AMNESTY - IN AKTION FÜR DIE MENSCHEN UND IHRE RECHTE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE
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AMNESTY Nr. 106 Juni 2021 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE 60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL IN AKTION FÜR DIE MENSCHEN UND IHRE RECHTE ANTISEMITISMUS IN DER SCHWEIZ ÄTHIOPIEN FILM «Wir müssen genau hinschauen» Flucht aus Tigray Ein Guantánamo-Häftling berichtet
© PAZ EINLADUNG ZUR JUBILÄUMSKONFERENZ AM 4. SEPTEMBER 2021 Seit 60 Jahren setzt sich Amnesty International zusammen mit Millionen Unterstützer*innen für eine Welt ein, in der die Menschenrechte für alle gelten. Deshalb wollen wir gemeinsam auf Erfolge anstossen und in die Zukunft unserer Organisation blicken: WIR LADEN SIE HERZLICH ZUR JUBILÄUMSKONFERENZ AM SAMSTAG, 4. SEPTEMBER 2021, IN BERN EIN! An der Jubiläumskonferenz wollen wir nicht nur das Erreichte feiern, sondern auch über aktuelle Herausforderungen diskutieren. Wir besprechen, wie Amnesty Inter- national die globale Menschenrechtsbewegung stärken kann. Gäste aus verschiede- nen Ländern, Bewegungen und Organisationen berichten von ihrem Engagement und ihrer Vision für die Menschenrechte. Zudem erwartet Sie ein attraktives Rahmenprogramm mit Workshops, einer Ausstellung über Aktivist*innen von Amnesty Schweiz und einem festlichen Apéro. Eine Kinderbetreuung wird angeboten. Wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen! JETZT ANMELDEN UNTER: www.amnesty.ch/jubilaeumskonferenz Da die aktuelle Situation Flexibilität erfordert, sind verschiedene Varianten der Jubiläumskonferenz in Planung. Unter Umständen müssen wir eine hybride Alternative (in Präsenz und virtuell) anbieten oder die Veranstaltung kurzfristig absagen. Sollten wir die Publikumszahl einschränken müssen, werden diejenigen berücksichtigt, die sich zuerst angemeldet haben. Wir bedanken uns für das Verständnis und werden laufend über die Durchführung informieren.
Titelbild INHALT_JUNI 2021 Die Geschichte von Amnesty International begann 1961 mit Protestbriefen. Bis heute schreiben zahlreiche Aktivist*innen weltweit Briefe für Menschen, die in Gefahr sind. Auf dem Cover: eine Briefeschreiberin in den Niederlanden. © AI Netherlands AKTUELL THEMA 4 Good News 26 Äthiopien 6 Aktuell im Bild «Raus. Weg hier!» 7 Nachrichten 9 Brennpunkt Bescheidener Durchbruch nach zwanzig Jahren Amanuel Tesfay musste DOSSIER aus Tigray fliehen. 60 Jahre Amnesty International 29 Antisemitismus in der Schweiz «Es gab einen Dammbruch» KULTUR 33 Ausstellung In der Natur ist nichts unnatürlich 34 Film 10 Wir machen weiter «Gewalt ist das Spiel der Regime» 12 Wie alles begann… Die Entwicklung von Amnesty International während 60 Jahren Engagement. CARTE BLANCHE 14 «Doch, man kann etwas tun» 36 Walter Kälin Zwei aktive Mitglieder über ihre Motivation und Blick zurück und nach vorn ihre Wünsche an Amnesty. 16 Amnesty weltweit Eine Karte zeigt, wo Amnesty überall vertreten ist. IN ACTION Dazu: 60 Jahre Geschichte im Überblick. 18 60 Jahre, 6 Erfolgsbeispiele 37 Spreading Hope since 1961 Erfolgreiche Amnesty-Aktionen der letzten Jahre. Ein Jubiläum zum Mitmachen 20 «Das Risiko gehört zum Beruf» Zwei Amnesty-Researcher*innen erzählen von ihrer Arbeit. 22 Der Ex-Häftling, der nicht aufgeben will Der Demokratieaktivist Yves Makwambala blieb auch im Gefängnis nicht tatenlos. 24 Bilder, die hängen bleiben Kampagnen-Poster aus sechs Jahrzehnten. Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 106, Juni 2021. Redaktion: Carole Scheidegger (cas.), Manuela Reimann Graf (mre). Mitarbeiter*innen dieser Nummer: Anna-Theresa Bachmann, Fabienne Engler, Michael Ineichen, Walter Kälin, Alexandra Karle, Lena Keller, Émilie Mathys, Olalla Pineiro Trigo, Stefanie Rinaldi, Anita Streule, Patrick Witte. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestal- tung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 18. Juni 2021. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty Inter national, Schweizer Sektion. Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redak tion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 81 000 (dt.). Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8, IBAN CH52 0900 0000 3000 3417 8). Oder spen- den Sie online: www.amnesty.ch/spenden. www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Sie steht vor uns, klein und zierlich, und strahlt diese unfassbare Stärke aus: Waad al-Kateab hat mit ihrem Film «For GOO Auszeichnung AMNESTY − Das Online-Multimedia-Projekt von Amnesty International, «Tear Gas: An Investigation», wurde mit dem Webby Award für die beste Aktivismus-Website weltweit ausgezeichnet. Dieser Preis der Internationalen Akademie für Digitale Kunst und Wissenschaft (IADAS) gilt als führende © AI Auszeichnung für Sama» das Überleben im herausragende Leistungen im In- kriegsgebeutelten Alep- ternet. po in Syrien dokumentiert. Ihre Tochter Sama kam im Bombenhagel auf die Welt, ihr Mann rettete als Chirurg Leben, sie filmte. Die Unterstützung von Das Online-Projekt «Tear Gas» dokumen- Amnesty International habe ihr Kraft gegeben, sagte tiert Missbräuche sie bei unserem Treffen 2019 in Zürich. beim Einsatz von Tränengas. Es sind Begegnungen wie diese, die uns zeigen, dass Virginia schafft ren. Die entsprechenden Emp- unsere Arbeit etwas bewirkt. Hinter unseren Compu- Todesstrafe ab fehlungen des Ministerkomitees ter-Bildschirmen in der sicheren und wohlhabenden USA − Der Gouverneur des US- beinhalten ein Verbot für den Schweiz sind wir oft weit weg von den Orten, wo täg- Bundesstaats Virginia, Ralph Handel mit Ausrüstungsgegen- Northam, hat am 24. März 2021 ständen, die leicht für Folter oder lich schwerste Menschenrechtsverletzungen gesche- ein Gesetz zur Abschaffung der andere Misshandlungen miss- hen. Viele unserer Aktivist*innen und Mitarbeitenden Todesstrafe unterzeichnet. Virgi- braucht werden können, etwa mit nia ist damit der 23. US-Staat, Stacheln versehene Schlagstöcke auf der ganzen Welt setzen ihre Freiheit oder sogar der die Todesstrafe abgeschafft oder am Körper getragene Elek ihr Leben aufs Spiel, um für die Menschenrechte hat, und der erste Südstaat. Virgi- troschockwaffen. Ausserdem sol- einzustehen. Aber auch hier können wir viel tun, um nia hält den Rekord für die meis- len Ausrüstungsgegenstände der ten Hinrichtungen in der Ge- Strafverfolgungsbehörden – wie andernorts und auch in der Schweiz Veränderungen schichte der USA. Ausserdem Pfefferspray, Tränengas und zu erzielen: Sei es durch Kampagnen und Aktionen wurden Schwarze Menschen hier Elektroschock-Projektilwaffen – oder das Sammeln von Spendengeldern. dreimal häufiger zum Tode verur- streng kontrolliert werden. Die teilt als