Seminar|brief Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart - in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung - Priesterseminar in Stuttgart
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01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 1 Sommer 2019 Seminar|brief Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 2 Die Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart (in eigener Trägerschaft, Über den ohne staatliche Anerkennung) ist eine der drei Priesterbildungsstätten der Chris- Seminarbrief tengemeinschaft. Die Christengemeinschaft ist eine weltweite Bewegung für reli- giöse Erneuerung – in den inneren und äußeren Umgestaltungen unserer Zeit – gegründet für die Menschen, die ein modernes sakramentales Leben suchen. In ihrem Mittelpunkt steht der neue Gottesdienst, die Menschenweihehandlung. Um ihn versammeln sich Menschen in freien Gemeinden. Der Seminarbrief wird von den Studierenden des Priesterseminars für dessen Freunde und Förderer geschrieben. Er richtet sich aber ebenso an Interessierte, die auf diese Weise das Priesterseminar kennenlernen wollen. Unser Ziel ist es, in ihm das Studium und das gemeinsame Leben als Teile der Priesterbildung anschaulich und miterlebbar zu machen. Er erscheint zweimal jährlich und kann vom Sekreta- riat des Priesterseminars bezogen werden. Geleitet wird das Priesterseminar derzeit von Georg Dreißig, Stephan Meyer und Moni Boerman. Weitere Informationen erhalten Sie im Sekretariat oder auf unse- rer Webseite. Freie Hochschule der Christengemeinschaft e.V. in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung Spittlerstraße 15 D-70190 Stuttgart Tel. +49 (0)7 11 / 166 83 10 info@priesterseminar-stuttgart.de www.priesterseminar-stuttgart.de 2
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 3 Grußwort der Redaktion Liebe Leserinnen und Leser des Seminarbriefes! Bewegung und Veränderung sind fester Bestandteil geweihten PriesterInnen Anastasiia Mazur, Anna des Seminarlebens. Nicht nur, dass immer wieder Hofer und Nils Cooper trotz des sicher fordernden StudentInnen kommen und gehen, jetzt wird sich Einlebens in ihren Gemeinden dazu gekommen sind, auch die Seminarleitung zum Beginn des nächsten uns von ihren ersten Eindrücken in ihrem neuen Studienjahrs verändern. Auch unter den Mitarbei- Beruf zu berichten. terInnen des Seminars und im Beirat der Seminarleitung haben sich Veränderungen vollzo- Was sich im Seminar ereignet hat, darüber schreiben gen, und so kann der Eindruck entstehen, dass dieser unter anderem Isabel Chotsourian und Bernhard Sommer eine Zeit des Umbruchs ist. In solchen Stockert in einem Artikel über die diesjährige Zeiten mag es sich lohnen, ganz grundlegend nach BildungsART. Daniela Grieder fasst zusammen, was „Glauben und Wissen“ als zwei Ankerpunkten im wir bei einem unserer Seminarabende zum Thema inneren Leben zu fragen. Wo finde ich innerlich Halt, „5G“ gehört haben und die Studierenden Lea was gibt mir Sicherheit? Breckenfelder und Santiago Corigliano schreiben über ihre Jahresprojekte, die sie gerade in Vorträgen Diese Frage scheint heutzutage viele Menschen zu der Seminargemeinschaft vorgestellt haben. bewegen. Der Glaube, verstanden als die Abwesen- heit von Wissen, scheint nicht mehr zeitgemäß. Und Anlässlich des Erscheinens der Chronik „Werden und doch bleibt eine Sehnsucht – nach dem Geistigen, Wirken der von Tessin Stiftungen” von Prof Dr. Ulrich nach Wiederverbindung, letztlich nach Religion. Wir Meyer, wollen wir uns in diesem Seminarbrief bei der versuchen, durch unser Studium und die Ausein- Tessin-Stiftung und deren Gründerinnen Marion und andersetzung mit seinen Inhalten eine Brücke zu Ingeborg von Tessin bedanken, die das Seminar über bauen zwischen Glauben und Wissen; zu zeigen, viele Jahre großzügig unterstützt haben. dass der Glaube eine tätige Kraft werden kann, die uns hilft, die Welt immer tiefer zu verstehen. Die Mit den besten Wünschen für einen erfüllten und Studentinnen Isabel Chotsourian und Maria Laura de lichtvollen Sommer, San Martin haben zu diesem Thema Artikel verfasst. Ihre Redaktion des Seminarbriefes Auch in der Rubrik „Wege zum Seminar“ taucht die Frage nach der Aktualität des Glaubens auf, denn die Isabel Chotsourian, Nathanael Becker, Lea Entscheidung am Priesterseminar zu studieren ist Breckenfelder, Rosa Hallqvist, Jan Kirdorf, unmittelbar mit der Frage verbunden, ob man es für Bernhard Stockert möglich hält, dass Religion im Leben eines modernen Menschen eine ernsthafte Rolle spielen kann. Rosa Hallqvist und Bernhard Stockert lassen uns an ihrern ganz persönlichen Auseinandersetzungen mit diesen Fragen teilhaben. Im Februar/März diesen Jahres fanden die Priester- weihen in Stuttgart, Hamburg und Spring Valley, New York statt. Wir freuen uns, dass die dort 3
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 4 Inhalt Grußwort der Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Veränderungen am Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Wege zum Seminar Studierende des 3. Trimesters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Unterwegs im Labyrinth des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Viele Fragen auf dem Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Studierende des 6. Trimesters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Priester werden – erste Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 „Priesterwerden ist herrlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Glauben und Wissen Credo ut intelligam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Glaube ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Lernen Referate und Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kursprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Vergebung: Die Überwindung einer Kluft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 „Die Gesundheit ist zwar nicht alles…“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Bericht aus der Wortwerkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Begegnung 5G – Was können wir tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Wie schaffen wir soziale Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Dank an Ingeborg und Marion von Tessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Inneres Kompostieren der Studieninhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Grußwort der Seminarleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Hinweis zum Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 5 Veränderungen am Seminar Liebe Leserinnen und Leser des Seminarbriefs, Zugleich begleiten unsere guten Wünsche für den Fortgang der Arbeit diejenigen, die nun in diese wich- wieder einmal ist die Zeit fur eine Veränderung am tige Aufgabe innerhalb unserer Christengemeinschaft Priesterseminar gekommen. Nachdem es in den ver- eintreten. gangenen Jahren gravierende Neubesetzungen in der Führung der Hauswirtschaft und des Sekretariats ge- Für den Siebenerkreis geben hat, betrifft es diesmal die Seminarleitung. Christward Kröner Zum Ende des laufenden