BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de

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BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
BERTINI-PREIS
2019
    LA SST EUC H N I C HT EI N SCH Ü CH TE R N !
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
DER
                                                     BERTINI-PREIS        Hinschauen, wenn andere wegsehen.
                                                                          Sich einmischen, wenn andere schweigen.
                                                                          Erinnern, wenn andere vergessen.
                                                                          Eingreifen, wenn andere sich wegdrehen.
                                                                          Unbequem sein, wenn andere sich anpassen.

IMPRESSUM   Herausgeber BERTINI-Preis e.V.
            Redaktion Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf
            Texte Ann-Britt Petersen, Hans-Juergen Fink, Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf
            Gestaltung Carsten Thun
            Fotos Carsten Thun, ZDF/ Renate Schäfer/Gisela Floto
            Druck RESET St. Pauli
            Anschrift Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburger Straße 31, 22083 Hamburg
            andreas.kuschnereit@bsb.hamburg.de
            © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion
            www.bertini-preis.de
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

am 27. Januar 2019 erhielten 50 junge Men-         Die Statements der Förderer beginnen mit
schen den BERTINI-Preis. Es war die 21.            der Absalom-Stiftung der Freimaurer, die
Preisverleihung. In seiner Festrede beklagte       seit 1998, also von Anbeginn, den BERTINI-
der Performance-Künstler und Moderator             Preis mitgestaltet hat, allen voran Günther
Michel Abdollahi eine „beängstigende Stim-         Wedderien. Zum 21. Mal hatte er in der
mung gegen Minderheiten in diesem Land“.           ­Jurysitzung mit klaren, immer wertschätzen-
Umso bedeutsamer ist es, Foren zu schaffen,         den Worten votiert. Niemand ahnte, dass es
die dieser Stimmung entgegenwirken. Der             das letzte Mal sein würde. Er starb überra-
BERTINI-Preis bietet ein solches Forum.             schend am 3. Januar 2019. Über zwanzig
Hier stehen Jugendliche im Mittelpunkt, die         Jahre hat er als Mitglied des Vorstandes des
sich gegen das Vergessen und Verdrängen von         BERTINI-Preis e.V. Verantwortung getragen.
Unrecht und Gewalt in diesem Land wenden            Er konnte sich begeistern für das Engagement
und sich für Minderheiten einsetzen. Diesmal        junger Menschen, die Spuren vergangenen
waren es vier Projekte, die auf der Bühne des       Unrechts nachgehen, die sich gegen Ausgren-
Ernst Deutsch Theaters vorgestellt und gewür-       zung und Gewalt gegen Menschen einsetzen
digt wurden. Die gewaltsame Verfolgung der          und für ein gleichberechtigtes Miteinander
Hamburger Swing-Jugend, die erschütternde           eintreten. Wir gedenken seiner in großer
Radikalisierung von drei Jugendlichen auf           Dankbarkeit.(S. 18).
ihrer Suche nach Freundschaft, Heimat und           Am 20. März 2016, dem 93. Geburtstag von
Identität, die Gewissenlosigkeit zweier Ham-        Ralph Giordano, veranstaltete das Ernst
burger Polizisten, die im Konzentrationslager       Deutsch Theater in Kooperation mit dem
Majdanek mordeten, und mit wasserlöslicher          BERTINI-Preis e.V. eine Lesung zu dem Hör-
Sprühkreide erstellte Porträts von Opfern des       buch „Die Bertinis“, die vielen „unter die
NS-Regimes, deren Namen auf „Stolperstei-           Haut“ ging. Die von Zuschauern geäußerte
nen“ zu lesen sind, sind die Themen, denen          Idee, hieraus eine Tradition entstehen zu las-
sich die Preisträger in ihren beispielgebenden      sen, haben das Ernst Deutsch Theater und
Projekten gewidmet haben.                           der BERTINI-Preis e.V. aufgegriffen: Auch
Mit ihnen sind es inzwischen 123 Projekte,          am 96. Geburtstag Ralph Giordanos hat es
die mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet             eine Lesung aus den „Bertinis“ unter der Re-
worden sind. Einen Einblick in die Vielfalt der     gie von Michael Batz gegeben (S. 22).
Beiträge, mit denen junge Menschen in die           Der BERTINI-Preis findet seine Fortsetzung
Öffentlichkeit getreten sind, finden Sie ab Sei-    mit der Ausschreibung für das Jahr 2019­
te 26. Hinter all dem stehen die Förderer des       (S. 37). Wir wünschen uns sehr, dass viele
BERTINI-Preises. Es sind inzwischen 32 Per-         junge Menschen die Botschaft, die er sendet,
sonen und Institutionen, die dieses einzigarti-     aufgreifen und die Idee, für die er steht, wei-
ge Forum möglich machen. Was sie bewegt, ist        tertragen: „Lasst Euch nicht einschüchtern!“
ab Seite 32 nachzulesen.                            Ihr Redaktionsteam
                                                                                                      3
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
DIE PREISTRÄGER
       2018
                           AUS DER REIHE TANZEN –
                           ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND
                Seite 10
                           Ein Theaterprojekt von 18 Schülerinnen und Schülern der
                           Bugenhagenschule Alsterdorf

                           KEIN DEUTSCHER LAND
                Seite 13   Ein Theaterprojekt von 19 Schülerinnen und Schülern des
                           Helmut-Schmidt-Gymnasiums zu Heimat und Identität

                           VON HAMBURG NACH MAJDANEK
                           Wie zwei Hamburger Polizisten zu Massenmördern
                Seite 16
                           wurden – ein Projekt von 12 Schülerinnen und Schülern des
                           Lise-Meitner-Gymnasiums

                           ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT
                Seite 20   Ein Kunstprojekt von Nele Borchert,
                           Schülerin des Albert-Schweitzer-Gymnasiums

4
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
INHALT
03     EDITORIAL
06     VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 2018
       50 Schülerinnen und Schüler wurden für ihr
       außergewöhnliches Engagement geehrt.

		AUSGEZEICHNET:
10     AUS DER REIHE TANZEN – ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND
13     KEIN DEUTSCHER LAND
16     VON HAMBURG NACH MAJDANEK
20     ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT

22     NACHRUF AUF GÜNTHER WEDDERIEN
24     DAS HÖRBUCH „DIE BERTINIS“
       Ralph Giordanos letztes Werk
25		   DEMOKRATISCH HANDELN
26		 GEGEN DISKRIMINIERUNG UND RASSISMUS
		 Lesung „Die Bertinis“
28		 GELEBTE ERINNERUNGSKULTUR
		Esther Bejarano gemeinsam mit BERTINI-Preisträgern im Scharlatan Theater
30		   BERTINI-PREISTRÄGER MISCHEN SICH EIN
       Insgesamt 123 Gruppen und Einzelpersonen wurden bisher mit dem
       BERTINI-Preis ausgezeichnet – 20 Beispiele für Engagement und Zivilcourage,
       die Spuren hinterlassen haben.
34     DEN BERTINI-PREIS FÖRDERN
36     DIE FÖRDERER
40     DIE RALPH-GIORDANO-BIBLIOTHEK IN DER
       KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME
41		 RALPH GIORDANO – GELEBTE ZIVILCOURAGE
42     AUSBLICK

                                                                                     5
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
AUFTAKT: ISABELLA VÉRTES-SCHÜTTER
    BEGRÜSST DIE GÄSTE IM ERNST DEUTSCH THEATER ZUR
    21. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES, BEGLEITET VON DER
    GEBÄRDENDOLMETSCHERIN CELINE SAWKINS.

                                                          VERLEIHUNG DES
                                                      BERTINI-PREISES 2018
                      ZUM 21. MAL WURDEN JUNGE MENSCHEN FÜR IHR BEISPIELGEBENDES ENGAGEMENT GEGEN DAS VERGESSEN
                      UND VERDRÄNGEN VON UNRECHT UND GEWALT UND IHR EINTRETEN FÜR EIN GLEICHBERECHTIGTES MITEINANDER
                      AUSGEZEICHNET.
                      Ein Theaterprojekt zur Hamburger Swing-           Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des
                      Jugend, ein Video-Projekt zu den Verbrechen       Ernst Deutsch Theaters und Vorsitzende des
                      von zwei Hamburger Polizisten in den Kon-         BERTINI-Preis e.V., begrüßte die rund 700
                      zentrationslagern Majdanek und Belzec, ein        Gäste und erinnerte an den Ehrenvorsitzen-
                      Kunstprojekt zu Stolpersteinen und ein Thea-      den des BERTINI-Preises Ralph Giordano. Sie
                      terprojekt zu Identität, Ausgrenzung und Ra-      habe in dem zurückliegenden Jahr oft an ihn
                      dikalisierung von Jugendlichen: Diese vier        denken müssen. Ein Ausspruch sei ihr dabei in
                      Projekte hatte die Jury im Dezember 2018          besonderer Weise erinnerlich gewesen: „Wer
                      für die Auszeichnung mit dem BERTINI-Preis        die Demokratie beschädigen will, bekommt es
                      ausgewählt. Im Rahmen der 21. Preisverlei-        mit mir zu tun, der hat mich am Hals.“ Isa-
                      hung standen an diesem Tag 50 Hamburger           bella Vértes-Schütter weiter: „Die Stimmen,
                      Jugendliche für ihre Spurensuche, ihre Erin-      die die Demokratie beschädigen wollen, sind
                      nerungsarbeit und ihr Eintreten für ein gleich­   wieder lauter geworden. Und wir alle sind auf-
6                     berechtigtes Miteinander im Mittelpunkt.          gerufen, dass sie uns am Hals haben.“
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AUFTRAG: SCHULSENATOR TIES RABE BETONT IN SEINEM GRUSSWORT DIE   AUFRUF: MICHEL ABDOLLAHI ERMUTIGT IN SEINER FESTREDE,
NOTWENDIGKEIT, ANGESICHTS AKTUELLER ENTWICKLUNGEN WACHSAM ZU SEIN.    SICH GEGEN HASS UND HETZE ZUR WEHR ZU SETZEN.

