*-Aktivistin Yulia desstaates bereits im Februar Abschaffung der Todes schliesst jedoch Straftaten nach Tsvetkova ist im März aus dem beschlossen – gegen den Willen strafe für Minderjährige dem Antiterrorgesetz aus. In der Hausarrest entlassen worden. der Republikaner. Gouverneur SAUDI-ARABIEN – Ende April kün- Vorwoche hatten die saudischen Wegen ihrer Zeichnungen des Jared Polis sagte bei der Unter- digte das Land an, dass es die Behörden bereits Peitschen- weiblichen Körpers warfen ihr zeichnung des Gesetzes, es Todesstrafe gegen Menschen, oder Schlagstock-Prügelstrafen die Behörden vor, pornografi- habe nie «gerechte» Todesurteile die zum Tatzeitpunkt unter abgeschafft und sie durch Geld- sches Material hergestellt und gegeben und es könne sie auch 18 Jahre alt waren, abschaffen strafen oder gemeinnützige verbreitet zu haben. Das Straf- nicht geben. wolle. Der königliche Erlass Arbeit ersetzt. verfahren gegen sie läuft jedoch weiter, auch unterliegt sie Reisebeschränkungen. © AI IN EIGENER SACHE IN ACTION ÄQUATORIALGUINEA – Am 14. Feb- «IN ACTION»: Jetzt im AMNESTY-Magazin Mit Online-Kursen können Sie sich zu Themen rund um die Menschen- ruar wurde der Menschenrechts- rechte weiterbilden. Neu finden Sie unsere aktuellen Aktionen direkt hier im Maga- verteidiger Joaquín Elo Ayeto zin. Bis anhin informierten wir Sie mit einer Beilage über un- DAS KÖNNEN SIE TUN aus dem Gefängnis in Malabo sere Kampagnen und Aktivitäten und darüber, wie auch Sie AKTIV SEIN TROTZ CORONA-KRISE entlassen – ein Jahr nach seiner Unser Einsatz für die Menschenrechte ist momentan besonders wichtig. Hier einige Vorschläge, sich engagieren können. Nun haben wir beschlossen, diese willkürlichen Inhaftierung. Ihm wie Sie sich auch in diesen Zeiten engagieren können. D ie Corona-Krise verändert das Engagement für die Menschen- …sich weiterbilden: Amnesty International bietet Online-Kurse Informationen ins Heft zu integrieren und ihnen so mehr rechte. Manche der bewährten Aktionsformen, zum Beispiel Un- für Jung und Alt an. Die Kurse behandeln Kampagnenthemen oder terschriftensammlungen auf der Strasse, mussten gestoppt werden. Dennoch ist es wichtig, dass wir jetzt nicht die Hände in den Schoss legen. Denn die Rechte vieler Menschen werden in der Corona-Krise verletzt. Wir müssen den Druck auf Regierungen hoch halten, damit geben Auskunft darüber, wie die Corona-Pandemie die Menschen- rechte beeinflusst. …sich vernetzen: Amnesty-Aktivmitglieder und -Angestellte tref- wurde vorgeworfen, Mitwisser Gewicht zu verleihen. Ab S. 37 lesen Sie, was Sie aktuell für eines geplanten Mordanschlags die Menschenrechte auch während der Pandemie respektiert wer- fen sich regelmässig auf Skype oder chatten in der App Telegram. den. Und wir müssen besonders jene schützen, die bereits in einer Beteiligen Sie sich. schlimmen Situation sind – zum Beispiel Flüchtlinge in Lagern von Griechenland bis Bangladesch oder Gefangene in überfüllten Zellen. ...unsere Arbeit mit einer Spende unterstützen. Wir brauchen Ihre Das können Sie tun: Hilfe, damit diese Gesundheitskrise nicht auch eine Krise der Men- die Menschenrechte tun können. …die Petition auf der übernächsten Seite unterschreiben und an uns zurückschicken. schenrechte wird. ...unsere Nachrichten und Aktionsaufrufe teilen. Sie finden uns auf Facebook, Twitter, Instagram und Youtube. auf den Präsidenten zu sein. Haben Sie eine Rückmeldung zu dieser Änderung oder ganz …bei unseren Online-Petitionen mitmachen und Ihre Bekannten auffordern, es Ihnen gleichzutun. …sich mit E-Mails für bedrohte Menschen einsetzen, deren Situa- …Solidarität zeigen: Kaufen Sie für verletzliche Menschen ein oder unterstützen Sie sie auf eine andere sichere Art. Joaquín Elo Ayeto wurde zwar tion sich im Zuge der Corona-Krise verschlimmert hat. Alle Informationen zu Online-Petitionen, E-Mail-Vorlagen, GV, Kur- allgemein zum Magazin? Wir freuen uns auf Ihre Nachricht an angeklagt und vor Gericht ge- sen und Chats finden Sie unter www.amnesty.ch/magazin-juni20. …mehr erfahren darüber, wie uns die Menschenrechte auch in Zeiten wie diesen schützen und wie sich die Pandemie in diversen Für den Herbst plant Amnesty Schweiz diverse Aktionen und Ländern auswirkt. Wir bündeln alle News auf unserem Themenportal Treffen, die hoffentlich wieder eine persönliche Begegnung erlauben. redaktion@amnesty.ch oder an Redaktion «Amnesty», Amnesty «Coronavirus und Menschenrechte». Menschenrechte sind das Fundament unseres Zusammenlebens …an der virtuellen Generalversammlung von Amnesty Schweiz teil- nehmen. Sie findet statt am 30. Juni von 18.00 bis 20.30 Uhr. Mehr und stehen für das, was es jetzt so dringend braucht: Menschlich- keit, Mitgefühl und Solidarität. Bleiben Sie an unserer Seite. stellt, doch es kam nie zu einer Informationen und Anmeldung bis 16. Juni unter amnesty.ch/gv. Carole Scheidegger International, Schweizer Sektion, Postfach, 3001 Bern. AMNESTY Juni 2020 37 Urteilsverkündung. 5 AMNESTY Juni 2020
AKTUELL_IM BILD © SAI AUNG MAIN / Kontributor via AFP/Getty Images MYANMAR – Kay Khaing Tun blickt nach ihrem Prozess im November 2019 aus einem Fenster des Gefängnisses in Yangon. Die junge Frau ge- hört zur Peacock Generation Group, einer Truppe von KünstlerInnen, die eine traditionelle Form satirischer Poesie namens Thangyat vorträgt. Sechs Mitglieder wurden festgenommen und vor Gericht gestellt. Am 17. April 2020 wurden 25 000 Häftlinge freigelassen, als die Regierung von Aung San Suu Kyi am myanmarischen Neujahr ihren «Friedenswillen» ausdrücken wollte. Nicht so 200 politische Gefangene sowie die sechs Mitglieder der Peacock Generation. Sie bleiben in Haft. 6 AMNESTY Juni 2020