Studienjahres wird Georg Dreißig (der seit 2006 in der Seminarleitung tätig ist) aus Altersgründen seine Aufgabe in jüngere Hände Nach 13 Jahren als „Seminarärztin“ wird Dr. Ursula übergeben. Auch Stephan Meyer wird zeitgleich seine Schad nach dem Sommertrimester die Studierenden Aufgabe (die er 2012 übernommen hat) zugunsten nicht mehr weiter gesundheitlich und konstitutionell der Verjüngung und des Bildens einer neuen Kon- beraten und betreuen. Frau Dr. Schad hat nach ihrem stellation abgeben und dadurch auch die Belastung in „offiziellen Ruhestand“ viele Jahre ihre Kräfte und der Doppelfunktion (Siebenerkreis und Seminarlei- ihre Erfahrung der Priesterausbildung zur Verfügung tung) beenden können. Schließlich wird dann auch gestellt, indem sie zwei Mal im Monat im dritten Monika Boerman, die 2017 dankenswerter Weise die Stock ihre kleine Praxis öffnete. Aufgabe übernommen hatte, aus der Verantwortung Ein herzliches Dankeschön von Seiten der Seminar- ausscheiden. So kann ein jüngeres Team – Mariano leitung für die kompetente, liebevolle Betreuung und Kasanetz aus Buenos Aires und Xenia Medvedeva aus Begleitung der Studierenden und Mitarbeiter*innen der Ukraine (seit ihrer Weihe 2008 in deutschen und die ersprießliche und konstruktive Zusammen- Gemeinden arbeitend) die Leitung ab dem 1. Septem- arbeit mit Ihnen, liebe Frau Dr. Schad. ber übernehmen. Die neuen Seminarleiter werden sich im folgenden Seminarbrief vorstellen. Wer die Jede Besprechung mit Ihnen war auf besondere Weise dritte Stelle in der Seminarleitung übernehmen wird, fördernd und erhellend! ist derzeit noch offen. Dies soll im Gespräch des Wir wünschen Ihnen alles Gute! Siebenerkreises mit den neuen Leitern entschieden werden. Eine Überführung in der Seminarverant- Für die Seminarleitung, Moni Boerman wortung wird es insofern geben, als Georg Dreißig und Stephan Meyer noch ein letztes Mal gemeinsam die Durchführung der Weihevorbereitung bis Ende Wir verabschieden unsere liebe Köchin Dorota Februar 2020 übernehmen werden. Monika Boerman Stefanowicz, die seit April 2002 in der Hauswirtschaft wird dem Seminar als Sprachgestalterin weiterhin tätig war. Die Studierenden danken für die gute Ver- verbunden bleiben. pflegung und die liebevolle Begleitung und Anteil- nahme an unserem Alltag. Alles Gute für die kom- Allen drei bisherigen Verantwortungsträgern sei für mende Zeit! Ihren großen Einsatz und die durch ihr Wirken erfolg- Gleichzeitig begrüßen wir Nina Roth, die seit Februar te Weiterentwicklung des Seminars sehr herzlich ge- in der Hauswirtschaft mitarbeitet. dankt. Die Seminargemeinschaft 5
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 6 Wege zum Seminar Studierende des 3. Trimesters Von links nach rechts Isabel Chotsourian (2000, Argentinien) Daniela Grieder (1965, Schweiz) Bernhard Stockert (1972, Österreich) María Laura de San Martín (1985, Argentinien) Rosa Kristina Hallqvist (1998, Schweden) 6
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 7 Wege zum Seminar Die Studierenden des 3. Trimesters Die Studiengemeinschaft am Priesterseminar ist sehr Die Zeit, die darauf folgte, stand ganz im Zeichen der beweglich und sieht in jedem Trimester ein wenig Priesterweihen, die in Stuttgart, Hamburg und anders aus. Diese Vielfalt hat uns bereichert und Spring Valley gefeiert wurden. Die Stimmung um deutlich sichtbar gemacht, dass jeder Mensch eine den Weihekurs wurde mit jedem Tag dichter, emp- besondere Farbe in die Gruppe einbringt. Aus den findlicher und erwartungsvoller, und das Seminar Farben der Einzelnen ergibt sich dann das gemeinsa- wurde jeden Tag belebter durch die vielen Gäste, die me Bild der Gruppe. Auch im ersten Studienjahr hat für die Weihe ans Seminar kamen. Für einige von uns sich die Gruppe mit jedem Trimester verändert und war es das erste Mal, dass wir diesem Geschehen dadurch verschiedene Stimmungen und Färbungen beiwohnten und es hinterließ einen tiefen Eindruck gezeigt. in uns. Das erste Trimester haben Aura und Topias Aalto mit Jetzt ist es, nach dieser bewegenden Zeit, wieder uns verbracht und mit ihrem finnischen Gemüt ruhiger am Seminar geworden. Neben dem regulären bereichert. Besonders prägend war Aura Aaltos Seminarbetrieb haben wir mit der Entwicklung des außerordentliche künstlerische Fähigkeit und Topias Kabaretts begonnen, was einerseits eine Zeit des Aaltos tiefes Wissen über die Geschichte der Lachens, der freien Kreativität, andererseits für man- Sprache. Nach dem ersten Trimester haben sie sich che von uns eine neue und herausfordernde auf andere Wege begeben. Antje Schmidt ist im Erfahrung ist. zweiten Trimester zu uns gestoßen und ein Stück des Währenddessen rückt nun, mit schnellen Schritten, Weges mit uns gegangen. Sie hat die Gruppe mit der Sommer näher, und jeden von uns begleitet und vielen tiefgreifenden Fragen und neuen Ideen berei- bewegt innerlich die Frage, wie der persönliche Weg chert. Wir wünschen allen dreien von Herzen alles weitergeht. Die erste Frage ist, wie die Wochen der Gute für ihr weiteres Leben und hoffen auf Sommerferien gefüllt werden und schließlich stellt Begegnungen in der Zukunft! sich auch jedem die Frage, ob er im Herbst den ein- Das letzte Trimester des ersten Jahres haben wir als geschlagenen Weg am Priesterseminar fortsetzen kleine Studiengruppe zu fünft begonnen. will oder ob es woanders weitergeht. Es ist viel geschehen seitdem wir im letzten Herbst In jedem Fall sind wir alle sehr dankbar für das, was unser Studium begonnen haben. Sowohl innerhalb wir am Priesterseminar erleben und lernen durften, des Studiums als auch in uns selbst hat sich viel ver- und gespannt, wie sich dieses besondere Jahr auf ändert und geklärt. das weitere Leben auswirken wird. Tief bewegt hat uns alle, im Januar Referate über Biografien halten zu dürfen. Uns wurden beeindruk- Für das dritte Trimester, Bernhard Stockert kende Persönlichkeiten wie zum Beispiel Hildegard von Bingen, Simone Weil und Ita Wegman zugeteilt, mit denen wir uns fünf Wochen beschäftigt haben, um dann in Form eines Vortrags das Leben dieser Menschen vorzustellen. Sie konnten uns zu Vor- bildern werden, die uns wie Paten auf unserem Weg am Priesterseminar begleiten. 7