                  Auch Schulsenator Ties Rabe zeigte sich in          noch, wenn er den Eindruck habe, den Urhe-
                  seinem Grußwort besorgt über aktuelle Ent-          ber mit seinen Argumenten noch erreichen zu
                  wicklungen. Der von den Nazis begangene             können. Es gebe eine „beängstigende Stim-
                  Massenmord in den Konzentrationslagern sei          mung gegen Minderheiten in diesem Land“,
                  nur der Endpunkt einer langen gesellschaft-         so Abdollahi. Er appellierte an das Publikum:
                  lichen Entwicklung und eines Verfalls der           „Wenn Sie auf Hass und Hetze stoßen, gehen
                  Menschlichkeit gewesen, die bereits Jahre zu-       Sie mit allen Rechtsmitteln dagegen vor. Wir
                  vor eingesetzt habe. Angefangen habe es mit         werden nicht zulassen, dass bestimmte Men-
                  Feindbildern, die von skrupellosen Politikern       schen den Faschismus in unsere Gesellschaft
                  aufgegriffen und benutzt wurden, um die             zurückbringen.“
                  Demokratie auszuhöhlen. Und auch heute be-
                  stünde wieder Anlass, wachsam zu sein. An die       NDR-Moderator Christian Buhk, der zum
                  Jugendlichen gewandt: „Aber die BERTINI-            zweiten Mal durch die Veranstaltung führte,
                  Preisträger zeigen, dass es auch Grund zu           unterstrich diesen Appell: „Ich freue mich die
                  Optimismus und Hoffnung gibt.“                      BERTINI-Preisverleihung zu moderieren, ein
                                                                      Preis, der Hamburger Jugendliche für ihre Zi-
                  In seiner Festrede berichtete der Performance-      vilcourage auszeichnet.“
                  Künstler und Moderator Michel Abdollahi,
                  dass er für seinen Aufruf gegen Faschismus          Die NDR-Mitarbeiter Christian Becker und
                  und für die Erinnerungskultur anlässlich der        Florian Skupin hatten die Preisträgerinnen
                  Befreiung von Auschwitz zahlreiche Hass-            und Preisträger zuvor aufgesucht und mit
                  Mails und Drohungen erhalten habe. In seiner        Mikrofon und Fernsehkamera anschaulich
                  WDR-Kolumne „Der deutsche Schäferhund“              aufbereitet, wofür die Jugendlichen ausge-
                  hatte er auf den bevorstehenden Gedenktag           zeichnet worden sind. Mit zweiminütigen Ein-
                  hingewiesen und erklärt: „Der Holocaust ist         spielfilmen wurden die Preisträgerinnen und
                  kein Vogelschiss der Geschichte.“ Als er tags       Preisträger vorgestellt, bevor die Förderer
                  darauf seine Mails öffnete, habe er die „üb-        des BERTINI-Preises in ihren Laudationes
                  lichen Nachrichten“ gefunden: „Du bist der          ausführten, womit die Jugendlichen die Jury
                  Nächste“ oder „Dich zünden wir auch an“             überzeugt hatten.
                  und „Muslime sind die neuen Juden“. Er
                  selbst antworte auf solche Mails und Posts nur                                                              7
BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
01		AUS DER REIHE TANZEN –                                02		KEIN DEUTSCHER LAND
        ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND                            Ein Theaterprojekt von 19 Schülerinnen und Schülern
        Ein Theaterprojekt von 18 Schülerinnen und Schülern       des Helmut-Schmidt-Gymnasiums zu Heimat und Identität
        der Bugenhagenschule Alsterdorf                           Pate: Hubert Grimm
        Pate: Axel Zwingenberger

           Laudator Axel Zwingenberger überreichte            Heidi Melis von der Hamburger Volksbank
           den BERTINI-Preis an 18 Schülerinnen und           überreichte den BERTINI-Preis an 12 Schü-
           Schüler der Bugenhagenschule Alsterdorf für        lerinnen und Schüler des Lise-Meitner-Gym-
           ihr Theaterprojekt „Aus der Reihe tanzen“          nasiums, die sich im Anschluss an den Besuch
           und würdigte sie mit den Worten: „Ihr habt         der Gedenkstätten Majdanek und Belzec in Vi-
           das Thema ’Swing-Kids‘ dem Vergessen ent-          deobeiträgen mit ihren Erkenntnissen und Ein-
           rissen und eine musikalische Kultur gewür-         drücken auseinandergesetzt haben. „Ihr seid
           digt, die sich dem Gleichschaltungswahnsinn        auf eine eindrucksvolle Weise der Frage nach-
           der Nazis entgegenstellte.“                        gegangen, wie aus ganz normalen Menschen
                                                              Mörder werden“, betonte die Laudatorin.
           Hubert Grimm von der Freimaurerloge
           Roland ehrte 19 Schülerinnen und Schüler
           ­                                                  Jan Frenzel vom NDR würdigte die 16-jäh-
           des Wilhelmsburger Helmut-Schmidt-Gymna-           rige Nele Borchert vom Albert-Schweitzer-
           siums für ihr Theaterprojekt „Kein deutscher       Gymnasium für ihr Kunstprojekt „Ich gebe
           Land“, das sie anlässlich der besorgniserre-       den Steinen ein Gesicht“. Die Schülerin hat-
           genden Ergebnisse einer Umfrage unter Mit-         te die Gesichter von Deportierten, zu deren
           schülerinnen und Mitschülern zum Thema             Gedenken Stolpersteine in Hamburg verlegt
           „Heimat und Identität“ inszeniert hatten.          worden waren, mithilfe von kunstvoll ange-
           Das Stück widmet sich der Radikalisierung          fertigten Schablonen und Kreidespray neben
           von Jugendlichen aufgrund erlittener Aus-          die Steine gesprüht. „Nele Borchert hat unse-
           grenzung und Diskriminierung. In seiner Lau-       re Augen neu auf die Stolpersteine gerichtet“,
           datio sagte er: „Nur ohne Vorurteile ist man       hob der Laudator die kreative Leistung der
8          ein frei denkender, also ein freier Mensch.“       jungen Preisträgerin hervor.
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03		VON HAMBURG NACH MAJDANEK                              04		ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT
    – wie zwei Hamburger Polizisten zu Massenmördern           Ein Kunstprojekt von Nele Borchert,
    wurden. Ein Projekt von 12 Schülerinnen und Schülern       Schülerin des Albert-Schweitzer-Gymnasiums
    des Lise-Meitner-Gymnasiums                                Pate: Jan Frenzel
    Patin: Heidi Melis

       Die Gebärdensprachdolmetscherinnen ­Celine          (E-Gitarre), Alexander Maguire (Keyboard/
       Sawkins und Christine Müller übersetzten            Schlagzeug), Mohamed Camara ­(E-Bass) und
       abwechselnd die gesprochenen Beiträge. Den          Jonathan Bodenschatz (Schlagzeug/Percus-
       klangvollen musikalischen Rahmen der 21.            sion). Sie spielten „Johnny B. Good“ (Chuck
       BERTINI-Preisverleihung ­gestaltete die vier-       Berry), „Knockin' on Heaven's Door“ (Bob
       köpfige Band „Ouchmyback“ der Staatlichen           Dylan) und „Spain“ (Chick Corea).
       Jugendmusikschule Hamburg mit Luca Blum

                                                                                                            9
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AUS DER REIHE TANZEN –
     ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND

             18  Schülerinnen und Schüler vom Theaterkurs der Bugenhagenschule Alsterdorf
          befassten sich mit der Swing-Jugend, die von den Nationalsozialisten unterdrückt und
                  verfolgt wurde, und brachten deren Geschichte auf die Bühne.
      SIE BEGEISTERTEN SICH FÜR AMERIKANISCHEN JAZZ   „Die meisten Swing-Kids haben ihre Einstel-
      UND TANZTEN DAZU LINDY HOP. SIE STYLTEN SICH    lung trotz der Gefahren aber nicht aufgege-
      NACH ENGLISCHER MODE, DIE JUNGS IN FLANELL-     ben“, erklärt Jannika Möring (18), Schüle-
      ANZÜGEN SAMT KRAWATTE MIT WINDSOR-KNOTEN,       rin der Bugenhagenschule Alsterdorf. Diese
      DIE MÄDCHEN IN BUNTEN KLEIDERN, FALTENRÖCKEN    Haltung hatte sie und die anderen 17 Schü-
      ODER HOSEN UND GESCHMINKT. SIE NANNTEN SICH     lerinnen und Schüler des Theaterkurses stark
      SWING-GIRLS UND -BOYS ODER EINFACH SWINGS.      beeindruckt. Bei der Planung für ein neues
      DOCH IHRE BEGEISTERUNG FÜR DIE ENGLISCH­        Stück hatten sich die Jugendlichen gemeinsam
      SPRACHIGE MUSIK, MODE UND LÄSSIGKEIT DURF-      mit Theaterlehrerin Corinna Honold intensiv
      TEN SIE IM NAZI-DEUTSCHLAND NICHT AUSLEBEN.     mit der Swing-Bewegung beschäftigt, die sich
      ZUNEHMEND WURDEN DIE SWINGS OPFER VON           in den 1940er Jahren in einigen Großstädten,
      ­UNTERDRÜCKUNG UND VERFOLGUNG.                  insbesondere auch in Hamburg, verbreitete.
                                                      „Wir wussten bis dahin kaum etwas über die
10                                                    Bewegung“, sagt Louisa Gerds (18).
AUS DER REIHE TANZEN:
                                                SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER PROBEN DEN SWING.

Zur Vorbereitung sahen die Schülerinnen und     Verhör in die Gestapo-Hauptzentrale an der
Schüler einen Film über die Swing-Jugend und    Stadthausbrücke gebracht. „Verhör bedeu-
lernten selbst, Swing zu tanzen. Die jungen     tete auch schwere Misshandlung durch Prü-
Schauspielerinnen und Schauspieler hörten       gel“, erläutert Jeanette Nielsen (20). Und es
die passende Musik und besuchten an den         kam noch schlimmer. „1942 ordnete Heinrich
Hamburger Kammerspielen ein Musical über        Himmler an, dass Angehörige der Swing-
den Jazzmusiker und Gitarristen Coco Schu-      Jugend ins KZ gesperrt werden sollten“, be-
mann. Der Sohn jüdischer Eltern hatte, trotz    richtet Serguei Vikoulov (18). Auch ein Freund
der Deportation in verschiedene Konzentrati-    von Uwe Storjohann, der Hamburger Jazz-
onslager, den Holocaust überlebt. „Die Musik    Fan Günter Discher, wurde in das Jugend-KZ
hat sein Leben gerettet, aber andere in den     in Moringen deportiert.
Tod begleitet. Er musste an der Todes-Rampe     Auf der Basis von Originalzitaten aus Zeit-
im KZ Auschwitz deutsche Lieder spielen“,       zeugenberichten entwickelte der Theaterkurs
berichtet Tom Tavassoli (18).                   sein knapp einstündiges Stück „Aus der Reihe
Aus diversen Zeitzeugenberichten erfuhren       tanzen“. Ihr Ziel: „Die Geschichte der Swing-
die Schülerinnen und Schüler mehr über die      Jugend lebendig zu halten“, sagt Tandy Marie
Bewegung und deren Unterdrückung, wie           Meier (18). „Damit sie nicht in Vergessenheit
etwa in der Biografie „Hauptsache Überle-       gerät, gerade jetzt, wo die Zeitzeugen immer
ben“ von Uwe Storjohann. Der Schauspieler       weniger werden“, ergänzt Tom.
und Hörfunkredakteur, der heute 93 Jahre        Ihr Stück lassen die Oberstufenschülerinnen
alt ist und in Hamburg lebt, war begeisterter   und -schüler mit der fröhlichen Stimmung
Anhänger der Hamburger Swing-Jugend und         der Swing-Musik starten. Sie zeigen, wie sich
wurde selbst Opfer von Strafaktionen der Na-    Jugendliche im Swing-Stil kleiden und zum
zis. „Es war verboten, die sogenannte Musik     Tanzen gehen. Doch im Laufe des Stücks
des Feindes zu hören, auch Tanzveranstaltun-    vermitteln sie auch die düstere Seite dieser
gen wurden verboten“, erklärt Bjarne Gartz      Jugend-Bewegung, die zur ersten Subkultur
(18).                                           wurde. „Manche führten ein Doppelleben,
Mit ihrem Freigeist wurden die Swings zu ei-    gingen zu Hitlerjugend und Nazi-Veranstal-
ner Opposition gegen die Nazis. Bei Razzien     tungen und lebten heimlich den Swing, ande-
wurden sie deshalb festgenommen und zum         re zeigten offen ihre Einstellung“, berichtet    11
Jannika. Die Konsequenzen waren hart, wie          In der Schlussszene ihres Stücks stellen die
                     eine Szene zeigt, in der ein Schulleiter von       jungen Schauspieler ein Verhör nach. „Ich
                     der Swing-Aktivität eines Schülers erfahren        habe eine Verhaftete gespielt, die gefragt wird,
                     hat. „Schüler wurden von der Schule verwie-        warum sie gegen die Nazis ist, warum sie nicht
                     sen und durften auch nicht studieren“, erklärt     in der Hitler-Jugend ist. Meine Antwort: ‚Ich
                     Louisa. So erging es auch der Kunststudentin       möchte ein freier Mensch sein‘ “, schildert
                     Charlotte Heile, die ein Plakat mit einer Sati-    Jeanette. Daraufhin stimmt sie gemeinsam
                     re auf die Nazis entworfen hatte. „Es wurde        mit den anderen Darstellern einen Song aus
                     eingezogen, sie wurde verhaftet und musste         der Swing-Ära an. „Mit dem Lied am Ende
                     das Kunststudium abbrechen“, hat Tandy he-         wollten wir noch mal einen positiven Akzent
                     rausgefunden.                                      setzen, zeigen, dass sich die Jugendlichen nicht
                     Die Schülerinnen und Schüler wollten mit ih-       unterkriegen ließen“, erklärt Tandy.
                     rer Inszenierung auch nachvollziehbar ma-          Dreimal führte der Theaterkurs das Stück auf,
                     chen, welchen Grausamkeiten die Jugendli-          vor jüngeren Mitschülerinnen und Mitschülern
                     chen ausgesetzt waren. Mit einem eigenen           ebenso wie vor erwachsenem Publikum. Die
                     Dezernat verfolgte die Hamburger Gestapo           Reaktionen waren sehr positiv. Dass es ihnen

BEDROHLICH:                                                                                              HEIMLICH: SWING-FILME ANZUSCHAUEN,
DIE GESTAPO RICHTETE EIGENS EIN DEZERNAT EIN, UM SWINGS ZU VERFOLGEN.                                    WAR FÜR JUGENDLICHE GEFÄHRLICH.