weisse Menschen. Empfehlung enthält auch Leitlini- «Spreading Hope since 1961» – diesem Motto unse- en für die Regulierung des Han- Gegen den Handel mit dels mit bestimmten Arzneimit- res 60 Jahr-Jubiläums wollen wir weiterhin treu blei- Folterwerkzeugen teln, die für Hinrichtungen mit ben. Wir wollen den Menschen Mut machen, die EUROPA − Der Europarat hat am der Giftspritze missbraucht wer- schikaniert und verfolgt werden, unschuldig im Ge- 31. Mai einen entscheidenden den können. «Wir begrüssen die- Schritt getan, um den Handel mit ses entschlossene Handeln des fängnis sitzen, auf der Flucht sind, diskriminiert wer- Folterwerkzeugen und Hinrich- Europarats – wir können Folter den. Wir wollen dazu beitragen, dass die Verantwortli- tungsausrüstung einzudämmen. nicht beenden, ohne den Handel Die Mitgliedsstaaten des Europa- mit Folterwerkzeugen zu unter- chen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir wollen rats sollen künftig den Handel binden. Alle 47 Mitgliedsstaaten zeigen, dass Menschenrechte für alle gelten! mit Gütern, die zur «Todesstrafe, des Europarates müssen diese Folter oder anderer grausamer, Empfehlungen nun schnell um- Alexandra Karle, Geschäftsleiterin und unmenschlicher oder erniedri- setzen», sagte Nils Muižnieks, Stefanie Rinaldi, Präsidentin von Amnesty Schweiz gender Behandlung» verwendet Regionaldirektor von Amnesty In- werden könnten, besser regulie- ternational für Europa. 4 AMNESTY Juni 2021
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS Todesstrafe ist IN KÜRZE © IMAGO / APP-Photo verfassungswidrig MALAWI – Das Oberste Beru- ALGERIEN – Nach fast einem Jahr fungsgericht Malawis hat ent- Haft wurde der algerische Journa- schieden, dass die Todesstrafe list Khaled Drareni auf Anordnung mit der Verfassung des Lan- des Präsidenten Abdelmadjid des unvereinbar ist, und hat Tebboune zusammen mit weiteren neue Urteile für alle zum Tod politischen Gefangenen freigelas- Verurteilten angeordnet. Ein sen. Drareni hatte über die lan- 2003 wegen Mordes Verurteil- desweiten Proteste von 2019 be- ter hatte gegen sein Todesur- richtet und wurde im März 2020 teil geklagt und nach einem wegen «Gefährdung der nationa- jahrelangen juristischen Streit len Einheit» verurteilt. am 28. April 2021 schliesslich Recht bekommen. Das Ge- RUSSLAND – Der gewaltlose politi- richt befand, dass das Recht sche Gefangene Konstantin Kotov Amnesty-Demonstration für Ahmet Altan, Deniz Yücel und Asli Erdoğan in Berlin auf Leben das höchste aller am 3. Mai 2017. konnte Mitte Dezember das Ge- Rechte sei, von dem die Ver- fängnis verlassen, wo er ein Jahr fassung keine Abweichung er- Ahmet Altan frei und vier Monate lang inhaftiert laube. Mit der Todesstrafe TÜRKEI − Der türkische Journalist Ahmet Altan wurde am 14. April war. Seine Freilassung wurde erst werde dieses Recht nicht nur 2021 aus der Haft entlassen. Der Kassationsgerichtshof hat zuvor die im Februar bekannt. Kotov war missachtet, sondern quasi Haftstrafe aufgehoben, ohne eine Begründung zu liefern. Altan sass im August 2019 wegen der Teil- ausser Kraft gesetzt. mehr als vier Jahre im Gefängnis, weil ihm eine Beteiligung am nahme an «nicht genehmigten Putschversuch von 2016 unterstellt wurde. Der Freilassung ging ein Kundgebungen» festgenommen Impfstoff für alle Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte voraus, der und verurteilt worden. Zunächst WELTWEIT − Die USA haben am die Türkei wegen Altans Inhaftierung scharf gerügt hatte. sollte er für vier Jahre ins Gefäng- 6. Mai angekündigt, dass sie die nis, 2020 wurde das Strafmass Lockerung der Rechte betref- Satiriker aus Haft entlassen auf achtzehn Monaten reduziert. fend geistiges Eigentum für Co- MYANMAR − Drei Mitglieder der Satire-Gruppe Peacock Generation wur- vid-19-Impfstoffe unterstützen den im Rahmen einer Generalamnestie am 17. April, dem myanmari- USA – Der ugandische Pastor Ste- werden. Somit stimmen sie einer schen Neujahrsfest, gemeinsam mit etwa 23 000 weiteren Gefangenen ven Tendo flüchtete im Dezember der Hauptforderungen der welt- aus der Haft entlassen. 2018 vor Folter und anderen © Amnesty International weiten Kampagne zu, die sicher- Paing Phyo Min, Paing Menschenrechtsverletzungen in stellen will, dass alle Menschen Ye Thu und Zayar Lwin die USA. Dort kam er sogleich in Zugang zu einer Impfung gegen waren am 22. April Einwanderungshaft und wäre fast Covid-19 erhalten können. Auch 2019 festgenommen abgeschoben worden, doch konn- Amnesty Schweiz fordert mit ei- und wegen verschiede- te dies im September 2020 ner Petition, dass die Schweiz ner Vorwürfe der «Auf- durch weltweite Aktionen verhin- vorübergehende Ausnahmen wiegelung» und «On- dert werden. Sein Gesundheits- vom Schutz des geistigen Eigen- line-Diffamierung» zu zustand verschlechterte sich auf- tums bei Covid-19-Behandlun- Gefängnisstrafen von grund seiner Diabeteserkrankung gen, -Tests und -Impfstoffen un- fünfeinhalb beziehungs- und unzureichender medizini- terstützt. weise sechs Jahren ver- scher Versorgung; zudem war in urteilt worden. Grundla- der Hafteinrichtung Covid-19 ge für die Vorwürfe ausgebrochen. Nun wurde Tendo waren mehrere satiri- aus humanitären Gründen freige- Handy-Bild von Paing Phyo Min, der gemeinsam mit vier weiteren sche Aufführungen, in lassen, bis über seinen Asylan- jungen Künstler*innen denen sie das Militär trag entschieden wird. festgenommen worden war. kritisiert hatten. 5 AMNESTY Juni 2021
AKTUELL_IM BILD © Luis Robayo/AFP via Getty Images KOLUMBIEN – Auf einem der typischen bunt bemalten Chivas – wie die lokalen Busse heissen – reisen diese Indigenen am 11. Mai auf dem Panamerican Way in die Stadt Cali, um an Protesten im Rahmen der landesweiten Streiks teilzunehmen. Seit dem 28. April gab es in verschie- denen Teilen des Landes meist friedliche Demonstrationen als Reaktion auf das von Präsident Iván Duque vorgelegte Steuerreformgesetz. Viele dieser Demonstrationen wurden gewaltsam unterdrückt. Dutzende Menschen starben infolge der Repression durch die Nationalpolizei. Es kam zu Hunderten willkürlichen Verhaftungen. Berichte sprechen von Misshandlungen, sexueller Gewalt und Verschwindenlassen von Menschen im Zusammenhang mit den Demonstrationen und von Angriffen auf Medienschaffende. 