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 8 Wege zum Seminar Unterwegs im Labyrinth des Lebens Bernhard Stockert | 3. Trimester Ziemlich genau vor einem Jahr bin ich zum allerers- ten Mal den Weg zum Priesterseminar in der Spittler- straße angereist. Es fand da die Offene Woche statt, an der ich drei Tage teilnehmen konnte. Ich erinnere mich noch genau, dass ich wegen der Zeitknappheit sogar ein Taxi vom Hauptbahnhof Stuttgart nahm. Der Taxifahrer fuhr erstmal in die falsche Richtung los und eröffnete mir dann, dass dies erst sein zweiter Arbeitstag als Chauffeur sei und er sich noch nicht so gut auskenne. Ich fand das sehr menschlich und sympathisch und irgendwie hatte das etwas Beruhigendes an sich – schließlich war ja auch ich etwas aufgeregt bezüglich meiner Ankunft im Priesterseminar. Damit wäre rein äußerlich und in aller Kürze mein (erster) Weg zum Seminar beschrieben – viel interes- santer jedoch scheinen wohl die im Verborgenen lie- genden Motive, Antriebe und Impulse zu sein. Wenn ich gleichsam wie aus der Vogelperspektive auf mein Leben zurück- beziehungsweise herunter-schaue, dann fällt mir zuallererst das Unterwegssein - als eine Art beständiger innerer und äußerer Suche – auf, das sich wie ein roter Faden, wie ein Grund- muster durch mein Leben zieht. Im Unterwegssein sagen mitbekommen, dass da mit dem Rücken zur blitzen einzelne, „zufällige“, vielleicht schicksalhafte Gemeinde zelebriert wird. Das reichte für mich Begegnungen mit Menschen auf, die dann auf einmal damals aus, um mich nicht näher damit zu beschäf- richtungsweisend für meinen weiteren Weg wurden. tigen. Wie die Begegnung mit einem jungen Demeterland- wirt aus Deutschland in einem Ashram in Südindien, Ich ging dann nach Regensburg um Soziale Arbeit zu die offenbar so tief und nachhaltig auf mich wirkte, studieren, tauchte in eine ganz andere Welt ein und dass ich knapp ein Jahr später meine sieben Sachen kehrte der Landwirtschaft und auch der Anthropo- in Wien zusammenpackte und in der Freien Landbau- sophie erstmal wieder den Rücken zu. Ich arbeitete in schule Bodensee die Lehre zum Landwirt machte. der Umwelt- und Kulturpädagogik mit interessanten Dort lernte ich zum ersten Mal die Anthroposophie Projekten für Kinder und Jugendliche und wendete kennen. Für die Christengemeinschaft war damals mich intensiv dem Tanz, genauer gesagt der Kontakt- offenbar noch nicht der richtige Zeitpunkt für mich improvisation, zu und begann dann auch selbst diese (ich stand der Kirche und allem, was annähernd wunderbare Tanzform zu unterrichten. Ich lernte in damit zu tun hatte, sehr distanziert gegenüber). Von dieser Zeit auch die Tiefenökologie kennen und war der Christengemeinschaft hatte ich nur durch Hören- Teil einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam die 8
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 9 Wege zum Seminar „Tiefendimension“ der ökologischen Krise erforschte. Letztlich war es wieder eine „zufällige“ Begegnung, Doch bei all dem Schönen, Positiven und Bereichern- diesmal mit einem Priester der Christengemeinschaft, den spürte ich dennoch unterschwellig eine Art Un- die mir schließlich den Weg nach Stuttgart ins behagen und Unzufriedenheit; eine Sehnsucht. Seminar wies. Das Besondere daran war, dass seine Sehnsucht wonach? Das konnte ich gar nicht so klar Worte in mir auf eine Offenheit, Bereitschaft und benennen. Am ehesten möchte ich sagen, dass sie Resonanz trafen, die mich selbst überraschte, hatte spiritueller, geistiger Art war. Der große Blick und die ich doch davor noch nie vom Priesterseminar gehört großen Sinnzusammenhänge des Lebens fehlten mir. und noch weniger Gedanken in diese Richtung in mir Ich „erinnerte“ mich an die Anthroposophie und bewegt. begann in dieser Zeit vermehrt anthroposophische Sekundärliteratur zu allen möglichen Themen zu So entsteht in mir abschließend das Bild des Laby- lesen. Dabei stieß ich im Leben und Werk von Rudolf rinths als Gleichnis für das Unterwegssein auf dem Steiner immer wieder auf die Bedeutung des Lebensweg; mal weiter weg vom Zentrum, mal näher Christentums und des Christus. Das erweckte mein dran, aber letztlich auf geheimnisvolle Art und Weise Interesse! Da ich von den Kulturimpulsen Rudolf geleitet, begleitet und geführt. Steiners (Landwirtschaft, Medizin, Pädagogik) positiv angetan war, musste doch auch da was dran sein! Ich „Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben begann Bücher über Christus, das Vaterunser u.a. zu muss man es aber vorwärts.“ lesen, besuchte Vorträge und fasste dann auch den Søren Kierkegaard Mut, eine Menschenweihehandlung zu besuchen, um mir selbst einen Eindruck davon zu verschaffen. Es war gar nicht so schlimm wie ich befürchtete! Im Gegenteil – ich konnte etwas sehr Ruhiges, Klares, Ordnendes und Bewusstes in der Sprache, den Bewegungen, der äußeren Form wahrnehmen. Das hat mich sehr berührt und angesprochen. Dennoch erforderten es die damaligen Lebensumstände, dass ich wieder einmal alles los- und hinter mir zurücklassen musste, um mich innerlich wie äußerlich von Neuem auf den Weg zu machen. Ich machte eine Sabbatzeit, in der ich an ver- schiedenen Orten in Deutschland, Österreich und der Schweiz in spirituellen Seminarhäusern mitlebte und -arbeitete und für mich klärende und wegweisende Erfahrungen machte. 9
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 10 Wege zum Seminar Viele Fragen auf dem Weg Rosa Hallqvist | 3. Trimester Bist du nie des Nachts durch Wald gegangen, Erinnerung geblieben, bei denen eine Kerze im Kreis Wo du deinen eignen Fuß nicht sahst? herum wanderte und jeder erzählen durfte, was für ihn Doch ein Wissen überwand dein Bangen: an diesem Tag besonders schön war. Dabei entstand ein Dich führt der Weg. bunter Strauß des gemeinsam erlebten Tages, in dem jeder einzelne mit seinem Beitrag aufblühen konnte und Hält dich Leid und Trübsal nie umfangen, Dass du zitterst welchem Ziel du nahst? von allen gesehen wurde. Da bekam man einen feinen Doch ein Wissen übermannt dein Bangen: Eindruck der Reisegemeinschaft, den man jeden Abend Dich führt dein Weg. mit in den Schlaf nehmen konnte und durch den man Christian Morgenstern die Menschen gut kennenlernte. Auf diesen Reisen ent- standen tiefe Freundschaften und die Erlebnisse strahl- Ein Jahr nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, ten noch lange in meinen Alltag hinein. entschied ich mich dafür, mich am Priesterseminar zu bewerben. Bis dahin hatte ich an vielen sozialen Bei der Organisation von verschiedenen Tagungen und Projekten teilgenommen und damit verbunden Reisen Kinderfreizeiten erlebte ich, dass eine Gemeinschaft nach Madagaskar, Schweden und Russland gemacht, in etwas schaffen kann. Zum Beispiel war die Kulturfreizeit einer Pizzeria gearbeitet und für eine kurze Zeit Euryth- in Dortmund, an der bis zu 80 Flüchtlingskinder teilnah- mie studiert. Die Zeit nach der Schule war von großer men, ein Projekt, bei dem wir uns kaum vorstellen konn- Unsicherheit geprägt, denn die Frage, was ich mit mei- ten, wie es gelingen sollte. Durch das gemeinsame nem Leben anfangen wollte, drängte sich mir auf und Arbeiten an dem, was aus den gemeinsamen Idealen ich hatte Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. geschöpft wurde, entstand, wie ein starkes Netz, eine Das Gedicht über den Weg von Christian Morgenstern innere Verbindung zwischen den Menschen: Eine echte hat mich in dieser Zeit sehr berührt und mir geholfen, Gemeinschaft. Durch diese Erfahrungen gewann ich die Vertrauen zu haben. Ich begann, die Entscheidung ans Sicherheit, dass das Wirken der Christengemeinschaft Priesterseminar zu gehen, die sich für mich wie ein ent- etwas Gutes zur Entwicklung der Menschheit beitragen ferntes Ziel angefühlt hatte, anders zu sehen: Als eine kann! Etappe meines Weges, die sich für die nächste Zeit rich- tig anfühlte. Es war außerdem wichtig für mich, mit Menschen zu sprechen, die am Priesterseminar