AKTUELL_NACHRICHTEN Beunruhigender Trend die seit mehreren Monaten inhaf- © quetions123 / shutterstock.com WESTAFRIKA – Benin hat seinen tiert sind, freizulassen. Die beiden BürgerInnen und NGOs die westafrikanischen Staaten folgen Möglichkeit entzogen, den Afri- damit Tansania und Ruanda, die kanischen Gerichtshof für Men- diesen Schritt bereits 2019 resp. schenrechte anzurufen, um 2016 vornahmen. Der Afrikani- mögliche Menschenrechtsver sche Gerichtshof für Menschen- letzungen anzuprangern. rechte und Rechte der Völker ist Bereits am 28. April hat sich die das supranationale Rechtsorgan Regierung der Elfenbeinküste vom für den Schutz der Bestimmun- Gerichtshof verabschiedet, nach- gen der Afrikanischen Charta der dem dieser die Regierung ange- Menschenrechte und Rechte der wiesen hatte, den Haftbefehl Völker. Mit dem Rückzug von gegen den Präsidentschaftskandi- Benin wird das afrikanische Men- daten Guillaume Soro auszuset- schenrechtssystem weiter ge- zen und 19 seiner Verwandten, schwächt. Nach Angriffen syrischer Truppen gegen die letzten Rebellenhochburge fliehen Tausende Zivilpersonen aus Idlib nordwärts. Präsident droht mit Erschiessung PHILIPPINEN – Präsident Rodrigo Duterte hat Anfang April in einer TV- Humanitäre Hilfe ermöglichen Ansprache zur Corona-Pandemie mit Erschiessungen gedroht. «Wenn SYRIEN – Am 10. Juli läuft eine Uno-Resolution aus, die bisher die Ein- jemand Ärger macht und Leben in Gefahr sind, lauten meine Anwei- führung von Hilfsgütern für die Bevölkerung von Idlib über die Gren- sungen an die Polizei und das Militär: Erschiesst sie!», sagte Duterte. zen im Nordwesten Syriens ermöglichte. Syrien und seine Verbünde- Mitte März war auf der philippinischen Hauptinsel Luzon eine strenge ten möchten die von Juli 2014 stammende, mehrfach verlängerte Ausgangssperre verhängt worden. Dort leben mehr als die Hälfte der Resolution nicht erneuern. Hilfslieferungen sollen stattdessen über über 100 Millionen EinwohnerInnen des Landes. BewohnerInnen ei- Damaskus laufen, was es der Uno und Partnerorganisationen er- nes Slums hatten protestiert, weil sie wegen der Ausgangssperre über schweren würde, die dringend notwendige Hilfe zeitnah und nachhal- Wochen von Hilfsgütern abgeschnitten waren. tig zu verteilen. Durch die gezielten Angriffe der syrischen und russi- © junpinzon / shutterstock.com schen Truppen gegen medizinische Einrichtungen und Schulen in Idlib, West-Aleppo und im nordwestlichen Gouvernement Hama wur- den bis zum Waffenstillstand am 5. März 2020 nahezu eine Million Zivilpersonen im Land vertrieben; sie leben seither unter katastropha- len Bedingungen und müssen dringend versorgt werden. Die Uno- Resolution muss daher unbedingt verlängert werden, wie Amnesty International fordert. In der Krise ohne Obdach ten. Die Behörden erkennen die- ÄTHIOPIEN – Die Stadtverwaltung sen Kauf jedoch nicht an und be- von Addis Abeba hat im April haupten, die Familien seien Dutzende Häuser abgerissen, in «Besetzer». «Viele Familien denen TagelöhnerInnen unterge- mussten nach dem Abriss unter kommen waren, die im Zuge der Palmen und Palmblättern in star- Corona-Pandemie arbeitslos wur- kem Regen ausharren», sagte den. Mindestens 1000 Menschen Deprose Muchena, Ostafrika- wurden durch den Abriss nun Spezialist bei Amnesty. «In Zeiten auch obdachlos. Die Betroffenen von Covid-19 ist es entscheidend, sagten gegenüber Amnesty, dass dass die Menschen ein Zuhause sie die Häuser auf Land gebaut haben, um sich schützen zu In Antipolo City auf den Philippinen wurden ganze Quartiere unter Quarantäne hätten, das sie 2007 gekauft hät- können.» hermetisch abgeriegelt. 7 AMNESTY Juni 2020
AKTUELL_NACHRICHTEN Konservativer Rückschritt © Isaac Young / shutterstock.com UNGARN – Das ungarische Parlament hat am 5. Mai erklärt, dass das Land die Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen nicht ratifizie- ren werde – dies, obwohl seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie mehr Vorfälle von häuslicher Gewalt gemeldet wurden. Ungarn hat zwar 2014 die sogenannte Istanbul- Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) unterzeichnet, sie wurde jedoch noch nicht Teil der nationalen Gesetz- gebung. Trotz internationaler Proteste hat das ungarische Parlament am 19. Mai ausserdem die Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung von trans Menschen und Intergeschlechtlichen abgeschafft. Statt des gelebten Geschlechts soll nur noch das «Geschlecht bei der Geburt» in Dokumenten und Ausweisen stehen. Dies verletzt die Rechte von trans und inter* Menschen und missachtet internationale Menschen- © AI rechtsstandards. Auch bei den Protesten vom September 2019 ging die Polizei Hongkongs mit äusserster Härte gegen die Demonstrierenden vor. Mitglieder der Demokratiebewegung festgenommen CHINA – 15 bekannte Demokratie-AktivistInnen wurden am 18. April 2020 in Hongkong festgenommen, darunter Politiker und ehemalige Abgeordnete. Unter ihnen sind der Gründer der Hongkonger Zeitung «Apple Daily», Jimmy Lai, sowie der prominente Anwalt Martin Lee. Ihnen wird vorgeworfen, bei den Demonstrationen im vergangenen Jahr in Hongkong illegale Versammlungen organisiert zu haben. Sie kamen auf Kaution frei, werden aber demnächst vor Gericht gestellt. Mitte Mai wurden bei den jüngsten Protesten gegen die Regierung er- neut rund 230 Demonstranten festgenommen, die gemäss Polizei ge- gen Versammlungsbeschränkungen verstossen oder die öffentliche Stille Zeuginnen: Aktion in Budapest gegen die Gewalt an Frauen. Ordnung behindert hätten. JETZT ONLINE Videos zu «Coronavirus und Menschenrechte» – In den letzten Amnesty Talks – Sind Sie bei Spotify registriert? Dann hören Wochen wurden von Amnesty einige Videos zu Corona und Sie rein in die Postcasts von Amnesty International: Lauschen Menschenrechten produziert. Gesehen? Falls nicht: Besuchen Sie den Gesprächen zu aktuellen Menschenrechtsthemen, so zu Sie unseren Youtube-Kanal! Überwachung mit Patrick Walder oder zur Flüchtlingskrise mit Virtuell statt überhaupt nicht – Aufgrund der Covid-Beschrän- Alicia Giraudel. kungen werden verschiedene Amnesty-Veranstaltungen virtuell durchgeführt, so die Jahresversammlung und das Youthmeeting. Jetzt online unter: www.amnesty.ch/magazin-juni20 Sie finden alle Angaben und Anmeldemöglichkeiten unter amnesty.ch/veranstaltungen 8 AMNESTY Juni 2020
