Seminar|brief Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart - in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung - Priesterseminar in Stuttgart

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Seminar|brief Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart - in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung - Priesterseminar in Stuttgart
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                                                            Sommer 2019

      Seminar|brief
      Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart
      in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung
Seminar|brief Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart - in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung - Priesterseminar in Stuttgart
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                                      Die Freie Hochschule der Christengemeinschaft Stuttgart (in eigener Trägerschaft,
                Über den              ohne staatliche Anerkennung) ist eine der drei Priesterbildungsstätten der Chris-
             Seminarbrief             tengemeinschaft. Die Christengemeinschaft ist eine weltweite Bewegung für reli-
                                      giöse Erneuerung – in den inneren und äußeren Umgestaltungen unserer Zeit –
                                      gegründet für die Menschen, die ein modernes sakramentales Leben suchen. In
                                      ihrem Mittelpunkt steht der neue Gottesdienst, die Menschenweihehandlung. Um
                                      ihn versammeln sich Menschen in freien Gemeinden.

                                      Der Seminarbrief wird von den Studierenden des Priesterseminars für dessen
                                      Freunde und Förderer geschrieben. Er richtet sich aber ebenso an Interessierte, die
                                      auf diese Weise das Priesterseminar kennenlernen wollen. Unser Ziel ist es, in ihm
                                      das Studium und das gemeinsame Leben als Teile der Priesterbildung anschaulich
                                      und miterlebbar zu machen. Er erscheint zweimal jährlich und kann vom Sekreta-
                                      riat des Priesterseminars bezogen werden.

                                      Geleitet wird das Priesterseminar derzeit von Georg Dreißig, Stephan Meyer und
                                      Moni Boerman. Weitere Informationen erhalten Sie im Sekretariat oder auf unse-
                                      rer Webseite.

                                      Freie Hochschule der Christengemeinschaft e.V.
                                      in eigener Trägerschaft ohne staatliche Anerkennung
                                      Spittlerstraße 15
                                      D-70190 Stuttgart
                                      Tel. +49 (0)7 11 / 166 83 10

                                      info@priesterseminar-stuttgart.de
                                      www.priesterseminar-stuttgart.de

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   Liebe Leserinnen und Leser des Seminarbriefes!

   Bewegung und Veränderung sind fester Bestandteil        geweihten PriesterInnen Anastasiia Mazur, Anna
   des Seminarlebens. Nicht nur, dass immer wieder         Hofer und Nils Cooper trotz des sicher fordernden
   StudentInnen kommen und gehen, jetzt wird sich          Einlebens in ihren Gemeinden dazu gekommen sind,
   auch die Seminarleitung zum Beginn des nächsten         uns von ihren ersten Eindrücken in ihrem neuen
   Studienjahrs verändern. Auch unter den Mitarbei-        Beruf zu berichten.
   terInnen des Seminars und im Beirat der
   Seminarleitung haben sich Veränderungen vollzo-         Was sich im Seminar ereignet hat, darüber schreiben
   gen, und so kann der Eindruck entstehen, dass dieser    unter anderem Isabel Chotsourian und Bernhard
   Sommer eine Zeit des Umbruchs ist. In solchen           Stockert in einem Artikel über die diesjährige
   Zeiten mag es sich lohnen, ganz grundlegend nach        BildungsART. Daniela Grieder fasst zusammen, was
   „Glauben und Wissen“ als zwei Ankerpunkten im           wir bei einem unserer Seminarabende zum Thema
   inneren Leben zu fragen. Wo finde ich innerlich Halt,   „5G“ gehört haben und die Studierenden Lea
   was gibt mir Sicherheit?                                Breckenfelder und Santiago Corigliano schreiben
                                                           über ihre Jahresprojekte, die sie gerade in Vorträgen
   Diese Frage scheint heutzutage viele Menschen zu        der Seminargemeinschaft vorgestellt haben.
   bewegen. Der Glaube, verstanden als die Abwesen-
   heit von Wissen, scheint nicht mehr zeitgemäß. Und      Anlässlich des Erscheinens der Chronik „Werden und
   doch bleibt eine Sehnsucht – nach dem Geistigen,        Wirken der von Tessin Stiftungen” von Prof Dr. Ulrich
   nach Wiederverbindung, letztlich nach Religion. Wir     Meyer, wollen wir uns in diesem Seminarbrief bei der
   versuchen, durch unser Studium und die Ausein-          Tessin-Stiftung und deren Gründerinnen Marion und
   andersetzung mit seinen Inhalten eine Brücke zu         Ingeborg von Tessin bedanken, die das Seminar über
   bauen zwischen Glauben und Wissen; zu zeigen,           viele Jahre großzügig unterstützt haben.
   dass der Glaube eine tätige Kraft werden kann, die
   uns hilft, die Welt immer tiefer zu verstehen. Die      Mit den besten Wünschen für einen erfüllten und
   Studentinnen Isabel Chotsourian und Maria Laura de      lichtvollen Sommer,
   San Martin haben zu diesem Thema Artikel verfasst.
                                                           Ihre Redaktion des Seminarbriefes
   Auch in der Rubrik „Wege zum Seminar“ taucht die
   Frage nach der Aktualität des Glaubens auf, denn die    Isabel Chotsourian, Nathanael Becker, Lea
   Entscheidung am Priesterseminar zu studieren ist        Breckenfelder, Rosa Hallqvist, Jan Kirdorf,
   unmittelbar mit der Frage verbunden, ob man es für      Bernhard Stockert
   möglich hält, dass Religion im Leben eines modernen
   Menschen eine ernsthafte Rolle spielen kann. Rosa
   Hallqvist und Bernhard Stockert lassen uns an ihrern
   ganz persönlichen Auseinandersetzungen mit diesen
   Fragen teilhaben.

   Im Februar/März diesen Jahres fanden die Priester-
   weihen in Stuttgart, Hamburg und Spring Valley,
   New York statt. Wir freuen uns, dass die dort

                                                                                                                     3
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              Inhalt

                                       Grußwort der Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
                                       Veränderungen am Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

                Wege zum Seminar       Studierende des 3. Trimesters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
                                       Unterwegs im Labyrinth des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
                                       Viele Fragen auf dem Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
                                       Studierende des 6. Trimesters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
                                       Priester werden – erste Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
                                       „Priesterwerden ist herrlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
                                       Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

               Glauben und Wissen      Credo ut intelligam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
                                       Glaube ich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

                            Lernen     Referate und Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
                                       Kursprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
                                       Vergebung: Die Überwindung einer Kluft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
                                       „Die Gesundheit ist zwar nicht alles…“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
                                       Bericht aus der Wortwerkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

                        Begegnung      5G – Was können wir tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
                                       Wie schaffen wir soziale Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
                                       Dank an Ingeborg und Marion von Tessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
                                       Inneres Kompostieren der Studieninhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

                                       Grußwort der Seminarleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
                                       Hinweis zum Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
                                       Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

