BERTINI-PREIS 2019 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN! - Hamburg.de
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DER BERTINI-PREIS Hinschauen, wenn andere wegsehen. Sich einmischen, wenn andere schweigen. Erinnern, wenn andere vergessen. Eingreifen, wenn andere sich wegdrehen. Unbequem sein, wenn andere sich anpassen. IMPRESSUM Herausgeber BERTINI-Preis e.V. Redaktion Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf Texte Ann-Britt Petersen, Hans-Juergen Fink, Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf Gestaltung Carsten Thun Fotos Carsten Thun, ZDF/ Renate Schäfer/Gisela Floto Druck RESET St. Pauli Anschrift Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburger Straße 31, 22083 Hamburg andreas.kuschnereit@bsb.hamburg.de © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion www.bertini-preis.de
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, am 27. Januar 2019 erhielten 50 junge Men- Die Statements der Förderer beginnen mit schen den BERTINI-Preis. Es war die 21. der Absalom-Stiftung der Freimaurer, die Preisverleihung. In seiner Festrede beklagte seit 1998, also von Anbeginn, den BERTINI- der Performance-Künstler und Moderator Preis mitgestaltet hat, allen voran Günther Michel Abdollahi eine „beängstigende Stim- Wedderien. Zum 21. Mal hatte er in der mung gegen Minderheiten in diesem Land“. Jurysitzung mit klaren, immer wertschätzen- Umso bedeutsamer ist es, Foren zu schaffen, den Worten votiert. Niemand ahnte, dass es die dieser Stimmung entgegenwirken. Der das letzte Mal sein würde. Er starb überra- BERTINI-Preis bietet ein solches Forum. schend am 3. Januar 2019. Über zwanzig Hier stehen Jugendliche im Mittelpunkt, die Jahre hat er als Mitglied des Vorstandes des sich gegen das Vergessen und Verdrängen von BERTINI-Preis e.V. Verantwortung getragen. Unrecht und Gewalt in diesem Land wenden Er konnte sich begeistern für das Engagement und sich für Minderheiten einsetzen. Diesmal junger Menschen, die Spuren vergangenen waren es vier Projekte, die auf der Bühne des Unrechts nachgehen, die sich gegen Ausgren- Ernst Deutsch Theaters vorgestellt und gewür- zung und Gewalt gegen Menschen einsetzen digt wurden. Die gewaltsame Verfolgung der und für ein gleichberechtigtes Miteinander Hamburger Swing-Jugend, die erschütternde eintreten. Wir gedenken seiner in großer Radikalisierung von drei Jugendlichen auf Dankbarkeit.(S. 18). ihrer Suche nach Freundschaft, Heimat und Am 20. März 2016, dem 93. Geburtstag von Identität, die Gewissenlosigkeit zweier Ham- Ralph Giordano, veranstaltete das Ernst burger Polizisten, die im Konzentrationslager Deutsch Theater in Kooperation mit dem Majdanek mordeten, und mit wasserlöslicher BERTINI-Preis e.V. eine Lesung zu dem Hör- Sprühkreide erstellte Porträts von Opfern des buch „Die Bertinis“, die vielen „unter die NS-Regimes, deren Namen auf „Stolperstei- Haut“ ging. Die von Zuschauern geäußerte nen“ zu lesen sind, sind die Themen, denen Idee, hieraus eine Tradition entstehen zu las- sich die Preisträger in ihren beispielgebenden sen, haben das Ernst Deutsch Theater und Projekten gewidmet haben. der BERTINI-Preis e.V. aufgegriffen: Auch Mit ihnen sind es inzwischen 123 Projekte, am 96. Geburtstag Ralph Giordanos hat es die mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet eine Lesung aus den „Bertinis“ unter der Re- worden sind. Einen Einblick in die Vielfalt der gie von Michael Batz gegeben (S. 22). Beiträge, mit denen junge Menschen in die Der BERTINI-Preis findet seine Fortsetzung Öffentlichkeit getreten sind, finden Sie ab Sei- mit der Ausschreibung für das Jahr 2019 te 26. Hinter all dem stehen die Förderer des (S. 37). Wir wünschen uns sehr, dass viele BERTINI-Preises. Es sind inzwischen 32 Per- junge Menschen die Botschaft, die er sendet, sonen und Institutionen, die dieses einzigarti- aufgreifen und die Idee, für die er steht, wei- ge Forum möglich machen. Was sie bewegt, ist tertragen: „Lasst Euch nicht einschüchtern!“ ab Seite 32 nachzulesen. Ihr Redaktionsteam 3
DIE PREISTRÄGER 2018 AUS DER REIHE TANZEN – ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND Seite 10 Ein Theaterprojekt von 18 Schülerinnen und Schülern der Bugenhagenschule Alsterdorf KEIN DEUTSCHER LAND Seite 13 Ein Theaterprojekt von 19 Schülerinnen und Schülern des Helmut-Schmidt-Gymnasiums zu Heimat und Identität VON HAMBURG NACH MAJDANEK Wie zwei Hamburger Polizisten zu Massenmördern Seite 16 wurden – ein Projekt von 12 Schülerinnen und Schülern des Lise-Meitner-Gymnasiums ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT Seite 20 Ein Kunstprojekt von Nele Borchert, Schülerin des Albert-Schweitzer-Gymnasiums 4
INHALT 03 EDITORIAL 06 VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 2018 50 Schülerinnen und Schüler wurden für ihr außergewöhnliches Engagement geehrt. AUSGEZEICHNET: 10 AUS DER REIHE TANZEN – ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND 13 KEIN DEUTSCHER LAND 16 VON HAMBURG NACH MAJDANEK 20 ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT 22 NACHRUF AUF GÜNTHER WEDDERIEN 24 DAS HÖRBUCH „DIE BERTINIS“ Ralph Giordanos letztes Werk 25 DEMOKRATISCH HANDELN 26 GEGEN DISKRIMINIERUNG UND RASSISMUS Lesung „Die Bertinis“ 28 GELEBTE ERINNERUNGSKULTUR Esther Bejarano gemeinsam mit BERTINI-Preisträgern im Scharlatan Theater 30 BERTINI-PREISTRÄGER MISCHEN SICH EIN Insgesamt 123 Gruppen und Einzelpersonen wurden bisher mit dem BERTINI-Preis ausgezeichnet – 20 Beispiele für Engagement und Zivilcourage, die Spuren hinterlassen haben. 34 DEN BERTINI-PREIS FÖRDERN 36 DIE FÖRDERER 40 DIE RALPH-GIORDANO-BIBLIOTHEK IN DER KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME 41 RALPH GIORDANO – GELEBTE ZIVILCOURAGE 42 AUSBLICK 5
AUFTAKT: ISABELLA VÉRTES-SCHÜTTER BEGRÜSST DIE GÄSTE IM ERNST DEUTSCH THEATER ZUR 21. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES, BEGLEITET VON DER GEBÄRDENDOLMETSCHERIN CELINE SAWKINS. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 2018 ZUM 21. MAL WURDEN JUNGE MENSCHEN FÜR IHR BEISPIELGEBENDES ENGAGEMENT GEGEN DAS VERGESSEN UND VERDRÄNGEN VON UNRECHT UND GEWALT UND IHR EINTRETEN FÜR EIN GLEICHBERECHTIGTES MITEINANDER AUSGEZEICHNET. Ein Theaterprojekt zur Hamburger Swing- Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Jugend, ein Video-Projekt zu den Verbrechen Ernst Deutsch Theaters und Vorsitzende des von zwei Hamburger Polizisten in den Kon- BERTINI-Preis e.V., begrüßte die rund 700 zentrationslagern Majdanek und Belzec, ein Gäste und erinnerte an den Ehrenvorsitzen- Kunstprojekt zu Stolpersteinen und ein Thea- den des BERTINI-Preises Ralph Giordano. Sie terprojekt zu Identität, Ausgrenzung und Ra- habe in dem zurückliegenden Jahr oft an ihn dikalisierung von Jugendlichen: Diese vier denken müssen. Ein Ausspruch sei ihr dabei in Projekte hatte die Jury im Dezember 2018 besonderer Weise erinnerlich gewesen: „Wer für die Auszeichnung mit dem BERTINI-Preis die Demokratie beschädigen will, bekommt es ausgewählt. Im Rahmen der 21. Preisverlei- mit mir zu tun, der hat mich am Hals.“ Isa- hung standen an diesem Tag 50 Hamburger bella Vértes-Schütter weiter: „Die Stimmen, Jugendliche für ihre Spurensuche, ihre Erin- die die Demokratie beschädigen wollen, sind nerungsarbeit und ihr Eintreten für ein gleich wieder lauter geworden. Und wir alle sind auf- 6 berechtigtes Miteinander im Mittelpunkt. gerufen, dass sie uns am Hals haben.“