                     ab Mitte 1941 die Swings und verhaftete sie.       gelungen ist, die heiteren Momente der Swing-
                     Im Hauptquartier an der Stadthausbrücke            Kids ebenso darzustellen wie die düstere Seite
                     warteten die Festgenommenen im sogenann-           der Unterdrückung, freut sie ganz besonders.
                     ten Spiegelsaal auf die Verhöre. „Viele wuss-      „Es war ja eine ziemlich friedliche Gegenbewe-
                     ten, dass Verhöre schwere Prügel bedeuteten“,      gung zu den Nazis, sie haben keine Gewalt an-
                     sagt Jannika. Der Theaterkurs informierte sich     gewendet, als sie sich den Vorgaben der Nazis
                     in der heutigen Gedenkstätte Stadthausbrü-         verweigerten, sie wollten nur nicht im Gleich-
                     cke über die Örtlichkeiten und sah sich die        schritt mitlaufen“, sagt Tom. Ihr Mut und ihre
                     ausgestellten Dokumente aus der NS-Zeit an.        Zivilcourage sind für Serguei ein Vorbild auch
                     Mit dem Konzept der jetzigen Ausstellung, das      für die Gegenwart: „Angesichts der Entwick-
                     noch weiterentwickelt werden soll, waren die       lung der rechten Szene in mehreren Ländern
                     Jugendlichen allerdings nicht zufrieden. „Es       ist es wichtig, ihre Geschichte weiterzutragen,
                     fehlt schon am Eingang ein deutlicher Hinweis      die zeigt, dass man sich auflehnen kann“, be-
                     auf die Gedenkstätte“, moniert Bjarne. Und:        tont er. Und es sei ebenso wichtig, an die Aus-
                     „Es gibt dort nichts zu den Swing-Jugendli-        grenzung von Menschen zu erinnern, die nichts
                     chen“, kritisiert Serguei.                         Böses getan haben. Das dürfe sich nicht wie-
12                                                                      derholen, da ist sich die Theatergruppe einig.
KEIN
19    Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-
Gymnasiums widmeten sich in ihrem Theaterkurs zu
                                                          DEUTSCHER LAND
dem Thema „Heimat und Identität“. Ausgehend von
den Ergebnissen einer Umfrage an ihrer Schule, die
von vielen Jugendlichen aus zugewanderten Familien        Impulse für das Thema gaben die Texte von
besucht wird, inszenierten sie ein provokantes            Fünft- und Sechstklässlern. Die Kinder hat-
Theaterstück zum Thema „Radikalismus“ und führten         ten ihre Gedanken zu der Problemstellung
es auch in Israel auf.                                    „Deutsch oder nicht deutsch sein“ aufge-
                                                          schrieben. „Wir hatten mit positiven Stereo-
         URSPRÜNGLICH SOLLTE DAS NEUE STÜCK EINE          typen gerechnet wie Pünktlichkeit oder Ord-
         KOMÖDIE WERDEN. NACHDEM 2016 DAS THEATER-        nung, aber es kamen ganz krasse Antworten“,
         STÜCK „KRIEG -– WOHIN WÜRDEST DU FLIEHEN?“       schildert Max Fluder (18). „Eine Elfjährige
         MIT DEM BERTINI-PREIS PRÄMIERT WORDEN WAR,       schrieb, die Deutschen seien zu nett, nähmen
         SOLLTE ES NUN UM DAS THEMA „HEIMAT UND IDEN-     zu viele Flüchtlinge auf und die Flüchtlinge
         TITÄT“ GEHEN. GEMEINSAM MIT THEATERLEHRER        seien faul. Und sie meinte, hier sollte mal ein
         HÉDI BOUDEN GINGEN DIE OBERSTUFENSCHÜLE-         Terroranschlag passieren“, berichtet Tugce
         RINNEN UND -SCHÜLER DER FRAGE NACH, WAS ES       Perek Yücel (19). „Ein anderes Mädchen hat
         BEDEUTET, EIN DEUTSCHER ZU SEIN. EIN GROSSTEIL   geschrieben: 'Ich bin nicht deutsch, weil ich
         DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER STAMMT AUS          Jungfrau bleiben will'“, schildert Ilayda Tasci
         ZUGEWANDERTEN FAMILIEN. DIE KINDER UND JU-       (18). Diese schockierenden Antworten mach-
         GENDLICHEN SELBST SIND MEIST IN DEUTSCHLAND      ten deutlich, welche Vorurteile im Umfeld der
         GEBOREN, DOCH IHRE ELTERN HABEN BEISPIELSWEI-    Kinder herrschen: „So etwas kommt ja nicht
         SE TÜRKISCHE ODER KURDISCHE, ALBANISCHE ODER     von ihnen, das haben sie gehört oder gele-
         BOSNISCHE WURZELN.                               sen“, führt Tugce aus.                            13
IN SZENE GESETZT: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DES
     HELMUT-SCHMIDT-GYMNASIUMS BEI DER AUFFÜHRUNG IHRES
        PROVOKANTEN THEATERSTÜCKS „KEIN DEUTSCHER LAND“.

        Die Schülerinnen und Schüler machten sich
        Gedanken über die Gründe und Folgen von
        Vorverurteilungen, fragten sich, was für das
        Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gesell-
        schaft nötig sei. Und was mit Jugendlichen
        passiert, wenn sie sich ausgegrenzt oder per­
        spektivlos empfinden. Wo suchen sie Halt? Mit      Die Jugendlichen stellten auch den Einfluss der
        diesen Aspekten entwickelten die Schülerin-        Gruppe auf den Einzelnen dar. „Es entwickelt
        nen und Schüler den Inhalt ihres Stücks, das       sich ein Gruppenzwang, der die Jugendlichen
        nun eine Jugendtragödie wurde. Darin stehen        zu Gewalttaten drängt“, erläutert Tugce. Da
        drei Jugendliche im Vordergrund, die sich auf      erwarten die Rechtsextremisten von Patrick,
        verschiedenen Wegen radikalisieren. Salim          dass er ein Flüchtlingsheim anzündet. Salim
        schließt sich einer salafistischen Gruppe an,      folgt der islamistischen Ideologie und berei-
        Patrick gerät in die rechtsextremistische Sze-     tet ein Bombenattentat vor. Und unter dem
        ne und Emil flieht in eine virtuelle Welt mit      medialen Dauereinfluss von Spielen voller
        Kriegsspielen.                                     Gewalt entwickelt Emil immer mehr Hass und
                                                           plant einen Amoklauf.
        „Zu Beginn haben wir die Personen und ihre
        Vorgeschichten eingeführt“, berichtet Ilayda.      „Um die Gedanken der Figuren darstellen zu
        Sie spielte eine Mitschülerin, die Emil mobbt.     können und das, was ihnen die Gesellschaft
        Emil ist introvertiert, wird in der Schule aus-    vorlebt, haben wir mit chorischen Szenen
        gegrenzt und zieht sich in seine Computerwelt      gearbeitet“, erklärt Max. So sitzen die drei
        zurück. „Er ist eigentlich nur ein Schatten        Protagonisten in einer Szene in der Mitte und
        zwischen zwei Welten“, sagt Max, der die           um sie herum rufen alle anderen Darsteller im
        Rolle von Emil verkörperte. Auch die anderen       Chor rechte Parolen oder Schlachtrufe. In an-
        Figuren haben eine komplexe Problematik.           deren Szenen tragen die Rufer Augenbinden,
        Patrick hat oft Ärger mit seinem arbeitslosen      „um zu zeigen: Wer ohne nachzudenken diffa-
        Vater. Bei den Nazis glaubt er so etwas wie        mierende Sprüche ruft, ist blind“, sagt Ilayda.
        Verständnis zu finden. Salim stammt aus ei-
        ner muslimischen Familie, steht zwischen ver-      Auch für die Frauenfiguren im Stück läuft es
        schiedenen kulturellen Welten und verhält sich     nicht gut. Salim lebt eine Doppelmoral, miss-
        aggressiv und frauenfeindlich. Er radikalisiert    achtet die Prinzipien seiner deutschen Freun-
        sich bei den Salafisten. „Wir wollten aber zei-    din, die noch keinen Sex mit ihm haben will.
        gen, dass sich Radikalisierung nicht nur auf       Gleichzeitig fordert er von seiner Schwester
        den religiösen Extremismus beschränkt, des-        Yeter, keinen deutschen Freund zu haben. Die
        halb haben wir die drei Handlungsstränge ge-       Tragödie spitzt sich zu. Es kommt zu Grup-
14      wählt“, erklärt Tugce.                             penvergewaltigung, Totschlag und Mord. Pa-
trick zündet zwar nicht das Flüchtlingsheim        te, sie zu rufen, wohl dort ankommen“. Auch
an und wendet sich gegen die Nazis. Aber           einige Eltern hatten zunächst Bedenken hin-
die Schwester von Salim, der im Streit mit         sichtlich der Reise, die in Kooperation mit dem
Patrick umkam, übernimmt sein geplantes            Goethe-Institut stattfand. Doch letztlich durf-
Bomben­  attentat in einem Einkaufszentrum.        ten alle Schülerinnen und Schüler mit. „Und
„Niemand hat sie beachtet, sie als Deutsche        es war genau richtig“, zieht Max Bilanz. „Wir
akzeptiert, deswegen fragt sie am Ende ankla-      sind sehr gut aufgenommen worden und auch
gend: ‘Bin ich weniger deutsch als ihr? Seid ihr   die Aufführungen in Jerusalem und Tel Aviv
die einzigen Auserwählten?‘“, schildert Tugce.     sind gut angekommen“. „Die Diskussio­        nen
                                                   waren noch viel intensiver und sehr reflek-
Die Reaktionen waren sehr positiv. „Viele Zu-      tiert“, stellt Lehrer Hédy Bouden fest, der sich
schauer hatten nach dem Stück Redebedarf“,         auch darüber freut, „wie reif die Schüler wäh-
berichtet Ilayda. Das hatten die jungen Thea­      rend des Projekts geworden sind“.
termacher eingeplant: Nach den Aufführun-
gen folgten stets Diskussionsrunden. Denn die      Für die Schülerinnen und Schüler, die inzwi-
Schülerinnen und Schüler wollten provozie-         schen alle ihr Abitur geschafft haben, ist die
ren, um mit den Zuschauern ins Gespräch zu         Reise unvergesslich. „Es hat mich reicher ge-
kommen. „Wir müssen über diese Themen re-          macht an Erfahrungen und zu Diskussionen
den“, sagt Tugce. Die gesellschaftliche Debat-     angeregt“, sagt Max. „Wir trafen dort auch
te anzustoßen, ist den Schülerinnen und Schü-      Zeitzeugen zum Gespräch und lernten andere
lern in der Schule wie im Stadtteil gelungen.      Denkweisen kennen“, fügt Ilayda hinzu. Tugce
Für das Engagement gab es bereits Preise wie       fand es gut, die jüdische Geschichte kennenzu-
den renommierten Hildegard-Hamm-Brücher-           lernen. „Wir haben auch die GedenkstätteYad
Preis.                                             Vashem besucht“, sagt sie. Aus dem Besuch in
                                                   Israel entstanden bereits Folgeprojekte. Und
Groß war die Aufregung jedoch, als Lehrer          das Helmut-Schmidt-Gymnasium wurde zur
Hédy Bouden vorschlug, mit dem Stück in            ersten Hamburger Partnerschule der deutsch-
­Israel aufzutreten. „Ist das nicht eine Num-      sprachigen Abteilung der International School
 mer zu groß?“, fragte sich Max und Ilayda         for Holocaust Studies Yad Vashem.
 war sich unsicher, „wie die Nazi-Sprüche, bei
 denen ich mich hier schon überwinden muss-                                                           15
Fotos Gisela Floto
                  VON HAMBURG
                     NACH MAJDANEK
       Im März 2018 besuchten Schülerinnen und Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums die KZ-Gedenkstätten
       Majdanek und Belzec in Polen. Dort betrieben die Nazis ihre Vernichtungsaktionen gegen Juden. An den
     Gräueltaten beteiligten sich auch Polizisten aus Hamburg. Zwölf Jugendliche verarbeiteten ihre Erkenntnisse
                                  über die Verbrechen und die Täter in drei Kurzfilmen.