AKTUELL_BRENNPUNKT ZWEI RÄDCHEN DER HÖLLENMASCHINERIE Gericht mit der systematischen dabei auf das Weltrechtsprinzip. © Digitalglobe 2016 Folter in den Gefängnissen des Demnach darf die deutsche syrischen Regimes. Anwar R. Bundesanwaltschaft besonders soll in der Abteilung 251 des schwere Verbrechen wie Völker- Allgemeinen Geheimdiensts in mord, Kriegsverbrechen oder Damaskus die Ermittlungsabtei- Verbrechen gegen die Mensch- lung geleitet haben und für lichkeit verfolgen, auch wenn 4000 Fälle von Folter, 58 Tötun- kein direkter Bezug zu Deutsch- gen und zwei Fälle von sexuali- land besteht. Das ermöglichte sierter Gewalt verantwortlich bereits im Sommer 2018 einen sein. Eyad A. soll als Mitarbeiter internationalen Haftbefehl gegen einer Unterabteilung Beihilfe zu den ehemaligen Chef des syri- Verbrechen gegen die Mensch- schen Luftwaffengeheimdiens- lichkeit geleistet haben. tes, Jamil Hassan, und einige Monate später die Verhaftung Im Militärgefängnis Saydnaya nördlich von Damaskus – hier eine Satellitenauf- Seit Anfang des Kriegs in Syrien von Anwar R. und Eyad A. Die nahme – kam es zu massiver Folter und exzessiver Gewalt. berichten Menschenrechtsorga- beiden hatten als Flüchtlinge in nisationen immer wieder über Deutschland gelebt und sich unmenschliche Haftbedingun- durch Aussagen über ihre Ver- D ie Liste der Foltervorwürfe scheint nicht enden zu wol- len, als der Oberstaatsanwalt die gen und systematische Folter in den Gefängnissen des Landes. Zehntausende Menschen wur- gangenheit bei Polizei und Asyl- behörden verdächtig gemacht. Anklageschrift verliest: Elektro- den willkürlich verhaftet oder Zwar wird der Prozess in Kob- schocks, sexualisierte Gewalt sind verschwunden. Mehr als lenz die katastrophale Lage in und immer wieder Schläge – mit 14 000 zu Tode gefolterte Häft- Syrien erst einmal nicht verbes- Händen, Stöcken und Stromka- linge hat das Syrische Netzwerk sern, wo Präsident Assad nach beln, deren ausgefranste Enden für Menschenrechte (SNHR) wie vor an der Macht ist und sich tief ins Fleisch gruben. gezählt. Ein Bericht von Am- jegliche Folter leugnet. Dennoch 3000 Kilometer vom Tatort ent- nesty International lieferte 2017 ist das Verfahren für viele Syre- fernt und acht Jahre nach den Hinweise auf Massenexekutio- rInnen ein Grund zur Hoffnung. mutmasslichen Verbrechen ste- nen im berüchtigten Militärge- «Der Prozess ist nicht das Ziel, hen zwei ehemalige Mitarbeiter fängnis Saydnaya. Und nach sondern nur ein Abschnitt», sagt des syrischen Geheimdiensts in wie vor sollen sich mehr als der syrische Menschenrechtsan- Koblenz vor Gericht. Die Ange- Hunderttausend Menschen in walt Anwar Al-Bunni, der in Ko- klagten Anwar R. und Eyad A. den oft unterirdisch angelegten blenz als Zeuge aussagen wird. sollen in den Jahren 2011 und Haftanstalten befinden. Die Dokumentation und die Ver- 2012 mitverantwortlich gewesen folgung der Verbrechen von zwei sein für Verbrechen gegen die Syrer und Syrerinnen im Exil Rädchen im Foltersystem, wie Menschlichkeit. kämpfen unterdessen um Ge- es Anwar R. und Eyad A. waren, rechtigkeit für sich selbst oder seien der Schlüssel, um die gan- Es ist ein historischer Prozess, ihre Angehörigen, für Tote, ze Höllenmaschinerie aufzude- der Ende April begonnen hat Überlebende oder noch immer cken. «Wir wollen alle Verbre- Hannah El-Hitami ist freischaffende und wohl mindestens ein Jahr Inhaftierte. In Deutschland, wo cher vor Gericht bringen, bis hin Journalistin und verfolgt den Prozess dauern wird: Zum ersten Mal etwa 770 000 Geflüchtete aus zu Baschar al-Assad.» vor Ort. überhaupt beschäftigt sich ein Syrien leben, berufen sie sich Hannah El-Hitami 9 AMNESTY Juni 2020
D as Coronavirus bringt die Welt in den Ausnahme zustand. Menschen leiden, verlieren Angehörige, sind plötzlich ohne Arbeit. Wer zuvor schon geschwächt war, wird durch die Krise erst recht getroffen. Mancherorts wächst mit der Pandemie bekämpfung auch die Repres sion, so wie auf diesem Bild aus Nepal. Nun sind die Menschenrechte wichtiger denn je. Akte der Solidarität und Momente des Mitgefühls machen auch in diesen Zeiten Hoffnung. © Reuters/Navesh Chitrakar 10 AMNESTY Juni 2020
Herausforderung für die Menschenrechte 11 AMNESTY Juni 2020
DOSSIER_CORONA-KRISE Jetzt die richtigen Fragen stellen Die Corona-Pandemie stellt uns vor enorme Herausforderungen. Die jetzt getroffenen Ent- scheidungen werden die Welt auf lange Zeit prägen, das zeigen die Erfahrungen aus früheren Krisen. Die Menschenrechte müssen im Zentrum aller Massnahmen stehen. Von Patrick Walder © Gulliver Theis / Keystone / Laif Wir haben aber auch immer noch Grund zur Hoffnung. Denn wir können jetzt die richtigen Entscheidungen treffen. