Plattdeutsch - Sprache des Herzens - PLATT IN DE PLEEG - Länderzentrum für ...
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Cristianne Nölting Jan-Bernd Müller Dr. Ulrike Möller Heinrich Siefer Länderzentrum für Niederdeutsch Wissenschaftlicher Mitarbeiter Niederdeutsche Bibliothek Bundesraat gemeinnützige GmbH LZN gemeinnützige GmbH Carl-Toepfer-STIFTUNG för Nedderdüütsch Foto: Beate Zoellner Foto: FotoStudio Wucherpfennig Sögel Foto: Carl-Toepfer-Stifung Foto: privat Herausgegeben vom Länderzentrum für Niederdeutsch gGmbH Contrescarpe 32, 28203 Bremen Telefon: 0151 421 30 622 E-Mail: info@lzn-bremen.de www.lzn-bremen.de 2
INHALT EINLEITUNG Porträt: Dipl.-Psychologin Kirsten Hansen Grußwort Dr. Henning Scherf �������������������������������� 4 begleitet Menschen im Hamburger Hospiz - Vorwort Christianne Nölting ����������������������������������� 6 auch auf Plattdeutsch �������������������������������������������� 49 Die Regionalsprache Niederdeutsch Interview: Hella Einemann-Gräbert über in der Begleitung und Betreuung die Zaubersprache Plattdeutsch an der dementiell erkrankter Menschen BBS Wildeshausen ����������������������������������������������������� 53 von Heinrich Siefer (Bundesrat für Niederdeutsch) �������������������������� 10 MATERIAL & INFOS PORTRÄTS UND INTERVIEWS Christiane Ehlers über das Erinnerungsbuch „Weetst Du noch?“ ���������������������������������������������������� 59 Porträt: Ursula Berlik bringt Menschen seit 20 Jahren „op Platt“ ins Gespräch ����������� 19 Beratung, Informationen und Materialien ���������������������������������������������������������� 63 Interview: Palliativ-Fachkraft Tanja Zolc-Edzart über ihre plattdeutschen Erfahrungen im Weitere Anregungen, Pflegealltag ������������������������������������������������������������������ 27 Wortsammlungen und Ideen ����������������������������� 65 Porträt: Werner Michael unterrichtet Azubis der Alten- und Krankenpflege in Plattdeutsch ����� 35 ZUM SCHLUSS Interview: In der Landesschulbehörde Lied: Otto Grote Ensemble Niedersachsen vernetzt und begeistert Sie sieht an mir vorbei ��������������������������������������������� 66 Herbert Fuhs Menschen fürs Plattdeutsche ��� 41 Se kickt dör mi dör ������������������������������������������������������ 67 3
„Das Plattdeutsche im Alltag der norddeutschen Pflegeeinrichtungen liegt mir sehr am Herzen.“ Dr. Henning Scherf Bürgermeister a.D. Der Freien Hansestadt Bremen Foto: © Senatskanzlei | Anja Raschdorf 4
Liebe Leserinnen und Leser, Sie halten eine Broschüre zum Thema Plattdeutsch Ich bin dankbar für viele herzliche Rückmeldungen in der Pflege – „Platt in de Pleeg“ – in den Händen. nach meinen Lesungen und fühle mich nach Darüber freue ich mich, denn das Plattdeutsche jedem Besuch reich beschenkt. im Alltag der norddeutschen Pflegeeinrichtun- Wenn Menschen sich in ihrer Muttersprache gen liegt mir sehr am Herzen. Seit vielen Jahren begegnen, löst das Wohlbefinden bei ihnen aus. besuche ich gern und regelmäßig verschiedene Sie fühlen sich verstanden, geborgen und zu Bremer Einrichtungen, um dort zu lesen. Hause. Die Träger von Alteneinrichtungen möchte Ich bin selbst kein Muttersprachler, allerdings schätze ich ermutigen, den Bewohnerinnen und Bewohnern ich die Sprache so sehr, dass ich gern auch platt- dieses vertraute Zuhause zu geben. deutsche Geschichten und Gedichte vorle- Und Sie alle, liebe Leserinnen und Leser, kann se, jedenfalls das, was das strenge Ohr meiner ich nur ermuntern, selbst Alteneinrichtungen zu plattdeutsch sprechenden Ehefrau zulässt. besuchen und dort Plattdeutsch zu reden oder Es gibt in norddeutschen Alteneinrichtungen vorzulesen. Mögen Sie alle dabei genauso deutlich mehr „Plattsnacker“, als man vielleicht wunderbar beschenkt werden wie ich! vermuten mag. Sie erzählen mir „op Platt“ ihre Lebenserinnerungen. Der Austausch mit ihnen ist intensiv und lebensnah und ich habe großen Herzlich Ihr Respekt vor ihren Lebensleistungen. Plattdeutsch Dr. Henning Scherf öffnet die Herzen sofort – wie es der Titel dieser Bürgermeister a.D. Broschüre auch wunderbar formuliert. Der Freien Hansestadt Bremen 5