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   Veränderungen am Seminar

   Liebe Leserinnen und Leser des Seminarbriefs,             Zugleich begleiten unsere guten Wünsche für den
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   wieder einmal ist die Zeit fur eine Veränderung am        tige Aufgabe innerhalb unserer Christengemeinschaft
   Priesterseminar gekommen. Nachdem es in den ver-          eintreten.
   gangenen Jahren gravierende Neubesetzungen in der
   Führung der Hauswirtschaft und des Sekretariats ge-       Für den Siebenerkreis
   geben hat, betrifft es diesmal die Seminarleitung.        Christward Kröner
   Zum Ende des laufenden Studienjahres wird Georg
   Dreißig (der seit 2006 in der Seminarleitung tätig ist)
   aus Altersgründen seine Aufgabe in jüngere Hände          Nach 13 Jahren als „Seminarärztin“ wird Dr. Ursula
   übergeben. Auch Stephan Meyer wird zeitgleich seine       Schad nach dem Sommertrimester die Studierenden
   Aufgabe (die er 2012 übernommen hat) zugunsten            nicht mehr weiter gesundheitlich und konstitutionell
   der Verjüngung und des Bildens einer neuen Kon-           beraten und betreuen. Frau Dr. Schad hat nach ihrem
   stellation abgeben und dadurch auch die Belastung in      „offiziellen Ruhestand“ viele Jahre ihre Kräfte und
   der Doppelfunktion (Siebenerkreis und Seminarlei-         ihre Erfahrung der Priesterausbildung zur Verfügung
   tung) beenden können. Schließlich wird dann auch          gestellt, indem sie zwei Mal im Monat im dritten
   Monika Boerman, die 2017 dankenswerter Weise die          Stock ihre kleine Praxis öffnete.
   Aufgabe übernommen hatte, aus der Verantwortung           Ein herzliches Dankeschön von Seiten der Seminar-
   ausscheiden. So kann ein jüngeres Team – Mariano          leitung für die kompetente, liebevolle Betreuung und
   Kasanetz aus Buenos Aires und Xenia Medvedeva aus         Begleitung der Studierenden und Mitarbeiter*innen
   der Ukraine (seit ihrer Weihe 2008 in deutschen           und die ersprießliche und konstruktive Zusammen-
   Gemeinden arbeitend) die Leitung ab dem 1. Septem-        arbeit mit Ihnen, liebe Frau Dr. Schad.
   ber übernehmen. Die neuen Seminarleiter werden
   sich im folgenden Seminarbrief vorstellen. Wer die        Jede Besprechung mit Ihnen war auf besondere Weise
   dritte Stelle in der Seminarleitung übernehmen wird,      fördernd und erhellend!
   ist derzeit noch offen. Dies soll im Gespräch des         Wir wünschen Ihnen alles Gute!
   Siebenerkreises mit den neuen Leitern entschieden
   werden. Eine Überführung in der Seminarverant-            Für die Seminarleitung, Moni Boerman
   wortung wird es insofern geben, als Georg Dreißig
   und Stephan Meyer noch ein letztes Mal gemeinsam
   die Durchführung der Weihevorbereitung bis Ende           Wir verabschieden unsere liebe Köchin Dorota
   Februar 2020 übernehmen werden. Monika Boerman            Stefanowicz, die seit April 2002 in der Hauswirtschaft
   wird dem Seminar als Sprachgestalterin weiterhin          tätig war. Die Studierenden danken für die gute Ver-
   verbunden bleiben.                                        pflegung und die liebevolle Begleitung und Anteil-
                                                             nahme an unserem Alltag. Alles Gute für die kom-
   Allen drei bisherigen Verantwortungsträgern sei für       mende Zeit!
   Ihren großen Einsatz und die durch ihr Wirken erfolg-     Gleichzeitig begrüßen wir Nina Roth, die seit Februar
   te Weiterentwicklung des Seminars sehr herzlich ge-       in der Hauswirtschaft mitarbeitet.
   dankt.
                                                             Die Seminargemeinschaft

                                                                                                                      5
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  Wege zum Seminar

              Studierende des 3. Trimesters

                                          Von links nach rechts

                          Isabel Chotsourian (2000, Argentinien)
                                 Daniela Grieder (1965, Schweiz)
                            Bernhard Stockert (1972, Österreich)
                  María Laura de San Martín (1985, Argentinien)
                       Rosa Kristina Hallqvist (1998, Schweden)

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                                                                                                          Wege zum Seminar

   Die Studierenden des 3. Trimesters

   Die Studiengemeinschaft am Priesterseminar ist sehr      Die Zeit, die darauf folgte, stand ganz im Zeichen der
   beweglich und sieht in jedem Trimester ein wenig         Priesterweihen, die in Stuttgart, Hamburg und
   anders aus. Diese Vielfalt hat uns bereichert und        Spring Valley gefeiert wurden. Die Stimmung um
   deutlich sichtbar gemacht, dass jeder Mensch eine        den Weihekurs wurde mit jedem Tag dichter, emp-
   besondere Farbe in die Gruppe einbringt. Aus den         findlicher und erwartungsvoller, und das Seminar
   Farben der Einzelnen ergibt sich dann das gemeinsa-      wurde jeden Tag belebter durch die vielen Gäste, die
   me Bild der Gruppe. Auch im ersten Studienjahr hat       für die Weihe ans Seminar kamen. Für einige von uns
   sich die Gruppe mit jedem Trimester verändert und        war es das erste Mal, dass wir diesem Geschehen
   dadurch verschiedene Stimmungen und Färbungen            beiwohnten und es hinterließ einen tiefen Eindruck
   gezeigt.                                                 in uns.
   Das erste Trimester haben Aura und Topias Aalto mit      Jetzt ist es, nach dieser bewegenden Zeit, wieder
   uns verbracht und mit ihrem finnischen Gemüt             ruhiger am Seminar geworden. Neben dem regulären
   bereichert. Besonders prägend war Aura Aaltos            Seminarbetrieb haben wir mit der Entwicklung des
   außerordentliche künstlerische Fähigkeit und Topias      Kabaretts begonnen, was einerseits eine Zeit des
   Aaltos tiefes Wissen über die Geschichte der             Lachens, der freien Kreativität, andererseits für man-
   Sprache. Nach dem ersten Trimester haben sie sich        che von uns eine neue und herausfordernde
   auf andere Wege begeben. Antje Schmidt ist im            Erfahrung ist.
   zweiten Trimester zu uns gestoßen und ein Stück des      Währenddessen rückt nun, mit schnellen Schritten,
   Weges mit uns gegangen. Sie hat die Gruppe mit           der Sommer näher, und jeden von uns begleitet und
   vielen tiefgreifenden Fragen und neuen Ideen berei-      bewegt innerlich die Frage, wie der persönliche Weg
   chert. Wir wünschen allen dreien von Herzen alles        weitergeht. Die erste Frage ist, wie die Wochen der
   Gute für ihr weiteres Leben und hoffen auf               Sommerferien gefüllt werden und schließlich stellt
   Begegnungen in der Zukunft!                              sich auch jedem die Frage, ob er im Herbst den ein-
   Das letzte Trimester des ersten Jahres haben wir als     geschlagenen Weg am Priesterseminar fortsetzen
   kleine Studiengruppe zu fünft begonnen.                  will oder ob es woanders weitergeht.
   Es ist viel geschehen seitdem wir im letzten Herbst      In jedem Fall sind wir alle sehr dankbar für das, was
   unser Studium begonnen haben. Sowohl innerhalb           wir am Priesterseminar erleben und lernen durften,
   des Studiums als auch in uns selbst hat sich viel ver-   und gespannt, wie sich dieses besondere Jahr auf
   ändert und geklärt.                                      das weitere Leben auswirken wird.
   Tief bewegt hat uns alle, im Januar Referate über
   Biografien halten zu dürfen. Uns wurden beeindruk-       Für das dritte Trimester, Bernhard Stockert
   kende Persönlichkeiten wie zum Beispiel Hildegard
   von Bingen, Simone Weil und Ita Wegman zugeteilt,
   mit denen wir uns fünf Wochen beschäftigt haben,
   um dann in Form eines Vortrags das Leben dieser
   Menschen vorzustellen. Sie konnten uns zu Vor-
   bildern werden, die uns wie Paten auf unserem Weg
   am Priesterseminar begleiten.

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  Wege zum Seminar

              Unterwegs im Labyrinth des Lebens
              Bernhard Stockert | 3. Trimester

              Ziemlich genau vor einem Jahr bin ich zum allerers-
              ten Mal den Weg zum Priesterseminar in der Spittler-
              straße angereist. Es fand da die Offene Woche statt,
              an der ich drei Tage teilnehmen konnte.
              Ich erinnere mich noch genau, dass ich wegen der
              Zeitknappheit sogar ein Taxi vom Hauptbahnhof
              Stuttgart nahm. Der Taxifahrer fuhr erstmal in die
              falsche Richtung los und eröffnete mir dann, dass
              dies erst sein zweiter Arbeitstag als Chauffeur sei und
              er sich noch nicht so gut auskenne. Ich fand das sehr
              menschlich und sympathisch und irgendwie hatte
              das etwas Beruhigendes an sich – schließlich war ja
              auch ich etwas aufgeregt bezüglich meiner Ankunft
              im Priesterseminar.