AUFTRAG: SCHULSENATOR TIES RABE BETONT IN SEINEM GRUSSWORT DIE AUFRUF: MICHEL ABDOLLAHI ERMUTIGT IN SEINER FESTREDE, NOTWENDIGKEIT, ANGESICHTS AKTUELLER ENTWICKLUNGEN WACHSAM ZU SEIN. SICH GEGEN HASS UND HETZE ZUR WEHR ZU SETZEN. Auch Schulsenator Ties Rabe zeigte sich in noch, wenn er den Eindruck habe, den Urhe- seinem Grußwort besorgt über aktuelle Ent- ber mit seinen Argumenten noch erreichen zu wicklungen. Der von den Nazis begangene können. Es gebe eine „beängstigende Stim- Massenmord in den Konzentrationslagern sei mung gegen Minderheiten in diesem Land“, nur der Endpunkt einer langen gesellschaft- so Abdollahi. Er appellierte an das Publikum: lichen Entwicklung und eines Verfalls der „Wenn Sie auf Hass und Hetze stoßen, gehen Menschlichkeit gewesen, die bereits Jahre zu- Sie mit allen Rechtsmitteln dagegen vor. Wir vor eingesetzt habe. Angefangen habe es mit werden nicht zulassen, dass bestimmte Men- Feindbildern, die von skrupellosen Politikern schen den Faschismus in unsere Gesellschaft aufgegriffen und benutzt wurden, um die zurückbringen.“ Demokratie auszuhöhlen. Und auch heute be- stünde wieder Anlass, wachsam zu sein. An die NDR-Moderator Christian Buhk, der zum Jugendlichen gewandt: „Aber die BERTINI- zweiten Mal durch die Veranstaltung führte, Preisträger zeigen, dass es auch Grund zu unterstrich diesen Appell: „Ich freue mich die Optimismus und Hoffnung gibt.“ BERTINI-Preisverleihung zu moderieren, ein Preis, der Hamburger Jugendliche für ihre Zi- In seiner Festrede berichtete der Performance- vilcourage auszeichnet.“ Künstler und Moderator Michel Abdollahi, dass er für seinen Aufruf gegen Faschismus Die NDR-Mitarbeiter Christian Becker und und für die Erinnerungskultur anlässlich der Florian Skupin hatten die Preisträgerinnen Befreiung von Auschwitz zahlreiche Hass- und Preisträger zuvor aufgesucht und mit Mails und Drohungen erhalten habe. In seiner Mikrofon und Fernsehkamera anschaulich WDR-Kolumne „Der deutsche Schäferhund“ aufbereitet, wofür die Jugendlichen ausge- hatte er auf den bevorstehenden Gedenktag zeichnet worden sind. Mit zweiminütigen Ein- hingewiesen und erklärt: „Der Holocaust ist spielfilmen wurden die Preisträgerinnen und kein Vogelschiss der Geschichte.“ Als er tags Preisträger vorgestellt, bevor die Förderer darauf seine Mails öffnete, habe er die „üb- des BERTINI-Preises in ihren Laudationes lichen Nachrichten“ gefunden: „Du bist der ausführten, womit die Jugendlichen die Jury Nächste“ oder „Dich zünden wir auch an“ überzeugt hatten. und „Muslime sind die neuen Juden“. Er selbst antworte auf solche Mails und Posts nur 7
01 AUS DER REIHE TANZEN – 02 KEIN DEUTSCHER LAND ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND Ein Theaterprojekt von 19 Schülerinnen und Schülern Ein Theaterprojekt von 18 Schülerinnen und Schülern des Helmut-Schmidt-Gymnasiums zu Heimat und Identität der Bugenhagenschule Alsterdorf Pate: Hubert Grimm Pate: Axel Zwingenberger Laudator Axel Zwingenberger überreichte Heidi Melis von der Hamburger Volksbank den BERTINI-Preis an 18 Schülerinnen und überreichte den BERTINI-Preis an 12 Schü- Schüler der Bugenhagenschule Alsterdorf für lerinnen und Schüler des Lise-Meitner-Gym- ihr Theaterprojekt „Aus der Reihe tanzen“ nasiums, die sich im Anschluss an den Besuch und würdigte sie mit den Worten: „Ihr habt der Gedenkstätten Majdanek und Belzec in Vi- das Thema ’Swing-Kids‘ dem Vergessen ent- deobeiträgen mit ihren Erkenntnissen und Ein- rissen und eine musikalische Kultur gewür- drücken auseinandergesetzt haben. „Ihr seid digt, die sich dem Gleichschaltungswahnsinn auf eine eindrucksvolle Weise der Frage nach- der Nazis entgegenstellte.“ gegangen, wie aus ganz normalen Menschen Mörder werden“, betonte die Laudatorin. Hubert Grimm von der Freimaurerloge Roland ehrte 19 Schülerinnen und Schüler Jan Frenzel vom NDR würdigte die 16-jäh- des Wilhelmsburger Helmut-Schmidt-Gymna- rige Nele Borchert vom Albert-Schweitzer- siums für ihr Theaterprojekt „Kein deutscher Gymnasium für ihr Kunstprojekt „Ich gebe Land“, das sie anlässlich der besorgniserre- den Steinen ein Gesicht“. Die Schülerin hat- genden Ergebnisse einer Umfrage unter Mit- te die Gesichter von Deportierten, zu deren schülerinnen und Mitschülern zum Thema Gedenken Stolpersteine in Hamburg verlegt „Heimat und Identität“ inszeniert hatten. worden waren, mithilfe von kunstvoll ange- Das Stück widmet sich der Radikalisierung fertigten Schablonen und Kreidespray neben von Jugendlichen aufgrund erlittener Aus- die Steine gesprüht. „Nele Borchert hat unse- grenzung und Diskriminierung. In seiner Lau- re Augen neu auf die Stolpersteine gerichtet“, datio sagte er: „Nur ohne Vorurteile ist man hob der Laudator die kreative Leistung der 8 ein frei denkender, also ein freier Mensch.“ jungen Preisträgerin hervor.
03 VON HAMBURG NACH MAJDANEK 04 ICH GEBE DEN STEINEN EIN GESICHT – wie zwei Hamburger Polizisten zu Massenmördern Ein Kunstprojekt von Nele Borchert, wurden. Ein Projekt von 12 Schülerinnen und Schülern Schülerin des Albert-Schweitzer-Gymnasiums des Lise-Meitner-Gymnasiums Pate: Jan Frenzel Patin: Heidi Melis Die Gebärdensprachdolmetscherinnen Celine (E-Gitarre), Alexander Maguire (Keyboard/ Sawkins und Christine Müller übersetzten Schlagzeug), Mohamed Camara (E-Bass) und abwechselnd die gesprochenen Beiträge. Den Jonathan Bodenschatz (Schlagzeug/Percus- klangvollen musikalischen Rahmen der 21. sion). Sie spielten „Johnny B. Good“ (Chuck BERTINI-Preisverleihung gestaltete die vier- Berry), „Knockin' on Heaven's Door“ (Bob köpfige Band „Ouchmyback“ der Staatlichen Dylan) und „Spain“ (Chick Corea). Jugendmusikschule Hamburg mit Luca Blum 9
AUS DER REIHE TANZEN – ERINNERUNG AN DIE SWING-JUGEND 18 Schülerinnen und Schüler vom Theaterkurs der Bugenhagenschule Alsterdorf befassten sich mit der Swing-Jugend, die von den Nationalsozialisten unterdrückt und verfolgt wurde, und brachten deren Geschichte auf die Bühne. SIE BEGEISTERTEN SICH FÜR AMERIKANISCHEN JAZZ „Die meisten Swing-Kids haben ihre Einstel- UND TANZTEN DAZU LINDY HOP. SIE STYLTEN SICH lung trotz der Gefahren aber nicht aufgege- NACH ENGLISCHER MODE, DIE JUNGS IN FLANELL- ben“, erklärt Jannika Möring (18), Schüle- ANZÜGEN SAMT KRAWATTE MIT WINDSOR-KNOTEN, rin der Bugenhagenschule Alsterdorf. Diese DIE MÄDCHEN IN BUNTEN KLEIDERN, FALTENRÖCKEN Haltung hatte sie und die anderen 17 Schü- ODER HOSEN UND GESCHMINKT. SIE NANNTEN SICH lerinnen und Schüler des Theaterkurses stark SWING-GIRLS UND -BOYS ODER EINFACH SWINGS. beeindruckt. Bei der Planung für ein neues DOCH IHRE BEGEISTERUNG FÜR DIE ENGLISCH Stück hatten sich die Jugendlichen gemeinsam SPRACHIGE MUSIK, MODE UND LÄSSIGKEIT DURF- mit Theaterlehrerin Corinna Honold intensiv TEN SIE IM NAZI-DEUTSCHLAND NICHT AUSLEBEN. mit der Swing-Bewegung beschäftigt, die sich ZUNEHMEND WURDEN DIE SWINGS OPFER VON in den 1940er Jahren in einigen Großstädten, UNTERDRÜCKUNG UND VERFOLGUNG. insbesondere auch in Hamburg, verbreitete. „Wir wussten bis dahin kaum etwas über die 10 Bewegung“, sagt Louisa Gerds (18).