Liebe Leserinnen und Leser, Muttersprache wirkt. Bereits im Mutterleib hat sie ein zutiefst menschliches Bedürfnis mit politischem prägende Wirkung auf uns. Und auch, wenn unser Fundament. Lebensweg uns vielleicht vom Gebrauch abhält, Während die Anwendung des Niederdeutschen gewinnt sie im Alter oft eine besondere Bedeutung. fester Bestandteil der Europäischen Charta für Regional- und Minderheitensprachen ist, werden die Im Pflegebereich können wir das Wirkvermögen Belange und Rechte der hilfs- und pflegebedürftigen der Muttersprache auf besondere Weise erkennen, Menschen in der deutschen Pflegecharta geschützt. wenn nämlich hilfs- und pflegebedürftige Menschen So verweist Artikel 13, Abs. 2c der Sprachencharta besonders oder ausschließlich durch ihren explizit auf die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten Gebrauch erreicht werden können. hin „sicherzustellen, dass soziale Einrichtungen wie In der Muttersprache angesprochen zu werden und Krankenhäuser, Altersheime und Heime die Möglich- in ihr selbstverständlich zu kommunizieren ist keit bieten, Sprecher einer Regional- oder Minder- 6
heitensprache, die aufgrund von Krankheit, Alter mit Vertretern der Carl-Toepfer-Stiftung, der Katho- oder aus anderen Gründen der Betreuung bedür- lischen Akademie Stapelfeld, dem Bundesrat für fen, in deren eigener Sprache aufzunehmen und zu Niederdeutsch und dem Niederdeutschsekretariat behandeln.“ Gleichzeitig dürfen die hilfs- und pfle- Menschen vorstellen, die sich über die Maße auf gebedürftigen Menschen laut Artikel 6 der Pflege- diesem Feld engagieren, viele gute Erfahrungen charta erwarten, „dass Ihre Bedürfnisse und Erforder- mit Plattdeutsch im Pflegebereich gemacht haben nisse zur Kommunikation wie langsames und deut- und diese teilen möchten. Unser Anliegen ist es zu liches Sprechen oder Gestikulieren berücksichtigt informieren und wertvolle Hinweise und Anregungen werden und gegebenenfalls eine Sprach-Überset- zu geben. Wir möchten zeigen, wie facettenreich zung einbezogen wird.“ Und wenn es an anderer die Bedeutung von Muttersprache in der Pflege Stelle des gleichen Artikels heißt, dass jeder hilfs- ist. Pflegekräfte, auch diejenigen mit Migrations- und pflegebedürftige Mensch „das Recht auf hintergrund, öffnen sich oft schon mit ein paar Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen Worten und Sätzen „op Platt“ die Herzen ihrer Gegen- und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ hat, über. Wir möchten Sie herzlich zum Lesen einladen. dann wird implizit auch der Stellenwert des Nie- Und melden Sie sich gern, wenn Sie Fragen oder derdeutschen in der Pflege erkennbar, weil wir es Anregungen haben. mit vielen plattdeutschen Muttersprachlern zu tun haben.Viele Praxisbeispiele zeigen bereits, dass beim Einsatz von „Platt in de Pleeg“ in nord- Wi grööt vun Harten! deutschen Pflegeeinrichtungen keine zusätzli- Christianne Nölting, M.A. phil. che Belastung entsteht, sondern trägerübergrei- Länderzentrum für Niederdeutsch fend von Momenten gegenseitiger Anerkennung Geschäftsführerin und Wertschätzung berichtet wird. Jan-Bernd Müller, M.A. Gerontologie Mit dieser Broschüre möchten wir als Vertreter des Länderzentrum für Niederdeutsch Länderzentrums für Niederdeutsch gemeinsam Wissenschaftlicher Mitarbeiter 7
Wünschelrute „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ Joseph Freiherr von Eichendorff (1835) Denkfähigkeit und Gedächtnis lassen bei Menschen mit Demenz immer mehr nach - das Empfinden von Gefühlen bleibt jedoch erhalten. Heinrich Siefer, Bundesraat för Nedderdüütsch 9