6 AMNESTY Juni 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN sein. Auch Informationen über definieren. Begrüssenswert © AI ihre Finanzierung, ihr Personal ist die Bereitschaft des Parla- und ihre Leitung müssen veröf- ments, das Sexualstrafrecht fentlich werden. Die Vorschriften dahingehend zu reformieren, stellen für zivilgesellschaftliche dass Betroffene besser vor se- Organisationen und die Men- xueller Gewalt geschützt wer- schen, für die sie sich engagie- den. Allerdings ist Amnesty der ren, ein grosses Risiko dar, Re- Ansicht, dass die vorgeschlage- pressalien und Kriminalisierung nen Definitionen von Vergewal- ausgesetzt zu werden. tigung und sexueller Nötigung weiterhin nicht den Anforde- Chance für «Ja heisst Ja» rungen der internationalen SCHWEIZ – Im Mai endete die Menschenrechtsnormen wie Vernehmlassung zur Revision der Istanbul-Konvention genü- des Sexualstrafrechts. Amnesty gen. Diese verlangen, dass die International empfiehlt in ihrer Definition von Vergewaltigung Vernehmlassungsantwort, nicht auf dem Fehlen der Zustim- Aktion vor dem Bundeshaus: «Die Schweiz hat Platz – Jetzt Geflüchtete aus Lesbos aufnehmen!» einvernehmlichen Geschlechts- mung basiert und nicht auf verkehr als Vergewaltigung zu Zwang oder Nötigung. Der Bundesrat muss handeln SCHWEIZ/GRIECHENLAND – Die Situation von Geflüchteten auf den grie- Polizeigewalt vor Gericht chischen Inseln ist nach wie vor prekär. Amnesty International und USA – Die Entscheidung war mit grosser Spannung erwartet wor- #evakuierenJETZT fordern, dass die Schweiz mehr tut, um diesen den: Am 20. April 2021 kamen die Geschworenen im Fall des ge- Menschen zu helfen. Der Bundesrat muss einen Dialog führen mit töteten George Floyd zusammen und befanden den ehemaligen den Städten, Gemeinden und Kirchgemeinden, die bereit sind, Flücht- Polizisten Derek Chauvin wegen der Tötung von George Floyd in linge von den Ägäischen Inseln aufzunehmen. Ziel ist es, humanitäre allen Anklagepunkten für schuldig. Das genaue Strafmass wird zu Aufnahmeprogramme zu entwickeln. einem späteren Zeitpunkt verkündet. «Um dem systematischen Versagen der Polizei in den USA entgegenzuwirken, sind aller- Brutales Vorgehen langen die Protestierenden einen dings grundlegende Reformen notwendig», sagte Paul O'Brien, gegen Demos «vollständigen Wechsel des poli- Geschäftsleiter von Amnesty International USA. «Der tragische Tod ALGERIEN – Seit Februar finden tischen Systems». von George Floyd hat das systemische Versagen der Polizeiarbeit nach einer Corona-bedingten in den USA nur allzu deutlich gemacht – und dass Schwarze und Pause wieder wöchentliche De- Risiko für Menschenrechts- People of Color die Hauptlast der Polizeigewalt tragen. Die Wahr- monstrationen in der Hauptstadt organisationen heit ist: Dass ein Polizist © Amnesty International / Jarek Godlewski Algier und mehreren anderen VENEZUELA – Seit dem 1. Mai für die Tötung eines Städten statt. Erneut gehen die 2021 müssen alle zivilgesell- Schwarzen zur Rechen- algerischen Behörden brutal ge- schaftlichen Organisationen in schaft gezogen wird, ist die gen die Proteste vor. So werden Venezuela aufgrund neuer Ge- Ausnahme und nicht die die friedlichen Versammlungen setze zur Bekämpfung von Ter- Regel.» Seit dem Tod gewaltsam aufgelöst, Demonst- rorismus und organisierter Krimi- George Floyds kam es zu rierende verprügelt und Massen- nalität mit strafrechtlicher weiteren Fällen von Polizei- verhaftungen durchgeführt. Die Verfolgung rechnen, wenn sie gewalt. So erschoss eine Demonstrierenden fordern seit sich nicht an unverhältnismässi- Polizistin im April 2021 Februar 2019 politische Refor- ge Registrierungsvorschriften den 20-jährigen Daunte men. Begonnen hatten die Pro- halten. Diese Vorschriften bein- Wright in einem Vorort der teste, als der damalige Präsident halten die Offenlegung von US-Stadt Minneapolis. Die Abdelaziz Bouteflika erklärte, für Details über ihre Nutzniesser*in Beamtin gab an, dass sie eine fünfte Amtszeit antreten zu nen, das können auch Opfer von ihre Schusswaffe mit dem Der Tod von George Floyd hatte weltweit wollen. Seit seinem Rücktritt ver- Menschenrechtsverletzungen Taser verwechselt habe. zu Protesten geführt. 7 AMNESTY Juni 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN Verheerende Folgen der Pandemie © Amnesty International WELTWEIT – Die Coronakrise hat Ungleichheiten und Diskriminierung schonungslos offengelegt. «Eine polarisierende Politik, fehlgeleitete Sparmassnahmen und mangelnde Investitionen in die öffentliche Infra- struktur haben dazu geführt, dass viele Menschen dem Virus schutzlos ausgesetzt waren», sagte Agnès Callamard, die neue Generalsekretärin von Amnesty International, anlässlich der Veröffentlichung des Am- nesty-Jahresberichts. Die Coronakrise hat auch die Lage von Geflüch- teten, Asylsuchenden und Migrant*innen in vielen Ländern verschlech- tert. Manche wurden in unhygienischen Lagern festgesetzt, die Versorgung mit Grundbedarfsgütern war nicht mehr gewährleistet, und CHINA es wurden überstürzt Grenzen geschlossen. Zudem nutzten autoritäre Machthabende Covid-19 als Vorwand, um ihren Einfluss zu stärken. Ein gängiges Muster war die Verabschiedung von Gesetzen, mit denen die Berichterstattung über die Pandemie kriminalisiert wurde. e © Mohammad Rakibul Hasan Zahl der Hinrichtungen sinkt WELTWEIT – Im Jahr der Corona-Pandemie wurden mindestens 483 Menschen in 18 Ländern hingerichtet. Das ist die tiefste Zahl seit Lan- gem, die Amnesty International in ihrem jährlichen Bericht festhielt. Es gab aber auch ein Land, in dem die Zahl der Hinrichtungen trotz Co- rona-Pandemie zunahm: In Ägypten wurden dreimal mehr Menschen als im Vorjahr hingerichtet. China wird in der Statistik nicht berück- sichtigt, da dort die Hinrichtungen geheim gehalten werden und eine genaue Dokumentation nicht möglich ist. Amnesty schätzt die Zahl der Vollstreckungen auf mehrere Tausend. Arbeitsaktivist verschwunden Corona traf jene besonders hart, die schon zuvor in prekären Situationen lebten KATAR – Der Kenianer Malcolm Bidali wurde am 4. Mai von Angehöri- wie diese geflüchteten Rohingyas in Bangladesch. gen der katarischen Staatssicherheit aus seiner Arbeiterunterkunft ab- geholt. Bis Redaktionsschluss fehlte von ihm jede Spur. Malcolm Bi- dali arbeitete als Wachmann und betätigte sich zudem als Blogger. Er JETZT ONLINE sprach offen über die schwierigen Bedingungen, denen Arbeits Zum Jubiläum: Anlässlich des 60. Geburtstags von migrant*innen wie er ausgesetzt sind, und verfasste Artikel für zahlrei- Amnesty International erzählen wir Geschichten, die che Online-Plattformen. Am 12. Mai Hoffnung verbreiten. Erfahren Sie mehr auf © Adam Jones bestätigte die Regierung die Inhaf- amnesty.ch/spreading-hope tierung Bidalis, ihm werde die Ver- Meet the Defenders: Gespräche mit Menschen, die die letzung katarischer Sicherheitsbe- Menschenrechte verteidigen. Melden Sie sich jetzt für die stimmungen vorgeworfen. Seinen Webinare an. Aufenthaltsort gaben die Behörden Podcast «Amnesty Talks»: Patrick Walder, Leiter jedoch nicht bekannt. Eine Petition Campaigning & Advocacy bei Amnesty Schweiz, erklärt, mit der Forderung, dass die Fifa weshalb das neue Polizeimassnahmen-Gesetz die Tür für endlich Druck auf Katar machen Polizei-Willkür öffnet und die Menschenrechte in der muss, finden Sie auf S. 39. Schweiz bedroht. Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-juni21 Arbeiter in Katar. 8 AMNESTY Juni 2021