AUS DER REIHE TANZEN: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER PROBEN DEN SWING. Zur Vorbereitung sahen die Schülerinnen und Verhör in die Gestapo-Hauptzentrale an der Schüler einen Film über die Swing-Jugend und Stadthausbrücke gebracht. „Verhör bedeu- lernten selbst, Swing zu tanzen. Die jungen tete auch schwere Misshandlung durch Prü- Schauspielerinnen und Schauspieler hörten gel“, erläutert Jeanette Nielsen (20). Und es die passende Musik und besuchten an den kam noch schlimmer. „1942 ordnete Heinrich Hamburger Kammerspielen ein Musical über Himmler an, dass Angehörige der Swing- den Jazzmusiker und Gitarristen Coco Schu- Jugend ins KZ gesperrt werden sollten“, be- mann. Der Sohn jüdischer Eltern hatte, trotz richtet Serguei Vikoulov (18). Auch ein Freund der Deportation in verschiedene Konzentrati- von Uwe Storjohann, der Hamburger Jazz- onslager, den Holocaust überlebt. „Die Musik Fan Günter Discher, wurde in das Jugend-KZ hat sein Leben gerettet, aber andere in den in Moringen deportiert. Tod begleitet. Er musste an der Todes-Rampe Auf der Basis von Originalzitaten aus Zeit- im KZ Auschwitz deutsche Lieder spielen“, zeugenberichten entwickelte der Theaterkurs berichtet Tom Tavassoli (18). sein knapp einstündiges Stück „Aus der Reihe Aus diversen Zeitzeugenberichten erfuhren tanzen“. Ihr Ziel: „Die Geschichte der Swing- die Schülerinnen und Schüler mehr über die Jugend lebendig zu halten“, sagt Tandy Marie Bewegung und deren Unterdrückung, wie Meier (18). „Damit sie nicht in Vergessenheit etwa in der Biografie „Hauptsache Überle- gerät, gerade jetzt, wo die Zeitzeugen immer ben“ von Uwe Storjohann. Der Schauspieler weniger werden“, ergänzt Tom. und Hörfunkredakteur, der heute 93 Jahre Ihr Stück lassen die Oberstufenschülerinnen alt ist und in Hamburg lebt, war begeisterter und -schüler mit der fröhlichen Stimmung Anhänger der Hamburger Swing-Jugend und der Swing-Musik starten. Sie zeigen, wie sich wurde selbst Opfer von Strafaktionen der Na- Jugendliche im Swing-Stil kleiden und zum zis. „Es war verboten, die sogenannte Musik Tanzen gehen. Doch im Laufe des Stücks des Feindes zu hören, auch Tanzveranstaltun- vermitteln sie auch die düstere Seite dieser gen wurden verboten“, erklärt Bjarne Gartz Jugend-Bewegung, die zur ersten Subkultur (18). wurde. „Manche führten ein Doppelleben, Mit ihrem Freigeist wurden die Swings zu ei- gingen zu Hitlerjugend und Nazi-Veranstal- ner Opposition gegen die Nazis. Bei Razzien tungen und lebten heimlich den Swing, ande- wurden sie deshalb festgenommen und zum re zeigten offen ihre Einstellung“, berichtet 11
Jannika. Die Konsequenzen waren hart, wie In der Schlussszene ihres Stücks stellen die eine Szene zeigt, in der ein Schulleiter von jungen Schauspieler ein Verhör nach. „Ich der Swing-Aktivität eines Schülers erfahren habe eine Verhaftete gespielt, die gefragt wird, hat. „Schüler wurden von der Schule verwie- warum sie gegen die Nazis ist, warum sie nicht sen und durften auch nicht studieren“, erklärt in der Hitler-Jugend ist. Meine Antwort: ‚Ich Louisa. So erging es auch der Kunststudentin möchte ein freier Mensch sein‘ “, schildert Charlotte Heile, die ein Plakat mit einer Sati- Jeanette. Daraufhin stimmt sie gemeinsam re auf die Nazis entworfen hatte. „Es wurde mit den anderen Darstellern einen Song aus eingezogen, sie wurde verhaftet und musste der Swing-Ära an. „Mit dem Lied am Ende das Kunststudium abbrechen“, hat Tandy he- wollten wir noch mal einen positiven Akzent rausgefunden. setzen, zeigen, dass sich die Jugendlichen nicht Die Schülerinnen und Schüler wollten mit ih- unterkriegen ließen“, erklärt Tandy. rer Inszenierung auch nachvollziehbar ma- Dreimal führte der Theaterkurs das Stück auf, chen, welchen Grausamkeiten die Jugendli- vor jüngeren Mitschülerinnen und Mitschülern chen ausgesetzt waren. Mit einem eigenen ebenso wie vor erwachsenem Publikum. Die Dezernat verfolgte die Hamburger Gestapo Reaktionen waren sehr positiv. Dass es ihnen BEDROHLICH: HEIMLICH: SWING-FILME ANZUSCHAUEN, DIE GESTAPO RICHTETE EIGENS EIN DEZERNAT EIN, UM SWINGS ZU VERFOLGEN. WAR FÜR JUGENDLICHE GEFÄHRLICH. ab Mitte 1941 die Swings und verhaftete sie. gelungen ist, die heiteren Momente der Swing- Im Hauptquartier an der Stadthausbrücke Kids ebenso darzustellen wie die düstere Seite warteten die Festgenommenen im sogenann- der Unterdrückung, freut sie ganz besonders. ten Spiegelsaal auf die Verhöre. „Viele wuss- „Es war ja eine ziemlich friedliche Gegenbewe- ten, dass Verhöre schwere Prügel bedeuteten“, gung zu den Nazis, sie haben keine Gewalt an- sagt Jannika. Der Theaterkurs informierte sich gewendet, als sie sich den Vorgaben der Nazis in der heutigen Gedenkstätte Stadthausbrü- verweigerten, sie wollten nur nicht im Gleich- cke über die Örtlichkeiten und sah sich die schritt mitlaufen“, sagt Tom. Ihr Mut und ihre ausgestellten Dokumente aus der NS-Zeit an. Zivilcourage sind für Serguei ein Vorbild auch Mit dem Konzept der jetzigen Ausstellung, das für die Gegenwart: „Angesichts der Entwick- noch weiterentwickelt werden soll, waren die lung der rechten Szene in mehreren Ländern Jugendlichen allerdings nicht zufrieden. „Es ist es wichtig, ihre Geschichte weiterzutragen, fehlt schon am Eingang ein deutlicher Hinweis die zeigt, dass man sich auflehnen kann“, be- auf die Gedenkstätte“, moniert Bjarne. Und: tont er. Und es sei ebenso wichtig, an die Aus- „Es gibt dort nichts zu den Swing-Jugendli- grenzung von Menschen zu erinnern, die nichts chen“, kritisiert Serguei. Böses getan haben. Das dürfe sich nicht wie- 12 derholen, da ist sich die Theatergruppe einig.