Die Regionalsprache Niederdeutsch in der Begleitung und Betreuung dementiell erkrankter Menschen Heinrich Siefer, Bundesraat för Nedderdüütsch Eine Demenz ist der Verlust der geistigen Leis- Fähigkeiten so lange wie möglich erhalten bleiben tungsfähigkeit. Dieser Verlust ist begründet durch und sie sich ganz in ihrem Sein angenommen Veränderungen des Gehirns, die verschiedenste fühlen. Auf diese Weise wird die Realität der Ursachen haben können. Unter dem Begriff Demenz Menschen mit Demenz ernst genommen und vereinigen sich eine Vielzahl von Krankheitsbildern akzeptiert und damit adäquat auf ihre Gefühle und Ursachen. Diese führen zu Beeinträchtigun- und Bedürfnisse eingegangen. gen im alltäglichen Leben. Folgen einer Demenz- Dabei wird besonders darauf geachtet, den erkrankung können nach Schweregrad unterschied- Betroffenen in ihrer Muttersprache, also ihrer ersten lich ausgeprägt sein. Die häufigsten und auffäl- Sprache, zu begegnen und diese in allen metho- ligsten Erkennungszeichen einer Demenz sind die dischen Ansätzen auch zu berücksichtigen, bzw. Beeinträchtigung und der spätere Verlust des einzuflechten. Das gilt für die Bereiche Kurz- und Langzeitgedächtnisses. Auch wenn bisher noch keine Methode entwickelt • Beziehungsgestaltung und Kommunikation worden ist, mit der jedes problematische Verhal- • Validation ten verlässlich und dauerhaft veränderbar ist, so • Biografiearbeit erscheinen jene Methoden wichtig und hilfreich, • Milieutherapie die das emotionale Gleichgewicht von an Demenz • Snoezelen erkrankten Menschen positiv beeinflussen. • Basale Stimulation Durch die Zunahme von Demenzerkrankungen wird die Pflege künftig vor große Herausfor- Dabei orientiert sich das Konzept am Pflegemodell derungen gestellt. Indem Plattdeutsch in der von Monika Krohwinkel. Sie vermittelt 13 Katego- Begleitung und Begegnung mit dementiell rien der Aktivitäten, Beziehungen und existentiellen erkrankten Personen berücksichtigt wird, kann dem Erfahrungen des Lebens, die sog. ABEDL´s, die entgegengewirkt werden. Auf diese Weise wird sich in den verschiedenen Schwerpunkten des diesen Menschen ein Raum geboten, in dem sie Demenzkonzeptes wiederfinden. Zum Konzept Geborgenheit und Förderung erfahren, damit ihre gehört, dass die von einer Demenz betroffenen 10
Menschen all das, was sie noch können, selber zu wollen. Dies bedeutet, dass zunächst die ver- machen. Es wird dabei an die Erfahrungen und wirrenden Äußerungen der Dementen durch das Fertigkeiten angeknüpft, die ältere Menschen über Personal als Realität angenommen werden. Es wird Jahrzehnte erworben haben und die ihnen in Fleisch nicht von der jetzigen Realität, der Gegenwart aus- und Blut übergegangen sind. Und diese Erfahrun- gegangen, sondern versucht sich in die Realität der gen und Fertigkeiten sind immer auch eng mit der Menschen hineinzuversetzen. Hierbei geht es um Muttersprache verknüpft. Wertschätzung, Akzeptanz und Empathie gegen- über den Betroffenen. Und auch hier geschehen Beziehungsgestaltung und Kommunikation Empathie, Akzeptanz und Wertschätzung über die Begegnung in der Muttersprache. Denkfähigkeit und Gedächtnis lassen bei Menschen mit Demenz im Laufe der Erkrankung immer mehr Biografiearbeit nach. Das Empfinden von Gefühlen bleibt jedoch erhalten. Jeder Mensch definiert seine Person über das, was er Beziehungsgestaltung und Kommunikation erlebt und erreicht hat. Eine demenzielle Erkrankung müssen deshalb von Echtheit und Wärme geprägt nimmt Betroffenen nach und nach ihre Erinnerungen sein. Gerade hier ist die Berücksichtigung der und damit das Bewusstsein dafür, wer sie sind. Da Muttersprache von ganz besonderer Bedeutung. ist es umso wichtiger, dass die Mitarbeiter*innen