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Die erste Re- aktion auf die Pandemie brachte auch eine Welle von Menschlichkeit und Solidarität hervor. Vernachlässigte The- men wie beispielsweise die Care-Arbeit standen plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Und wir können aus den Er- fahrungen von zwei Krisen lernen, bei denen die Menschen- rechte über Bord geworfen wurden: die Anschläge vom Sep- tember 2001 und die Finanzkrise von 2008. Keine Sicherheit ohne Menschenrechte Die Reaktion der Staaten auf die Anschläge von 9/11 war ein per- manenter und globaler «Krieg gegen den Terror», der die Welt nicht sicherer gemacht hat, sondern zu noch mehr Krieg, Folter und Terror geführt hat. Global wachsende Bud- gets für Militär und Geheimdienste, schwindende Ressour- cen für Entwicklung, soziale Gerechtigkeit und Gesundheit: Der enge Fokus auf die Bedrohung durch Terror verstellte auch den Blick für Gefahren, wie sie uns heute treffen. Auch die Antwort der Staaten auf die Finanzkrise von 2008 belastet uns noch heute. Manche Staaten, die die Ban- Corona-Krise: Wohin führt sie uns? ken mit Milliarden vor der Pleite retten mussten, schlitterten in eine Schuldenkrise und bauten unter Druck soziale Leis- tungen wie Renten und Gesundheitsversorgung ab. Auf die Missachtung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte vieler Menschen folgte die Angst vor sozialem Abstieg in Europa – W ir haben allen Grund, uns zu fürchten. Wir können zurzeit nicht abschätzen, wie lange diese Krise andau- ern und wohin sie uns noch führen wird. Es fehlt nicht an und damit verbunden eine Welle von Nationalismus, Frem- denfeindlichkeit und Populismus. Konkret fehlten nun in den von der Schuldenkrise besonders betroffenen Ländern dramatischen Prognosen. Die Corona-Pandemie wird vergli- wie Italien oder Spanien die Spitalbetten und die Ressourcen chen mit der Spanischen Grippe von 1919 und der Grossen zur Bekämpfung der Corona-Krise. Ganz zu schweigen von Depression der 1930er-Jahre. Solche Szenarien wecken na- den Ländern im globalen Süden. türlich auch Befürchtungen, was die gesellschaftlichen und die politischen Folgen der Pandemie angeht. Denn das Virus Ein Kompass durch die Krise Eine Reaktion auf betrifft uns zwar alle, aber eben nicht alle gleich. die Corona-Krise, die die Menschenrechte missachtet, kön- 12 AMNESTY Juni 2020
DOSSIER_CORONA-KRISE nen wir uns heute schlicht nicht leisten. Die Menschenrechte wurden nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs gebo- ren und können auch in der aktuellen Krise als Kompass die- Die Menschenrechte bieten Regeln, Prinzipien und Orientierung, die auch nen. Sie liefern zwar keine Handlungsanleitung für die Ge- sundheitspolitik oder für die Wirtschaft. Aber sie bieten Regeln, Prinzipien und Orientierung, die auch in dieser Kri- in dieser Krise Leben retten können. se Leben retten können. Und sie helfen, die Benachteiligten und Diskriminierten nicht zurückzulassen. Und sie helfen, die Benachteiligten und Vergessen wir nicht, dass die Pandemie mit der Verlet- Diskriminierten nicht zurückzulassen. zung der Meinungsfreiheit ihren Ausgang genommen hat, als die ÄrztInnen in China, die als Erste über die Krankheit berichtet hatten, zensuriert und verfolgt wurden. Weitere Staaten reagierten mit Einschränkungen der Menschenrech- te, etwa der Versammlungsfreiheit – in demokratischen Län- dern häufig begleitet von der Versicherung, dass die Mass- nahmen nun nötig seien, aber «so bald wie möglich» aufgehoben würden. die Schweizer App für das Contact-Tracing, versprechen Aber immer wieder wurde auch die Bedeutung der Men- Transparenz, Freiwilligkeit und Datenschutz. Ohne diese schenrechte deutlich. Zum Beispiel jene der Meinungsfrei- menschenrechtlichen Prinzipien wären solche Massnahmen heit, die auch das Recht auf Zugang zu Informationen ein- weder vertrauenswürdig, noch würden sie von der Bevölke- schliesst. Nach der problematischen Reaktion mit Zensur rung akzeptiert werden. schwenkten die chinesischen Behörden um und teilten die verfügbaren Informationen über das neue Virus, damit die Alternativen sind denkbar Gefordert waren und Forschenden in aller Welt mit der Entwicklung eines Impf- bleiben in dieser Krise vor allem die Staaten. Die Staaten, die stoffs beginnen konnten. Und zur Bewältigung der Bedro- noch vor Kurzem möglichst schlank sein sollten und die hung brauchen die Menschen nicht nur die Fakten der Wis- durch den globalen Steuerwettbewerb so geschwächt werden, senschaft, sondern auch glaubwürdige Informationen der dass sie ihre Aufgaben kaum mehr leisten können. Medien. Denn Fake-News führen hier direkt ins Verderben. Reagiert haben die Staaten fast alle mit Grenzschliessun- An vorderster Front bei der Pandemie-Bekämpfung stan- gen. Die Globalisierung scheint aufgehoben. Das Flücht- den PflegerInnen und ÄrztInnen, der ganze Bereich der lingsrecht ausgesetzt. Doch die Einsicht wird sich durchset- Care-Arbeit vom Kinderhüten bis zur Altenpflege, die über- zen, dass das Virus nicht an Grenzen haltmacht und dass es wiegend von Frauen geleistet wird – und nur schlecht oder internationale Zusammenarbeit braucht, wenn wir bei der gar nicht bezahlt wird. Die Corona-Krise zeigt endlich breiten Corona-Bekämpfung Erfolg haben wollen. Dass wir die ärme- Kreisen die Bedeutung dieser Arbeit als systemrelevant auf, ren Länder und die Konfliktregionen unterstützen müssen, und Forderungen nach gerechtem Lohn und fairen Arbeits- damit auch sie die Pandemie erfolgreich bekämpfen können. bedingungen finden mehr Unterstützung. Denn ohne ihren Erfolg werden auch wir keinen haben, zu- Ein eindrückliches Zeichen der Solidarität in der Gesell- mindest nicht, solange es keine Impfung gibt. schaft war die Bereitschaft der Menschen, auf ihre persönli- Wir sollten diese Krise nutzen, um die wichtigen Fragen chen Freiheiten zu verzichten und zu Hause zu bleiben, um zu stellen. Wenn wir die Wirtschaft auf einen Schlag anhal- die älteren und verletzlichen Personen zu schützen. Spontan ten und danach auch wieder starten können, warum soll es entwickelten sich auch Hunderte von Initiativen der Nach- dann nicht möglich sein, Regeln für Konzerne einzuführen, barschaftshilfe. Vieles erschien plötzlich möglich. Ein ver- damit diese die Menschenrechte respektieren? Warum nicht langsamtes Leben mit weniger Konsum, Verkehr und Be- eine Wirtschaft entwickeln, die umweltverträglich ist und die trieb. Ein Leben, in dem Gesundheit und Freundschaften Klimaziele umsetzt? Eine Gesellschaft gestalten, die keinen mehr zählen. zurücklässt? Bald zeigte sich auch, dass liberale Demokratien wie die Wir haben weiterhin Grund, uns zu fürchten, aber wir ha- Schweiz oder Deutschland die Krise besser meistern als Län- ben auch Grund zur Hoffnung. Wenn jetzt Entscheidungen der, die von Populisten wie Trump, Bolsonaro oder Johnson gefällt werden, müssen wir uns einmischen und auf Mensch- regiert werden. Selbst Überwachungsmassnahmen wie etwa lichkeit und Solidarität setzen. 13 AMNESTY Juni 2020