studiert hatten, Die Gründe, warum ich am Priesterseminar studieren sowohl mit Priestern als auch mit Menschen, die später wollte, waren vielfältig und es ist gar nicht leicht zu einen anderen Beruf ergriffen hatten. An vielen von bestimmen, was ausschlaggebend war, da sich der Wille ihnen bemerkte ich eine warme Ausstrahlung und eine dafür in den letzten Jahren durch verschiedene Erfah- besondere Haltung dem Leben gegenüber: Sie ergriffen rungen langsam aufgebaut hat. ihren Beruf mit Ernst und Freude und man merkte ihnen an, dass ihnen der Beruf wirklich am Herzen lag. Die Erfahrungen, die ich als Jugendliche durch die Ich wollte am Priesterseminar studieren, um zu verste- Christengemeinschaft machte, bildeten die Grundlage. hen, welche Gedanken hinter dem steckten, was ich in Die Jugendreisen waren wunderbare Erlebnisse: Wan- meiner Jugend und an den Anthroposophen und derungen durch fremde Natur, Singen am Lagerfeuer, Priestern erlebt hatte und ich wollte herausfinden, ob lange Busfahrten, Begegnungen mit Menschen aus ich mich auch beruflich für die Christengemeinschaft anderen Kulturen, Baden im eiskalten Wasser, tiefe und die Anthroposophie einsetzen wollte. Gespräche. Besonders sind mir die Abendkreise in 10
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 11 Wege zum Seminar Weile und aus einem gewissen Abstand merkt man, dass sich etwas in einem verändert hat. Diese Studieninhalte bieten die Möglichkeit, den inneren, menschlichen Kern zu stärken. Es hat mich sehr berührt, miterleben zu dürfen, wie die diesjährige Weihegruppe Schritt für Schritt auf das Priestertum zuging. Dadurch hat sich meine Vorstellung davon, was es wirklich bedeutet Priester zu werden, kon- kretisiert. Jetzt ist mir noch mehr als vorher bewusst, dass es eine Lebensentscheidung ist, der man gewach- sen sein muss. Gleichzeitig muss man aber auch kein perfekter Alleskönner sein. Man braucht, denke ich, viel innere Kraft um wirklich „Ja” sagen zu können, zu dieser schönen, anspruchsvollen und verbindlichen Aufgabe. Jetzt bin ich mitten im Studium und immer wieder Werde ich durch dieses Studium den frage ich mich, was ich lernen will. Herausforderungen des Lebens gewachsener? Mir ist wichtig, dass ich durch meine Ausbildung ein In den Trimesterferien habe ich in einem Altersheim als Mensch werde, der erkennt, was die Welt braucht und Pflegehelferin gearbeitet und wurde mit schweren fähig ist, etwas zu ihrer Entwicklung beizutragen. Fragen konfrontiert: Ich wurde von einer an Schmerzen leidenden Frau gebeten, ihr etwas Tröstliches zu sagen. Was lerne ich am Priesterseminar? Es gab einen Mann, der jeden Morgen sagte, dass er Am Priesterseminar ist zunächst nicht die Frage, was sterben wolle. Auch einige andere Menschen erlebten man im Leben tut, ob man Priester wird oder nicht, son- ihren Alltag im Altersheim als sinnlos und leer. Da stan- dern wie man es tut. Im Studium kann man üben, wie den große Fragen im Raum: Wohin gehe ich, wenn ich man, unabhängig von der Aufgabe, die sich einem stellt, sterbe? Wofür lebe ich? Ich denke, es gibt für solche dem Leben wach entgegentritt. Fragen kein richtig oder falsch. Vielmehr müssen sich im Unser Menschenbild kann sich durch die Inhalte in viele Gespräch, im Sprechen und Zuhören, Antworten finden. Richtungen entfalten. Im Schnelldurchlauf erhalten wir, In diesen Situationen habe ich in mich hineingehört und im Lichte der Anthroposophie, einen Überblick über nach etwas gesucht, das für mich persönlich wesentlich Geschichte, Literatur, Naturwissenschaft, Philosophie, ist und vielleicht diesen Menschen auch berühren könn- Medizin und Religion: eine erweiterte allgemeine Men- te. Das war dann oft ein Gedicht oder ein Gebet, manch- schenbildung, die hilft, sich selbst in den Zusammen- mal auch einfach ein langer Moment der Stille. Manch- hang der Welt einzuordnen. mal ist es mir gelungen, dem Menschen zu begegnen, Die künstlerischen Fächer, die gemeinsamen Projekte, manchmal nicht. das Meditieren, die Evangelienarbeit und die tägliche Menschenweihehandlung haben eine rätselhafte Wir- Ich würde den Menschen gerne Vertrauen in das Leben kung. Ich denke, wir lernen sehr viel auf diesem Weg, vermitteln können und ein Gefühl dafür bekommen, doch es ist kein intellektuelles Wissen, das man abrufen welches Handeln oder welches Wort einer Situation kann, sondern es wirkt in einem Bereich, in dem wir uns gemäß ist. Das ist es, wofür ich hier am Seminar ver- dessen nicht bewusst sind: in der Nacht. Erst nach einer suche aufmerksam zu werden. 11
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 12 Wege zum Seminar Studierende des 6. Trimesters von links nach rechts Santiago Corigliano (1995, Argentinien) Andrii Moisieiev (1982, Ukraine) Nathanael Becker (1993, Deutschland/Frankreich) Gabriela Halmagean (1980, Rumänien) Lea-Solveigh Breckenfelder (1997, Deutschland) Jan Kirdorf (1990, Deutschland) 12
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 13 Wege zum Seminar Abschied und Aufbruch Ganz plötzlich ist es da: das vorläufige Ende unseres die gemeinsamen Aufgaben, die es am Seminar zu gemeinsamen Weges hier am Seminar. Gerade noch, erledigen gibt, bringen uns näher zusammen: da wir so mag es scheinen, haben wir uns in der ersten so wenige Studierende sind, ist fast jeder an allen Vorstellungsrunde kennengelernt und schon sind wir Aufgaben beteiligt. dabei wieder aufzubrechen. Wir blicken auf zwei Besonders schöne Momente haben wir Studierende sehr abwechslungsreiche und bewegte Jahre zurück, erlebt, als jeder von uns sein Projekt, ein Thema mit in denen wir uns selbst immer besser kennengelernt dem er sich seit Beginn des zweiten Jahres beschäf- haben. Der Blick auf die eigene Aufgabe ist klarer tigt hat, vorstellte. Da durften wir einen tiefen Blick geworden, manche Frage hat sich geklärt und viele in die Seele des Anderen werfen und erfahren, was sind neu aufgetreten. Durch die Inhalte des Stu- sein Herzensanliegen ist. diums hindurch wird langsam der ganz persönliche Wir blicken alle gespannt auf das kommende Stu- Bezug zur Christengemeinschaft deutlich, der für dienjahr, das uns an unsere Praktikumsorte führen jeden von uns eine andere Gestalt hat. wird. Gemeinsam ist uns die Lust aufs Tun, der Auch unser Trimester als kleine Gemeinschaft kennt Wunsch, nach der Studienzeit in die Praxis zu kom- sich jetzt besser. Von den zwölf Menschen, mit men und unter Beweis zu stellen, dass das Studium denen wir im Herbst 2017 angefangen haben, sind am Priesterseminar nicht lebensfremd, sondern ganz sechs geblieben. Umso enger sind wir zusammenge- im Gegenteil lebenspraktisch macht. rückt. An der Aufgabe, uns als Gruppe immer neu zu finden, haben wir alle viel lernen können. Und auch Für das sechste Trimester, Jan Kirdorf 13