KEIN 19 Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt- Gymnasiums widmeten sich in ihrem Theaterkurs zu DEUTSCHER LAND dem Thema „Heimat und Identität“. Ausgehend von den Ergebnissen einer Umfrage an ihrer Schule, die von vielen Jugendlichen aus zugewanderten Familien Impulse für das Thema gaben die Texte von besucht wird, inszenierten sie ein provokantes Fünft- und Sechstklässlern. Die Kinder hat- Theaterstück zum Thema „Radikalismus“ und führten ten ihre Gedanken zu der Problemstellung es auch in Israel auf. „Deutsch oder nicht deutsch sein“ aufge- schrieben. „Wir hatten mit positiven Stereo- URSPRÜNGLICH SOLLTE DAS NEUE STÜCK EINE typen gerechnet wie Pünktlichkeit oder Ord- KOMÖDIE WERDEN. NACHDEM 2016 DAS THEATER- nung, aber es kamen ganz krasse Antworten“, STÜCK „KRIEG -– WOHIN WÜRDEST DU FLIEHEN?“ schildert Max Fluder (18). „Eine Elfjährige MIT DEM BERTINI-PREIS PRÄMIERT WORDEN WAR, schrieb, die Deutschen seien zu nett, nähmen SOLLTE ES NUN UM DAS THEMA „HEIMAT UND IDEN- zu viele Flüchtlinge auf und die Flüchtlinge TITÄT“ GEHEN. GEMEINSAM MIT THEATERLEHRER seien faul. Und sie meinte, hier sollte mal ein HÉDI BOUDEN GINGEN DIE OBERSTUFENSCHÜLE- Terroranschlag passieren“, berichtet Tugce RINNEN UND -SCHÜLER DER FRAGE NACH, WAS ES Perek Yücel (19). „Ein anderes Mädchen hat BEDEUTET, EIN DEUTSCHER ZU SEIN. EIN GROSSTEIL geschrieben: 'Ich bin nicht deutsch, weil ich DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER STAMMT AUS Jungfrau bleiben will'“, schildert Ilayda Tasci ZUGEWANDERTEN FAMILIEN. DIE KINDER UND JU- (18). Diese schockierenden Antworten mach- GENDLICHEN SELBST SIND MEIST IN DEUTSCHLAND ten deutlich, welche Vorurteile im Umfeld der GEBOREN, DOCH IHRE ELTERN HABEN BEISPIELSWEI- Kinder herrschen: „So etwas kommt ja nicht SE TÜRKISCHE ODER KURDISCHE, ALBANISCHE ODER von ihnen, das haben sie gehört oder gele- BOSNISCHE WURZELN. sen“, führt Tugce aus. 13
IN SZENE GESETZT: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DES HELMUT-SCHMIDT-GYMNASIUMS BEI DER AUFFÜHRUNG IHRES PROVOKANTEN THEATERSTÜCKS „KEIN DEUTSCHER LAND“. Die Schülerinnen und Schüler machten sich Gedanken über die Gründe und Folgen von Vorverurteilungen, fragten sich, was für das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gesell- schaft nötig sei. Und was mit Jugendlichen passiert, wenn sie sich ausgegrenzt oder per spektivlos empfinden. Wo suchen sie Halt? Mit Die Jugendlichen stellten auch den Einfluss der diesen Aspekten entwickelten die Schülerin- Gruppe auf den Einzelnen dar. „Es entwickelt nen und Schüler den Inhalt ihres Stücks, das sich ein Gruppenzwang, der die Jugendlichen nun eine Jugendtragödie wurde. Darin stehen zu Gewalttaten drängt“, erläutert Tugce. Da drei Jugendliche im Vordergrund, die sich auf erwarten die Rechtsextremisten von Patrick, verschiedenen Wegen radikalisieren. Salim dass er ein Flüchtlingsheim anzündet. Salim schließt sich einer salafistischen Gruppe an, folgt der islamistischen Ideologie und berei- Patrick gerät in die rechtsextremistische Sze- tet ein Bombenattentat vor. Und unter dem ne und Emil flieht in eine virtuelle Welt mit medialen Dauereinfluss von Spielen voller Kriegsspielen. Gewalt entwickelt Emil immer mehr Hass und plant einen Amoklauf. „Zu Beginn haben wir die Personen und ihre Vorgeschichten eingeführt“, berichtet Ilayda. „Um die Gedanken der Figuren darstellen zu Sie spielte eine Mitschülerin, die Emil mobbt. können und das, was ihnen die Gesellschaft Emil ist introvertiert, wird in der Schule aus- vorlebt, haben wir mit chorischen Szenen gegrenzt und zieht sich in seine Computerwelt gearbeitet“, erklärt Max. So sitzen die drei zurück. „Er ist eigentlich nur ein Schatten Protagonisten in einer Szene in der Mitte und zwischen zwei Welten“, sagt Max, der die um sie herum rufen alle anderen Darsteller im Rolle von Emil verkörperte. Auch die anderen Chor rechte Parolen oder Schlachtrufe. In an- Figuren haben eine komplexe Problematik. deren Szenen tragen die Rufer Augenbinden, Patrick hat oft Ärger mit seinem arbeitslosen „um zu zeigen: Wer ohne nachzudenken diffa- Vater. Bei den Nazis glaubt er so etwas wie mierende Sprüche ruft, ist blind“, sagt Ilayda. Verständnis zu finden. Salim stammt aus ei- ner muslimischen Familie, steht zwischen ver- Auch für die Frauenfiguren im Stück läuft es schiedenen kulturellen Welten und verhält sich nicht gut. Salim lebt eine Doppelmoral, miss- aggressiv und frauenfeindlich. Er radikalisiert achtet die Prinzipien seiner deutschen Freun- sich bei den Salafisten. „Wir wollten aber zei- din, die noch keinen Sex mit ihm haben will. gen, dass sich Radikalisierung nicht nur auf Gleichzeitig fordert er von seiner Schwester den religiösen Extremismus beschränkt, des- Yeter, keinen deutschen Freund zu haben. Die halb haben wir die drei Handlungsstränge ge- Tragödie spitzt sich zu. Es kommt zu Grup- 14 wählt“, erklärt Tugce. penvergewaltigung, Totschlag und Mord. Pa-
trick zündet zwar nicht das Flüchtlingsheim te, sie zu rufen, wohl dort ankommen“. Auch an und wendet sich gegen die Nazis. Aber einige Eltern hatten zunächst Bedenken hin- die Schwester von Salim, der im Streit mit sichtlich der Reise, die in Kooperation mit dem Patrick umkam, übernimmt sein geplantes Goethe-Institut stattfand. Doch letztlich durf- Bomben attentat in einem Einkaufszentrum. ten alle Schülerinnen und Schüler mit. „Und „Niemand hat sie beachtet, sie als Deutsche es war genau richtig“, zieht Max Bilanz. „Wir akzeptiert, deswegen fragt sie am Ende ankla- sind sehr gut aufgenommen worden und auch gend: ‘Bin ich weniger deutsch als ihr? Seid ihr die Aufführungen in Jerusalem und Tel Aviv die einzigen Auserwählten?‘“, schildert Tugce. sind gut angekommen“. „Die Diskussio nen waren noch viel intensiver und sehr reflek- Die Reaktionen waren sehr positiv. „Viele Zu- tiert“, stellt Lehrer Hédy Bouden fest, der sich schauer hatten nach dem Stück Redebedarf“, auch darüber freut, „wie reif die Schüler wäh- berichtet Ilayda. Das hatten die jungen Thea rend des Projekts geworden sind“. termacher eingeplant: Nach den Aufführun- gen folgten stets Diskussionsrunden. Denn die Für die Schülerinnen und Schüler, die inzwi- Schülerinnen und Schüler wollten provozie- schen alle ihr Abitur geschafft haben, ist die ren, um mit den Zuschauern ins Gespräch zu Reise unvergesslich. „Es hat mich reicher ge- kommen. „Wir müssen über diese Themen re- macht an Erfahrungen und zu Diskussionen den“, sagt Tugce. Die gesellschaftliche Debat- angeregt“, sagt Max. „Wir trafen dort auch te anzustoßen, ist den Schülerinnen und Schü- Zeitzeugen zum Gespräch und lernten andere lern in der Schule wie im Stadtteil gelungen. Denkweisen kennen“, fügt Ilayda hinzu. Tugce Für das Engagement gab es bereits Preise wie fand es gut, die jüdische Geschichte kennenzu- den renommierten Hildegard-Hamm-Brücher- lernen. „Wir haben auch die GedenkstätteYad Preis. Vashem besucht“, sagt sie. Aus dem Besuch in Israel entstanden bereits Folgeprojekte. Und Groß war die Aufregung jedoch, als Lehrer das Helmut-Schmidt-Gymnasium wurde zur Hédy Bouden vorschlug, mit dem Stück in ersten Hamburger Partnerschule der deutsch- Israel aufzutreten. „Ist das nicht eine Num- sprachigen Abteilung der International School mer zu groß?“, fragte sich Max und Ilayda for Holocaust Studies Yad Vashem. war sich unsicher, „wie die Nazi-Sprüche, bei denen ich mich hier schon überwinden muss- 15