DOSSIER_CORONA-KRISE «Der Staat hat Verantwortung» Das Coronavirus hat die Schweiz in eine «ausserordentliche Lage» gebracht. Der Staat hat dadurch um- fassendere Befugnisse. Aber er hat auch Verantwortung, zum Beispiel für den Schutz der Grundrechte. Evelyne Schmid, Rechtsprofessorin in Lausanne und Spezialistin für Menschenrechte, gibt Auskunft. Interview: Emilie Mathys E AMNESTY: Mitte März hat der Bundesrat die Schweiz in den F Die Verfassung, einschliesslich der Grundrechte, gilt Notstand versetzt. Wie weit können Massnahmen zur Ein- weiterhin, auch wenn Grundrechte eingeschränkt werden dämmung der Pandemie gesetzlich gehen? können – das ist auch in der Europäischen Menschenrechts F Evelyne Schmid: Der Begriff Notstand ist mehrdeutig, weil konvention vorgesehen. Der Staat hat also mehr Handlungs- viele darunter verstehen, dass die Regierung machen könne, spielraum. Bei Pandemien erhält die Exekutive mehr Macht, was sie wolle. Und er steht nicht in der Verfassung, anders damit rasch gegen die Gefahr vorgegangen werden kann. als die «ausserordentliche Lage». Laut Epidemiegesetz kann Aber nochmals: Die Staaten müssen sich auf diese Aufgabe der Bundesrat in einer «ausserordentlichen Lage» Entschei- beschränken. Wenn zum Beispiel beschlossen wird, während dungen treffen, die im Normalfall bei den Kantonen liegen. der Pandemie die Überwachung zu erhöhen, kann man nicht Ausserdem enthält die Verfassung einen Absatz zu «schwe- einfach gleich noch Daten «in Reserve» sammeln. Die Ein- ren Störungen der öffentlichen Ordnung». Aber auch wenn schränkung unserer Grund- und Menschenrechte ist dann der Bundesrat erweiterte Befugnisse hat, so gilt doch der akzeptabel, wenn sie sich auf das primäre Ziel beschränkt: Rechtsstaat, und es gibt Grenzen: Die Verordnungen sind die Bekämpfung der Pandemie, und zwar mit verhältnismäs- zeitlich auf maximal sechs Monate beschränkt, danach muss sigen und rechtlich vorgesehenen Mitteln. sich die Bundesversammlung dazu äussern können. Die er- Der Staat hat aber auch die Pflicht, aktiv zu werden: Er muss weiterten Befugnisse des Bundesrats gelten ausserdem nur uns schützen und sicherstellen, dass die Menschenrechte dort, wo es darum geht, diese schwere Bedrohung zu be- umgesetzt werden. Zum Beispiel muss er uns soweit mög- kämpfen. Der Bundesrat darf auf dieser Grundlage zum Bei- lich vor Schäden der körperlichen und der psychischen Ge- spiel keine Massnahmen treffen, die anderen Interessen gel- sundheit bewahren, er muss das Personal in Spitälern oder ten. Alters- und Pflegeheimen vor dem Virus schützen, er muss dafür sorgen, dass Patienten mit anderen Krankheiten eben- EWie können die Menschenrechte in einem solchen Umfeld falls die bestmögliche Behandlung bekommen, und er muss geschützt werden? die Massnahmen gegen häusliche Gewalt verstärken. E Aber wir hatten zu wenig Atemschutzmasken – hat der © zvg Bund seine Pflichten verletzt? F Jeder Mensch hat das Recht auf den für ihn bestmöglichen gesundheitlichen Zustand, was für den Fall von Epidemien ein adäquat vorbereitetes Gesundheitssystem voraussetzt. Die Kantone müssen dafür sorgen, dass genügend Material vorhanden ist. Die Schutz- und Verwirklichungspflichten gel- ten zum Beispiel auch für die Kontrolle von Baustellen, damit die Arbeiter den nötigen Schutz bekommen. Die Spitäler Evelyne Schmid ist Assoziierte wurden in der Vergangenheit dazu gedrängt, ihre Kosten zu Professorin für Völkerrecht an der reduzieren, in der Folge waren sie schlechter vorbereitet. Es Universität Lausanne. ist schwierig, die Behörden mitten in einer Pandemie zu kri- 14 AMNESTY Juni 2020
DOSSIER_CORONA-KRISE tisieren, aber nach der Krise müssen die Präventionsmass- © Reuters/Denis Balibouse nahmen evaluiert werden. E Auch im Gefängnis sind die Menschenrechte bedroht. Ge- nügend Abstand zu halten ist in überfüllten Haftanstalten wie in Champ-Dollon (Kanton Genf) schwierig… F Auch in Gefängnissen muss der Staat für den Schutz der Insassen und des Personals sorgen, das Virus darf sich mög- lichst nicht verbreiten. Unter Umständen sind bedingte Frei- lassungen eine Möglichkeit, falls schon ein grosser Teil der Strafe verbüsst wurde und die Prognosen positiv sind. Die Haft kann auch vorübergehend unterbrochen werden. Ge- fangene sind im Durchschnitt bei schlechterer Gesundheit als die restliche Bevölkerung und also stärker vom Virus be- droht. Ausserdem stellt sich das Problem des Zugangs zu Informationen für die Gefangenen. Diese haben das Recht, über die Ausbreitung der Epidemie informiert zu werden. E Die Überwachung, etwa von Mobiltelefonen oder durch Vi- «Jeder Mensch hat das Recht auf den für ihn bestmöglichen gesundheitlichen deokameras, hat zugenommen. Wie steht es um die Privat- Zustand.» Warten vor dem Universitätsspital Genf. sphäre der Bürgerinnen und Bürger? F Die Eindämmung einer Pandemie ist ein legitimer Grund, unser Privatleben einzuschränken. Aber ein legitimer Grund F In der Schweiz steht der Zugang zu Gesundheitsdienstleis- genügt nicht. Auch hier braucht es zudem eine gesetzliche tungen allen offen. Aber in der Realität ist das nicht immer Grundlage, Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit. Die gegeben, zum Beispiel weil die Sans-Papiers Angst haben. Überwachung darf nur zum Ziel haben, die Epidemie einzu- Neben der finanziellen Lage ist die psychische Gesundheit, dämmen, und muss eng kontrolliert werden. Die Behörden die ein Menschenrecht ist, derzeit oft in Gefahr. Die Krise dürfen