AKTUELL_BRENNPUNKT BESCHEIDENER DURCHBRUCH NACH 20 JAHREN rechte (DIMR) existiert hinge- stärker betroffen. Diskriminie- © Marco Cala / shutterstock.com gen schon seit 20 Jahren. Bei rungen und strukturelle Be- verschiedenen Themen – von nachteiligungen sind ans der Umsetzung der Behinder- Tageslicht getreten. Während tenrechtskonvention bis zur der Pandemie zeigte sich auch: Prävention und Bekämpfung Es braucht noch stärkere An- von häuslicher Gewalt – agiert strengungen gegen Gewalt an das DIMR als «dreifache Brü- Frauen und häusliche Gewalt. cke» zwischen Zivilgesellschaft und Staat, zwischen Wissen- Eine unabhängige, starke und schaft und Praxis und zwischen langfristig finanzierte NMRI der internationalen und der na- könnte hier einen wesentlichen tionalen Ebene. Mehrwert bieten, indem sie die öffentliche Debatte mit Fachwis- Der Gesetzesentwurf der sen unterstützt, und zwar in Schweizer Regierung, der 2019 breiten Themenfeldern – von der endlich ans Parlament ging, war Einschränkung des Rechts auf eine typisch schweizerische, Selbstbestimmung und Privat- wenig ambitionierte Umsetzung. sphäre für ältere Menschen, der Doch nun, nochmals zwei Jahre Meinungsäusserungs- und der Die Coronakrise hat die Notwendigkeit später, kann der Ständerat in Versammlungsfreiheit bis hin einer Nationalen Menschenrechts der Sommersession endlich die zum Recht auf Gesundheit für institution in der Schweiz deutlich gemacht. E s hat lange gedauert: Nach jahrelangem Hin und Her und einer anfänglich zögerli- Weichen stellen. Mit Beginn der Corona-Pande- das Gesundheitspersonal und besonders gefährdete Personen. chen Haltung des Bundesrats mie waren zwar auch die parla- Auch wenn es ein wenig den kommt endlich wieder Bewe- mentarischen Arbeiten an der Anschein macht, dass der Berg gung in das Geschäft zur NMRI unterbrochen worden. eine Maus gebären wird − vor Schaffung einer Nationalen Was anfänglich wie eine weitere allem was die geplanten Res- Menschenrechtsinstitution Verzögerung aussah, hat im sourcen für die NMRI betrifft: (NMRI). Schon 1993 hatte die Nachhinein die Notwendigkeit Die Verabschiedung des vorlie- Uno-Generalversammlung alle einer solchen Institution jedoch genden Gesetzes wäre doch ein Staaten aufgefordert, nationale unterstrichen: Die Corona- Fortschritt. Ein Signal, dass Menschenrechtsinstitutionen Pandemie und die zu ihrer Be- auch das Schweizer Parlament einzurichten, die zuhanden von kämpfung getroffenen Mass- einsieht, wie zentral der Schutz Regierung und Parlament nahmen haben ein Schlaglicht und die Förderung der Men- Empfehlungen zu Menschen- auf die Fragilität des Men- schenrechte für eine Gesell- rechtsfragen formulieren und schenrechtsschutzes geworfen. schaft – gerade in Krisenzeiten Unterstützung bei der Umset- Sie haben gezeigt, dass auch in – sind, und dass unsere «aus- zung internationaler Konventio- der Schweiz von einem Tag auf sergewöhnliche» Schweiz nen leisten. Über 100 Staaten den anderen grundlegende manchmal auch institutionell haben solche nationalen Insti- Rechte und deren Schutz auf von den Erfahrungen anderer tutionen bisher aufgebaut – die Probe gestellt werden kön- Länder profitieren kann. nicht so die Schweiz. Das Deut- nen. Gerade verletzliche Perso- Michael Ineichen, sche Institut für Menschen- nen waren von der Pandemie Leiter Advocacy Amnesty Schweiz 9 AMNESTY Juni 2021
WIR MACHEN WEITER Für die Menschen, mit den Menschen. Seit 60 Jahren ist Amnesty International im Einsatz dafür, dass die Menschenrechte geachtet und geschützt werden – im Interesse von uns allen. In diesen sechs Jahrzehnten hat sich viel verändert, aber eines ist gleich geblieben: Amnesty ist erfolgreich, weil so viele Menschen gemeinsam für mehr Menschlichkeit kämpfen. 11 AMNESTY Juni 2021
© AI Wie alles begann… Seit 60 Jahren setzt sich Amnesty International für desstrafe wurde in Dutzenden von Ländern abgeschafft. Bis- lang unantastbare Staatsoberhäupter wurden zur Rechen- die Menschenrechte ein. Die Organisation hat sich schaft gezogen. Geänderte Gesetze, gerettete Leben. im Lauf der Jahre gewandelt und ist bereit, auch die Grosse Entwicklungen Im Verlauf der Jahre hat künftigen Herausforderungen zu meistern. sich auch das Gesicht von Amnesty International gewandelt: Von Carole Scheidegger Zunächst setzten sich die Mitglieder in erster Linie für Ge- wissensgefangene ein, also für Menschen, die inhaftiert wa- ren, weil sie ihre Meinung friedlich kundgetan hatten. 1963 erlangte in Sibirien der erste Gewissensgefangene die Frei- 1961 Zwei Studenten stossen in einem Café in Lis- sabon auf die Freiheit an. Eine gefährliche Sa- che, denn es herrscht eine Militärdiktatur; sie werden denn heit, der ukrainische Erzbischof Josyf Slipyi. Später engagierte sich Amnesty auch gegen die Todesstra- fe, Folter und das Verschwindenlassen. In den 1970er-Jahren auch zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Als der britische wurde eine Aktionsform ins Leben gerufen, die bis heute er- Rechtsanwalt Peter Benenson davon erfährt, will er nicht wei- folgreich ist: die Urgent Actions (Eilaktionen). Wann immer ter tatenlos zusehen. Am 28. Mai 1961 veröffentlicht er im Amnesty nun von willkürlichen Festnahmen, Morddrohun- «Observer» den Artikel «The Forgotten Prisoners». Er macht gen, Verschwindenlassen, Folterungen oder bevorstehenden auf das Schicksal politischer Gefangener auf der ganzen Welt Hinrichtungen erfuhr, wurde mit diesen Urgent Actions öf- aufmerksam und ruft dazu auf, mit Appellschreiben deren fentlicher Druck auf Verantwortliche ausgeübt. Unzählige Freilassung zu fordern. Das Echo ist gross. Dreissig Zeitun- Menschen – von China bis Chile, von Syrien bis Simbabwe gen drucken den «Appeal for Amnesty» ab, über tausend – konnten so im Laufe der Jahre gerettet werden. Wegen ih- Menschen bieten ihre sofortige Unterstützung an. rer Verdienste um die Menschenrechte wurde Amnesty In- Damit war Amnesty International gegründet – verwurzelt ternational 1977 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. in der Idee, dass Menschen wie Sie und ich gemeinsam die Begonnen hat Amnesty also als Gefangenenhilfsorganisa- Welt verändern können. Heute kann die Organisation welt- tion, später kam der Einsatz für bürgerliche und politische weit auf zehn Millionen Unterstützer*innen zählen. Menschenrechte hinzu, danach die Arbeit zu sozialen, kultu- Vieles hat sich in diesen 60 Jahren getan. Zehntausende rellen und wirtschaftlichen Menschenrechten. Zu den Ar- von Menschen, die wegen ihrer Überzeugungen oder ihrer beitsgebieten gehören heute der Kampf für Frauenrechte, die Lebensweise inhaftiert waren, wurden freigelassen. Die To- Respektierung der Menschenrechte in der Wirtschaft und die 12 AMNESTY Juni 2021