              Damit wäre rein äußerlich und in aller Kürze mein
              (erster) Weg zum Seminar beschrieben – viel interes-
              santer jedoch scheinen wohl die im Verborgenen lie-
              genden Motive, Antriebe und Impulse zu sein. Wenn
              ich gleichsam wie aus der Vogelperspektive auf mein
              Leben zurück- beziehungsweise herunter-schaue,
              dann fällt mir zuallererst das Unterwegssein - als
              eine Art beständiger innerer und äußerer Suche –
              auf, das sich wie ein roter Faden, wie ein Grund-
              muster durch mein Leben zieht. Im Unterwegssein            sagen mitbekommen, dass da mit dem Rücken zur
              blitzen einzelne, „zufällige“, vielleicht schicksalhafte   Gemeinde zelebriert wird. Das reichte für mich
              Begegnungen mit Menschen auf, die dann auf einmal          damals aus, um mich nicht näher damit zu beschäf-
              richtungsweisend für meinen weiteren Weg wurden.           tigen.
              Wie die Begegnung mit einem jungen Demeterland-
              wirt aus Deutschland in einem Ashram in Südindien,         Ich ging dann nach Regensburg um Soziale Arbeit zu
              die offenbar so tief und nachhaltig auf mich wirkte,       studieren, tauchte in eine ganz andere Welt ein und
              dass ich knapp ein Jahr später meine sieben Sachen         kehrte der Landwirtschaft und auch der Anthropo-
              in Wien zusammenpackte und in der Freien Landbau-          sophie erstmal wieder den Rücken zu. Ich arbeitete in
              schule Bodensee die Lehre zum Landwirt machte.             der Umwelt- und Kulturpädagogik mit interessanten
              Dort lernte ich zum ersten Mal die Anthroposophie          Projekten für Kinder und Jugendliche und wendete
              kennen. Für die Christengemeinschaft war damals            mich intensiv dem Tanz, genauer gesagt der Kontakt-
              offenbar noch nicht der richtige Zeitpunkt für mich        improvisation, zu und begann dann auch selbst diese
              (ich stand der Kirche und allem, was annähernd             wunderbare Tanzform zu unterrichten. Ich lernte in
              damit zu tun hatte, sehr distanziert gegenüber). Von       dieser Zeit auch die Tiefenökologie kennen und war
              der Christengemeinschaft hatte ich nur durch Hören-        Teil einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam die

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                                                                                                            Wege zum Seminar

   „Tiefendimension“ der ökologischen Krise erforschte.       Letztlich war es wieder eine „zufällige“ Begegnung,
   Doch bei all dem Schönen, Positiven und Bereichern-        diesmal mit einem Priester der Christengemeinschaft,
   den spürte ich dennoch unterschwellig eine Art Un-         die mir schließlich den Weg nach Stuttgart ins
   behagen und Unzufriedenheit; eine Sehnsucht.               Seminar wies. Das Besondere daran war, dass seine
   Sehnsucht wonach? Das konnte ich gar nicht so klar         Worte in mir auf eine Offenheit, Bereitschaft und
   benennen. Am ehesten möchte ich sagen, dass sie            Resonanz trafen, die mich selbst überraschte, hatte
   spiritueller, geistiger Art war. Der große Blick und die   ich doch davor noch nie vom Priesterseminar gehört
   großen Sinnzusammenhänge des Lebens fehlten mir.           und noch weniger Gedanken in diese Richtung in mir
   Ich „erinnerte“ mich an die Anthroposophie und             bewegt.
   begann in dieser Zeit vermehrt anthroposophische
   Sekundärliteratur zu allen möglichen Themen zu             So entsteht in mir abschließend das Bild des Laby-
   lesen. Dabei stieß ich im Leben und Werk von Rudolf        rinths als Gleichnis für das Unterwegssein auf dem
   Steiner immer wieder auf die Bedeutung des                 Lebensweg; mal weiter weg vom Zentrum, mal näher
   Christentums und des Christus. Das erweckte mein           dran, aber letztlich auf geheimnisvolle Art und Weise
   Interesse! Da ich von den Kulturimpulsen Rudolf            geleitet, begleitet und geführt.
   Steiners (Landwirtschaft, Medizin, Pädagogik) positiv
   angetan war, musste doch auch da was dran sein! Ich        „Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben
   begann Bücher über Christus, das Vaterunser u.a. zu        muss man es aber vorwärts.“
   lesen, besuchte Vorträge und fasste dann auch den          Søren Kierkegaard
   Mut, eine Menschenweihehandlung zu besuchen, um
   mir selbst einen Eindruck davon zu verschaffen. Es
   war gar nicht so schlimm wie ich befürchtete! Im
   Gegenteil – ich konnte etwas sehr Ruhiges,
   Klares, Ordnendes und Bewusstes in der
   Sprache, den Bewegungen, der äußeren
   Form wahrnehmen. Das hat mich sehr
   berührt und angesprochen.

   Dennoch erforderten es die damaligen
   Lebensumstände, dass ich wieder einmal
   alles los- und hinter mir zurücklassen
   musste, um mich innerlich wie äußerlich
   von Neuem auf den Weg zu machen. Ich
   machte eine Sabbatzeit, in der ich an ver-
   schiedenen Orten in Deutschland, Österreich
   und der Schweiz in spirituellen Seminarhäusern
   mitlebte und -arbeitete und für mich klärende und
   wegweisende Erfahrungen machte.

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  Wege zum Seminar

              Viele Fragen auf dem Weg
              Rosa Hallqvist | 3. Trimester

              Bist du nie des Nachts durch Wald gegangen,                 Erinnerung geblieben, bei denen eine Kerze im Kreis
              Wo du deinen eignen Fuß nicht sahst?                        herum wanderte und jeder erzählen durfte, was für ihn
              Doch ein Wissen überwand dein Bangen:                       an diesem Tag besonders schön war. Dabei entstand ein
              Dich führt der Weg.                                         bunter Strauß des gemeinsam erlebten Tages, in dem
                                                                          jeder einzelne mit seinem Beitrag aufblühen konnte und
              Hält dich Leid und Trübsal nie umfangen,
              Dass du zitterst welchem Ziel du nahst?                     von allen gesehen wurde. Da bekam man einen feinen
              Doch ein Wissen übermannt dein Bangen:                      Eindruck der Reisegemeinschaft, den man jeden Abend
              Dich führt dein Weg.                                        mit in den Schlaf nehmen konnte und durch den man
                                             Christian Morgenstern        die Menschen gut kennenlernte. Auf diesen Reisen ent-
                                                                          standen tiefe Freundschaften und die Erlebnisse strahl-
              Ein Jahr nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte,        ten noch lange in meinen Alltag hinein.
              entschied ich mich dafür, mich am Priesterseminar zu
              bewerben. Bis dahin hatte ich an vielen sozialen            Bei der Organisation von verschiedenen Tagungen und
              Projekten teilgenommen und damit verbunden Reisen           Kinderfreizeiten erlebte ich, dass eine Gemeinschaft
              nach Madagaskar, Schweden und Russland gemacht, in          etwas schaffen kann. Zum Beispiel war die Kulturfreizeit
              einer Pizzeria gearbeitet und für eine kurze Zeit Euryth-   in Dortmund, an der bis zu 80 Flüchtlingskinder teilnah-
              mie studiert. Die Zeit nach der Schule war von großer       men, ein Projekt, bei dem wir uns kaum vorstellen konn-
              Unsicherheit geprägt, denn die Frage, was ich mit mei-      ten, wie es gelingen sollte. Durch das gemeinsame
              nem Leben anfangen wollte, drängte sich mir auf und         Arbeiten an dem, was aus den gemeinsamen Idealen
              ich hatte Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.       geschöpft wurde, entstand, wie ein starkes Netz, eine
              Das Gedicht über den Weg von Christian Morgenstern          innere Verbindung zwischen den Menschen: Eine echte
              hat mich in dieser Zeit sehr berührt und mir geholfen,      Gemeinschaft. Durch diese Erfahrungen gewann ich die
              Vertrauen zu haben. Ich begann, die Entscheidung ans        Sicherheit, dass das Wirken der Christengemeinschaft
              Priesterseminar zu gehen, die sich für mich wie ein ent-    etwas Gutes zur Entwicklung der Menschheit beitragen
              ferntes Ziel angefühlt hatte, anders zu sehen: Als eine     kann!
              Etappe meines Weges, die sich für die nächste Zeit rich-
              tig anfühlte.                                               Es war außerdem wichtig für mich, mit Menschen zu
                                                                          sprechen, die am Priesterseminar studiert hatten,
              Die Gründe, warum ich am Priesterseminar studieren          sowohl mit Priestern als auch mit Menschen, die später
              wollte, waren vielfältig und es ist gar nicht leicht zu     einen anderen Beruf ergriffen hatten. An vielen von
              bestimmen, was ausschlaggebend war, da sich der Wille       ihnen bemerkte ich eine warme Ausstrahlung und eine
              dafür in den letzten Jahren durch verschiedene Erfah-       besondere Haltung dem Leben gegenüber: Sie ergriffen
              rungen langsam aufgebaut hat.                               ihren Beruf mit Ernst und Freude und man merkte ihnen
                                                                          an, dass ihnen der Beruf wirklich am Herzen lag.
              Die Erfahrungen, die ich als Jugendliche durch die          Ich wollte am Priesterseminar studieren, um zu verste-
              Christengemeinschaft machte, bildeten die Grundlage.        hen, welche Gedanken hinter dem steckten, was ich in
              Die Jugendreisen waren wunderbare Erlebnisse: Wan-          meiner Jugend und an den Anthroposophen und
              derungen durch fremde Natur, Singen am Lagerfeuer,          Priestern erlebt hatte und ich wollte herausfinden, ob
              lange Busfahrten, Begegnungen mit Menschen aus              ich mich auch beruflich für die Christengemeinschaft
              anderen Kulturen, Baden im eiskalten Wasser, tiefe          und die Anthroposophie einsetzen wollte.
              Gespräche. Besonders sind mir die Abendkreise in