das nicht einfach privaten Unternehmen überlassen, belastet insbesondere jene, die wirtschaftlich schlecht daste- hen. Ich denke da auch an die Familien von Sans-Papiers im Ausland, die häufig vom Die erweiterten Befugnisse des Bundesrates heimgeschickten Geld abhängig sind. Für den gelten nur dort, wo es darum geht, diese schwere Zugang zur Gesundheitsversorgung wären Aufenthaltsgenehmigungen natürlich vorteil- Bedrohung zu bekämpfen. haft, aber dieser Prozess wäre politisch sehr schwierig. ohne sicherzustellen und zu überwachen, was mit unseren E Können wir im Menschenrechtsbereich mit Gesetzesände- Daten passiert. Die im Kanton Aargau Mitte Mai immer noch rungen rechnen, wenn die Krise vorbei ist? vorgesehene Nutzung von Videokameras von Privaten durch F Es wird vor allem darum gehen, die positiven Menschen- die Polizei oder die Installation von zusätzlichen Überwa- rechtsverpflichtungen besser zu berücksichtigen. Das Prob- chungskameras ohne Bewilligung der kantonalen Daten- lem ist oft nicht das Gesetz, sondern die Umsetzung, wenn schützerin ist meines Erachtens gegenwärtig unzulässig. Ob wir auf zukünftige Epidemien besser vorbereitet sein wollen. die neue Swiss-PT-App ein adäquates und sicheres Mittel zur Zu erwarten ist eine Debatte darüber, wie wir Krisen bewälti- Eindämmung des Coronavirus darstellt, wird sich erst noch gen können, nicht nur gesundheitliche, sondern auch die des zeigen müssen. Klimas. Welche Rolle kommt zum Beispiel dem Departe- ment für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport zu? E Die Sans-Papiers sind besonders von der Krise betroffen. Ist Welche Risikoszenarien werden durchgespielt? Sind es es vorstellbar, diesen Menschen jetzt ein Aufenthaltsrecht zu Kampfflugzeuge oder Masken, die wir brauchen? geben? 15 AMNESTY Juni 2020
© AFP/Getty Images/Marco Longari DOSSIER_CORONA-KRISE Angst und Ausgrenzung Zwei Meter Abstand: In Slums ist diese Vorgabe schwer einzuhalten. In Südafrika verstärkt die Corona-Pandemie die bestehenden Ungleichheiten dramatisch. Ein Augenschein vor Ort. Von Cristina Karrer E in einziger Wasserhahn und davor eine Reihe von Men- schen. Frauen und Männer, alle in Pyjamas, die einen mit einem abgegriffenen Stück Seife in der Hand, andere mit ei- tete Meinung in den südafrikanischen Slums, wo das schiere Überleben ohnehin sämtliche Kräfte absorbiert. Es gibt Klini- ken in den Townships, HIV- und Aids-Teststellen, doch laut nem Eimer. Der Boden ist matschig, es hat in der Nacht zu- Lucky Masibuko, einem der bekanntesten HIV/Aids-Aktivis- vor geregnet. Ein normaler Morgen in Diepsloot, einem ten Südafrikas, können es sich die meisten nicht leisten, eine Slum ausserhalb der südafrikanischen Metropole Johannes- Klinik zu besuchen. Die staatlichen Kliniken sind nicht gra- burg. Eine halbe Million Menschen lebt hier, einige in richti- tis, und man wartet stundenlang und oft vergebens, egal wie gen «Township-Häuschen», viele in Blechhütten. Jene in den gross die Schmerzen sind. Blechhütten teilen sich einen Wasserhahn und eine Toilette, Wie sich Covid-19 auf die bereits maroden Gesundheits- die man sich lieber nicht von innen ansehen will. Das Men- systeme in Afrika auswirken kann, darf man sich gar nicht schenrecht auf Gesundheit wurde in einem Slum wie diesem ausmalen. Einerseits prophezeit die WHO mindestens noch nie respektiert. 80 000 Tote, im schlimmsten Fall 190 000, andererseits ver- Nun ist Covid-19 aufgetaucht. Ein schwer fassbares Ge- kündet sie, dass Afrika durchaus eine Chance habe, das spenst in den Augen vieler Afrikaner und Afrikanerinnen, Schlimmste zu verhindern. Das Schlimmste ist noch nicht eines, das im Flugzeug von Europa hierher geflogen ist. Ei- eingetroffen, zumindest nicht zum Zeitpunkt, als dieser Arti- nes, das nur reiche Menschen attackiert. So die weit verbrei- kel verfasst wird. Die Spitäler sind noch nicht überlastet. In Südafrika käme es zu einer Katastrophe, wenn die knapp acht Cristina Karrer ist freie Afrikakorrespondentin für SRF. Millionen Menschen mit HIV/Aids und rund drei Millionen 16 AMNESTY Juni 2020
In Diepsloot, einem Slum ausserhalb von Johannes- DOSSIER_CORONA-KRISE burg, verteilen Polizisten und Freiwillige Seife und Info-Material. Die räumlichen Bedingungen können aber auch sie nicht ändern. mit Tuberkulose ihre Medikamente nicht mehr erhalten wür- all die Millionen von Menschen zu schaffen, die immer noch den, weil Covid-19 das ganze Gesundheitssystem überrollt. in die Metropolen strömen und dafür sorgen, dass die Slums Dabei ist Südafrika vergleichsweise gut aufgestellt. Im wachsen. Nun zeigt sich in aller Dringlichkeit, wie verhee- Nachbarland Simbabwe gibt es schlicht kein funktionierendes rend ein Ausbruch von Covid-19 gerade dort sein könnte. Da Gesundheitssystem, die Menschen hungern. Bereits jetzt ist diese Missstände nicht von heute auf morgen behoben wer- der Zugang zu Medikamenten durch die Lockdowns, die die den können, greifen die Behörden einmal mehr brutal durch. meisten afrikanischen Länder eingeführt haben, gefährdet. In Kapstadt wurden rund 1500 obdachlose Menschen, die Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und das Verbot zu ar- seit Jahren kein Dach über dem Kopf haben, kurzerhand zu- beiten wirken sich für die arme Bevölkerung verheerend aus. sammengesammelt und in ein schnell errichtetes Lager aus- serhalb der Stadt transportiert. Die Organisation Ärzte ohne Aggression liegt in der Luft «Wir werden an Grenzen zeigte sich entsetzt über die hygienischen und sani- Hunger sterben, nicht an diesem Virus», seufzt Rosemary tären Zustände dort und befürchtet, dass gerade solche Lager Sithole, eine Frau aus Simbabwe, die am Strassenrand in zu Verbreitungsherden werden. Diepsloot Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln verkauft. Sie fürchtet nicht nur Hunger, sie hat auch Angst