© Miguel Arana © Eileen Barroso / Columbia University Protest auf der Strasse: Eine von unzähligen Aktionen. Rechte von Geflüchteten, das Thema der Klimagerechtigkeit Agnès Callamard, die heutige und seit der Pandemie die gerechte Verteilung von Impfstof- Generalsekretärin. fen und Medikamenten. Die Ausweitung der Themengebiete geschah oft unter Dis- Amnesty-Gründer Peter Benenson in kussionen. So führte zum Beispiel das Eintreten gegen die To- einer Aufnahme von 1991. desstrafe, die 1977 erst in 16 Staaten vollständig abgeschafft war, zu Austritten. Solche Diskussionen sind aber durchaus gewünscht. Denn in einer Organisation mit dem Selbstver- Global wird der Schwerpunkt auf den Themenbereichen ständnis einer demokratischen Bewegung bestehen breite Mit- «Meinungsfreiheit und Raum für die Zivilgesellschaft» sowie bestimmungsmöglichkeiten. Manchen war Amnesty im Lauf «Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung» liegen. Ein der Zeit zu zahm. Anderen wiederum auf zu vielen Gebieten Teil der Ressourcen wird auch weiterhin etablierten Anliegen aktiv. wie dem Kampf gegen die Todesstrafe oder dem Zugang zu Recht in internationalen Konflikten gewidmet sein, dazu kom- Historische Umwälzungen Die Gründung von men neuere Themenfelder wie Technologie und Klimawandel. Amnesty fiel in die Hochphase des Kalten Kriegs und in die 1961 berührte das Schicksal von zwei Menschen Peter Be- Zeit, als Kolonien um ihre Unabhängigkeit kämpften. Die nenson so sehr, dass er aktiv wurde. Auch Agnès Callamard, Menschenrechte waren zum politischen Spielball zwischen die seit März an der Spitze von Amnesty steht, hat sich in ih- den Supermächten geworden. Um als vertrauenswürdige Or- rem Werdegang immer wieder für Einzelschicksale einge- ganisation agieren zu können, war Neutralität das oberste setzt. So hat sie als Sonderberichterstatterin der Uno bei- Gebot für Amnesty. Nach 1989 und dem Zerfall der Sowjet- spielsweise den Mord am saudi-arabischen Journalisten union veränderte sich das Umfeld grundsätzlich und stellte Jamal Khashoggi untersucht – und erhielt deswegen Dro- neue Herausforderungen. Mit den Anschlägen vom 11. Sep- hungen, die sie jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbrach- tember 2001 und dem folgenden «Krieg gegen den Terror» ten. «Ich habe diesen Fall untersucht, nicht weil er wichtiger wandelte sich die Welt erneut. Die Globalisierung und die wäre als ein anderer. Aber daraus lassen sich viele allgemeine Macht von multinationalen Konzernen taten weitere The- Erkenntnisse gewinnen.» Amnestys neue Generalsekretärin menfelder auf, ebenso die Digitalisierung oder die Gräuelta- macht deutlich, dass die Welt an einem Wendepunkt steht: ten von bewaffneten Gruppen. «Wir müssen bei allem, was wir tun, die Zukunft bedenken. Auch die Organisationsstruktur wandelte sich über die Was wir heute tun – oder eben nicht tun – wird grosse Aus- Jahre. Lange war der Hauptsitz ausschliesslich in London do- wirkungen auf künftige Generationen haben. Das dürfen wir miziliert, in der vergangenen Dekade hat Amnesty aber auch nie vergessen.» Regionalbüros in Städten in Afrika, Asien-Pazifik, Mittel- und Osteuropa, Lateinamerika und dem Nahen Osten eröff- Amnesty in der Schweiz net. Diese Büros vor Ort sind wichtige Drehscheiben für Re- In der Schweiz, genauer in Genf, entstand schon drei Jahre nach der Gründung cherche, Kampagnen und Kommunikation. Die der internationalen Bewegung eine Amnesty-Gruppe. Die ersten vier Mitglie- Regionalbüros verstärken die Arbeit der Sektionen, die be- der kamen aus dem internationalen Umfeld der Uno-Stadt. Am 3. Oktober reits auf nationaler Ebene in mehr als 70 Ländern tätig sind. 1967 führte diese Genfer Gruppe eine erste Hauptversammlung durch. Ab dann sprach sie von der «Schweizer Sektion». In der Deutschschweiz beschlos- Bereit für die Zukunft Auch heute noch müssen sen 1969 drei Leute, eine Amnesty-Gruppe zu gründen – ohne Kenntnis davon, wir leider Angriffe auf die Menschenrechte verzeichnen. Mit dass in Genf bereits eine Gruppe existierte. Als die Deutschschweizer dies einer neuen Strategie für die nächsten acht Jahre will Am- schliesslich bemerkten, tat man sich zusammen und hielt am 25. Oktober nesty in der Lage sein, sich weiterhin schlagkräftig gegen 1970 in Zürich die erste gemeinsame Hauptversammlung ab. Heute hat die Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Die Strategie der Schweizer Sektion rund 130 000 Unterstützer*innen, und 1500 Aktive enga- Schweizer Sektion steht unter dem Leitsatz «Gemeinsam für gieren sich in 66 Gruppen. 2020 wurden rund 110 000 Stunden ehrenamtliche eine gerechte Welt! Wir setzen uns glaubwürdig, mutig und Arbeit für Amnesty geleistet. Die Angestellten des Sekretariats sind an vier langfristig mit anderen zusammen dafür ein, dass die Men- Standorten tätig: Neben dem Hauptsitz in Bern gibt es Büros in Genf, Zürich schenrechte weltweit und in der Schweiz geachtet, geschützt und Lugano. Der Sektion steht ein ehrenamtlicher Vorstand vor. und gewährleistet werden.» 13 AMNESTY Juni 2021
DOSSIER_ 60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL «Doch, man kann etwas tun» Mit Amnesty International stehen viele Menschen ehrenamtlich für die Menschenrechte ein. Reto Moritzi und Elettra Bernasconi, zwei aktive Mitglieder aus verschiedenen Gegenden und Generatio- nen, geben Auskunft darüber, was sie antreibt und was sie sich für Amnesty wünschen. Interview: Émilie Mathys und Carole Scheidegger E AMNESTY: Könnt ihr euch noch daran erinnern, wann ihr mob gegen die Todesstrafe. Den ganzen Vormittag über sass zum ersten Mal von Amnesty International gehört habt? jemand in einem Käfig mit einem Sack über dem Kopf. Dann F Elettra: Ja, Amnesty wurde einmal an einer Schülerver- simulierten als Häftlinge verkleidete Studierende eine Hin- sammlung in Lugano vorgestellt. Seit meinem zweiten Jahr richtung auf dem elektrischen Stuhl. Damals hatte ich nicht im Gymnasium war ich dann aktiv bei Amnesty dabei. das Gefühl, dass die Aktion viel Aufmerksamkeit bekam, F Reto: Erstmals hörte ich von Amnesty 1977, als ich mit mei- aber ich wurde später mehrmals darauf angesprochen. ner Familie in Peru wohnte und als Lehrer unterrichtete. Dort F Reto: Wir führen andere Aktionen durch. Der grösste Erfolg erlebte ich, wie es in einer Diktatur zu- und hergeht. Es war wohl ein klassisches Konzert mit einer lokalen Musik- herrschte Ausnahmezustand, eine Militärregierung war an der grösse, das in der Presse