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 14 Wege zum Seminar Priester werden – erste Erfahrungen Anastasiia Mazur | Priesterin in Bremen Wie verändert sich das Leben nach der Priesterweihe? Als Studierende am Priesterseminar versuchten wir manchmal, uns das vorzustellen. Wir redeten auch mit Menschen, die diese Veränderung schon durchge- macht hatten. Und oft hörte ich dann: „Nach der Priesterweihe wird man einsam“. Am Seminar werden die Studenten und Weihekandidaten begleitet, vorbe- reitet und getragen. Noch nie habe ich erlebt, dass so viel Kraft und Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe einzelner Menschen konzentriert wird, wie in diesen Jahren am Seminar und besonders in der Zeit der Vorbereitung auf die Weihe. Und nun sind wir geweiht, und wir stehen allein mit neuen Aufgaben und neuer Verantwortung in der Welt. Richtung Norden, was ich wahrscheinlich nie von mir aus gemacht hätte. Ich verließ meine Freunde, mit „Nach der Priesterweihe wird man einsam.“ denen ich all meine Freuden und Leiden teilte. Und ich Das stimmt. Und das stimmt auch nicht. Die letzten verabschiedete die glückliche Zeit des Studierens, in Jahre lebte ich am Priesterseminar. Äußerlich gesehen der ich lernen, ausprobieren, Fehler machen konnte, … heißt es zunächst: ein kleines Studentenzimmer, wo und all das im Verborgenen, unter einem liebevollen man nicht husten kann, ohne das es mindestens zwei Blick der Lehrer, die immer bereit waren zu korrigieren Nachbarn hören; über viele Monate hindurch eine und zu helfen. gemeinsame Küche, wo man nach dem Essen natür- Jetzt bin ich da, wo alles fremd sein sollte: in Bremen, lich keine Sachen stehen lassen soll, und wo man nie wo das Wetter mich prüft, ob ich wirklich standhaft alleine sein kann; Leben mit verschiedensten Men- bin, wo ich keinen Menschen kannte, und wo ich sel- schen, die einem so nah werden, dass man das kaum ber vollverantwortlich priesterlich wirken soll. Und ich aushalten und gleichzeitig nicht genug schätzen bin hier zu Hause. Ich lerne Menschen kennen und kann; und natürlich das unerlässliche Lernen, Werden, nach wenigen Tagen habe ich das Gefühl, dass wir uns Sich-Verwandeln unter treuer Begleitung derer, die schon ewig kennen. Ich liebe diese Stadt, die nach dieses Werden sich selber zur Aufgabe gemacht dem Winterschlaf mit mir zusammen auflebt. Und das haben. Brauchte man Hilfe, so reichte es manchmal, Schönste ist, dass ich bei all den neuen unbekannten nur laut daran zu denken, da war die Hilfe schon da. Aufgaben nicht alleine bin. Ich bin keine Studentin All diese Einzelheiten, die an und für sich sehr schwie- mehr und habe nicht meine Lehrer um mich, aber die rig sein können, bildeten ein wunderbares Ganzes. Wir liebevollen Augen meiner neuen Kollegen und meiner waren wie die Blättchen in der Löwenzahnblüte, ganz ersten Gemeinde schauen mit Vertrauen und eng beieinander und voneinander getragen. Und nun Zuversicht auf mich. Das Leben nach der Weihe ist sind die einzelnen Samen in die Welt verweht. Keiner ganz anders, als ich mir es hätte vorstellen können. ist mehr so nah. Vor diesem Alleinsein habe ich mich Und ich bin froh darüber. gefürchtet. Umso überraschender ist es für mich, wie Denn was ist schöner, als eine Welt zu entdecken, sehr diese große Änderung in meinem Leben sich wie von der man nichts wusste, und dabei festzustellen, ein Ankommen zu Hause anfühlt. Auf einmal zog ich dass es Heimat ist? 14
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 15 Wege zum Seminar „Priesterwerden ist herrlich“ Nils Cooper | Priester in Berlin-Wilmersdorf Die tiefen Erlebnisse der Angelobung und der dass von mir Segens- Priesterweihe liegen gerade einmal drei Monate reiches ausgehen kann zurück, aber es erscheint mir beim Zurückblicken und nicht Floskelhaftes wesentlich länger, so viel ist seitdem geschehen. und Abgegucktes? Pries- terwerden, das sei hier „Sie kommen in die Stadt, deutlich ausgesprochen, in der 150.000 Linden stehen.“ bringt in Bewegung! Als Christward Kröner diesen Satz während der Jeden Tag wachse ich ein Entsendungsfeier sagte, wusste ich: Berlin! Ich bin wenig mehr hinein. Und also in die Gemeinde entsandt, in der ich vor fast 24 manchmal werde ich auch Jahren als ganz junger Mann die Pfingsttagung 1996 ein gutes Stück hineinge- mitorganisiert habe. Und ich freue mich jeden Tag stoßen. Gerade in den darüber! kostbaren Begegnungen Meine Kollegen und die Gemeinde haben mir einen so mit einzelnen Menschen herzlichen Empfang bereitet, dass es sehr einfach war, erfahre ich, was für einem hier anzukommen und zu beginnen. breiten Feld an Heraus- Berlin ist eine große Stadt, und die Gemeinde Berlin- forderungen wir Menschen Wilmersdorf ist eine große Gemeinde. Wir arbeiten heute ausgesetzt sind. Für hier zu viert und werden von zwei emeritierten mich sind diese Begeg- Kollegen und dem Lenker Andreas von Wehren dabei nungen, das Zuhören, unterstützt. Und, wie es sich für das Leben in der Beschweigen, Fragen und Großstadt gehört, springt man rein und fängt an und Wahrnehmen die Momente, in denen die Größe und schaut, wo die Aufgaben liegen und was auf einen die Möglichkeiten des Menschen, auch durch die zukommt. Und das ist eine Menge! Zelebrieren, scheinbar schwierigsten Situationen hindurch, erahn- Bestatten, Unterrichten, Seelsorge, Besuche und seit bar werden. Ich bin dafür sehr dankbar. dieser Woche auch 23 Konfirmanden, die ich auf die Und dann gibt es das Alleinsein mit dem Gehörten Konfirmation im kommenden Jahr vorbereiten darf. und Anvertrauten, die Stunden mit dem Brevier, den Beeindruckt und sehr froh bin ich über den offenen Kampf um die Sonntagspredigt und die Sorgen, etwas und sehr vertrauensvollen Stil der Zusammenarbeit im falsch gemacht oder vergessen zu haben, die Suche Kollegium, aus dem große Sicherheit und Lust auf die nach dem eigenen Klang und das Ringen mit den Arbeit erwächst. eigenen Schwächen und Fragen. Pfarrerwerden ist In unserer Krypta komme ich ziemlich häufig zum herrlich – und nichts für schwache Nerven. Zelebrieren und lausche jedes Mal etwas mehr in die Worte der Weihehandlung hinein. Daraus erwachsen Mit großer Dankbarkeit blicke ich auf die Zeit am Fragen an das eigene Werden, an die neue Aufgabe Seminar zurück und danke auch den Lesern des und an das eigene Sein. Und zugleich kommt mir auch Seminarbriefes, die durch ihre Zuwendungen genau von dort und aus den Begegnungen mit der Priesterwerden immer wieder möglich machen. Ich Gemeinde die Kraft zu, Fragen zu stellen und in hoffe, viel von dem Erhaltenen im Laufe meines Entwicklung zu kommen. Wie kann ich immer wirkli- Priesterseins zurückgeben zu können! cher ein Diener des Christus werden? Wie denke und fühle ich mich so in die Substanz unserer Arbeit ein, 15