vor erneuten Angst vor dem Test Um Covid-19 in den Griff zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen. In den südafrikani- bekommen, macht Südafrika, was die WHO empfiehlt: tes- schen Townships und Slums brach in Zeiten von erhöhtem ten, testen, testen. Damit wird eine weitere Büchse der Pan- Stress immer wieder Hass auf andere AfrikanerInnen aus, dora geöffnet. «Testen war schon während des Höhepunkts Läden wurden geplündert, Menschen von Mobs umgebracht. von HIV/Aids mit Stigmatisierung und Ängsten verbun- Covid-19 legt wie überall auf der Welt auch in Südafrika den», sagt Aktivist Lucky Masibuko, der seit 30 Jahren mit das wahre Gesicht eines Landes frei: Es ist ein wirtschaftlich HIV lebt und von Anfang an öffentlich dazu gestanden ist. marodes, politisch korruptes Land mit den grössten sozialen «Ich beobachte heute ähnliche Mechanismen. Wie damals Ungleichheiten der Welt. Trotz einer verhältnismässig demo- geht es um Tod, um Angst, um Fake News und um Ausgren- kratischen Regierung zeigt sich auch hier, dass im Zweifels- zung, die in unserer Gesellschaft tief verankert ist.» In der fall mit harter Hand durchgegriffen wird. Nicht bei den Rei- Tat wollen viele Menschen in den Slums nicht getestet wer- chen, die den Lockdown in ihren Villen und riesigen Gärten den. Die einen haben Angst, dass sie durch einen Test erst verbringen können, sondern bei der armen Bevölkerung, die recht angesteckt werden könnten, wie das ein Weisser in ei- sich in einer Blechhütte weder sozial distanzieren noch sich nem Video behauptet hat. Der Glaube, dass die Weissen den Nahrungsmittel online bestellen kann. Schwarzen in irgendeiner Weise böse gesinnt sind und sie Die Armee wurde gleich zu Beginn des Lockdowns mobili- letztlich mit Viren aller Art ausrotten wollen, ist fester Be- siert, und wie zu Zeiten der Apartheid rollten gepanzerte Fahr- standteil des kollektiven afrikanischen Unterbewusstseins. zeuge durch die Townships, mit grimmigen Soldaten, die Viele befürchten ausserdem, dass sie nach einem positiven Gesichter vermummt, die Finger am Abzug von Maschinenge- Testergebnis von der Gemeinschaft verstossen werden. Ge- wehren. Sie sollten dafür sorgen, dass das Motto «Bleib zu nau so, wie es seit vielen Jahre mit HIV-Positiven geschieht. Hause» befolgt wird. Egal, wie das Zuhause aussieht, ob es Diese Mischung aus Ausgrenzung, Angst, Korruption überhaupt ein Zuhause gibt. Aus dem ganzen Land wurde von und grassierender Armut findet sich nicht nur in Südafrika, Übergriffen durch die Armee berichtet. Soldaten und Polizis- sondern auf dem ganzen Kontinent. Sie ist es, die Afrika auf ten prügelten ohne Grund drauflos, Aggression lag in der Luft. die Probe stellen wird. Nicht nur vonseiten des Staats, sondern zunehmend auch in der betroffenen Bevölkerung. Wer von der Hand in den Mund lebt, für den oder die zählt jeder Tag Arbeit. Je mehr der Magen Die Armee wurde gleich zu Beginn des Lock- knurrt, desto grösser die Frustration. In Südafrika sind Millio- downs mobilisiert, und wie zu Zeiten der nen Menschen seit Langem mit der Regierung unzufrieden, es ist schon vor der Ankunft des Virus zu gewalttätigen Ausbrü- Apartheid rollten gepanzerte Fahrzeuge durch die Townships, mit grimmigen Soldaten, die chen gekommen. Das kann mit den prophezeiten wirtschaftli- chen Auswirkungen noch ganz andere Dimensionen anneh- men. Finger am Abzug von Maschinengewehren. Die Corona-Krise legt auch offen, wie sehr es die Regie- rung in den letzten Jahren versäumt hat, eine Alternative für 17 AMNESTY Juni 2020
© Sherman, TX / shutterstock.com DOSSIER_CORONA-KRISE In den Vereinigten Staaten haben Millionen Menschen keine Kranken versicherung. Covid-19 ist für sie auch ein Schuldenrisiko. Mitglieder der Methodistenkirche verteilen Nahrungsmittel an Verarmte. Von Kessava Packiry, New York Luxusgut Gesundheit E r sei gesund, sagt Carl Gibson. Dennoch sei er besorgt, denn er dürfe keinesfalls an Covid-19 erkranken. Oder überhaupt krank werden. Auch ein Unfall wäre für ihn eine schlechten Kreditwürdigkeit ist es in den USA aber schwer, eine Wohnung, ein neues Auto oder einen Job zu finden. Im Gegensatz zu Carl Gibson ist Suzanne aus Oakland an Katastrophe. Carl Gibson hat keine Krankenversicherung. der San Francisco Bay versichert. Wie 60 Millionen andere Wie 27 Millionen anderer US-BürgerInnen auch. SeniorInnen ist sie bei Medicare. Die einkommensabhängi- Unter den Industrienationen hat die führende Wirt- gen Prämien werden automatisch vom Sozialversicherungs- schaftsmacht eines der schlechtesten Systeme der sozialen Scheck der Regierung abgezogen. «Der Hauptvorteil von Me- Sicherheit. Es gibt in den USA so gut wie keine bezahlten dicare besteht darin, dass wir ab 65 Jahren eine medizinische Krankentage, Arbeitslosengeld wird maximal sechs Monate Grundversorgung erhalten», sagt Suzanne. Allerdings über- lang ausbezahlt, Kurzarbeit ist praktisch inexistent. Der Zu- nimmt Medicare nur 70 Prozent der Kosten und deckt nicht gang zu einer allgemeinen Krankenversicherung wird durch alle Eingriffe ab. «Daher habe ich eine Versicherung abge- die Republikanische Partei und den Präsidenten weiterhin schlossen, die die verbleibenden Kosten bezahlt», sagt Suzan- torpediert: So wurde die Busse, die man bezahlen muss, ne. Doch auch das hat seinen Preis. «Diese Prämien belaufen wenn man nicht versichert ist, auf einen Dollar herabgesetzt. sich auf fast 1000 Dollar im Monat, zusätzlich zu den 355 «In den Vereinigten Staaten ist die Gesundheitsversor- Dollar für Medicare.» gung kein Recht, sondern steht nur denjenigen zur Verfü- In die grösste Lücke im US-Gesundheitssystem fallen Ein- gung, die es sich leisten können», sagt Gibson, der an der wanderInnen und Sans-Papiers. Lawrence Gostin, Professor Ostküste lebt. Der freiberuflich tätige Journalist hat zwar für Gesundheitsrecht