und bei den Gönner*innen ein gutes Macht. Ich las in einer US-amerikanischen Zeitung, dass die Echo fand. Fruchtbarer Boden sind für uns auch Kirchge- Amnesty-Gruppe Peru verboten wurde, weil Amnesty offenbar meinden: Sie sind offen für Präsentationen von Amnesty. ein Stachel im Fleisch der Regierung war. Zurück in der Ein oder zwei Mal pro Jahr führen wir eine Strassenaktion Schweiz habe ich mich dann sehr für die Aktivitäten von am städtischen Integrationstag und anlässlich des Briefmara- Amnesty interessiert und bin thons in einem öffentlichen Lokal durch. gleich der lokalen Gruppe © zvg St. Gallen beigetreten. E Hat euch Corona sehr in eurem Engagement behindert? F Elettra: Ja, eindeutig. Zu Beginn der Pandemie haben wir E Habt ihr Tipps, die ihr uns virtuell getroffen, aber mit der Zeit hatten die Leute ge- austauschen könntet, zum nug davon. Wir verlieren Mitglieder, und es gibt Motivations- Beispiel eine Idee für eine probleme. Immerhin konnten wir uns treffen, um Videos zu Aktion? drehen. Es ist auch schwieriger, neue Mitglieder zu finden. F Elettra: Im November 2019 F Reto: Ich war mit den Gruppenmitgliedern per Telefon oder organisierten wir einen Flash- E-Mail in Kontakt, aber das ersetzt den persönlichen Austausch natürlich nicht. Es gibt so spannende Leute in unserer Gruppe: zum Beispiel eine schwedische Politologin, einen 82-jährigen ehemaligen Kaufmann, einen 40-jährigen Informatiker, eine Elettra Bernasconi ist 23 Jahre Sozialpädagogin, einen ehemaligen kurdischen Flüchtling so- alt. Sie ist im Tessin aufge- wie eine Ärztin. Es ist ein weiteres Verdienst von Amnesty, dass wachsen, wohnt derzeit in ganz unterschiedliche Leute zusammenkommen. Genf und wird nächstes Semester in Bern studieren. E Was motiviert euch für den Einsatz bei Amnesty? Sie hat einen Bachelor in F Reto: In der Schweiz haben wir ein (über)geregeltes Leben, Internationalen Beziehungen alles verläuft in ordentlichen Bahnen. Amnesty geht weltweit und absolviert jetzt einen dorthin, wo das Leben nicht so geregelt ist, und setzt kleine Master in Rechtswissenschaf- Nadelstiche, die auch Riesen plagen können, von Russland ten. Noch bis Mitte Jahr leitet bis China. Daneben gefällt mir auch die Internationalität, auf sie die Uni-Gruppe Genf. allen Kontinenten gibt es Amnesty-Gruppen. Unsere Gruppe 14 AMNESTY Juni 2021
© zvg hatte zum Beispiel einmal Verbindungen mit Amnesty in Ghana, weil jemand von uns dort geschäftlich zu tun hatte. F Elettra: Hinter meinem Engagement steht der Wunsch, in Reto Moritzi ist 71 Jahre einer besseren Welt zu leben, sei es international oder natio- alt und wohnt in Abtwil nal. Ich treffe mich gern mit Menschen, die diesen Willen bei St. Gallen. Er war teilen, die Menschenrechte zu verteidigen. Junge Menschen Sekundarlehrer und hat fragen sich oft, was für eine Welt sie erwartet. Ein Teil von drei erwachsene Kinder Amnesty zu sein, gibt mir viel Hoffnung. und fünf Grosskinder. Reto Moritzi leitet die E Was sagt ihr den Leuten, die zögern, sich mit Amnesty zu Lokalgruppe St. Gallen. engagieren? Die denken, dass es nichts bewirken würde? F Elettra: Ich nenne oft den Briefmarathon als Beispiel. In- dem wir Briefe schreiben, ermöglichen wir Verbesserungen. stark ins politische Tagesgeschäft eingreifen sollten. Ich den- Ausserdem nützt es nicht nur anderen, sondern ist auch auf ke da an Vorlagen wie die Konzernverantwortungsinitiative persönlicher Ebene lohnend. Ich habe bei Amnesty tolle Leu- oder das Burka-Verbot. Natürlich muss Amnesty Stellung be- te kennengelernt, das ist sehr motivierend. Dieses Engage- ziehen, wenn Individualrechte im Inland verletzt werden. ment gibt mir generell viel Energie im Leben. Und wenn wir Aber grosse Kampagnen zu Abstimmungen sehe ich eher nichts tun, wird sich bestimmt nichts ändern! kritisch. In unserer Gruppe besitzt auch nur eine Minderheit F Reto: Ich höre tatsächlich oft den Einwand: «Da kann man der Aktivmitglieder das Schweizer Stimmrecht. ja doch nichts machen, das nützt doch nichts.» Deshalb freue ich mich, Elettra, wenn auch junge Leute sagen: «Doch, man kann etwas tun.» Ich nehme jeweils die «Good News» aus «Ich treffe mich gern mit Menschen, die diesen dem Amnesty-Magazin mit an die Standaktionen und zeige Willen teilen, die Menschenrechte zu verteidigen.» den Menschen, welche Erfolge es gab. In St. Gallen und Um- gebung haben wir ausserdem ein Netz von etwa 200 Leuten, Elettra Bernasconi die Briefe gegen Menschenrechtsverletzungen schreiben. Sie kommen nicht an unsere Sitzungen oder Veranstaltungen, E Elettra, wiebeurteilst du den Einsatz von Amnesty bei aber sie versenden Briefe an Regierungen. Solche kleinen Ak- Abstimmungen? tionen können Grosses bewirken. F Elettra: Ziemlich positiv. Amnesty bezieht Stellung, wenn die Menschenrechte direkt betroffen sind. Ich war aktiv vor E Welche Veränderungen habt ihr im Lauf der Jahre bei der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative. Amnesty bemerkt? Aber das hat viel Energie gekostet, auch weil die Initiative ab- F Reto: In den ersten Jahren meines Engagements setzten gelehnt wurde. wir uns als lokale Aktivmitglieder nur für Einzelfälle ein. Heute steht der Schutz von Minderheiten-Gruppen stärker E Was wünscht ihr Amnesty zum Geburtstag? im Zentrum, seien es Uiguren, Rohingya oder Homosexuel- F Elettra: Dass wir nach der Pandemie wieder die Motivation le, womit die systemischen Menschenrechtsverletzungen finden, uns zu treffen, sowohl auf nationaler als auch auf in- stärker an die Öffentlichkeit gebracht werden. Diese Verän- ternationaler Ebene. Wir müssen die Beziehungen innerhalb derung ist für mich absolut nachvollziehbar. Den Einsatz für von Amnesty neu knüpfen. einzelne Menschen gibt es ja weiterhin. F Reto: Dass es Amnesty in 60 Jahren nicht mehr braucht, F Elettra: Als ich mein Studium begann, wurde ich auf das weil alle Rechte eingehalten sind. [lacht] Das ist natürlich sehr Problem der sexuellen Belästigung aufmerksam gemacht. idealistisch, und ich weiss, dass es wahrscheinlich nicht so Heutzutage wird viel darüber gesprochen, auch auf der legis- sein wird. Ich wünsche mir, dass Amnesty immer lativen Ebene. Ich frage mich ausserdem, ob sich Amnesty Aktivist*innen haben wird, die alle Menschenrechte auch schon immer so aktiv an Abstimmungen beteiligt hat. dort verteidigen, wo dies nicht so einfach ist. Wir müssen ins- F Reto: Früher war das viel weniger der Fall. Es überzeugt besondere die Menschen unterstützen, die die Menschen- mich auch nicht ganz, wenn Amnesty zu schwergewichtig rechte vor Ort verteidigen. Bei uns in der Schweiz braucht Position bezieht bei Abstimmungen. Ich finde, dass wir uns das ja wenig Mut! Es steht nie einer vor der Tür und sagt: auf den Kern der Menschenrechte fokussieren und nicht zu «Jetzt kannst du gleich mitkommen.» 15 AMNESTY Juni 2021