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                                                                                                               Wege zum Seminar

                                                              Weile und aus einem gewissen Abstand merkt man, dass
                                                              sich etwas in einem verändert hat. Diese Studieninhalte
                                                              bieten die Möglichkeit, den inneren, menschlichen Kern
                                                              zu stärken.
                                                              Es hat mich sehr berührt, miterleben zu dürfen, wie die
                                                              diesjährige Weihegruppe Schritt für Schritt auf das
                                                              Priestertum zuging. Dadurch hat sich meine Vorstellung
                                                              davon, was es wirklich bedeutet Priester zu werden, kon-
                                                              kretisiert. Jetzt ist mir noch mehr als vorher bewusst,
                                                              dass es eine Lebensentscheidung ist, der man gewach-
                                                              sen sein muss. Gleichzeitig muss man aber auch kein
                                                              perfekter Alleskönner sein. Man braucht, denke ich, viel
                                                              innere Kraft um wirklich „Ja” sagen zu können, zu dieser
                                                              schönen, anspruchsvollen und verbindlichen Aufgabe.

   Jetzt bin ich mitten im Studium und immer wieder           Werde ich durch dieses Studium den
   frage ich mich, was ich lernen will.                       Herausforderungen des Lebens gewachsener?
   Mir ist wichtig, dass ich durch meine Ausbildung ein       In den Trimesterferien habe ich in einem Altersheim als
   Mensch werde, der erkennt, was die Welt braucht und        Pflegehelferin gearbeitet und wurde mit schweren
   fähig ist, etwas zu ihrer Entwicklung beizutragen.         Fragen konfrontiert: Ich wurde von einer an Schmerzen
                                                              leidenden Frau gebeten, ihr etwas Tröstliches zu sagen.
   Was lerne ich am Priesterseminar?                          Es gab einen Mann, der jeden Morgen sagte, dass er
   Am Priesterseminar ist zunächst nicht die Frage, was       sterben wolle. Auch einige andere Menschen erlebten
   man im Leben tut, ob man Priester wird oder nicht, son-    ihren Alltag im Altersheim als sinnlos und leer. Da stan-
   dern wie man es tut. Im Studium kann man üben, wie         den große Fragen im Raum: Wohin gehe ich, wenn ich
   man, unabhängig von der Aufgabe, die sich einem stellt,    sterbe? Wofür lebe ich? Ich denke, es gibt für solche
   dem Leben wach entgegentritt.                              Fragen kein richtig oder falsch. Vielmehr müssen sich im
   Unser Menschenbild kann sich durch die Inhalte in viele    Gespräch, im Sprechen und Zuhören, Antworten finden.
   Richtungen entfalten. Im Schnelldurchlauf erhalten wir,    In diesen Situationen habe ich in mich hineingehört und
   im Lichte der Anthroposophie, einen Überblick über         nach etwas gesucht, das für mich persönlich wesentlich
   Geschichte, Literatur, Naturwissenschaft, Philosophie,     ist und vielleicht diesen Menschen auch berühren könn-
   Medizin und Religion: eine erweiterte allgemeine Men-      te. Das war dann oft ein Gedicht oder ein Gebet, manch-
   schenbildung, die hilft, sich selbst in den Zusammen-      mal auch einfach ein langer Moment der Stille. Manch-
   hang der Welt einzuordnen.                                 mal ist es mir gelungen, dem Menschen zu begegnen,
   Die künstlerischen Fächer, die gemeinsamen Projekte,       manchmal nicht.
   das Meditieren, die Evangelienarbeit und die tägliche
   Menschenweihehandlung haben eine rätselhafte Wir-          Ich würde den Menschen gerne Vertrauen in das Leben
   kung. Ich denke, wir lernen sehr viel auf diesem Weg,      vermitteln können und ein Gefühl dafür bekommen,
   doch es ist kein intellektuelles Wissen, das man abrufen   welches Handeln oder welches Wort einer Situation
   kann, sondern es wirkt in einem Bereich, in dem wir uns    gemäß ist. Das ist es, wofür ich hier am Seminar ver-
   dessen nicht bewusst sind: in der Nacht. Erst nach einer   suche aufmerksam zu werden.

                                                                                                                          11
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  Wege zum Seminar

              Studierende des 6. Trimesters

                                        von links nach rechts
                                                                Santiago Corigliano (1995, Argentinien)
                                                                Andrii Moisieiev (1982, Ukraine)
                                                                Nathanael Becker (1993, Deutschland/Frankreich)
                                                                Gabriela Halmagean (1980, Rumänien)
                                                                Lea-Solveigh Breckenfelder (1997, Deutschland)
                                                                Jan Kirdorf (1990, Deutschland)

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                                                                                                          Wege zum Seminar

   Abschied und Aufbruch

   Ganz plötzlich ist es da: das vorläufige Ende unseres   die gemeinsamen Aufgaben, die es am Seminar zu
   gemeinsamen Weges hier am Seminar. Gerade noch,         erledigen gibt, bringen uns näher zusammen: da wir
   so mag es scheinen, haben wir uns in der ersten         so wenige Studierende sind, ist fast jeder an allen
   Vorstellungsrunde kennengelernt und schon sind wir      Aufgaben beteiligt.
   dabei wieder aufzubrechen. Wir blicken auf zwei         Besonders schöne Momente haben wir Studierende
   sehr abwechslungsreiche und bewegte Jahre zurück,       erlebt, als jeder von uns sein Projekt, ein Thema mit
   in denen wir uns selbst immer besser kennengelernt      dem er sich seit Beginn des zweiten Jahres beschäf-
   haben. Der Blick auf die eigene Aufgabe ist klarer      tigt hat, vorstellte. Da durften wir einen tiefen Blick
   geworden, manche Frage hat sich geklärt und viele       in die Seele des Anderen werfen und erfahren, was
   sind neu aufgetreten. Durch die Inhalte des Stu-        sein Herzensanliegen ist.
   diums hindurch wird langsam der ganz persönliche        Wir blicken alle gespannt auf das kommende Stu-
   Bezug zur Christengemeinschaft deutlich, der für        dienjahr, das uns an unsere Praktikumsorte führen
   jeden von uns eine andere Gestalt hat.                  wird. Gemeinsam ist uns die Lust aufs Tun, der
   Auch unser Trimester als kleine Gemeinschaft kennt      Wunsch, nach der Studienzeit in die Praxis zu kom-
   sich jetzt besser. Von den zwölf Menschen, mit          men und unter Beweis zu stellen, dass das Studium
   denen wir im Herbst 2017 angefangen haben, sind         am Priesterseminar nicht lebensfremd, sondern ganz
   sechs geblieben. Umso enger sind wir zusammenge-        im Gegenteil lebenspraktisch macht.
   rückt. An der Aufgabe, uns als Gruppe immer neu zu
   finden, haben wir alle viel lernen können. Und auch     Für das sechste Trimester, Jan Kirdorf

                                                                                                                     13
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  Wege zum Seminar

              Priester werden – erste Erfahrungen
              Anastasiia Mazur | Priesterin in Bremen