an der Georgetown University in Wa- Arbeit, doch bringt diese ihn in die unangenehme Lage, in shington D.C., erklärt: «Sie gehen kaum je zum Arzt und las- der Millionen US-AmerikanerInnen stecken: «Ich verdiene sen sich auch nicht auf das Coronavirus testen, weil sie Angst zu viel, um für Medicaid (das öffentliche Krankenversiche- haben.» Im Sommer 2019 führte Präsident Trump eine Rege- rungsprogramm für Einkommensschwache, Anm. der Red.) lung ein, auf deren Grundlage AusländerInnen abgewiesen infrage zu kommen, aber zu wenig, um mir eine private Ver- werden können, wenn sie zu einer «Last für die Gesellschaft» sicherung leisten zu können.» werden könnten. Luz Gallegos von der Einwanderungshilfe- Eine solche Grundversicherung kostet häufig mehr als 500 NGO Todec bestätigte gegenüber Medien, dass die Inan- Dollar im Monat – mit einem Selbstbehalt von 5000 US-Dol- spruchnahme von subventionierten Pflegeleistungen, aber lar. Das ist ein Betrag, den sich viele nicht leisten können. So auch der Gesundheitszustand der Antragstellenden nun muss Carl Gibson alles daran setzen, nicht krank zu werden. Kriterien für eine Ablehnung seien. 2013 musste er nach einem Sturz mit dem Velo dennoch in die Die Trump-Regierung hatte zwar versichert, dass kein Notaufnahme: «Der Arzt legte meinen Arm in eine Schlinge Covid-19-Patient im Stich gelassen würde. Doch Carl Gibson und verschrieb Schmerzmittel. Das hat mich über 4000 Dollar bezweifelt das. «Wird die Verwaltung ihr Wort brechen, wie gekostet.» Gibson ist immer noch dabei, diese Schulden abzu- sie es bei so vielen anderen Dingen tat? Ich hoffe, dass unsere bauen, die nun auf seiner Kreditwürdigkeit lasten. Mit einer Politiker nach dieser Krise das System reformieren und Pfle- ge für alle zugänglich machen.» Kessava Packiry ist freischaffender Journalist. 18 AMNESTY Juni 2020
Die Sicherheitskräfte wie diese DOSSIER_CORONA-KRISE indischen PolizistInnen müssen die Lockdowns durchsetzen – dies geschieht nicht immer gewaltlos. Die Corona-Krise hat zur Folge, dass © PUNIT PARANJPE/AFP via Getty Images Menschenrechte eingeschränkt und verletzt werden. Dabei stehen die Staaten gerade jetzt in der Pflicht, diese Rechte zu schützen. Von Manuela Reimann Graf Das Virus und die Menschenrechte Schutz von Gesundheit und Leben: Die Krankheit schränkt, weil man das Ausmass der Krise verbergen will. Covid-19 tötet Hunderttausende und beeinträchtigt die Ge- Gemäss Reporter ohne Grenzen haben 38 Staaten die Presse- sundheit von Millionen. Die Gesundheitssysteme selbst rei- freiheit infolge der Krise eingeschränkt. cher Länder, die durch rigorose Sparmassnahmen in den Auch in der Schweiz ist die Meinungsäusserung tangiert: letzten Jahren abgebaut wurden, kamen teilweise ans Limit, Versammlungsverbote beschränken die Möglichkeit, sich po- was zu zusätzlichem, vermeidbarem Leiden führte. litisch zu äussern, und beschneiden das Demonstrations- In vielen Flüchtlingslagern werden Geflüchtete im Stich ge- recht. lassen: Statt dass sie Hilfe erhalten hätten, wurden lebensnot- wendige Lieferungen von Nahrungsmitteln blockiert, Men- Recht auf Information: Die Regierungen müssen si- schen willkürlich eingesperrt und sogar zurückgeschickt. cherstellen, dass die Bevölkerung über die Gesundheitsbe- Auch in Europa wurde Covid-19 zu einer massiven Bedro- drohung und über Massnahmen zur Risikominderung infor- hung für die Geflüchteten. Die Regierungen haben ihre mo- miert ist. Diese zentrale Voraussetzung des Rechts auf ralische, rechtliche und politische Verantwortung für diese Gesundheit wird von gewissen Regierungen ignoriert. So Menschen bisher nicht wahrgenommen. haben die Behörden der indischen Region Jammu und Ebenfalls sehr gefährdet sind Inhaftierte, die in oft voll- Kaschmir den Zugang zum Internet weiter eingeschränkt. gestopften Gefängnissen höchstens unzureichenden Schutz vor einer Ansteckung erhalten. Zu den verletzlichen Perso- Recht auf Privatsphäre: Die Nutzung von Smartphone- nen gehören auch Arme und Obdachlose. Auch sie werden Daten, um die Bewegungen von Infizierten nachverfolgen zu jedoch oft im Stich gelassen, wie unsere Reportagen aus Indi- können, wurde bereits in einigen Ländern eingeführt. Ohne en oder Südafrika zeigen. ausreichenden Datenschutz werden damit die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte verletzt. So versendeten die Be- Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit: Weltweit hörden in Südkorea Textnachrichten mit detaillierten Infor- werden Arbeitnehmende aufgrund der Pandemie entlassen mationen über infizierte Personen, die danach stigmatisiert und geraten in Armut. In den USA verlieren dadurch Millio- wurden. Ausserdem können diese Technologien gegen kriti- nen ihren Versicherungsschutz, Menschen ohne Aufent- sche Stimmen oder die politische Opposition genutzt wer- haltsbewilligung sind erst recht vom staatlichen Gesund- den. Es wird zudem befürchtet, dass solche Überwachungs- heitssystem ausgeschlossen. Auch in der Schweiz verlieren massnahmen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Tausende Sans-Papiers ihr Einkommen – sie können keine Sozialhilfe beantragen. Schutz vor Diskriminierung: Es ist weltweit zu Diskri- minierungen und Fremdenfeindlichkeit gegenüber Chine- Recht auf freie Meinungsäusserung, Medien- sinnen und Chinesen gekommen; asiatisch aussehende und Versammlungsfreiheit: In China wurde am An- Menschen wurden auch hierzulande als «Viren-Verbreiter» fang der Corona-Krise jegliche Information über das Virus beschimpft und sogar angegriffen. In China wiederum wur- unterdrückt. Doch auch in vielen anderen Ländern werden den AfrikanerInnen diskriminiert, weil sie verdächtigt wur- die Meinungsäusserung und die Medienfreiheit einge- den, das Virus weiterzuverbreiten. 19 AMNESTY Juni 2020
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