DIE STRUKTUREN DER ORGANISATION WELTWEIT REGIONALBÜRO EUROPA In Osteuropa gibt es Wir haben in einigen unserer Regionalbüros Brüssel Rückschritte bei den 26 Sektionen Frauenrechten (Polen auf verschiedenen Kontinenten nachgefragt, schränkt den Zugang welche Herausforderungen – nebst der zu Schwangerschaftsabbrüchen ein; die Türkei droht Covid-19-Pandemie – sie zurzeit in ihrer aus der Istanbul-Konvention auszutreten); in Ungarn Region am stärksten beschäftigen. Hier und Russland wird versucht, kritische Stimmen zum ihre Antworten. Schweigen zu bringen. Für die Flüchtlinge in Grie- chenland ist keine Lösung in Sicht. Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus schränken auch in Westeuropa zivile Rechte ein. ISLAND NORWEGEN KANADA London Brüssel UKRAINE MOLDAWIEN USA TÜRKEI Washington DC Tunis Beirut TUNESIEN PALÄSTINA Besetzte palästinensische Gebiete ALGERIEN ISRAEL MEXIKO Mexiko City MALI SENEGAL JEMEN Dakar REGIONALBÜRO AMERIKAS Covid-19 NIGERIA VENEZUELA SIERRA LEONE Mexico City hat alle 11 Sektionen Aspekte KOLUMBIEN der Arbeit TOGO KENIA ELFENBEINKÜSTE in den Sektionen Amerikas geprägt, ein gerechter sozioökonomischer Auf- Nairobi schwung, der die Ungleichheiten an- REGIONALBÜRO WEST- In vielen geht und die Menschenrechte respek- PERU BRASILIEN UND ZENTRALAFRIKA Ländern tiert, ist nun vonnöten. Daneben sind Dakar der Region momentan folgende Themen prioritär: 23 Länder gerät die das Recht auf Gesundheit, staatliche Zivilbevöl- SIMBABWE Repression, Geschlechtergerechtigkeit, PARAGUAY kerung zunehmend zwischen bewaff- Migration sowie die Stärkung des Akti- CHILE nete Gruppen und die Regierung. Die vismus. Meinungs- und Versammlungsfreiheit Johannesburg MADAGASKAR ist bedroht, LGBTI*-Rechte werden nach wie vor beschnitten, während SÜDAFRIKA URUGUAY ARGENTINIEN Straflosigkeit in vielen Ländern fortge- setzte Menschenrechtsverletzungen schafft. Millionen von Menschen wur- den intern vertrieben. Die wirtschaftli- chen und sozialen Rechte werden trotz Wirtschaftswachstum nicht er- füllt, ebenso wenig wie die Rechte von Frauen und Mädchen (Themen sind Kinderheiraten oder der erschwerte Zugang zu Verhütungsmitteln). NATIONALE EINHEITEN SEKTION Formell konstituiertes Gremium mit STRUKTUREN bestehen mindestens aus einem NATIONALE BÜROS werden an strategischen Orten einer vom internationalen Vorstand genehmigten Sat- Vorstand und Freiwilligen. Sie koordinieren die Men- eingerichtet und vom Internationalen Sekretariat be- zung, das die Arbeit von Amnesty International in schenrechtsaktivitäten und stärken die nationale oder aufsichtigt, um die Menschenrechtsarbeit im Namen einem bestimmten Land, Staat, Gebiet oder einer regionale Präsenz von Amnesty. Eine Struktur arbeitet der Bewegung durchzuführen. Region durchführt. mit dem Ziel, eine Sektion zu werden. 16 AMNESTY Juni 2021
60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL REGIONALBÜROS NAHER OSTEN In der gesamten Region nutzen die Behörden über- UND NORDAFRIKA mässig weit gefasste strafrechtliche Bestimmungen Beirut, Tunis, Ost-Jerusalem und London zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Friedliche Kritiker*innen und Aktivist*innen werden einge- 1961 GRÜNDUNG VON AMNESTY INTERNATIONAL 28. Mai 1961: Der britische Anwalt Peter Benenson 20 Länder schüchtert und zum Schweigen gebracht, Websites und die sozialen Medien werden blockiert. In vielen fordert in «The Observer» die Leserschaft auf, mit Ländern der Region zahlen Menschenrechtsverteidiger*innen weiterhin einen hohen Appellschreiben Druck auf die Regierungen zu ma- Preis für ihre Arbeit. Die Sicherheitskräfte in mehreren Ländern wenden oft ungesetz- chen und die Freilassung politischer Gefangener zu liche und übermässige Gewalt an. fordern. Dieses Datum markiert die Geburtsstunde von Amnesty International. 1964 KONSULTATIVSTATUS BEI DER UNO . 1964 BEGINN DER ARBEIT IN DER SCHWEIZ Die erste Amnesty-Gruppe wird in Genf gegründet. 1970 GRÜNDUNG SCHWEIZER SEKTION MONGOLEI 1973 TODESSTRAFE Die Amnesty-Delegierten beschliessen nach hitzigen SÜDKOREA JAPAN Diskussionen, sich künftig für die Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen. NEPAL 1977 FRIEDENSNOBELPREIS INDIEN TAIWAN Hongkong 1978 MENSCHENRECHTSPREIS DER UNO THAILAND PHILIPPINEN Bangkok 2001 GESAMTES SPEKTRUM Verabschiedung einer neuen Vision und Mission, die nun das ganze Spektrum an Menschenrechten welt- SRI LANKA weit umfassen. INDONESIEN 2002 INTERNATIONALER STRAFGERICHTSHOF ICC REGIONALBÜRO ASIEN Die grösste Nach langjährigem Druck von Amnesty-Unter UND PAZIFIK Herausforde- stützer*innen nimmt der Internationalen Straf- Bangkok, Hongkong rung ist der 6 Sektionen Militärputsch gerichtshof (ICC) seine Arbeit auf. in Myanmar und seine verheerenden Folgen für die 2003 AMBASSADOR OF CONSCIENCE AWARD Menschenrechte. Neben der Inhaftie- AUSTRALIEN Seit 2003 verleiht Amnesty International den undo- rung von Tausenden und der Tötung von tierten Preis «Botschafter*in des Gewissens». Václav Hunderten von Menschen, besteht die Gefahr einer humanitären Katastrophe Havel war der erste Preisträger, 2019 ging der Preis mit Nachbeben für die gesamte Region. an Greta Thunberg und Fridays for Future. Internet-Blackouts behindern auch das Regionalbüro dabei, Missstände zu dokumentieren. 2012 NÄHER BEI DEN MENSCHEN Ab 2012 werden regionale Büros auf den Kontinen- ten errichtet, um näher am Ort des Geschehens zu sein und Menschenrechtsverletzungen besser unter- suchen und dokumentieren zu können. Das Internationale Sekretariat 2013 ATT wird vom Internationalen Vor- Nach 20 Jahren Engagement von Aktivist*innen stand beaufsichtigt. Es vertritt verabschiedet die Uno-Generalversammlung LÄNDER ohne Sektion, aber mit einer hohen Zahl die Bewegung nach aussen, an Mitgliedern auf internationaler Ebene. im April 2013 den globalen Waffenhandelsvertrag koordiniert und leitet die globale Arbeit, entwickelt eine globale (Arms Trade Treaty, ATT). REGIONALE BÜROS ermöglichen es, vor Ort Men- Strategie, Richtlinien und Stan- schenrechtsanliegen anzugehen und Projekte durch- zuführen. Sie werden rechtlich vom internationalen dards und schützt den Namen 2020 10 MILLIONEN und das Logo von Amnesty Amnesty wird mittlerweile von 10 Millionen Sekretariat kontrolliert oder sind ihm angegliedert. International. Menschen unterstützt und ist in mehr als 70 Ländern aktiv. 17 AMNESTY Juni 2021