              Wie verändert sich das Leben
              nach der Priesterweihe?
              Als Studierende am Priesterseminar versuchten wir
              manchmal, uns das vorzustellen. Wir redeten auch
              mit Menschen, die diese Veränderung schon durchge-
              macht hatten. Und oft hörte ich dann: „Nach der
              Priesterweihe wird man einsam“. Am Seminar werden
              die Studenten und Weihekandidaten begleitet, vorbe-
              reitet und getragen. Noch nie habe ich erlebt, dass so
              viel Kraft und Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe
              einzelner Menschen konzentriert wird, wie in diesen
              Jahren am Seminar und besonders in der Zeit der
              Vorbereitung auf die Weihe. Und nun sind wir
              geweiht, und wir stehen allein mit neuen Aufgaben
              und neuer Verantwortung in der Welt.                       Richtung Norden, was ich wahrscheinlich nie von mir
                                                                         aus gemacht hätte. Ich verließ meine Freunde, mit
              „Nach der Priesterweihe wird man einsam.“                  denen ich all meine Freuden und Leiden teilte. Und ich
              Das stimmt. Und das stimmt auch nicht. Die letzten         verabschiedete die glückliche Zeit des Studierens, in
              Jahre lebte ich am Priesterseminar. Äußerlich gesehen      der ich lernen, ausprobieren, Fehler machen konnte, …
              heißt es zunächst: ein kleines Studentenzimmer, wo         und all das im Verborgenen, unter einem liebevollen
              man nicht husten kann, ohne das es mindestens zwei         Blick der Lehrer, die immer bereit waren zu korrigieren
              Nachbarn hören; über viele Monate hindurch eine            und zu helfen.
              gemeinsame Küche, wo man nach dem Essen natür-             Jetzt bin ich da, wo alles fremd sein sollte: in Bremen,
              lich keine Sachen stehen lassen soll, und wo man nie       wo das Wetter mich prüft, ob ich wirklich standhaft
              alleine sein kann; Leben mit verschiedensten Men-          bin, wo ich keinen Menschen kannte, und wo ich sel-
              schen, die einem so nah werden, dass man das kaum          ber vollverantwortlich priesterlich wirken soll. Und ich
              aushalten und gleichzeitig nicht genug schätzen            bin hier zu Hause. Ich lerne Menschen kennen und
              kann; und natürlich das unerlässliche Lernen, Werden,      nach wenigen Tagen habe ich das Gefühl, dass wir uns
              Sich-Verwandeln unter treuer Begleitung derer, die         schon ewig kennen. Ich liebe diese Stadt, die nach
              dieses Werden sich selber zur Aufgabe gemacht              dem Winterschlaf mit mir zusammen auflebt. Und das
              haben. Brauchte man Hilfe, so reichte es manchmal,         Schönste ist, dass ich bei all den neuen unbekannten
              nur laut daran zu denken, da war die Hilfe schon da.       Aufgaben nicht alleine bin. Ich bin keine Studentin
              All diese Einzelheiten, die an und für sich sehr schwie-   mehr und habe nicht meine Lehrer um mich, aber die
              rig sein können, bildeten ein wunderbares Ganzes. Wir      liebevollen Augen meiner neuen Kollegen und meiner
              waren wie die Blättchen in der Löwenzahnblüte, ganz        ersten Gemeinde schauen mit Vertrauen und
              eng beieinander und voneinander getragen. Und nun          Zuversicht auf mich. Das Leben nach der Weihe ist
              sind die einzelnen Samen in die Welt verweht. Keiner       ganz anders, als ich mir es hätte vorstellen können.
              ist mehr so nah. Vor diesem Alleinsein habe ich mich       Und ich bin froh darüber.
              gefürchtet. Umso überraschender ist es für mich, wie       Denn was ist schöner, als eine Welt zu entdecken,
              sehr diese große Änderung in meinem Leben sich wie         von der man nichts wusste, und dabei festzustellen,
              ein Ankommen zu Hause anfühlt. Auf einmal zog ich          dass es Heimat ist?

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                                                                                                         Wege zum Seminar

   „Priesterwerden ist herrlich“
   Nils Cooper | Priester in Berlin-Wilmersdorf

   Die tiefen Erlebnisse der Angelobung und der             dass von mir Segens-
   Priesterweihe liegen gerade einmal drei Monate           reiches ausgehen kann
   zurück, aber es erscheint mir beim Zurückblicken         und nicht Floskelhaftes
   wesentlich länger, so viel ist seitdem geschehen.        und Abgegucktes? Pries-
                                                            terwerden, das sei hier
   „Sie kommen in die Stadt,                                deutlich ausgesprochen,
   in der 150.000 Linden stehen.“                           bringt in Bewegung!
   Als Christward Kröner diesen Satz während der            Jeden Tag wachse ich ein
   Entsendungsfeier sagte, wusste ich: Berlin! Ich bin      wenig mehr hinein. Und
   also in die Gemeinde entsandt, in der ich vor fast 24    manchmal werde ich auch
   Jahren als ganz junger Mann die Pfingsttagung 1996       ein gutes Stück hineinge-
   mitorganisiert habe. Und ich freue mich jeden Tag        stoßen. Gerade in den
   darüber!                                                 kostbaren Begegnungen
   Meine Kollegen und die Gemeinde haben mir einen so       mit einzelnen Menschen
   herzlichen Empfang bereitet, dass es sehr einfach war,   erfahre ich, was für einem
   hier anzukommen und zu beginnen.                         breiten Feld an Heraus-
   Berlin ist eine große Stadt, und die Gemeinde Berlin-    forderungen wir Menschen
   Wilmersdorf ist eine große Gemeinde. Wir arbeiten        heute ausgesetzt sind. Für
   hier zu viert und werden von zwei emeritierten           mich sind diese Begeg-
   Kollegen und dem Lenker Andreas von Wehren dabei         nungen, das Zuhören,
   unterstützt. Und, wie es sich für das Leben in der       Beschweigen, Fragen und
   Großstadt gehört, springt man rein und fängt an und      Wahrnehmen die Momente, in denen die Größe und
   schaut, wo die Aufgaben liegen und was auf einen         die Möglichkeiten des Menschen, auch durch die
   zukommt. Und das ist eine Menge! Zelebrieren,            scheinbar schwierigsten Situationen hindurch, erahn-
   Bestatten, Unterrichten, Seelsorge, Besuche und seit     bar werden. Ich bin dafür sehr dankbar.
   dieser Woche auch 23 Konfirmanden, die ich auf die       Und dann gibt es das Alleinsein mit dem Gehörten
   Konfirmation im kommenden Jahr vorbereiten darf.         und Anvertrauten, die Stunden mit dem Brevier, den
   Beeindruckt und sehr froh bin ich über den offenen       Kampf um die Sonntagspredigt und die Sorgen, etwas
   und sehr vertrauensvollen Stil der Zusammenarbeit im     falsch gemacht oder vergessen zu haben, die Suche
   Kollegium, aus dem große Sicherheit und Lust auf die     nach dem eigenen Klang und das Ringen mit den
   Arbeit erwächst.                                         eigenen Schwächen und Fragen. Pfarrerwerden ist
   In unserer Krypta komme ich ziemlich häufig zum          herrlich – und nichts für schwache Nerven.
   Zelebrieren und lausche jedes Mal etwas mehr in die
   Worte der Weihehandlung hinein. Daraus erwachsen         Mit großer Dankbarkeit blicke ich auf die Zeit am
   Fragen an das eigene Werden, an die neue Aufgabe         Seminar zurück und danke auch den Lesern des
   und an das eigene Sein. Und zugleich kommt mir auch      Seminarbriefes, die durch ihre Zuwendungen
   genau von dort und aus den Begegnungen mit der           Priesterwerden immer wieder möglich machen. Ich
   Gemeinde die Kraft zu, Fragen zu stellen und in          hoffe, viel von dem Erhaltenen im Laufe meines
   Entwicklung zu kommen. Wie kann ich immer wirkli-        Priesterseins zurückgeben zu können!
   cher ein Diener des Christus werden? Wie denke und
   fühle ich mich so in die Substanz unserer Arbeit ein,

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  Wege zum Seminar

              Erste Schritte
              Anna Hofer | Priester in Köln-Ost

              Zwei Monate sind es nur. Es kommt mir schon sehr         Regionalsynode. Und dann kamen die Fragen. Nicht
              viel länger vor, manchmal als wäre ich schon immer       die Fragen von den Menschen an mich, aber meine
              hier, als hätte ich eine Ahnenreihe an Erfahrungen.      Fragen an alles. Wer macht den Garten? Wer die
              Und doch ist eigentlich alles noch so neu, frisch und    Blumen am Altar? Wer macht das Büro? Und bald
              steht unter dem Stern des Anfangs.                       auch schon: wer macht das Programm? Mit der
                                                                       Unterstützung der Menschen hier habe ich ein
              Ich bin jetzt Priester der Christengemeinschaft und      Programm gemacht. Mein erstes Gemeindepro-
              lebe in der Gemeinde Köln-Ost. Diese Worte fühlen        gramm. Es gibt so viele erste Male: erstes Mal Evan-
              sich noch ein wenig fremd an, einschüchternd, zu         gelienkreis, Gemeindeversammlung, Wirtschaftskreis,
              groß. Wie ein Paar Schuhe, die etwas zu groß sind. Da    Räume kennenlernen, aufräumen und ordnen, zuhö-
              ist noch freier Raum bei jedem Schritt. Noch so vie-     ren und nachfragen, erste Gespräche, erste Taufe,
              les ist ungeklärt und ungewohnt, trotzdem geschützt      Religionsunterricht, noch weitere Kreise und Treffen
              und offensichtlich erstaunlich schlicht. Die Aufgaben    und überall ist die Aufgabe für mich, erst einmal die
              sind deutlich in die Zukunft geschrieben und sie, die    Stimmung zu verstehen. Wahrnehmen, was da ist
              Zukunft, spricht dauernd. Sie erzählt, wägt ab, fühlt.   und wie es sich anfühlt. Die Geschichten hinter den
              Sie fühlt so viel und probiert und erzählt wieder. Ich   Dingen herausfinden. Die Geschichten hinter den
              bereite mich darauf vor, dass sie nie schweigt und       Menschen erfahren. Wer sind diese Menschen, die
              wenn sie es doch tut, ich ihr das Erzählen durch gutes   hier leben und arbeiten. Ach ja und Köln: wo bin ich
              Zuhören wieder beibringe.                                eigentlich gelandet?