                   NACH DEM ÜBERFALL AUF POLEN 1939 BEGANNEN DIE     Acht weitere Schülerinnen und Schüler dreh-
                   NATIONALSOZIALISTEN MIT DER SYSTEMATISCHEN        ten zwei Filme über Mittäter an Massakern
                   AUSBEUTUNG UND ERMORDUNG DER POLNISCHEN           und Ermordungen im KZ Majdanek. An den
                   BEVÖLKERUNG, INSBESONDERE DER JUDEN, ABER         Gräueltaten waren Mitglieder des Hamburger
                   AUCH DER SINTI UND ROMA. ES WURDEN KONZEN-        Reserve-Bataillons 101 beteiligt. Die Schüler-
                   TRATIONS- UND VERNICHTUNGSLAGER ERRICHTET.        gruppe hatte sich gemeinsam mit Geschichts-
                   DAZU GEHÖRTE DAS VERNICHTUNGSLAGER BELZEC IM      lehrerin Susanne Ehlers und Fotografin Gisela
                   SÜDOSTEN POLENS IN DER NÄHE VON LUBLIN. „HIER     Floto im März 2018 in den Südosten Polens
                   WURDEN 1942 SCHÄTZUNGSWEISE 450.000 BIS 650.000   aufgemacht. Sie besuchten die Stadt Lublin,
                   MENSCHEN ERMORDET“, HEISST ES IN DEM FILM         die einst ein großes jüdisches Zentrum besaß,
                   „MASSENMORD IN BELZEC“, DEN FELIX MINKOWITSCH     und die ehemaligen Konzentrations- und Ver-
                   (17), LUISA TOSCHKE (17), MALGORZATA SZUBA (16)   nichtungslager Belzec und Majdanek. „Zur
                   UND TOMASZ ASZYK (18), SCHÜLERINNEN UND SCHÜ-     Vorbereitung hatten wir uns mit der Verfol-
                   LER DES LISE-MEITNER-GYMNASIUMS, NACH DEM         gung der Juden während der NS-Zeit in Ham-
16                 ­BESUCH DER KZ-GEDENKSTÄTTE GEDREHT HABEN.        burg beschäftigt und eine Ausstellung in der
Israelitischen Töchterschule besucht“, berich-                          die Menschen zu Hunderten in das Lager ge-
tet Luisa. Weil die Reise mit Bildern dokumen-                          bracht“, hat Gosia recherchiert.
tiert werden sollte, arbeiteten sich die Schü-
lerinnen und Schüler in einem Workshop der                              In ihrem Film „Massenmord in Belzec“
Fotografin Gisela Floto in das Gebiet des Fo-                           wollten die Schülerinnen und Schüler diese
tografierens und Filmens ein. Zum Abschluss                             Verbrechen so detailliert wie möglich doku-
des Projekts sollten die fertigen Filme auf ei-                         mentieren, aber auch ihren persönlichen Ein-
ner Schulveranstaltung präsentiert werden.                              druck von dem Ort wiedergeben. So wechseln
                                                                        sich Bilder vom Außengelände des Lagers in
In der Gedenkstätte des Lagers Majdanek,                                Schwarz-Weiß-Aufnahmen ab mit Fotos aus
das anfänglich ein Arbeitslager war und dann                            der Ausstellung. Zu den Bildern wird nicht
zur Tötungsstätte wurde, sind noch Häftlings-                           nur ein Text gesprochen, sondern sie werden
baracken, Wachtürme und das Krematorium                                 auch mit Musik unterlegt – mit der Titelmelo-
erhalten. „Am bedrückendsten war für mich,                              die aus dem Film „Schindlers Liste“. Beson-
als ich in der Ausstellung die riesigen Gitter-                         ders beeindruckt hat die Schülerinnen und
körbe mit Massen von Schuhen der ermorde-                               Schüler ein „großer, leerer Raum mit hohen
ten Menschen sah“, sagt Luisa. Im Vernich-                              Decken, fast ohne Licht, nur eine Gedenktafel
tungslager Belzec hatten die Nazis selbst viele                         befindet sich dort. Es war ein beeindruckendes
Spuren vernichtet, aber durch die Texte und                             Kunstwerk, um die Leere zu erfahren und das
Bilder der Ausstellung und die Originalräume                            Fehlen jeglicher Menschlichkeit“, sagt Felix.
„stellte sich doch ein sehr intensives und düs-                         Auch dieses Bild setzten sie in ihrem Sechs-
teres Bild ein“, schildert Felix. Das Lager hat-                        Minuten-Film ein, und es gelingt ihnen eine
te anfangs drei und später sechs Gaskammern.                            Vermittlung von historischen Fakten und der
„Das Ziel war die endgültige Vernichtung der                            eigenen Betroffenheit angesichts des Ortes.
Juden im Generalgouvernement unter dem                                  „Wir sind überwältigt von der Inhumanität
Decknamen ‚Aktion Reinhardt‘“, erläutert                                und Brutalität“, kommentiert der Sprecher im
Luisa. Beteiligt waren daran auch Täter, die                            Film die Ereignisse. „Uns war es wichtig, auf
zuvor schon bei der Aktion T4, der Ermor-                               die Grausamkeiten der Nazis aufmerksam zu
dung behinderter Menschen, mitgemacht hat-                              machen, damit die Vergangenheit nicht ver-
ten. „Über die nahe liegenden Bahngleise der                            gessen und solche Untaten nicht noch einmal
Eisenbahnstrecke Lublin – Lemberg wurden                                zugelassen werden“, erklärt Felix.
                                                   Fotos Gisela Floto

     ORT DES GRAUENS: GASKAMMER IN MAJDANEK                             ORT DER STILLE: ERINNERUNGSRAUM IN BELZEC
                                                                                                                         17
NACHGESPÜRT: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
                RECHERCHIEREN GEMEINSAM MIT LEHRERIN
           SUSANNE EHLERS UND FOTOGRAFIN GISELA FLOTO.