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 16 Wege zum Seminar Erste Schritte Anna Hofer | Priester in Köln-Ost Zwei Monate sind es nur. Es kommt mir schon sehr Regionalsynode. Und dann kamen die Fragen. Nicht viel länger vor, manchmal als wäre ich schon immer die Fragen von den Menschen an mich, aber meine hier, als hätte ich eine Ahnenreihe an Erfahrungen. Fragen an alles. Wer macht den Garten? Wer die Und doch ist eigentlich alles noch so neu, frisch und Blumen am Altar? Wer macht das Büro? Und bald steht unter dem Stern des Anfangs. auch schon: wer macht das Programm? Mit der Unterstützung der Menschen hier habe ich ein Ich bin jetzt Priester der Christengemeinschaft und Programm gemacht. Mein erstes Gemeindepro- lebe in der Gemeinde Köln-Ost. Diese Worte fühlen gramm. Es gibt so viele erste Male: erstes Mal Evan- sich noch ein wenig fremd an, einschüchternd, zu gelienkreis, Gemeindeversammlung, Wirtschaftskreis, groß. Wie ein Paar Schuhe, die etwas zu groß sind. Da Räume kennenlernen, aufräumen und ordnen, zuhö- ist noch freier Raum bei jedem Schritt. Noch so vie- ren und nachfragen, erste Gespräche, erste Taufe, les ist ungeklärt und ungewohnt, trotzdem geschützt Religionsunterricht, noch weitere Kreise und Treffen und offensichtlich erstaunlich schlicht. Die Aufgaben und überall ist die Aufgabe für mich, erst einmal die sind deutlich in die Zukunft geschrieben und sie, die Stimmung zu verstehen. Wahrnehmen, was da ist Zukunft, spricht dauernd. Sie erzählt, wägt ab, fühlt. und wie es sich anfühlt. Die Geschichten hinter den Sie fühlt so viel und probiert und erzählt wieder. Ich Dingen herausfinden. Die Geschichten hinter den bereite mich darauf vor, dass sie nie schweigt und Menschen erfahren. Wer sind diese Menschen, die wenn sie es doch tut, ich ihr das Erzählen durch gutes hier leben und arbeiten. Ach ja und Köln: wo bin ich Zuhören wieder beibringe. eigentlich gelandet? Ich bereite mich auch darauf vor, dass sich der Boden Mit allem stehe ich am Anfang. Aber ich kann auch nie ganz beruhigen lässt. Wahrscheinlich gehen wir sagen, dass nicht alles ganz so neu ist. Einiges aus auf einem schwingenden Boden. Boden unter den meinem alten Leben kann ich sehr gut gebrauchen. Füßen zu haben stellen wir uns viel zu fest vor. Ich Meine Lebenserfahrungen, meine eigenen Erfah- bin sicher, dass er schwingt. Er geht auf und ab, er rungen aus den Geschichten meines Lebens sind mir wellt und verändert seine Struktur. Er soll so beweg- jetzt sehr hilfreich. Und die Arbeit im unternehmeri- lich bleiben wie ich es sein soll, um Ihm zu dienen, schen Bereich kommt mir zugute. Aber auch alles, der überall seine Zeichen hinterlässt. was ich an den Seminaren gelernt habe. Vornehmlich meine eigene Stimme zu erheben, meine eigenen So sind erste Schritte. So sind sie doch immer, Worte zu finden und meine Gedanken auszusprechen wenn wir unser Leben verändern und etwas Neues unter Berücksichtigung der erlernten Inhalte, die sich anfangen. bei mir nicht als Wissensbildung angehäuft haben, eher als so etwas wie ein schwingender Boden. Ich bin also am 23. März 2019 in Köln-Ost angekom- men. An diesem Tag war meine Einführung in die Meine Entsendung ist vorerst zeitlich begrenzt. Das Gemeinde. Zwei Tage zuvor stellte ich meine Koffer in mag eine besondere Herausforderung mit sich brin- der Wohnung ab. Und am Tag nach der Einführung gen. Worauf kann ich mich einlassen in dieser Zeit? war Sonntag. Mein erster richtiger Arbeitstag mit Wie können sich die Menschen auf mich einlassen, allem, was dazu gehört: Menschenweihehandlung wenn die Zeit begrenzt ist? Was kann ich tun und wie mit Predigt, dann Sonntagshandlung, dann Kaffee die Fragen beantworten, die weiter reichen als meine und Jahresversammlung. Danach direkt die erste Zeit? Aber ich bin nicht mutlos, im Gegenteil: diese 16
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 17 Wege zum Seminar Situation ist eine sehr gute Schule, denn alles, was Beim Durchlesen bis hierher fällt mir einmal mehr ich anfange, gründet auf den Fragen: Kann das, was auf, dass diese Fragen nicht ungewöhnlich sind. ich hier tue, über mich hinaus in die Zukunft tragen? Überhaupt nicht. Es sind dieselben Fragen, die jeder Agiere ich aus Eigennutz oder arbeite ich wirklich am Mensch sich in seinem Leben stellt, wenn auch in Gemeinschaftsleben, an der Gemeinschaftsbildung? Bezug auf jeweils seine Arbeit, sein Leben. Was ist Was will und soll sich hier weiterentwickeln, ganz denn das Besondere am Priestertum? Vielleicht ist unabhängig von mir? Das empfinde ich als wesentli- das Besondere eben dieses, dass es im Grunde ein- che Fragen und nicht nur deshalb, weil meine fach nur menschlich ist. Menschlich. Human. Los- Entsendung begrenzt ist. Die Zeit als Mensch auf der gelöst vom persönlichen Profit. Für jeden Menschen Erde ist immer begrenzt und keiner weiß, wie viel Zeit zugänglich ist sie, die erhabene Menschlichkeit. Das er hat, aber das Wesen der Christengemeinschaft soll innere Priestertum ist die Entfaltung der Mensch- auch in die Zukunft hinein tragfähig bleiben. Was lichkeit im eigenen Leben. Der moralische Mensch, also kann ich tun? Was können wir gemeinsam tun in der sich entschließt dem Christus zu folgen, sich mit der uns zur Verfügung stehenden Zeit? ihm zu verbinden. Da fängt die Schule an, auf die jeder gehen kann. Sie wissen ja bestimmt, liebe Leser, dass alles was wir tun und nicht tun eine Wirkung auf die Entwicklung der Welt hat, so oder so, und damit auch auf die Zukunft des menschlichen Wesens. Warum sollte man sich dafür einsetzen? Nur weil man das will. Weil man sich sagt: Ich will, dass es den Menschen auch in Zukunft gibt. Es kann niemand kommen und sagen: „du musst“. Wir wollen im Grunde ganz Mensch werden. So wie wir atmen wollen. Aber um einen Entschluss zu fassen, müssen wir alles in Frage stellen und so gesehen eigentlich für jede Zukunft eine Möglichkeit sehen. Dann kön- nen wir uns entscheiden, welche Zukunft wir haben wollen und daran arbeiten. Jeder an seinem Altar. Und gemeinsam an Seinem Altar. 17
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:27 Seite 18 Glauben und Wissen „Credo ut intelligam” – Ich glaube, um zu begreifen Isabel Chotsourian | 3. Trimester Im Jahr 1944, fast am Ende seines Lebens, stellte sich Erwin Schrödinger, ein Mitbegründer der Quanten- mechanik, die Frage: „Was ist Leben?” An der Grenze der wahrnehmbaren physischen Realität, fragt sich dieser Wissenschaftler, wie es möglich sei, dass Mate- rie denken kann. Die Gesetze der materialistischen Physik, merkte Schrödinger schon damals, gelten nicht für lebendige Materie, also muss es eine Kraft geben, etwas, das gegen den materiellen Tod kämpft. Was sind wir? Eine zufällige und willkürliche Zusammen- setzung von Atomen? Die Entwickelung der Welt und der Menschen als eine zufällige Reihenfolge von beweisbaren rein physischen Ereignissen verstehen zu wollen, ergibt letztendlich keinen Sinn. Die Frage der materialistischen Weltanschauung bleibt immer un- beantwortet und stößt immer an die gleiche Grenze: Was war vor der Materie? Das Problem oder die Schwierigkeit der heutigen Wissenschaft ist, dass, anstatt eine ganzheitliche Vorstellung der Realität zu entwickeln, einzelne Theorien als Dogmen festgelegt werden, die sich nur auf die physisch wahrnehmbaren Einzelheiten der Realität stützen. Man geht immer tiefer in das Materiell-Theoretische hinein und ver- lässt sich nur auf das physisch Beweisbare. Rudolf Steiner beschreibt geistige Wesen, deren Wirkung im Physischen sichtbar wird, die aber an sich, nicht wahrnehmen kann? Kann Glauben vernünftiges für das physische Auge, unsichtbar