              Ich bereite mich auch darauf vor, dass sich der Boden    Mit allem stehe ich am Anfang. Aber ich kann auch
              nie ganz beruhigen lässt. Wahrscheinlich gehen wir       sagen, dass nicht alles ganz so neu ist. Einiges aus
              auf einem schwingenden Boden. Boden unter den            meinem alten Leben kann ich sehr gut gebrauchen.
              Füßen zu haben stellen wir uns viel zu fest vor. Ich     Meine Lebenserfahrungen, meine eigenen Erfah-
              bin sicher, dass er schwingt. Er geht auf und ab, er     rungen aus den Geschichten meines Lebens sind mir
              wellt und verändert seine Struktur. Er soll so beweg-    jetzt sehr hilfreich. Und die Arbeit im unternehmeri-
              lich bleiben wie ich es sein soll, um Ihm zu dienen,     schen Bereich kommt mir zugute. Aber auch alles,
              der überall seine Zeichen hinterlässt.                   was ich an den Seminaren gelernt habe. Vornehmlich
                                                                       meine eigene Stimme zu erheben, meine eigenen
              So sind erste Schritte. So sind sie doch immer,          Worte zu finden und meine Gedanken auszusprechen
              wenn wir unser Leben verändern und etwas Neues           unter Berücksichtigung der erlernten Inhalte, die sich
              anfangen.                                                bei mir nicht als Wissensbildung angehäuft haben,
                                                                       eher als so etwas wie ein schwingender Boden.
              Ich bin also am 23. März 2019 in Köln-Ost angekom-
              men. An diesem Tag war meine Einführung in die           Meine Entsendung ist vorerst zeitlich begrenzt. Das
              Gemeinde. Zwei Tage zuvor stellte ich meine Koffer in    mag eine besondere Herausforderung mit sich brin-
              der Wohnung ab. Und am Tag nach der Einführung           gen. Worauf kann ich mich einlassen in dieser Zeit?
              war Sonntag. Mein erster richtiger Arbeitstag mit        Wie können sich die Menschen auf mich einlassen,
              allem, was dazu gehört: Menschenweihehandlung            wenn die Zeit begrenzt ist? Was kann ich tun und wie
              mit Predigt, dann Sonntagshandlung, dann Kaffee          die Fragen beantworten, die weiter reichen als meine
              und Jahresversammlung. Danach direkt die erste           Zeit? Aber ich bin nicht mutlos, im Gegenteil: diese

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                                                                                                          Wege zum Seminar

   Situation ist eine sehr gute Schule, denn alles, was     Beim Durchlesen bis hierher fällt mir einmal mehr
   ich anfange, gründet auf den Fragen: Kann das, was       auf, dass diese Fragen nicht ungewöhnlich sind.
   ich hier tue, über mich hinaus in die Zukunft tragen?    Überhaupt nicht. Es sind dieselben Fragen, die jeder
   Agiere ich aus Eigennutz oder arbeite ich wirklich am    Mensch sich in seinem Leben stellt, wenn auch in
   Gemeinschaftsleben, an der Gemeinschaftsbildung?         Bezug auf jeweils seine Arbeit, sein Leben. Was ist
   Was will und soll sich hier weiterentwickeln, ganz       denn das Besondere am Priestertum? Vielleicht ist
   unabhängig von mir? Das empfinde ich als wesentli-       das Besondere eben dieses, dass es im Grunde ein-
   che Fragen und nicht nur deshalb, weil meine             fach nur menschlich ist. Menschlich. Human. Los-
   Entsendung begrenzt ist. Die Zeit als Mensch auf der     gelöst vom persönlichen Profit. Für jeden Menschen
   Erde ist immer begrenzt und keiner weiß, wie viel Zeit   zugänglich ist sie, die erhabene Menschlichkeit. Das
   er hat, aber das Wesen der Christengemeinschaft soll     innere Priestertum ist die Entfaltung der Mensch-
   auch in die Zukunft hinein tragfähig bleiben. Was        lichkeit im eigenen Leben. Der moralische Mensch,
   also kann ich tun? Was können wir gemeinsam tun in       der sich entschließt dem Christus zu folgen, sich mit
   der uns zur Verfügung stehenden Zeit?                    ihm zu verbinden. Da fängt die Schule an, auf die
                                                            jeder gehen kann. Sie wissen ja bestimmt, liebe Leser,
                                                            dass alles was wir tun und nicht tun eine Wirkung
                                                            auf die Entwicklung der Welt hat, so oder so, und
                                                            damit auch auf die Zukunft des menschlichen
                                                            Wesens. Warum sollte man sich dafür einsetzen?

                                                            Nur weil man das will. Weil man sich sagt: Ich will,
                                                            dass es den Menschen auch in Zukunft gibt. Es kann
                                                            niemand kommen und sagen: „du musst“. Wir wollen
                                                            im Grunde ganz Mensch werden. So wie wir atmen
                                                            wollen. Aber um einen Entschluss zu fassen, müssen
                                                            wir alles in Frage stellen und so gesehen eigentlich
                                                            für jede Zukunft eine Möglichkeit sehen. Dann kön-
                                                            nen wir uns entscheiden, welche Zukunft wir haben
                                                            wollen und daran arbeiten. Jeder an seinem Altar.
                                                            Und gemeinsam an Seinem Altar.

                                                                                                                     17
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   Glauben und Wissen

              „Credo ut intelligam” – Ich glaube, um zu begreifen
              Isabel Chotsourian | 3. Trimester

              Im Jahr 1944, fast am Ende seines Lebens, stellte sich
              Erwin Schrödinger, ein Mitbegründer der Quanten-
              mechanik, die Frage: „Was ist Leben?” An der Grenze
              der wahrnehmbaren physischen Realität, fragt sich
              dieser Wissenschaftler, wie es möglich sei, dass Mate-
              rie denken kann. Die Gesetze der materialistischen
              Physik, merkte Schrödinger schon damals, gelten nicht
              für lebendige Materie, also muss es eine Kraft geben,
              etwas, das gegen den materiellen Tod kämpft. Was
              sind wir? Eine zufällige und willkürliche Zusammen-
              setzung von Atomen? Die Entwickelung der Welt und
              der Menschen als eine zufällige Reihenfolge von
              beweisbaren rein physischen Ereignissen verstehen zu
              wollen, ergibt letztendlich keinen Sinn. Die Frage der
              materialistischen Weltanschauung bleibt immer un-
              beantwortet und stößt immer an die gleiche Grenze:
              Was war vor der Materie? Das Problem oder die
              Schwierigkeit der heutigen Wissenschaft ist, dass,
              anstatt eine ganzheitliche Vorstellung der Realität zu
              entwickeln, einzelne Theorien als Dogmen festgelegt
              werden, die sich nur auf die physisch wahrnehmbaren
              Einzelheiten der Realität stützen. Man geht immer
              tiefer in das Materiell-Theoretische hinein und ver-
              lässt sich nur auf das physisch Beweisbare.