     Der Frage, wie Menschen zu Tätern wurden,           Foto von ihm in heiterer Runde mit Frauen
     gingen die beiden anderen Film-Gruppen              und Männern.
     nach. Eine besondere Rolle spielte das Ham-
     burger Reserve-Polizei-Bataillon 101. „Es           „Das Foto eines scheinbar normalen Men-
     war Teil der Ordnungspolizei und bestand            schen steht seinen entsetzlichen Taten gegen-
     aus Männern mittleren Alters. Obwohl sie es         über“, sagt Sophie. Denn er war an mehre-
     nicht mussten, haben sie sich an Deportatio-        ren Massakern beteiligt, darunter auch an
     nen und Ermordungen von Juden beteiligt“,           dem Massaker von Jozefow am 13. Juli 1942.
     erklärt Sophie Michaelsen (16). Ihre Grup-          „Er suchte die Plätze für die Hinrichtungen
     pe, der auch Ella Lütkebohle (17), Calvin           im Wald aus. Dort wurden etwa 1.500 Juden
     Klein (17) und Luisa Brosdetzko (17) an-            erschossen“, berichtet Ella. Im Film analy-
     gehörten, stellte in einer kurzen Dokumen-          sieren die Schülerinnen und Schüler, dass
     tation den „Täter ­Julius Wohlauf im Lager          „Gruppenzwang und der Wunsch nach Ach-
     Majdanek“ vor. Er war überzeugter Nazi,             tung“ die Mitglieder des Polizeibataillons 101
     wollte ursprünglich Sport- und Geschichts-          zu ihren Taten führte. Sie kommen zu dem
     lehrer werden, ging aber als Offiziersan-           Schluss: „Bald wurden die Massentötungen
     wärter zur Schutzpolizei. „Wir haben unter          nur noch als Arbeit empfunden. Manche sa-
     anderem im Staatsarchiv über seine Person           hen sich sogar als Erlöser, wenn sie die Kinder
     recherchiert. Dort gibt es einen dicken Ord-        bereits ermordeter Eltern töteten.“ Nach dem
     ner über ihn“, berichtet Ella. Aus seiner           Krieg kehrte Julius Wohlauf zurück in den Po-
     Offizierslaufbahn wurde nichts. In seinem           lizeidienst, erst 1967 wurde er für seine Taten
     Polizeizeugnis ist zu lesen, dass er ein „leb-      verantwortlich gemacht. Für die Beihilfe zum
     hafter gewandter Mann mit fast guter geis-          Mord an 9.200 Menschen wurde er „nur zu
     tiger Veranlagung und ungesundem Ehrgeiz“           acht Jahren Gefängnis verurteilt“, berichtet
     war. Man bescheinigte ihm eine ausgespro-           Sophie. In ihrer Dokumentation, die neben
     chene „Führerveranlagung“. Dieses Doku-             Fotos und Quellen zu Julius Wohlauf auch
18   ment wird im Film ebenso gezeigt, wie ein           Bilder der Opfer zeigt, erklären die Schüle-
rinnen und Schüler, dass sie den Beweggrün-     Alle Schülerinnen und Schüler hatten nach
den des Täters nachgehen wollten. Sie lassen    der Reise selbständig und teils nur in ihrer
ihren Film mit der Widmung enden: „Im Ge-       Freizeit an ihren Filmen gearbeitet. Bei der
denken an die Opfer.“                           Vorführung ihrer Werke in der Schulveran-
Warum ein anderes Mitglied des Reserve-­        staltung kamen sie alle gut an. „Die meisten
Polizei-Bataillons 101 zum Täter wurde,         Zuschauer waren emotional sehr berührt“,
konnten die Schüler Henri Gnutzmann (17),       berichtet Gosia. Auch die Schülerinnen und
Erdi Sayar (17), Kai Dietrich (17) sowie Jan-   Schüler selbst haben viel mitgenommen aus
Lukas Rohde (16) nicht herausfinden. In ihrer   dem Projekt. „Jeder, der damals nichts getan
Dokumentation „Heinz Bumann – ein ganz          hat, ist mitverantwortlich. Und heute soll-
normaler Mensch“ gingen sie den Spuren          te jeder auf seine Handlungen schauen und
des Hamburger Holzmaklers nach. „Er hatte       dafür Sorge tragen, dass so ein Unrecht nicht
eine erfolgreiche Firma, war finanziell unab-   wieder passiert“, betont Sophie. „Nur weil
hängig, hatte nichts gegen Juden“, hat Henri    viele Leute eine gewisse Meinung vertreten,
recherchiert. Doch auch er wurde zum Täter,     sollte man unabhängig bleiben und seinem
unter anderem beim Massaker von Jozefow.        eigenen Gewissen folgen“, ergänzt Erdi.
„Er hat die Beteiligung an den Morden zu-
nächst verweigert, aber er hat sie auch nicht   Für den BERTINI-Preis haben sich die Schü-
verhindert“, sagt Erdi. Auch über ihn fanden    lerinnen und Schüler nach Abschluss der
die Schüler Akten im Staatsarchiv. Heinz Bu-    Filmarbeiten beworben. Dass sie ausgezeich-
mann wurde 1948 für seine Mittäterschaft        net wurden, freut sie umso mehr. Mit einem
zu acht Jahren Haft verurteilt. In ihrem Film   Teil des Preisgeldes wollen sie einen Stolper-
arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit       stein für Lise Meitner finanzieren. Die Na-
vielen symbolischen Bildern. Das Porträt von    mensgeberin ihrer Schule war eine jüdische
Heinz Bumann flechten sie in den Blick auf      Kernphysikerin, die 1938 vor den Nazis nach
das mit Lagerzäunen umgebene Gelände der        Schweden floh.
Gedenkstätte Majdanek.                                                                           19
DEN STEINEN
                  EIN GESICHT GEBEN
       Nele Borchert (16) vom Albert-Schweitzer-Gymnasium hat sich mit den Schicksalen von 15 NS-Verfolgten
     befasst, deren Namen auf Hamburger Stolpersteinen zu lesen sind. Die Schülerin wollte auf die Menschen
        hinter den Namen aufmerksam machen und bildete sie deshalb als Porträts neben den Gedenksteinen ab.
          WAS WAR DER AUSLÖSER FÜR DEIN PROJEKT?
          In meiner Umgebung in Eimsbüttel und in Win-
          terhude gibt es viele Stolpersteine. Sie werden
          ja zur Erinnerung an Opfer der NS-Zeit vor
          den Häusern verlegt, in denen die Menschen
          zuletzt gewohnt haben, bevor sie deportiert
          und umgebracht wurden. Auf den kleinen
          Messingtafeln sind Namen und Lebensdaten
          eingraviert. Ich habe mir oft gewünscht, mehr
          über die Schicksale der Menschen zu erfahren,
          und fand es schade, dass es dort keine Bilder      GAB ES SCHICKSALE, DIE DICH BESONDERS
          von ihnen gibt. Als dann in einem Kunstkurs        BERÜHRT HABEN?
          an meiner Schule ein Wettbewerb zum Thema          Vor allem Schicksale von Kindern oder Jugend-
          „Spurensuche“ ausgeschrieben wurde, dachte         lichen in meinem Alter. Da war zum Beispiel
          ich, ich könnte mein Interesse für die Stolper-    Herbert van Cleef aus Hamburg. Er wurde nur
          steine mit der Porträtzeichnung verbinden. Ich     16 Jahre alt. Er war der jüngste Sohn des jüdi-
          habe schon immer gerne Gesichter gezeichnet.       schen Ehepaares Julius und Gertrud van Cleef.
          Daraus entstand die Idee, die Menschen, an         Seine Eltern wollten vor den Nazis fliehen und
          die mit den Stolpersteinen erinnert wird, sicht-   in die Niederlande ausreisen, doch sie kamen
          bar zu machen, indem ich ihre Porträts auf das     nur bis zur Grenze. Sie durften nicht einreisen.
          Straßenpflaster neben die Gedenksteine sprü-       1941 wurden sie nach Minsk deportiert. Ihr
          he.                                                Sohn Herbert war in den Niederlanden von
                                                             einer Tante aufgenommen worden, aber 1944
          WELCHE MITTEL WAREN NÖTIG,                         wurde auch er von dort nach Auschwitz depor-
          UM DEINE IDEE UMZUSETZEN?                          tiert und ermordet. Ein anderer junger Mann
          Erst mal habe ich Informationen über die Men-      namens Rolf Arno Baruch ist vermutlich auf
          schen gesammelt. Auf der Internetseite www.        dem Todesmarsch von Auschwitz gestorben.
          stolpersteine-hamburg.de/ sind viele Einzel-       Ein Stolperstein mit seinem Namen liegt vor
          schicksale dokumentiert. Wenn man die Stra-        der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude, die
          ßennamen eingibt, erhält man die Namen der         er früher besucht hatte.
          Menschen, für die in der Straße Steine verlegt
          wurden, und kann auf ihre Biografien weiter-       WIE HAST DU DIE VORLAGEN FÜR
          klicken.                                           DIE PORTRÄTS ERSTELLT?
          Für meinVorhaben brauchte ich allerdings auch      Als Erstes habe ich die Fotos der Personen,
          gute Fotos von den betreffenden Personen, da-      die ich abbilden wollte, ausgedruckt und mit
          mit ich sie nachzeichnen konnte. Das schränk-      Kohlepapier auf weißem Papier nachgezeich-
          te die Auswahl etwas ein. Ich habe zwar viele      net. Dann habe ich die Bilder auf dem Papier
          spannende Biografien gelesen, aber oft fehlte      nachbearbeitet, Konturen und Schatten ge-
          ein Bild dazu oder es war in der Qualität nicht    setzt, damit das Porträt plastisch wird, und es
          gut genug, um es nachzuzeichnen. Letztlich         schließlich als Schablone ausgeschnitten. Auf
20        habe ich dann 15 Personen ausgesucht.              die Freiflächen der Schablonen wollte ich Krei-
AUFGESPRÜHT: NELE BORCHERT ZEIGT DIE
          GESICHTER ZU DEN NAMEN VON OPFERN DES
                                    NS-REGIMES.