Fotos Gisela Floto VON HAMBURG NACH MAJDANEK Im März 2018 besuchten Schülerinnen und Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums die KZ-Gedenkstätten Majdanek und Belzec in Polen. Dort betrieben die Nazis ihre Vernichtungsaktionen gegen Juden. An den Gräueltaten beteiligten sich auch Polizisten aus Hamburg. Zwölf Jugendliche verarbeiteten ihre Erkenntnisse über die Verbrechen und die Täter in drei Kurzfilmen. NACH DEM ÜBERFALL AUF POLEN 1939 BEGANNEN DIE Acht weitere Schülerinnen und Schüler dreh- NATIONALSOZIALISTEN MIT DER SYSTEMATISCHEN ten zwei Filme über Mittäter an Massakern AUSBEUTUNG UND ERMORDUNG DER POLNISCHEN und Ermordungen im KZ Majdanek. An den BEVÖLKERUNG, INSBESONDERE DER JUDEN, ABER Gräueltaten waren Mitglieder des Hamburger AUCH DER SINTI UND ROMA. ES WURDEN KONZEN- Reserve-Bataillons 101 beteiligt. Die Schüler- TRATIONS- UND VERNICHTUNGSLAGER ERRICHTET. gruppe hatte sich gemeinsam mit Geschichts- DAZU GEHÖRTE DAS VERNICHTUNGSLAGER BELZEC IM lehrerin Susanne Ehlers und Fotografin Gisela SÜDOSTEN POLENS IN DER NÄHE VON LUBLIN. „HIER Floto im März 2018 in den Südosten Polens WURDEN 1942 SCHÄTZUNGSWEISE 450.000 BIS 650.000 aufgemacht. Sie besuchten die Stadt Lublin, MENSCHEN ERMORDET“, HEISST ES IN DEM FILM die einst ein großes jüdisches Zentrum besaß, „MASSENMORD IN BELZEC“, DEN FELIX MINKOWITSCH und die ehemaligen Konzentrations- und Ver- (17), LUISA TOSCHKE (17), MALGORZATA SZUBA (16) nichtungslager Belzec und Majdanek. „Zur UND TOMASZ ASZYK (18), SCHÜLERINNEN UND SCHÜ- Vorbereitung hatten wir uns mit der Verfol- LER DES LISE-MEITNER-GYMNASIUMS, NACH DEM gung der Juden während der NS-Zeit in Ham- 16 BESUCH DER KZ-GEDENKSTÄTTE GEDREHT HABEN. burg beschäftigt und eine Ausstellung in der
Israelitischen Töchterschule besucht“, berich- die Menschen zu Hunderten in das Lager ge- tet Luisa. Weil die Reise mit Bildern dokumen- bracht“, hat Gosia recherchiert. tiert werden sollte, arbeiteten sich die Schü- lerinnen und Schüler in einem Workshop der In ihrem Film „Massenmord in Belzec“ Fotografin Gisela Floto in das Gebiet des Fo- wollten die Schülerinnen und Schüler diese tografierens und Filmens ein. Zum Abschluss Verbrechen so detailliert wie möglich doku- des Projekts sollten die fertigen Filme auf ei- mentieren, aber auch ihren persönlichen Ein- ner Schulveranstaltung präsentiert werden. druck von dem Ort wiedergeben. So wechseln sich Bilder vom Außengelände des Lagers in In der Gedenkstätte des Lagers Majdanek, Schwarz-Weiß-Aufnahmen ab mit Fotos aus das anfänglich ein Arbeitslager war und dann der Ausstellung. Zu den Bildern wird nicht zur Tötungsstätte wurde, sind noch Häftlings- nur ein Text gesprochen, sondern sie werden baracken, Wachtürme und das Krematorium auch mit Musik unterlegt – mit der Titelmelo- erhalten. „Am bedrückendsten war für mich, die aus dem Film „Schindlers Liste“. Beson- als ich in der Ausstellung die riesigen Gitter- ders beeindruckt hat die Schülerinnen und körbe mit Massen von Schuhen der ermorde- Schüler ein „großer, leerer Raum mit hohen ten Menschen sah“, sagt Luisa. Im Vernich- Decken, fast ohne Licht, nur eine Gedenktafel tungslager Belzec hatten die Nazis selbst viele befindet sich dort. Es war ein beeindruckendes Spuren vernichtet, aber durch die Texte und Kunstwerk, um die Leere zu erfahren und das Bilder der Ausstellung und die Originalräume Fehlen jeglicher Menschlichkeit“, sagt Felix. „stellte sich doch ein sehr intensives und düs- Auch dieses Bild setzten sie in ihrem Sechs- teres Bild ein“, schildert Felix. Das Lager hat- Minuten-Film ein, und es gelingt ihnen eine te anfangs drei und später sechs Gaskammern. Vermittlung von historischen Fakten und der „Das Ziel war die endgültige Vernichtung der eigenen Betroffenheit angesichts des Ortes. Juden im Generalgouvernement unter dem „Wir sind überwältigt von der Inhumanität Decknamen ‚Aktion Reinhardt‘“, erläutert und Brutalität“, kommentiert der Sprecher im Luisa. Beteiligt waren daran auch Täter, die Film die Ereignisse. „Uns war es wichtig, auf zuvor schon bei der Aktion T4, der Ermor- die Grausamkeiten der Nazis aufmerksam zu dung behinderter Menschen, mitgemacht hat- machen, damit die Vergangenheit nicht ver- ten. „Über die nahe liegenden Bahngleise der gessen und solche Untaten nicht noch einmal Eisenbahnstrecke Lublin – Lemberg wurden zugelassen werden“, erklärt Felix. Fotos Gisela Floto ORT DES GRAUENS: GASKAMMER IN MAJDANEK ORT DER STILLE: ERINNERUNGSRAUM IN BELZEC 17
NACHGESPÜRT: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER RECHERCHIEREN GEMEINSAM MIT LEHRERIN SUSANNE EHLERS UND FOTOGRAFIN GISELA FLOTO. Der Frage, wie Menschen zu Tätern wurden, Foto von ihm in heiterer Runde mit Frauen gingen die beiden anderen Film-Gruppen und Männern. nach. Eine besondere Rolle spielte das Ham- burger Reserve-Polizei-Bataillon 101. „Es „Das Foto eines scheinbar normalen Men- war Teil der Ordnungspolizei und bestand schen steht seinen entsetzlichen Taten gegen- aus Männern mittleren Alters. Obwohl sie es über“, sagt Sophie. Denn er war an mehre- nicht mussten, haben sie sich an Deportatio- ren Massakern beteiligt, darunter auch an nen und Ermordungen von Juden beteiligt“, dem Massaker von Jozefow am 13. Juli 1942. erklärt Sophie Michaelsen (16). Ihre Grup- „Er suchte die Plätze für die Hinrichtungen pe, der auch Ella Lütkebohle (17), Calvin im Wald aus. Dort wurden etwa 1.500 Juden Klein (17) und Luisa Brosdetzko (17) an- erschossen“, berichtet Ella. Im Film analy- gehörten, stellte in einer kurzen Dokumen- sieren die Schülerinnen und Schüler, dass tation den „Täter Julius Wohlauf im Lager „Gruppenzwang und der Wunsch nach Ach- Majdanek“ vor. Er war überzeugter Nazi, tung“ die Mitglieder des Polizeibataillons 101 wollte ursprünglich Sport- und Geschichts- zu ihren Taten führte. Sie kommen zu dem lehrer werden, ging aber als Offiziersan- Schluss: „Bald wurden die Massentötungen wärter zur Schutzpolizei. „Wir haben unter nur noch als Arbeit empfunden. Manche sa- anderem im Staatsarchiv über seine Person hen sich sogar als Erlöser, wenn sie die Kinder recherchiert. Dort gibt es einen dicken Ord- bereits ermordeter Eltern töteten.“ Nach dem ner über ihn“, berichtet Ella. Aus seiner Krieg kehrte Julius Wohlauf zurück in den Po- Offizierslaufbahn wurde nichts. In seinem lizeidienst, erst 1967 wurde er für seine Taten Polizeizeugnis ist zu lesen, dass er ein „leb- verantwortlich gemacht. Für die Beihilfe zum hafter gewandter Mann mit fast guter geis- Mord an 9.200 Menschen wurde er „nur zu tiger Veranlagung und ungesundem Ehrgeiz“ acht Jahren Gefängnis verurteilt“, berichtet war. Man bescheinigte ihm eine ausgespro- Sophie. In ihrer Dokumentation, die neben chene „Führerveranlagung“. Dieses Doku- Fotos und Quellen zu Julius Wohlauf auch 18 ment wird im Film ebenso gezeigt, wie ein Bilder der Opfer zeigt, erklären die Schüle-