DOSSIER_ 60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL 60 Jahre, EL SALVADOR Freilassung von Teodora del Carmen Vásquez 6 Erfolgsbeispiele Wegen Mordes wurde Teodora del Carmen Vásquez in El Salvador zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Die junge Frau war bei der Arbeit, als sie plötzlich starke Schmerzen hatte. Sie verlor das Bewusstsein und er- litt eine Fehlgeburt. Die Polizei nahm Teodora we- Trotz aller Angriffe auf die Menschenrechte: Das gen Mordverdachts fest, erst danach brachte man sie Engagement von Amnesty International und ihren in ein Krankenhaus. 2008 verurteilte ein Gericht Teodora del Carmen Vásquez wegen «Mordes» zu Mitgliedern zeigt, dass ein Wandel möglich ist. 30 Jahren Gefängnis. In El Salvador gelten Fehlge- Einige Beispiele von Erfolgen der letzten Jahre. burten als Schwangerschaftsabbrüche. Diese sind ge- nerell illegal, auch in Fällen von Vergewaltigung und Von Olalla Pineiro Trigo Inzest und auch wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Amnesty International setzte sich mit Petitionen, Demonstrationen und Briefen für Teodora ein SIERRA LEONE Junge Mütter zurück und forderte ausserdem den in der Schule Justizminister auf, sie frei- zusprechen und die Verur- Sierra Leone erlaubt seit 2019 teilungen aller Frauen, die jungen Müttern wieder den aufgrund von Schwanger- Schulbesuch. Der westafri- schaftsabbrüchen inhaf- kanische Staat hatte ab tiert wurden, aufzuheben. 2015 schwangeren Mäd- Teodora wurde 2018 entlas- chen den Schulbesuch © sen, nachdem sie zehn Jahre Ed und die Teilnahme an ga rR hinter Gittern verbracht hatte. om e ro Prüfungen verwehrt. Die © Behörden hielten sie für ai «lernunfähig» und fürchteten KASACHSTAN Gegen die Diskriminierung einen negativen Einfluss auf an- von Menschen mit Behinderung dere Schüler*innen. Diese diskrimi- nierende Massnahme betraf nach Angaben der Uno mehr Wegen seiner geistigen Behinderung wurde Vadim Nesterov als 14 000 Mädchen. Schwangerschaften bei Teenagern aus Kasachstan im Jahr 2011, als er 18 Jahre alt wurde, seine sind in dem Land laut Amnesty International meist das Rechtsfähigkeit aberkannt. Ohne die Möglichkeit, selbst über Ergebnis von Vergewaltigungen. Viele Mädchen werden sein Leben zu entscheiden und seine auch schwanger, nachdem sie sich prostituiert haben, um Rechte wahrzunehmen, gab es für zu überleben. Amnesty erreichte zusammen mit zwei an- ihn nur wenig Hoffnung, je eine deren NGOs, dass das Schulverbot durch eine Klage bei Anstellung zu finden oder hei- der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas raten zu können. Nach einem aufgehoben wurde. Amnesty begrüsst diesen Fortschritt, Bericht von Amnesty Inter- fordert Sierra Leone jedoch auf, Sexualaufklärung zu be- national über seinen Fall treiben und die Kultur der Scham im Zusammenhang und der Intervention des mit Kinderschwangerschaften zu beenden. Nach mehre- Verbandes der kasachischen ren Interviews hatte die Organisation festgestellt, dass Psychoanalytiker*innen wur- Familien junge Mädchen, die schwanger werden, oft den Vadim Nesterov seine nicht mehr unterstützen und dass sie von Lehrpersonen Rechte schliesslich wieder zuge- © ai häufig ausgegrenzt werden. standen. 18 AMNESTY Juni 2021
DOSSIER_ 60 JAHRE AMNESTY INTERNATIONAL SUDAN Ein Flüchtling, NIGERIA Minderjähriger vor der der sich für sein Volk einsetzt Hinrichtung gerettet Abdul Aziz Muhamat war erst 19 Moses Akatugba aus Nigeria wurde des Diebstahls von drei Jahre alt, als er 2013 den Sudan Handys, Geld und Gutscheinen angeklagt. Für diese «Ver- verliess, um dem Krieg zu brechen» wurde der damals erst 16-Jährige zum Tod verur- entkommen. Leider wurde teilt. Der Teenager war 2005 von den nigerianischen Behör- sein Flüchtlingsboot abge- den verhaftet worden, als er auf dem Weg zu seiner Tante fangen, bevor es Austra war. Seine Familie erfuhr von der Verhaftung nur dank eines lien erreichte. Die Behör- Strassenverkäufers, der Zeuge des Vorfalls geworden war. den schickten ihn in ein Moses Akatugba wurde genötigt, ein unter Folter erzwunge- Migrant *innen-Zentrum nes Geständnis zu unterschreiben. Nach einem unfairen auf die Insel Manus in Prozess verurteilte ein Gericht den Schüler zu zehn Jahren Papua-Neuguinea. Mit sei- Gefängnis. 2013, nach acht Jahren hinter Gittern, wurde Mo- nem Handy informierte Abdul © Ja s ses ausserdem zum Tod durch den Strang verurteilt. Zusam- on mit Sprachnachrichten über die G a rm a n / ai men mit anderen Organisationen, die in Nigeria aktiv sind, schlechten Bedingungen im Lager griff Amnesty International den Fall auf und forderte die Be- und die katastrophalen Folgen von Australiens Migrationspo- hörden auf, das Todesurteil umzuwandeln und die von der litik, die Flüchtlinge auf entlegene Inseln verfrachtet. Die Polizei verübten Folterungen zu untersuchen. Aktivist*innen Medien begannen, Abduls Geschichte zu veröffentlichen. aus der ganzen Welt schlossen sich der Aktion an, indem sie Amnesty International startete eine Online-Kampagne, um Briefe schrieben und über Facebook und seine Freilassung zu fordern. 2019 erhielt Abdul den Martin- Twitter massenweise Botschaften Ennals-Preis, der jedes Jahr von zehn Menschenrechtsorgani- an den Gouverneur des nige- sationen verliehen wird. Abdul nutzte seine Reise in die rianischen Bundesstaats Schweiz, um ein Asylgesuch zu stellen, das angenommen Delta schickten. Moses wurde. Er lebt heute in Genf und setzt sich für Menschen auf wurde schliesslich am der Flucht ein – unter anderem im Rahmen der Kampagne 28. Mai 2015 begna- #evakuierenJETZT, die eine verstärkte Aufnahme von Ge- digt. Nach seiner Frei- flüchteten in Europa fordert. lassung begann er, sich als Menschen- rechtsaktivist zu enga- gieren und Folteropfern © zu helfen. M ka iik Pi rin en / ai SYRIEN Ermittlungen bei Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung «Strike Tracker»: Dieses dem die Militärkoalition schliesslich ihre Verantwortung aner- von Amnesty Internatio- kannt und die Zahl der zivilen Opfer nach oben korrigiert hatte, nal 2018 ins Leben geru- blieb Amnesty überzeugt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs fene Projekt hatte zum darstellte. Deshalb wurde die Untersuchung fortgesetzt und Ziel, die Zerstörung der «Strike Tracker» gegründet: ein partizipatives Datenerfassungs- © syrischen Stadt Rakka ge- tool, das es ermöglicht, das genaue Ausmass der Zerstörungen in Mi len aM arin/a nau zu erfassen. Eine erste Rakka zu erheben. Mehr als 3000 Freiwillige aus 124 Ländern i Untersuchung hatte 2017 gezeigt, beteiligten sich an der Aktion von Amnesty und analysierten Sa- dass die von den USA angeführte Koali tellitenbilder, um die Zerstörung von Gebäuden zu dokumentie- tion Bombardierungen durchführt hatte, bei welchen ren und zu datieren – ein wichtiger Schritt zur Gerechtigkeit für auch Hunderte Zivilpersonen getötet wurden. Auch nach- die Opfer des syrischen Bürgerkriegs. 19 AMNESTY Juni 2021
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