despray sprühen. Die ersten Versuche habe ich        Leute unterwegs, aber an belebten Ecken wie
bei uns im Innenhof aber mit Mehl gemacht.           der ­Osterstraße haben Passanten schon mal
So konnte ich die Schablonen noch nacharbei-         geschaut und nachgefragt, was ich dort mache.
ten, damit die Gesichter der Personen gut zu         Als ich es ihnen erklärt habe, fanden sie es alle
erkennen sind. Auf der Straße habe ich dann          gut. Nachdem ich mein Projekt in der Schule
mit hellem Kreidespray gearbeitet. Es wirkt          vorgestellt hatte, bekam ich auch von Mitschü-
wie Graffiti, hält aber bei Regen nur etwa drei      lerinnen und Mitschülern positive Rückmel-
Wochen, ohne Regen etwas länger.                     dungen. Sie hatten Porträts in ihren Straßen
Ursprünglich hatte ich auch noch die Idee, die       entdeckt.
Porträts mit einem Projektor als Lichtbilder an
Hauswände zu werfen, doch es war zu teuer,           WAS BEDEUTET DER BERTINI-PREIS FÜR DICH?
ein passendes Gerät dafür auszuleihen, und zu        Ursprünglich hatte ich ja Schablonen für drei
groß, um es zu transportieren.                       Personen entworfen und damit am Schulwett-
                                                     bewerb teilgenommen. Bei dem habe ich auch
WOFÜR STEHEN DEINE PORTRÄTS?                         einen Preis gewonnen und meine Kunstlehre-
Ich wollte mit den Porträts noch mehr auf die        rin ermutigte mich, an einem weiteren Wettbe-
Schicksale der NS-Opfer aufmerksam machen.           werb teilzunehmen. Es war dann meine Phi-
Meiner Meinung nach sind Gesichter aussage-          losophielehrerin, die mir vom BERTINI-Preis
kräftiger als Daten, Gedenksteine oder Na-           erzählte. Ich wollte sowieso weiter an meinem
men. Damit die Leute hinschauen, habe ich            Projekt arbeiten und habe es auf 15 Porträts
extra eine leuchtende Farbe gewählt.                 ausgeweitet. Weil sie ja vergänglich sind, hat-
                                                     te ich sie alle fotografiert. Bilder davon habe
WIE HABEN PASSANTEN                                  ich zusammen mit Fotos von den Stolperstei-
AUF DEINE SPRÜHAKTION REAGIERT?                      nen und den Häusern, vor denen sie liegen,
Es gab keine negativen Reaktionen, obwohl            auf einzelne DIN-A3-Blätter geklebt und als
ich das erst ein wenig befürchtet hatte. Einmal      Mappe gemeinsam mit einer Projektbeschrei-
wegen des Themas und auch wegen der Sprüh-           bung beim BERTINI-Preis eingereicht. Dass
aktion. Die Dosen für das Kreidespray sehen          ich dann gewonnen habe, hat mich sehr über-
aus wie die für Graffiti-Spray. Aber für Graffiti,   rascht und auch gefreut. Ich finde, dass man
die sich nicht mehr so schnell entfernen lassen,     die Opfer der NS-Zeit nicht vergessen darf,
hätte ich mir eine Genehmigung holen müs-            deswegen möchte ich auch in Zukunft mit mei-
sen. In manchen Straßen waren nicht so viele         nem Projekt weitermachen.                           21
NACHRUF
           AUF GÜNTHER WEDDERIEN
     In seiner Rede zur 20. Verleihung des            Günther Wedderien, geboren am 8. März
     ­BERTINI-Preises 2017 hob der damalige Erste     1930 und aufgewachsen in Hamburg-Hohe-
      Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz hervor,      luft, hat sich dieser Verantwortung als Mit-
      dass die BERTINI-Preisträger „den Blick auf     gründer, als Vorstandsvorsitzender und spä-
      Hamburg erweitert und ihn teilweise korri-      ter als Schatzmeister des BERTINI-Preis e.V.
      giert“ hätten. Weil sie Biografien und Stadt-   über zwei Jahrzehnte in besonderer und
      geschichte recherchiert und Erinnerungen        vorbildlicher Weise gestellt. Er hat an den
      von Zeitzeugen dokumentiert haben. Weil sie     finanziellen und juristischen Fundamenten
      „gegen alte und neue Formen des Rechtsradi-     des Preises mitgebaut, der in mehr als 20
      kalismus aufgestanden“ sind. Scholz mahnte:     Jahren zu einer bedeutenden Auszeichnung
      „Unsere Verantwortung für Auschwitz bleibt.     für junge Menschen in Hamburg herange-
22    Jede Generation muss sich ihr stellen.“         wachsen ist.
Am 3. Januar 2019 ist Günther Wedderien von       fragte engagiert nach, wenn Fragen zu den
uns gegangen. Wer ihn kennen durfte, weiß:        eingereichten Projekten offen geblieben wa-
Der Tod war für ihn nicht mit Schrecken ver-      ren. Und er übernahm gern die Aufgabe, bei
bunden. Die Vorstellung des Todes empfand er      der Preisverleihung auf der Bühne im Ernst
als ‚segensreich‘ für seine grundtiefe humanis-   Deutsch Theater einen der BERTINI-Preise
tische Einstellung zum und sein Verhalten im      mit einer Laudatio an die jungen Preisträger
Leben. Darin traf er sich mit Ralph Giordano      zu übergeben. Immer an Projekte, die ihn be-
(gestorben 2014), dessen autobiografischer        sonders berührt haben.
Roman aus der Hitler-Zeit dem BERTINI-Preis
Namen und Inhalt gegeben hat.                     Drei Beispiele: 2008 war es die Recherche der
                                                  Schüler Marcel Grove und Jörg Marais von der
Günther Wedderien kam über sein Engagement        Förderschule Pröbenweg, die mit ihrer Klasse
bei den Freimaurern zum BERTINI-Preis, de-        in Holland Spuren der Besetzung durch die
ren Absalom-Stiftung er leitete. Die Wurzeln      Nationalsozialisten von 1940 bis 1945 suchten
seines Engagements reichen aber viel weiter in    und eine Fotoausstellung dazu produzierten.
seine Jugend: Er trug nicht den Namen seines      2011 lag ihm die Arbeit eines Schülers des Al-
Vaters – der musste vor den Nazis wegen sei-      bert-Schweitzer-Gymnasiums am Herzen. Paul
nes jüdischen Glaubens fliehen. Er hat ihn nie    Kindermann holte das Schicksal der Hambur-
kennengelernt. Die dieses bittere Lebensthema     ger Lehrerin Yvonne Mewes ins Gedächtnis,
umgebenden Fragezeichen haben die Richtung        die Sand im Getriebe der Nazi-Verwaltung sein
seines Handelns früh vorgezeichnet. Aus sei-      wollte und 1945 im KZ Ravensbrück starb, und
ner Jugend im 2. Weltkrieg berichtete Günther     machte es für den Unterricht greifbar. 2012 zog
Wedderien mehrfach, schon als 12-Jähriger         ihn ein Film über Esther Bauer an, die Tochter
in Hamburgs Bombennächten von der Pflicht         der ermordeten Hamburger Jüdin Marie Jo-
befreit gewesen zu sein, sich bei Luftangriffen   nas. Esther Bauer hatte Konzentrations- und
im Bunker aufhalten zu müssen; er gehörte         Arbeitslager überlebt. Richard Haufe-Ahmels
damals schon zu den Nothelfern – eine große       dokumentierte die Erzählung der Zeitzeugin
Verantwortung.                                    in New York.

In seinem späteren Berufsleben wurde der          Sein eigenes inneres Bekenntnis zu den Idea-
Maschinenbau-Meister Wedderien von seinem         len der Wahrheit, Gerechtigkeit, Treue, Pflicht-
Arbeitgeber deutschlandweit überall dort ein-     erfüllung, Mildtätigkeit und Menschenzuge-
gesetzt, wo alle anderen Lösungsversuche          wandtheit hat er uns vorgelebt und sein ganzes
fehlgeschlagen waren. Es zeugt von seiner un-     Leben darauf ausgerichtet. Und war doch im-
endlichen Ausdauer und seinem ebenso großen       mer wieder zurückhaltend, fast unsicher, ob er
Ideenreichtum, stets praktikable Lösungen ge-     nicht durch diese Arbeit „mehr an inneren Wer-
funden zu haben. Tugenden, die er zusammen        ten gewonnen habe, als ich ihr je werde wieder
mit seinem großen Erfahrungsschatz, seiner        einbringen können“. Kompassnadel seiner Ar-
Lebensklugheit und seiner sprichwörtlichen        beit für den BERTINI-Preis könnte dieser Satz
Verlässlichkeit und Präzision dorthin mitbrach-   gewesen sein, der zu einer seiner Leitlinien
te, wo er sich engagierte. Zusammen mit seiner    wurde: „Ideale und Visionen kann man Men-
persönlichen Demut und Bescheidenheit – er        schen nicht aufoktroyieren. Man muss viel-
übernahm zwar immer wieder Verantwortung,         mehr den Mut haben, sie in jedem einzelnen
doch ging es ihm nie um einen Platz in der ers-   Menschen wachsen zu lassen.“
ten Reihe. Es waren die Arbeit selbst und deren
Ergebnisse, die er gut vollendet sehen wollte.      Günther Wedderiens Denkanstöße, seine
                                                  Beharrlichkeit und auch sein trockener Humor:
Günther Wedderien liebte die Diskussionen im         Sie haben den BERTINI-Preis geprägt.
Kreis der BERTINI-Juroren und des Vorstands,                                                         23
DIE BERTINIS
                                                                                 Hörbuchfassung von Ralph
                                                                                                               Giordano