rinnen und Schüler, dass sie den Beweggrün- Alle Schülerinnen und Schüler hatten nach den des Täters nachgehen wollten. Sie lassen der Reise selbständig und teils nur in ihrer ihren Film mit der Widmung enden: „Im Ge- Freizeit an ihren Filmen gearbeitet. Bei der denken an die Opfer.“ Vorführung ihrer Werke in der Schulveran- Warum ein anderes Mitglied des Reserve- staltung kamen sie alle gut an. „Die meisten Polizei-Bataillons 101 zum Täter wurde, Zuschauer waren emotional sehr berührt“, konnten die Schüler Henri Gnutzmann (17), berichtet Gosia. Auch die Schülerinnen und Erdi Sayar (17), Kai Dietrich (17) sowie Jan- Schüler selbst haben viel mitgenommen aus Lukas Rohde (16) nicht herausfinden. In ihrer dem Projekt. „Jeder, der damals nichts getan Dokumentation „Heinz Bumann – ein ganz hat, ist mitverantwortlich. Und heute soll- normaler Mensch“ gingen sie den Spuren te jeder auf seine Handlungen schauen und des Hamburger Holzmaklers nach. „Er hatte dafür Sorge tragen, dass so ein Unrecht nicht eine erfolgreiche Firma, war finanziell unab- wieder passiert“, betont Sophie. „Nur weil hängig, hatte nichts gegen Juden“, hat Henri viele Leute eine gewisse Meinung vertreten, recherchiert. Doch auch er wurde zum Täter, sollte man unabhängig bleiben und seinem unter anderem beim Massaker von Jozefow. eigenen Gewissen folgen“, ergänzt Erdi. „Er hat die Beteiligung an den Morden zu- nächst verweigert, aber er hat sie auch nicht Für den BERTINI-Preis haben sich die Schü- verhindert“, sagt Erdi. Auch über ihn fanden lerinnen und Schüler nach Abschluss der die Schüler Akten im Staatsarchiv. Heinz Bu- Filmarbeiten beworben. Dass sie ausgezeich- mann wurde 1948 für seine Mittäterschaft net wurden, freut sie umso mehr. Mit einem zu acht Jahren Haft verurteilt. In ihrem Film Teil des Preisgeldes wollen sie einen Stolper- arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit stein für Lise Meitner finanzieren. Die Na- vielen symbolischen Bildern. Das Porträt von mensgeberin ihrer Schule war eine jüdische Heinz Bumann flechten sie in den Blick auf Kernphysikerin, die 1938 vor den Nazis nach das mit Lagerzäunen umgebene Gelände der Schweden floh. Gedenkstätte Majdanek. 19
DEN STEINEN EIN GESICHT GEBEN Nele Borchert (16) vom Albert-Schweitzer-Gymnasium hat sich mit den Schicksalen von 15 NS-Verfolgten befasst, deren Namen auf Hamburger Stolpersteinen zu lesen sind. Die Schülerin wollte auf die Menschen hinter den Namen aufmerksam machen und bildete sie deshalb als Porträts neben den Gedenksteinen ab. WAS WAR DER AUSLÖSER FÜR DEIN PROJEKT? In meiner Umgebung in Eimsbüttel und in Win- terhude gibt es viele Stolpersteine. Sie werden ja zur Erinnerung an Opfer der NS-Zeit vor den Häusern verlegt, in denen die Menschen zuletzt gewohnt haben, bevor sie deportiert und umgebracht wurden. Auf den kleinen Messingtafeln sind Namen und Lebensdaten eingraviert. Ich habe mir oft gewünscht, mehr über die Schicksale der Menschen zu erfahren, und fand es schade, dass es dort keine Bilder GAB ES SCHICKSALE, DIE DICH BESONDERS von ihnen gibt. Als dann in einem Kunstkurs BERÜHRT HABEN? an meiner Schule ein Wettbewerb zum Thema Vor allem Schicksale von Kindern oder Jugend- „Spurensuche“ ausgeschrieben wurde, dachte lichen in meinem Alter. Da war zum Beispiel ich, ich könnte mein Interesse für die Stolper- Herbert van Cleef aus Hamburg. Er wurde nur steine mit der Porträtzeichnung verbinden. Ich 16 Jahre alt. Er war der jüngste Sohn des jüdi- habe schon immer gerne Gesichter gezeichnet. schen Ehepaares Julius und Gertrud van Cleef. Daraus entstand die Idee, die Menschen, an Seine Eltern wollten vor den Nazis fliehen und die mit den Stolpersteinen erinnert wird, sicht- in die Niederlande ausreisen, doch sie kamen bar zu machen, indem ich ihre Porträts auf das nur bis zur Grenze. Sie durften nicht einreisen. Straßenpflaster neben die Gedenksteine sprü- 1941 wurden sie nach Minsk deportiert. Ihr he. Sohn Herbert war in den Niederlanden von einer Tante aufgenommen worden, aber 1944 WELCHE MITTEL WAREN NÖTIG, wurde auch er von dort nach Auschwitz depor- UM DEINE IDEE UMZUSETZEN? tiert und ermordet. Ein anderer junger Mann Erst mal habe ich Informationen über die Men- namens Rolf Arno Baruch ist vermutlich auf schen gesammelt. Auf der Internetseite www. dem Todesmarsch von Auschwitz gestorben. stolpersteine-hamburg.de/ sind viele Einzel- Ein Stolperstein mit seinem Namen liegt vor schicksale dokumentiert. Wenn man die Stra- der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude, die ßennamen eingibt, erhält man die Namen der er früher besucht hatte. Menschen, für die in der Straße Steine verlegt wurden, und kann auf ihre Biografien weiter- WIE HAST DU DIE VORLAGEN FÜR klicken. DIE PORTRÄTS ERSTELLT? Für meinVorhaben brauchte ich allerdings auch Als Erstes habe ich die Fotos der Personen, gute Fotos von den betreffenden Personen, da- die ich abbilden wollte, ausgedruckt und mit mit ich sie nachzeichnen konnte. Das schränk- Kohlepapier auf weißem Papier nachgezeich- te die Auswahl etwas ein. Ich habe zwar viele net. Dann habe ich die Bilder auf dem Papier spannende Biografien gelesen, aber oft fehlte nachbearbeitet, Konturen und Schatten ge- ein Bild dazu oder es war in der Qualität nicht setzt, damit das Porträt plastisch wird, und es gut genug, um es nachzuzeichnen. Letztlich schließlich als Schablone ausgeschnitten. Auf 20 habe ich dann 15 Personen ausgesucht. die Freiflächen der Schablonen wollte ich Krei-