              Rudolf Steiner beschreibt geistige Wesen, deren
              Wirkung im Physischen sichtbar wird, die aber an sich,     nicht wahrnehmen kann? Kann Glauben vernünftiges
              für das physische Auge, unsichtbar sind. Die               Denken ersetzen? Anselm von Canterbury, Vater der
              Wissenschaft stoppt bei der sichtbaren Wirkung, ohne       Scholastik, wollte den Glauben mit dem Denken in
              erklären zu können, worin diese ihren Ursprung hat.        Zusammenhang bringen. Für ihn war der Glaube die
              Deshalb bezeichnet die Wissenschaft alle                   Kraft, die nach der Erkenntnis strebt: „Ich glaube, um
              Erkenntnisse, die über die physische Realität hinaus-      zu begreifen” (credo ut intelligam). Der Glaube kommt
              gehen als rein subjektive Theorien ohne wissenschaft-      vor der Erkenntnis, ist nur der Anfang, durch ihn kön-
              liche Haltbarkeit. Die Versuche zu beschreiben, was        nen wir das notwendige Vertrauen zu der Realität ent-
              hinter physischen Erscheinungen eigentlich steckt,         wickeln, die wir noch nicht selbst sehen können, bis
              haben in der Wissenschaft keinen Wert, sind nur            wir uns so weit entwickelt haben, dass wir sie aus
              Metaphysik. Kann man aufgrund der Tatsache, dass           eigener Fähigkeit entziffern können. Anselm von Can-
              man geistige Wesen selbst nicht wahrnehmen kann,           terbury spricht, wie auch Plato und Augustinus, von
              feststellen, dass sie nicht existieren? Muss ich einfach   einem Glauben, „der nach Erkenntnis fragt”, nach
              an die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners „glauben”,      einem Glauben, der in uns Fragen hervorruft, Impulse
              wenn ich die beschriebenen geistigen Wesen selbst          gibt, mit neuen Fragen die Wirklichkeit noch einmal

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                                                                                                           Glauben und Wissen

               anzuschauen und sie mit unserem akti-        mein Denken lerne ich die Wirklichkeit und ihre
               ven Denken selbst zu prüfen. „...denn als    Gesetzmäßigkeiten selbst zu denken. Das lateinische
               Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht       Wort „credere” von cor dare heißt „das Herz schen-
               als Schauende“ sagt Paulus in einem sei-     ken” und zeigt eine direkte Verbindung zwischen
               ner Briefe (2 Kor. 5). Und mit Recht, denn   Glaubens- und Herztätigkeit. Wörtlich übersetzt:
               wenn wir nicht die Realität mit unserem      „unser Herz auf (etwas) stellen / legen”. Ist es nicht so,
               Denken durchdringen wollen, sondern als      dass die Wahrheit sich zuerst in unserem Herzen
               Zuschauer außen vor stehen bleiben, wie      offenbart? In diesem Sinn kann der Glaube ein
               sollten wir dann Erkenntnis der              Übungsweg werden, ein Prozess, unser Herz zu einem
               Wirklichkeit erlangen? Worauf stehen         Wahrheitsorgan zu entwickeln, aus dem wir die Kraft
               wir, wenn unser Boden nur aus theore-        und die Fähigkeit bekommen, kein Gegebenes, son-
               tisch angenommenen Gesetzen besteht?         dern nur eine aus eigener Tätigkeit gedachte Realität
               Sind wir Sklaven des Wahrnehmungs-           als Wahrheit anzuerkennen. Durch die Glaubenskraft
               scheines geworden? So ist heute die          können wir die Kraft bekommen, die Wahrheiten der
               Situation, dass die Menschen nicht mehr      Welt zu erkennen. So gehen wir hinaus in die Welt,
               wissen, wer sie eigentlich sind und woher    und sehen und erleben mit anderen Augen; plötzlich
               sie kommen; sie laufen wie verloren in       sind wir ein bisschen mehr „hell-sichtig” geworden,
               einer Scheinwelt, ohne Klarheit zu erlan-    wenn die Wirklichkeit langsam mehr Klarheit und
               gen, was wahr und was unwahr ist. Wo         einen ganzheitlichen Sinn bekommt. Denn wenn wir
               sind die Begeisterung und das Staunen        unser Herz öffnen, denken wir anders. Und indem wir
               für die Welt geblieben? Was ist mit unse-    üben, einen Sinn für die Wahrheit zu entwickeln, kön-
               rem Willen passiert? Glauben ist für mich    nen wir die Welt und uns selbst anders wahrnehmen.
               kein Weg der passiven Erkenntnis — im
               Gegenteil. Dank des Glaubens, bekomme        Im Lukas Evangelium sehen wir, wie die Jünger dem
               ich Kraft, Willenskraft, um aktiv die        Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus begeg-
               Wahrheiten, die ich noch nicht voll          nen, aber ihn zunächst nicht erkennen können. Sie
   begreifen kann, verstehen zu können. Wie ein kleines     erkennen ihn, nachdem er sich durch das Brechen des
   Kind lernt man die Wirklichkeit umzudenken; nicht        Brotes erkenntlich gemacht hat. Der Verstand muss
   nur den materiellen Vorgang sehen, sondern sich fra-     sehen, bevor er verstehen kann.
   gen lernen, was für geistige Vorgänge dahinter liegen.
                                                            Das Herz aber ist anderer Qualität: „Brannte nicht
   Der anthroposophische Erkenntnisweg wird dann ein        unser Herz in uns, als er auf dem Weg zu uns redete
   Weg zur Freiheit im Geist, ein Weg, wo man immer         und als er uns die Schriften öffnete?” (Lk. 24,32) frag-
   neue Fragen an der Welt und an sich selbst zu stellen    ten sie einander.
   lernt. „Es hängt für das wahrhafte Erkennen alles
   davon ab, dass […] unsere erkennende Tätigkeit sich      Und vielleicht kann man jeden Tag ein
   nicht bloß ein Gegebenes voraussetzt, sondern in dem     bisschen mehr üben, wahrzunehmen, was
   Gegebenen tätig mitten drin steht” (Rudolf Steiner,      dieses merkwürdige Feuer uns sagen will.
   GA 3, S. 142). Die Begriffe und Ideen über die Welt
   muss ich selber hervorbringen, wenn ich sie erleben
   will. Durch meine eigene Tätigkeit, meine Fragen und

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   Glauben und Wissen

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  Glauben und Wissen

              Glaube ich?
              María Laura de San Martín | 3. Trimester

                                                                       Die Vorträge Steiners sind genau dafür da: um selbst
                                                                       erlebt zu werden und sich im Leben zu bewahrheiten.
                                                                       Als mein Studium am Seminar begann, hatten wir mit
                                                                       Herrn Ortín einen Kurs zur Erkenntnistheorie. Wir ver-
                                                                       tieften das Thema mit viel Intensität und Freude. Für
                                                                       mich war es unter anderem ein großer Schritt, Kants
                                                                       Subjektivität zu überwinden, die Gedanken objektiv
                                                                       zu nehmen und zu ordnen. Zu wissen, dass nicht alles
                                                                       mit dem Denken erreichbar ist, nicht alles durch das
                                                                       Denken zu lösen ist und doch alles seinen Ort in ihm
                                                                       findet. Es war wunderbar. So begegneten mir auch die
              Bevor ich ans Seminar kam, beschäftigte ich mich viel    Theosophie und die Geheimwissenschaft im Umriss.
              mit der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und        Werke, die das Menschenwesen beschreiben, die
              hatte so auch die Möglichkeit, auf einigen biologisch-   Evolution der Erde und das in aller Tiefe. So begann
              dynamischen Höfen in meiner Heimat Argentinien           für mich eine große Herausforderung, denn nun ging
              mitzuarbeiten. Argentinien ist ein sehr großes, weites   es nicht mehr nur noch darum selbst zu machen und
              und wunderschönes Land. Es ist eins der wenigen          zu beobachten, sondern mir kam die Frage auf:
              Länder auf der Welt, in dem wirklich jedes Klima zu      Warum fühlt sich das, was ich lese, so richtig und
              finden ist. Auf den Höfen konnte ich sehr trockene,      wahrhaftig an, wenn ich es nicht beweisen kann? Das
              rote, lehmige und steinreiche Erde bearbeiten. Auf       Lesen war für mich wie eine „Seelen-Massage“, denn
              diesem Boden wuchs eine unglaubliche Vielfalt von        ich konnte alles so gut verstehen, doch jemandem
              Pflanzengewächsen und verschiedene Heilkräuter.          erklären konnte ich es noch nicht. Dann begann das
              Auch lebten viele Tiere auf dem Hof: Kühe, Büffel,       Vertiefen beider Bücher und die Bilder wandelten sich
              Schweine, Hühner und Bienen. In der hofeigenen           in Begriffe. Bald konnte ich nicht nur vermitteln und
              Käserei wurden alle Produkte selbst hergestellt. Teil    erklären, sondern auch selbst wahrnehmen und mir
              meiner Arbeit war es, Butter, Joghurt, Ricotta und       dadurch selbst beweisen, dass die Evolutionszustände
              verschiedene Käsesorten herzustellen.                    der Planetenentwicklung in der Natur und der Erde,
              Ein wichtiger Bestandteil der biologisch-dynami-         im Inneren des Menschen wahrzunehmen sind.
              schen Landwirtschaft sind die Präparate und an deren     Und so verwandelte sich für mich die Anthroposophie
              Herstellung, Dynamisierung und Ausbringung durfte        in ein grundlegendes Werkzeug, das mir hilft, die
              ich mitarbeiten. Der ganze Hof lebte im Einklang mit     modernen Erkenntnisse und den aktuellen Materia-
              dem Rhythmus der Natur und um diesem Rhythmus            lismus zu vergeistigen.
              gerecht zu werden, richteten wir uns nach dem bio-       Glaube ich? Im ersten Moment schon. Erst spürte ich
              logisch-dynamischen Kalender.                            es in mir, ohne wirklich zu verstehen. Jetzt aber kann
              Ich konnte in allem sowohl im Beobachten als auch        ich, aus eigener Überzeugung heraus, sagen: „ich
              im selber Durchführen, mit aller Klarheit erfahren,      glaube“, weil ich das Gefühl in ein „ich stelle fest“
              was Rudolf Steiner in seinem Landwirtschaftlichen        umgewandelt habe. Und so entstand für mich eine
              Kurs beschrieben hat. In den Tieren, im Heu, in der      Wahrheit!
              Fruchtbarkeit der Böden, in der Nahrungsqualität und
              in der Gesundheit des ganzen Hoforganismus, überall      Ich bedanke mich bei Santiago Corigliano und Lea
              war es deutlich zu sehen.                                Breckenfelder für die Übersetzung.