         DIE
                                                                                 SPREC HER:
                                                                                                      (ALS RALPH GIORD ANO)
                                                                                 BURGH ART KLAUS SNER
                                                                                 PATRIC K ABOZE N
                                                                                 ERIK SCHÄF FLER
                                                                                                       ÜTTER
                                                                                 ISABEL LA VÉRTE S-SCH
                                                                                 ANNE WEBER
                                                                                  REGIE: MICHA EL BATZ

                                                                                   BENEFIZ-EDITION

        BERTINIS
     Eine Kurzfassung des im Jahr 1982 veröffentlichten
                                                                                     HÖRBUCH „DIE BERTINIS“:
                                                                                     RALPH GIORDANOS LETZTES WERK

                                                                 zung mit der NS-Vergangenheit, eine immer
     autobiografischen Romans gibt es jetzt als Hörbuch.         aktuelle Positionsbestimmung der Mensch-
     Der Erlös kommt dem BERTINI-Preis e.V. zugute.              lichkeit herausfordernd. „Die ­Bertinis“ hat
                                                                 Giordano in hunderten Lesungen durch die
               Für Ralph Giordano waren „Die Bertinis“           Republik getragen. Sie waren schließlich auch
               zeit seines Lebens immer „das Buch“, sein         die Initialzündung und namengebend für den
               Opus magnum, die Geschichte seines Lebens.        Hamburger „BERTINI-Preis“, der seit 1999
               „Die Bertinis“ erzählen wortgewaltig und          immer am 27. Januar, dem Tag der Befrei-
               sensibel vom Eindringen des Nationalsozia-        ung des Konzentrationslagers Auschwitz, an
               lismus in den Alltag der Hamburger Familie        Hamburger Jugendliche vergeben wird.
               Bertini – Deutsche mit sizilianischen, schwe-
               dischen und jüdischen Wurzeln. Und von der        Im Herbst 2014 bearbeitete Giordano „das
               beginnenden Ausgrenzung auf dem Spiel-            Buch“ noch einmal für eine kompakte Hör-
               platz, später in der Schule – wegen der jüdi-     fassung – es wurde sein letzter abgeschlos-
               schen Mutter. Dann von der Verfolgung, der        sener Text. Denn ein Hörbuch war aus den
               Folter in den Gestapo-Kellern, zuletzt vom        „Bertinis“ in all den Jahren nicht entstan-
               Unterkriechen und notdürftigen Überleben          den. ­Giordano nahm diese Arbeit auch auf
               dank einer mutigen Frau in Alsterdorf. Es         sich, weil die Einnahmen aus dem Benefiz-
               wurde ein Bestseller, bald auch verfilmt. Stein   Hörbuch das finanzielle Fundament des
               des Anstoßes für eine neue Auseinanderset-        ­BERTINI-Preises stärken sollten.

                                                                 Entstanden sind zwei CDs. Sprecher der
                                                                 Hörbuchfassung sind: Patrick Abozen,
                                                                 Burg­hart Klaußner, Erik Schäffler, Isa­
                                                                 bella Vértes-Schütter und Anne Weber.
                                                                 Regie führte Michael Batz. Auf einer drit-
                                                                 ten CD ist Ralph Giordanos Stimme in
                                                                 einem NDR-Interview anlässlich seines
                                                                 90. Geburtstags und mit seiner letzten Rede
                                                                 anlässlich der BERTINI-Preisverleihung am
                                                                 27. Januar 2014 zu hören.
               MILLIONEN ZUSCHAUER VERFOLGTEN 1988
               DAS SCHICKSAL DER BERTINIS IN DER FÜNFTEILIGEN    Die Benefiz-Edition „Die Bertinis“ erhalten
               FERNSEHSERIE UNTER DER REGIE VON EGON MONK.       Sie für 14,90 € im Buchhandel oder unter:
                                                                 www.bertini-preis.de

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BEWÄHRTE KOOPERATION:
DER BERTINI-PREIS UND DEMOKRATISCH HANDELN
                                                „Reichsausschusskinder“: 17 Schülerinnen
                                                und Schüler des Gym­na­siums Klosterschule
                                                inszenierten ein dokumentarisches Theater-
                                                stück, das sich mit dem Euthanasie-Programm
Seit 2009 werden Bewerbungen um den             in zwei Hamburger Krankenhäusern befasst.
BERTINI-Preis an den deutschlandweit aus-       Dabei betrachten sie vor allem die Rolle der
geschriebenen Wettbewerb DEMOKRATISCH           Täter, die trotz staatsanwaltlicher Ermittlun-
HANDELN weitergeleitet. Im vergangenen          gen und des Nachweises der verübten Morde
Jahr waren es sieben Projekte, die auf diesem   nie verurteilt wurden.
Weg auch überregionale Anerkennung fanden      „Erinnerung an das Schicksal russischer
und zur LERNSTATT DEMOKRATIE einge-             Kriegsgefangener/Zwangsarbeiter in Berge-
laden wurden, die im Juni 2018 in Hamburg       dorf“: Elf Schülerinnen und Schüler der Stadt-
stattfand.                                      teilschule Bergedorf gingen der Frage nach,
Ausgezeichnete Hamburger Projekte waren:        wie Zwangsarbeiter während der NS-Zeit
„Stille Helden“ – ein Namenstuch-Denkmal        behandelt wurden. Sie führten Interviews
für Menschen, die trotz der Bedrohungen         mit Zeitzeugen aus Curslack und Ochsenwer-
durch das NS-Regime mitmenschlich handel-       der, erhielten über den Volksbund Deutsche
ten. 20 Konfirmandinnen und Konfirmanden        Kriegsgräberfürsorge Einblicke in Sterbeur-
der St.-Michael-Kirche Hamburg-Bergedorf        kunden von ehemaligen Zwangsarbeitern auf
erinnerten an Menschen, die während der         dem Russischen Ehrenfriedhof in Bergedorf.
NS-Diktatur selbstlos Mitmenschen vor Ver-      Anschließend verfassten sie eine Dokumenta-
folgung schützten.                              tion und informierten auf Gedenkfeiern.
„Schatten der Geschichte“ – Erfahrungen des     „Damit indigene Kultur, Wissen und Sprache
Besuchs in der Gedenkstätte Majdanek, verar-    der Ñöñho in Mexiko bewahrt werden“: Fünf
beitet in einem Theaterprojekt: 20 Schülerin-   Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule
nen und Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums     Stellingen starteten mit mexikanischen Schü-
beschäftigten sich mit der Judenverfolgung im   lerinnen und Schülern einer indigenen Schule
Nationalsozialismus und besuchten das Kon-      ein gemeinsames Kunstprojekt. Sie lebten in
zentrationslager Majdanek in Lublin/Polen.      Gastfamilien, gestalteten mit den mexikani-
Anschließend entwickelten sie ein Theater-      schen Schülerinnen und Schülern Wandbilder
stück, in dem „anonyme Schatten“ dem Zu-        an deren Schule, lernten Vokabeln der Ñöñho-
schauer ein Gefühl für die Entmenschlichung     Sprache, tauchten in die indigene Kultur ein
jüdischer Häftlinge im Lager vermitteln.        und gestalteten eine Schulfibel, übersetzten
„Gemeinsam spielen in Tirana“ – Spielplatz-     sie ins Englische und verteilten 500 Exempla-
projekt albanischer und deutscher Jugend-       re an mexikanische Familien.
licher: Sieben Schülerinnen und Schüler der     „Kein deutscher Land“: 19 Schülerinnen und
Beruflichen Schule Bautechnik beschäftigten     Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums
sich mit der schwierigen Lebenssituation von    widmeten sich in ihrem Theaterkurs der Suche
Roma in Südosteuropa. Sie errichteten ge-       nach Heimat und Identität. Auf der Basis ei-
meinsam mit albanischen Schülern und wei-       ner Umfrage an ihrer Schule, die von vielen
teren Projektpartnern im Juni 2017 im Lager     Jugendlichen mit Migrationshintergrund be-
Shishtufine nahe Tirana einen Spielplatz, der   sucht wird, inszenierten sie ein provokantes
den dort lebenden Roma inzwischen als Treff-    Theaterstück zum Thema „Radikalismus“ und
punkt für Bewegung und Spiel dient.             führten es sogar in Israel auf.                  25
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