AUFGESPRÜHT: NELE BORCHERT ZEIGT DIE GESICHTER ZU DEN NAMEN VON OPFERN DES NS-REGIMES. despray sprühen. Die ersten Versuche habe ich Leute unterwegs, aber an belebten Ecken wie bei uns im Innenhof aber mit Mehl gemacht. der Osterstraße haben Passanten schon mal So konnte ich die Schablonen noch nacharbei- geschaut und nachgefragt, was ich dort mache. ten, damit die Gesichter der Personen gut zu Als ich es ihnen erklärt habe, fanden sie es alle erkennen sind. Auf der Straße habe ich dann gut. Nachdem ich mein Projekt in der Schule mit hellem Kreidespray gearbeitet. Es wirkt vorgestellt hatte, bekam ich auch von Mitschü- wie Graffiti, hält aber bei Regen nur etwa drei lerinnen und Mitschülern positive Rückmel- Wochen, ohne Regen etwas länger. dungen. Sie hatten Porträts in ihren Straßen Ursprünglich hatte ich auch noch die Idee, die entdeckt. Porträts mit einem Projektor als Lichtbilder an Hauswände zu werfen, doch es war zu teuer, WAS BEDEUTET DER BERTINI-PREIS FÜR DICH? ein passendes Gerät dafür auszuleihen, und zu Ursprünglich hatte ich ja Schablonen für drei groß, um es zu transportieren. Personen entworfen und damit am Schulwett- bewerb teilgenommen. Bei dem habe ich auch WOFÜR STEHEN DEINE PORTRÄTS? einen Preis gewonnen und meine Kunstlehre- Ich wollte mit den Porträts noch mehr auf die rin ermutigte mich, an einem weiteren Wettbe- Schicksale der NS-Opfer aufmerksam machen. werb teilzunehmen. Es war dann meine Phi- Meiner Meinung nach sind Gesichter aussage- losophielehrerin, die mir vom BERTINI-Preis kräftiger als Daten, Gedenksteine oder Na- erzählte. Ich wollte sowieso weiter an meinem men. Damit die Leute hinschauen, habe ich Projekt arbeiten und habe es auf 15 Porträts extra eine leuchtende Farbe gewählt. ausgeweitet. Weil sie ja vergänglich sind, hat- te ich sie alle fotografiert. Bilder davon habe WIE HABEN PASSANTEN ich zusammen mit Fotos von den Stolperstei- AUF DEINE SPRÜHAKTION REAGIERT? nen und den Häusern, vor denen sie liegen, Es gab keine negativen Reaktionen, obwohl auf einzelne DIN-A3-Blätter geklebt und als ich das erst ein wenig befürchtet hatte. Einmal Mappe gemeinsam mit einer Projektbeschrei- wegen des Themas und auch wegen der Sprüh- bung beim BERTINI-Preis eingereicht. Dass aktion. Die Dosen für das Kreidespray sehen ich dann gewonnen habe, hat mich sehr über- aus wie die für Graffiti-Spray. Aber für Graffiti, rascht und auch gefreut. Ich finde, dass man die sich nicht mehr so schnell entfernen lassen, die Opfer der NS-Zeit nicht vergessen darf, hätte ich mir eine Genehmigung holen müs- deswegen möchte ich auch in Zukunft mit mei- sen. In manchen Straßen waren nicht so viele nem Projekt weitermachen. 21
NACHRUF AUF GÜNTHER WEDDERIEN In seiner Rede zur 20. Verleihung des Günther Wedderien, geboren am 8. März BERTINI-Preises 2017 hob der damalige Erste 1930 und aufgewachsen in Hamburg-Hohe- Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz hervor, luft, hat sich dieser Verantwortung als Mit- dass die BERTINI-Preisträger „den Blick auf gründer, als Vorstandsvorsitzender und spä- Hamburg erweitert und ihn teilweise korri- ter als Schatzmeister des BERTINI-Preis e.V. giert“ hätten. Weil sie Biografien und Stadt- über zwei Jahrzehnte in besonderer und geschichte recherchiert und Erinnerungen vorbildlicher Weise gestellt. Er hat an den von Zeitzeugen dokumentiert haben. Weil sie finanziellen und juristischen Fundamenten „gegen alte und neue Formen des Rechtsradi- des Preises mitgebaut, der in mehr als 20 kalismus aufgestanden“ sind. Scholz mahnte: Jahren zu einer bedeutenden Auszeichnung „Unsere Verantwortung für Auschwitz bleibt. für junge Menschen in Hamburg herange- 22 Jede Generation muss sich ihr stellen.“ wachsen ist.
Am 3. Januar 2019 ist Günther Wedderien von fragte engagiert nach, wenn Fragen zu den uns gegangen. Wer ihn kennen durfte, weiß: eingereichten Projekten offen geblieben wa- Der Tod war für ihn nicht mit Schrecken ver- ren. Und er übernahm gern die Aufgabe, bei bunden. Die Vorstellung des Todes empfand er der Preisverleihung auf der Bühne im Ernst als ‚segensreich‘ für seine grundtiefe humanis- Deutsch Theater einen der BERTINI-Preise tische Einstellung zum und sein Verhalten im mit einer Laudatio an die jungen Preisträger Leben. Darin traf er sich mit Ralph Giordano zu übergeben. Immer an Projekte, die ihn be- (gestorben 2014), dessen autobiografischer sonders berührt haben. Roman aus der Hitler-Zeit dem BERTINI-Preis Namen und Inhalt gegeben hat. Drei Beispiele: 2008 war es die Recherche der Schüler Marcel Grove und Jörg Marais von der Günther Wedderien kam über sein Engagement Förderschule Pröbenweg, die mit ihrer Klasse bei den Freimaurern zum BERTINI-Preis, de- in Holland Spuren der Besetzung durch die ren Absalom-Stiftung er leitete. Die Wurzeln Nationalsozialisten von 1940 bis 1945 suchten seines Engagements reichen aber viel weiter in und eine Fotoausstellung dazu produzierten. seine Jugend: Er trug nicht den Namen seines 2011 lag ihm die Arbeit eines Schülers des Al- Vaters – der musste vor den Nazis wegen sei- bert-Schweitzer-Gymnasiums am Herzen. Paul nes jüdischen Glaubens fliehen. Er hat ihn nie Kindermann holte das Schicksal der Hambur- kennengelernt. Die dieses bittere Lebensthema ger Lehrerin Yvonne Mewes ins Gedächtnis, umgebenden Fragezeichen haben die Richtung die Sand im Getriebe der Nazi-Verwaltung sein seines Handelns früh vorgezeichnet. Aus sei- wollte und 1945 im KZ Ravensbrück starb, und ner Jugend im 2. Weltkrieg berichtete Günther machte es für den Unterricht greifbar. 2012 zog Wedderien mehrfach, schon als 12-Jähriger ihn ein Film über Esther Bauer an, die Tochter in Hamburgs Bombennächten von der Pflicht der ermordeten Hamburger Jüdin Marie Jo- befreit gewesen zu sein, sich bei Luftangriffen nas. Esther Bauer hatte Konzentrations- und im Bunker aufhalten zu müssen; er gehörte Arbeitslager überlebt. Richard Haufe-Ahmels damals schon zu den Nothelfern – eine große dokumentierte die Erzählung der Zeitzeugin Verantwortung. in New York. In seinem späteren Berufsleben wurde der Sein eigenes inneres Bekenntnis zu den Idea- Maschinenbau-Meister Wedderien von seinem len der Wahrheit, Gerechtigkeit, Treue, Pflicht- Arbeitgeber deutschlandweit überall dort ein- erfüllung, Mildtätigkeit und Menschenzuge- gesetzt, wo alle anderen Lösungsversuche wandtheit hat er uns vorgelebt und sein ganzes fehlgeschlagen waren. Es zeugt von seiner un- Leben darauf ausgerichtet. Und war doch im- endlichen Ausdauer und seinem ebenso großen mer wieder zurückhaltend, fast unsicher, ob er Ideenreichtum, stets praktikable Lösungen ge- nicht durch diese Arbeit „mehr an inneren Wer- funden zu haben. Tugenden, die er zusammen ten gewonnen habe, als ich ihr je werde wieder mit seinem großen Erfahrungsschatz, seiner einbringen können“. Kompassnadel seiner Ar- Lebensklugheit und seiner sprichwörtlichen beit für den BERTINI-Preis könnte dieser Satz Verlässlichkeit und Präzision dorthin mitbrach- gewesen sein, der zu einer seiner Leitlinien te, wo er sich engagierte. Zusammen mit seiner wurde: „Ideale und Visionen kann man Men- persönlichen Demut und Bescheidenheit – er schen nicht aufoktroyieren. Man muss viel- übernahm zwar immer wieder Verantwortung, mehr den Mut haben, sie in jedem einzelnen doch ging es ihm nie um einen Platz in der ers- Menschen wachsen zu lassen.“ ten Reihe. Es waren die Arbeit selbst und deren Ergebnisse, die er gut vollendet sehen wollte. Günther Wedderiens Denkanstöße, seine Beharrlichkeit und auch sein trockener Humor: Günther Wedderien liebte die Diskussionen im Sie haben den BERTINI-Preis geprägt. Kreis der BERTINI-Juroren und des Vorstands, 23