sind. Die Denken ersetzen? Anselm von Canterbury, Vater der Wissenschaft stoppt bei der sichtbaren Wirkung, ohne Scholastik, wollte den Glauben mit dem Denken in erklären zu können, worin diese ihren Ursprung hat. Zusammenhang bringen. Für ihn war der Glaube die Deshalb bezeichnet die Wissenschaft alle Kraft, die nach der Erkenntnis strebt: „Ich glaube, um Erkenntnisse, die über die physische Realität hinaus- zu begreifen” (credo ut intelligam). Der Glaube kommt gehen als rein subjektive Theorien ohne wissenschaft- vor der Erkenntnis, ist nur der Anfang, durch ihn kön- liche Haltbarkeit. Die Versuche zu beschreiben, was nen wir das notwendige Vertrauen zu der Realität ent- hinter physischen Erscheinungen eigentlich steckt, wickeln, die wir noch nicht selbst sehen können, bis haben in der Wissenschaft keinen Wert, sind nur wir uns so weit entwickelt haben, dass wir sie aus Metaphysik. Kann man aufgrund der Tatsache, dass eigener Fähigkeit entziffern können. Anselm von Can- man geistige Wesen selbst nicht wahrnehmen kann, terbury spricht, wie auch Plato und Augustinus, von feststellen, dass sie nicht existieren? Muss ich einfach einem Glauben, „der nach Erkenntnis fragt”, nach an die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners „glauben”, einem Glauben, der in uns Fragen hervorruft, Impulse wenn ich die beschriebenen geistigen Wesen selbst gibt, mit neuen Fragen die Wirklichkeit noch einmal 18
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 19 Glauben und Wissen anzuschauen und sie mit unserem akti- mein Denken lerne ich die Wirklichkeit und ihre ven Denken selbst zu prüfen. „...denn als Gesetzmäßigkeiten selbst zu denken. Das lateinische Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht Wort „credere” von cor dare heißt „das Herz schen- als Schauende“ sagt Paulus in einem sei- ken” und zeigt eine direkte Verbindung zwischen ner Briefe (2 Kor. 5). Und mit Recht, denn Glaubens- und Herztätigkeit. Wörtlich übersetzt: wenn wir nicht die Realität mit unserem „unser Herz auf (etwas) stellen / legen”. Ist es nicht so, Denken durchdringen wollen, sondern als dass die Wahrheit sich zuerst in unserem Herzen Zuschauer außen vor stehen bleiben, wie offenbart? In diesem Sinn kann der Glaube ein sollten wir dann Erkenntnis der Übungsweg werden, ein Prozess, unser Herz zu einem Wirklichkeit erlangen? Worauf stehen Wahrheitsorgan zu entwickeln, aus dem wir die Kraft wir, wenn unser Boden nur aus theore- und die Fähigkeit bekommen, kein Gegebenes, son- tisch angenommenen Gesetzen besteht? dern nur eine aus eigener Tätigkeit gedachte Realität Sind wir Sklaven des Wahrnehmungs- als Wahrheit anzuerkennen. Durch die Glaubenskraft scheines geworden? So ist heute die können wir die Kraft bekommen, die Wahrheiten der Situation, dass die Menschen nicht mehr Welt zu erkennen. So gehen wir hinaus in die Welt, wissen, wer sie eigentlich sind und woher und sehen und erleben mit anderen Augen; plötzlich sie kommen; sie laufen wie verloren in sind wir ein bisschen mehr „hell-sichtig” geworden, einer Scheinwelt, ohne Klarheit zu erlan- wenn die Wirklichkeit langsam mehr Klarheit und gen, was wahr und was unwahr ist. Wo einen ganzheitlichen Sinn bekommt. Denn wenn wir sind die Begeisterung und das Staunen unser Herz öffnen, denken wir anders. Und indem wir für die Welt geblieben? Was ist mit unse- üben, einen Sinn für die Wahrheit zu entwickeln, kön- rem Willen passiert? Glauben ist für mich nen wir die Welt und uns selbst anders wahrnehmen. kein Weg der passiven Erkenntnis — im Gegenteil. Dank des Glaubens, bekomme Im Lukas Evangelium sehen wir, wie die Jünger dem ich Kraft, Willenskraft, um aktiv die Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus begeg- Wahrheiten, die ich noch nicht voll nen, aber ihn zunächst nicht erkennen können. Sie begreifen kann, verstehen zu können. Wie ein kleines erkennen ihn, nachdem er sich durch das Brechen des Kind lernt man die Wirklichkeit umzudenken; nicht Brotes erkenntlich gemacht hat. Der Verstand muss nur den materiellen Vorgang sehen, sondern sich fra- sehen, bevor er verstehen kann. gen lernen, was für geistige Vorgänge dahinter liegen. Das Herz aber ist anderer Qualität: „Brannte nicht Der anthroposophische Erkenntnisweg wird dann ein unser Herz in uns, als er auf dem Weg zu uns redete Weg zur Freiheit im Geist, ein Weg, wo man immer und als er uns die Schriften öffnete?” (Lk. 24,32) frag- neue Fragen an der Welt und an sich selbst zu stellen ten sie einander. lernt. „Es hängt für das wahrhafte Erkennen alles davon ab, dass […] unsere erkennende Tätigkeit sich Und vielleicht kann man jeden Tag ein nicht bloß ein Gegebenes voraussetzt, sondern in dem bisschen mehr üben, wahrzunehmen, was Gegebenen tätig mitten drin steht” (Rudolf Steiner, dieses merkwürdige Feuer uns sagen will. GA 3, S. 142). Die Begriffe und Ideen über die Welt muss ich selber hervorbringen, wenn ich sie erleben will. Durch meine eigene Tätigkeit, meine Fragen und 19
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 20 Glauben und Wissen 20
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 21 Glauben und Wissen 21
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 22 Glauben und Wissen Glaube ich? María Laura de San Martín | 3. Trimester Die Vorträge Steiners sind genau dafür da: um selbst erlebt zu werden und sich im Leben zu bewahrheiten. Als mein Studium am Seminar begann, hatten wir mit Herrn Ortín einen Kurs zur Erkenntnistheorie. Wir ver- tieften das Thema mit viel Intensität und Freude. Für mich war es unter anderem ein großer Schritt, Kants Subjektivität zu überwinden, die Gedanken objektiv zu nehmen und zu ordnen. Zu wissen, dass nicht alles mit dem Denken erreichbar ist, nicht alles durch das Denken zu lösen ist und doch alles seinen Ort in ihm findet. Es war wunderbar. So begegneten mir auch die Bevor ich ans Seminar kam, beschäftigte ich mich viel Theosophie und die Geheimwissenschaft im Umriss. mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und Werke, die das Menschenwesen beschreiben, die hatte so auch die Möglichkeit, auf einigen biologisch- Evolution der Erde und das in aller Tiefe. So begann dynamischen Höfen in meiner Heimat Argentinien für mich eine große Herausforderung, denn nun ging mitzuarbeiten. Argentinien ist ein sehr großes, weites es nicht mehr nur noch darum selbst zu machen und und wunderschönes Land. Es ist eins der wenigen zu beobachten, sondern mir kam die Frage auf: Länder auf der Welt, in dem wirklich jedes Klima zu Warum fühlt sich das, was ich lese, so richtig und finden ist. Auf den Höfen konnte ich sehr trockene, wahrhaftig an, wenn ich es nicht beweisen kann? Das rote, lehmige und steinreiche Erde bearbeiten. Auf Lesen war für mich wie eine „Seelen-Massage“, denn diesem Boden wuchs eine unglaubliche Vielfalt von ich konnte alles so gut verstehen, doch jemandem Pflanzengewächsen und verschiedene Heilkräuter. erklären konnte ich es noch nicht. Dann begann das Auch lebten viele Tiere auf dem Hof: Kühe, Büffel, Vertiefen beider Bücher und die Bilder wandelten sich