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   Referate gehalten von den
   Studierenden des 2. Trimesters
   Die Studierenden des ersten Jahres haben Referate zu den Biographien besonderer
   Persönlichkeiten gehalten.

     Antje Schmidt                                         Ita Wegman

     María Laura de San Martín                             Jeanne d’Arc

     Daniela Grieder                                       Elisabeth Kübler-Ross

     Rosa Hallqvist                                        Simone Weil

     Isabel Chotsourian                                    Hildegard von Bingen

     Bernhard Stockert                                     Václav Havel

   Projektvorstellungen
   des 2. Studienjahres
   Die Studierenden des zweiten Jahres haben sich seit Beginn des Studienjahres mit einem frei gewählten
   Thema beschäftigt und es zu Beginn des sechsten Trimesters in öffentlichen Vorträgen vorgestellt:

     Lea Breckenfelder                  Krankheit und Gesundheit im Schicksal

     Nathanael Becker                   Die menschliche Freiheit und der göttliche Wille – ein Widerspruch?

     Jan Kirdorf                        Wie entsteht Gemeinschaft?

     Gabriela Halmagean                 Begegnung mit Christus – wie kann der Mensch sie heute finden?

     Santiago Corigliano                Vergebung: Die Überwindung einer Kluft

     Andrii Moisieiev                   Altäre im Alltag

                                                                                                                       23
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           Lernen

                Kursprogramm Sommertrimester 2019

                                          Grundstudium                                       Vertiefungsstudium
                                          3. Trimester                                       6. Trimester

                    29.04. – 03.05.19     S. Meyer
                                          Geheimwissenschaft                                 Projektzeit

                    06.05. – 10.05.19     F. Sudbrack                                        Dr. M.v. Alstein
                                          Lukasevangelium                                    Trinität

                    13.05. – 17.05.19                                R. Halfen
                                                          Der Mensch und sein Tempel
                                                                    C. Breme
                                                     Plastizieren der Embryonalentwicklung

                    20.05. – 24.05.19     C. Gerhard                                         A. Wohlfeil
                                          Reformation                                        Dreigliederung

                    27.05. – 31.05.19     C. Handwerk                                        Dr. C. Schikarski,
                                          Jahresfeste 2                                      R. M. Rumpf
                                                                                             Pastoralmedizin

                    03.06. – 07.06.19                              G. Wolber
                                                                   Geologie

                    10.06. – 14.06.19                            Studienfreie Zeit
                                                                  Pfingsttagung

                    17.06. – 21.06.19                              A. Wolpert
                                                                    Parzival

                    24.06. – 28.06.19     J.M. Falcone                                       R. M. Rumpf
                                          Geld                                               Biografik 2

                    01.07. – 05.07.19     G. Dreißig                                         G. Dreißig
                                          Das Wort, das die Himmel öffnet                    Apokalypse

                    06.07. – 07.07.19     Aufführung des Kabaretts

                    08.07. – 12.07.19     J. Beuerle                                         S. Meyer
                                          Von der Kindheit zur Jugend:                       Christologie
                                          Konfirmation

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   Vergebung: Die Überwindung einer Kluft
   Santiago Corigliano | 6. Trimester

   Es gibt Taten, die in uns Wunden verursachen. Diese      kommt? Das hieße dann, dass wie die Möglichkeit
   Taten schreiben sich in unsere Biographie ein und        haben, aus dem Erlebten etwas Neues zu schaffen.
   machen uns individueller. Es gibt in diesem Sinne eine
   Fülle von Leiderfahrungen: kleine Dinge, die man         Aber was ist Vergeben?
   eventuell schnell vergessen und entschuldigen kann,      Was geben wir, wenn wir vergeben?
   bis zum Erleben der schlimmsten Grausamkeiten, die       Es gibt so unterschiedliche Formen der Vergebung,
   zunächst nicht wieder gut zu machen sind.                wie es Menschen gibt. Denn es ist ein ganz individu-
   Auf der anderen Seite gibt es das Thema der Verge-       eller Prozess und jeder kann entscheiden, ob er sich
   bung. Wie wichtig ist es für uns Menschen, diese         auf diesen Weg begeben will oder nicht. Doch für
   Fähigkeit zu erlangen; wir werden dadurch menschli-      mich gibt es eine Sache, die immer anwesend ist. Was
   cher und gleichzeitig geschieht eine Heilung.            in uns als Wunde eingeschrieben ist, bildet eine Stelle,
   Nun ist die Frage: Wie geht Vergeben? Wie schaffen       wo etwas wie geknotet ist, etwas, das eine Erlösung
   wir es, diese Kluft zwischen der Tat, unserem            braucht. Das Vergeben ist das Freisetzen oder das
   unglaublichen Leid und dem großen Ideal der Verge-       Neuschöpfen einer Substanz, die vorher nicht da war,
   bung, zu überwinden? Wo könnte man ansetzen, um          etwas ganz Neues, was in unserer Seele Heilung
   von einer Vergebung sprechen zu können?                  bewirkt. Diese Befreiungstat wird das, was durch die
   Man kann deutlich sehen, dass das Leid ein Bestand-      Verletzung verloren gegangen ist, nicht zurückbrin-
   teil unseres Lebens ist. Es ist da. Und es möchte be-    gen, sondern in ihr liegt eine Keimkraft, die Neues
   achtet und nicht einfach verdrängt werden, denn es       möglich macht. Da sind wir unmittelbar Mitarbeiter
   will uns etwas sagen. Aber wir denken, dass das Leid,    der Schöpfung.
   wie auch unsere Krankheiten weggeschafft werden          Vergeben ist Ringen mit einem Ideal. Es ist keine ein-
   müssen, am liebsten wollen wir leben, ohne dass uns      fache Tat, die von einem auf den anderen Tag ge-
   Leid widerfährt.                                         schieht, sie betrifft uns existentiell und braucht Zeit.
   Die Menschen gehen ganz unterschiedlich mit dem          Manchmal ist uns das Ideal zum Greifen nah, dann
   Leid um. Viele schauen gar nicht hin, sondern ver-       wieder ist es so fern, dass wir neu kämpfen müssen,
   drängen es und wollen damit lieber nichts zu tun         um es zu erreichen.
   haben. In anderen steigen Rache, Wut oder Hass auf
   – Gefühle die sich gegen den, der die Tat begangen
   hat, richten. Dort liegt für mich der Ansatz. Genau
   diese Phase zu betrachten, denn die Kräfte dürfen
   nicht einfach so ausgelebt werden. An dieser Stelle,
   auf der Suche nach Heilung, begegnen auch wir einer
   Seite in uns, die auch Leid zufügt und dies vielleicht
   sogar gerne macht.
   Wenn wir verletzt wurden, können ganz unterschied-
   liche Kräfte im Gang treten. Sobald ich ein Unrecht
   erlebt habe, empfinde ich, dass in mir etwas aus dem
   Gleichgewicht geraten ist, etwas fehlt. Und wie jede
   Verletzung will auch diese Wunde wieder heilen, sich
   wieder schließen. Nun kann man sich fragen: das, was
   fehlt, wird es genau wie vorher erscheinen? Oder kann
   die Wunde dadurch heilen, dass etwas Neues hinein-
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