DIE BERTINIS Hörbuchfassung von Ralph Giordano DIE SPREC HER: (ALS RALPH GIORD ANO) BURGH ART KLAUS SNER PATRIC K ABOZE N ERIK SCHÄF FLER ÜTTER ISABEL LA VÉRTE S-SCH ANNE WEBER REGIE: MICHA EL BATZ BENEFIZ-EDITION BERTINIS Eine Kurzfassung des im Jahr 1982 veröffentlichten HÖRBUCH „DIE BERTINIS“: RALPH GIORDANOS LETZTES WERK zung mit der NS-Vergangenheit, eine immer autobiografischen Romans gibt es jetzt als Hörbuch. aktuelle Positionsbestimmung der Mensch- Der Erlös kommt dem BERTINI-Preis e.V. zugute. lichkeit herausfordernd. „Die Bertinis“ hat Giordano in hunderten Lesungen durch die Für Ralph Giordano waren „Die Bertinis“ Republik getragen. Sie waren schließlich auch zeit seines Lebens immer „das Buch“, sein die Initialzündung und namengebend für den Opus magnum, die Geschichte seines Lebens. Hamburger „BERTINI-Preis“, der seit 1999 „Die Bertinis“ erzählen wortgewaltig und immer am 27. Januar, dem Tag der Befrei- sensibel vom Eindringen des Nationalsozia- ung des Konzentrationslagers Auschwitz, an lismus in den Alltag der Hamburger Familie Hamburger Jugendliche vergeben wird. Bertini – Deutsche mit sizilianischen, schwe- dischen und jüdischen Wurzeln. Und von der Im Herbst 2014 bearbeitete Giordano „das beginnenden Ausgrenzung auf dem Spiel- Buch“ noch einmal für eine kompakte Hör- platz, später in der Schule – wegen der jüdi- fassung – es wurde sein letzter abgeschlos- schen Mutter. Dann von der Verfolgung, der sener Text. Denn ein Hörbuch war aus den Folter in den Gestapo-Kellern, zuletzt vom „Bertinis“ in all den Jahren nicht entstan- Unterkriechen und notdürftigen Überleben den. Giordano nahm diese Arbeit auch auf dank einer mutigen Frau in Alsterdorf. Es sich, weil die Einnahmen aus dem Benefiz- wurde ein Bestseller, bald auch verfilmt. Stein Hörbuch das finanzielle Fundament des des Anstoßes für eine neue Auseinanderset- BERTINI-Preises stärken sollten. Entstanden sind zwei CDs. Sprecher der Hörbuchfassung sind: Patrick Abozen, Burghart Klaußner, Erik Schäffler, Isa bella Vértes-Schütter und Anne Weber. Regie führte Michael Batz. Auf einer drit- ten CD ist Ralph Giordanos Stimme in einem NDR-Interview anlässlich seines 90. Geburtstags und mit seiner letzten Rede anlässlich der BERTINI-Preisverleihung am 27. Januar 2014 zu hören. MILLIONEN ZUSCHAUER VERFOLGTEN 1988 DAS SCHICKSAL DER BERTINIS IN DER FÜNFTEILIGEN Die Benefiz-Edition „Die Bertinis“ erhalten FERNSEHSERIE UNTER DER REGIE VON EGON MONK. Sie für 14,90 € im Buchhandel oder unter: www.bertini-preis.de 24
BEWÄHRTE KOOPERATION: DER BERTINI-PREIS UND DEMOKRATISCH HANDELN „Reichsausschusskinder“: 17 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Klosterschule inszenierten ein dokumentarisches Theater- stück, das sich mit dem Euthanasie-Programm Seit 2009 werden Bewerbungen um den in zwei Hamburger Krankenhäusern befasst. BERTINI-Preis an den deutschlandweit aus- Dabei betrachten sie vor allem die Rolle der geschriebenen Wettbewerb DEMOKRATISCH Täter, die trotz staatsanwaltlicher Ermittlun- HANDELN weitergeleitet. Im vergangenen gen und des Nachweises der verübten Morde Jahr waren es sieben Projekte, die auf diesem nie verurteilt wurden. Weg auch überregionale Anerkennung fanden „Erinnerung an das Schicksal russischer und zur LERNSTATT DEMOKRATIE einge- Kriegsgefangener/Zwangsarbeiter in Berge- laden wurden, die im Juni 2018 in Hamburg dorf“: Elf Schülerinnen und Schüler der Stadt- stattfand. teilschule Bergedorf gingen der Frage nach, Ausgezeichnete Hamburger Projekte waren: wie Zwangsarbeiter während der NS-Zeit „Stille Helden“ – ein Namenstuch-Denkmal behandelt wurden. Sie führten Interviews für Menschen, die trotz der Bedrohungen mit Zeitzeugen aus Curslack und Ochsenwer- durch das NS-Regime mitmenschlich handel- der, erhielten über den Volksbund Deutsche ten. 20 Konfirmandinnen und Konfirmanden Kriegsgräberfürsorge Einblicke in Sterbeur- der St.-Michael-Kirche Hamburg-Bergedorf kunden von ehemaligen Zwangsarbeitern auf erinnerten an Menschen, die während der dem Russischen Ehrenfriedhof in Bergedorf. NS-Diktatur selbstlos Mitmenschen vor Ver- Anschließend verfassten sie eine Dokumenta- folgung schützten. tion und informierten auf Gedenkfeiern. „Schatten der Geschichte“ – Erfahrungen des „Damit indigene Kultur, Wissen und Sprache Besuchs in der Gedenkstätte Majdanek, verar- der Ñöñho in Mexiko bewahrt werden“: Fünf beitet in einem Theaterprojekt: 20 Schülerin- Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule nen und Schüler des Lise-Meitner-Gymnasiums Stellingen starteten mit mexikanischen Schü- beschäftigten sich mit der Judenverfolgung im lerinnen und Schülern einer indigenen Schule Nationalsozialismus und besuchten das Kon- ein gemeinsames Kunstprojekt. Sie lebten in zentrationslager Majdanek in Lublin/Polen. Gastfamilien, gestalteten mit den mexikani- Anschließend entwickelten sie ein Theater- schen Schülerinnen und Schülern Wandbilder stück, in dem „anonyme Schatten“ dem Zu- an deren Schule, lernten Vokabeln der Ñöñho- schauer ein Gefühl für die Entmenschlichung Sprache, tauchten in die indigene Kultur ein jüdischer Häftlinge im Lager vermitteln. und gestalteten eine Schulfibel, übersetzten „Gemeinsam spielen in Tirana“ – Spielplatz- sie ins Englische und verteilten 500 Exempla- projekt albanischer und deutscher Jugend- re an mexikanische Familien. licher: Sieben Schülerinnen und Schüler der „Kein deutscher Land“: 19 Schülerinnen und Beruflichen Schule Bautechnik beschäftigten Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums sich mit der schwierigen Lebenssituation von widmeten sich in ihrem Theaterkurs der Suche Roma in Südosteuropa. Sie errichteten ge- nach Heimat und Identität. Auf der Basis ei- meinsam mit albanischen Schülern und wei- ner Umfrage an ihrer Schule, die von vielen teren Projektpartnern im Juni 2017 im Lager Jugendlichen mit Migrationshintergrund be- Shishtufine nahe Tirana einen Spielplatz, der sucht wird, inszenierten sie ein provokantes den dort lebenden Roma inzwischen als Treff- Theaterstück zum Thema „Radikalismus“ und punkt für Bewegung und Spiel dient. führten es sogar in Israel auf. 25
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