Schweine, Hühner und Bienen. In der hofeigenen in Begriffe. Bald konnte ich nicht nur vermitteln und Käserei wurden alle Produkte selbst hergestellt. Teil erklären, sondern auch selbst wahrnehmen und mir meiner Arbeit war es, Butter, Joghurt, Ricotta und dadurch selbst beweisen, dass die Evolutionszustände verschiedene Käsesorten herzustellen. der Planetenentwicklung in der Natur und der Erde, Ein wichtiger Bestandteil der biologisch-dynami- im Inneren des Menschen wahrzunehmen sind. schen Landwirtschaft sind die Präparate und an deren Und so verwandelte sich für mich die Anthroposophie Herstellung, Dynamisierung und Ausbringung durfte in ein grundlegendes Werkzeug, das mir hilft, die ich mitarbeiten. Der ganze Hof lebte im Einklang mit modernen Erkenntnisse und den aktuellen Materia- dem Rhythmus der Natur und um diesem Rhythmus lismus zu vergeistigen. gerecht zu werden, richteten wir uns nach dem bio- Glaube ich? Im ersten Moment schon. Erst spürte ich logisch-dynamischen Kalender. es in mir, ohne wirklich zu verstehen. Jetzt aber kann Ich konnte in allem sowohl im Beobachten als auch ich, aus eigener Überzeugung heraus, sagen: „ich im selber Durchführen, mit aller Klarheit erfahren, glaube“, weil ich das Gefühl in ein „ich stelle fest“ was Rudolf Steiner in seinem Landwirtschaftlichen umgewandelt habe. Und so entstand für mich eine Kurs beschrieben hat. In den Tieren, im Heu, in der Wahrheit! Fruchtbarkeit der Böden, in der Nahrungsqualität und in der Gesundheit des ganzen Hoforganismus, überall Ich bedanke mich bei Santiago Corigliano und Lea war es deutlich zu sehen. Breckenfelder für die Übersetzung. 22
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 23 Lernen Referate gehalten von den Studierenden des 2. Trimesters Die Studierenden des ersten Jahres haben Referate zu den Biographien besonderer Persönlichkeiten gehalten. Antje Schmidt Ita Wegman María Laura de San Martín Jeanne d’Arc Daniela Grieder Elisabeth Kübler-Ross Rosa Hallqvist Simone Weil Isabel Chotsourian Hildegard von Bingen Bernhard Stockert Václav Havel Projektvorstellungen des 2. Studienjahres Die Studierenden des zweiten Jahres haben sich seit Beginn des Studienjahres mit einem frei gewählten Thema beschäftigt und es zu Beginn des sechsten Trimesters in öffentlichen Vorträgen vorgestellt: Lea Breckenfelder Krankheit und Gesundheit im Schicksal Nathanael Becker Die menschliche Freiheit und der göttliche Wille – ein Widerspruch? Jan Kirdorf Wie entsteht Gemeinschaft? Gabriela Halmagean Begegnung mit Christus – wie kann der Mensch sie heute finden? Santiago Corigliano Vergebung: Die Überwindung einer Kluft Andrii Moisieiev Altäre im Alltag 23
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 24 Lernen Kursprogramm Sommertrimester 2019 Grundstudium Vertiefungsstudium 3. Trimester 6. Trimester 29.04. – 03.05.19 S. Meyer Geheimwissenschaft Projektzeit 06.05. – 10.05.19 F. Sudbrack Dr. M.v. Alstein Lukasevangelium Trinität 13.05. – 17.05.19 R. Halfen Der Mensch und sein Tempel C. Breme Plastizieren der Embryonalentwicklung 20.05. – 24.05.19 C. Gerhard A. Wohlfeil Reformation Dreigliederung 27.05. – 31.05.19 C. Handwerk Dr. C. Schikarski, Jahresfeste 2 R. M. Rumpf Pastoralmedizin 03.06. – 07.06.19 G. Wolber Geologie 10.06. – 14.06.19 Studienfreie Zeit Pfingsttagung 17.06. – 21.06.19 A. Wolpert Parzival 24.06. – 28.06.19 J.M. Falcone R. M. Rumpf Geld Biografik 2 01.07. – 05.07.19 G. Dreißig G. Dreißig Das Wort, das die Himmel öffnet Apokalypse 06.07. – 07.07.19 Aufführung des Kabaretts 08.07. – 12.07.19 J. Beuerle S. Meyer Von der Kindheit zur Jugend: Christologie Konfirmation 24
01_RZ_Sommer_2019_Layout 1 20.06.19 07:28 Seite 25 Lernen Vergebung: Die Überwindung einer Kluft Santiago Corigliano | 6. Trimester Es gibt Taten, die in uns Wunden verursachen. Diese kommt? Das hieße dann, dass wie die Möglichkeit Taten schreiben sich in unsere Biographie ein und haben, aus dem Erlebten etwas Neues zu schaffen. machen uns individueller. Es gibt in diesem Sinne eine Fülle von Leiderfahrungen: kleine Dinge, die man Aber was ist Vergeben? eventuell schnell vergessen und entschuldigen kann, Was geben wir, wenn wir vergeben? bis zum Erleben der schlimmsten Grausamkeiten, die Es gibt so unterschiedliche Formen der Vergebung, zunächst nicht wieder gut zu machen sind. wie es Menschen gibt. Denn es ist ein ganz individu- Auf der anderen Seite gibt es das Thema der Verge- eller Prozess und jeder kann entscheiden, ob er sich bung. Wie wichtig ist es für uns Menschen, diese auf diesen Weg begeben will oder nicht. Doch für Fähigkeit zu erlangen; wir werden dadurch menschli- mich gibt es eine Sache, die immer anwesend ist. Was cher und gleichzeitig geschieht eine Heilung. in uns als Wunde eingeschrieben ist, bildet eine Stelle, Nun ist die Frage: Wie geht Vergeben? Wie schaffen wo etwas wie geknotet ist, etwas, das eine Erlösung wir es, diese Kluft zwischen der Tat, unserem braucht. Das Vergeben ist das Freisetzen oder das unglaublichen Leid und dem großen Ideal der Verge- Neuschöpfen einer Substanz, die vorher nicht da war, bung, zu überwinden? Wo könnte man ansetzen, um etwas ganz Neues, was in unserer Seele Heilung von einer Vergebung sprechen zu können? bewirkt. Diese Befreiungstat wird das, was durch die Man kann deutlich sehen, dass das Leid ein Bestand- Verletzung verloren gegangen ist, nicht zurückbrin- teil unseres Lebens ist. Es ist da. Und es möchte be- gen, sondern in ihr liegt eine Keimkraft, die Neues achtet und nicht einfach verdrängt werden, denn es möglich macht. Da sind wir unmittelbar Mitarbeiter will uns etwas sagen. Aber wir denken, dass das Leid, der Schöpfung. wie auch unsere Krankheiten weggeschafft werden Vergeben ist Ringen mit einem Ideal. Es ist keine ein- müssen, am liebsten wollen wir leben, ohne dass uns fache Tat, die von einem auf den anderen Tag ge- Leid widerfährt. schieht, sie betrifft uns existentiell und braucht Zeit. Die Menschen gehen ganz unterschiedlich mit dem Manchmal ist uns das Ideal zum Greifen nah, dann Leid um. Viele schauen gar nicht hin, sondern ver- wieder ist es so fern, dass wir neu kämpfen müssen, drängen es und wollen damit lieber nichts zu tun um es zu erreichen. haben. In anderen steigen Rache, Wut oder Hass auf – Gefühle die sich gegen den, der die Tat begangen hat, richten. Dort liegt für mich der Ansatz. Genau diese Phase zu betrachten, denn die Kräfte dürfen nicht einfach so ausgelebt werden. An dieser Stelle, auf der Suche nach Heilung, begegnen auch wir einer Seite in uns, die auch Leid zufügt und dies vielleicht sogar gerne macht. Wenn wir verletzt wurden, können ganz unterschied- liche Kräfte im Gang treten. Sobald ich ein Unrecht erlebt habe, empfinde ich, dass in mir etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, etwas fehlt. Und wie jede Verletzung will auch diese Wunde wieder heilen, sich wieder schließen. Nun kann man sich fragen: das, was fehlt, wird es genau wie vorher erscheinen? Oder kann die Wunde dadurch heilen, dass etwas Neues hinein- 25
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