in der Pflegegruppe wissen, was die Menschen, die Validation sie betreuen, früher kennzeichnete und prägte. (Muttersprache, Beruf, Brauchtumspflege, Wohn- Validation bedeutet, sich einzufühlen in die Welt situation, religiöse Orientierung, ...) des Demenzkranken. Die Methode der Validation Indem sie auf individuelle Gewohnheiten und Ver- bietet die Möglichkeit, die Gefühle hinter einem haltensmuster eingehen, stärken sie die persönliche oft unverständlichen Verhalten zu erkennen, ohne Identität und gleichzeitig das Selbstwertgefühl der dieses Verhalten zu beurteilen oder korrigieren Betroffenen. 11
Das Wissen über die Biografie der Menschen hilft, macht er/sie das, dann wird dabei die Lebensge- Normalität und Alltagsroutine zu schaffen. schichte betrachtet. Dann können manche noch so Aufgrund der sich verändernden Umwelt und der seltsam erscheinenden Handlungen einen Sinn sich stetig verändernden Gesellschaftsnormen ergeben. Im Rahmen der Biografiearbeit kann kann sich diese Normalität der De- auch eine Art „Lebensbuch“ geführt menzerkrankten von der Normali- werden. tät der Betreuer*innen stark Hier können Ereignisse, Erzäh- unterscheiden. Deswegen lungen, Fotos, Sprüche aus ist es immens wichtig, die dem Alltag und der Um- Betroffenen und ihre Ge- gebung der Erkrankten schichten kennen zu ler- festgehalten werden. nen, um sie so besser In Gesprächen, die zu verstehen. die Betreuenden mit Ein Austausch über die ihnen führen, kann die- persönliche Lebensge- ses Buch immer wieder schichte (und hier vor ergänzt werden. Zur An- allem in der gewohnten regung der Gespräche Muttersprache) führt zu können auch Gegenstände einem Geborgenheitsgefühl oder Themen aus dem früheren und einer Wertschätzung bei Be- Leben verwendet werden: Fotos, troffenen und lässt die Betreuenden Bilder, Haushaltsgegenstände, Gegen- das Verhalten des Erkrankten verstehen. Den stände aus dem jeweiligen Beruf usw. sein und Betreuenden kann manches gezeigte Verhalten ebenso auch die Verwendung plattdeutscher Be- komisch vorkommen und im ersten Moment keinen zeichnungen für verschiedenste Ereignisse und Sinn ergeben. Gegenstände. Wenn jedoch die Frage gestellt wird, warum 12
einen geregelten und strukturierten Tages- und Wochenablauf zu gestalten. Wenn diese Struktur Milieutherapie klar nachvollziehbar ist, gibt sie Bewohner*innen Orientierung und das Gefühl der Sicherheit. Hier ist Durch die Milieutherapie soll für die Bewohner*in- es hilfreich, die Tages- und Uhrzeiten auch mit der nen einer Pflegeeinrichtung ein Klima geschaffen Bezeichnung in der Muttersprache (der Menschen) werden, in dem sie nur wenigen Störungen und Be- benennen zu können, das gilt auch für die Benen- lastungen ausgesetzt sind und welches sich nach nung der Mahlzeiten. den Defiziten der Erkrankten richtet. Auf diese Weise bekommen sie Stabilität und Sicherheit. Das heißt, Snoezelen es wird ein Umfeld und eine Atmosphäre geschaf- fen, die den dementen Bewohner*innen und ihren Unter Snoezelen versteht man, sich in anregen- Bedürfnissen gerecht wird. Die Gestaltung ihres Le- der Umgebung (gemütliche Sitzkissen, besonde- bens- und Wohnbereichs zeichnet sich dann durch res Lichtdesign, entspannende Musik, Wasser- eine familienähnliche Abgeschlossenheit aus. Durch spiele, ...) in eine andere Welt versetzen zu lassen, vertraute Einrichtungsgegenstände wie Sofa, Bücher- eine Zeitreise ins eigene Leben zu machen und regal, Garderobenständer etc. wird das Gefühl von die Phantasie zu stimulieren. All das sind Vorstel- Geborgenheit und Zuhause vermittelt. Dazu zählt lungen und Wünsche, die Menschen oft dann auch die „Gute Stube“, die zum Verweilen und Bei- haben, wenn ihr Leben durch körperliche Beein- einandersein einlädt, sowie die Wohnküche. Auch trächtigung und Erkrankung sehr eingeschränkt ist. hier kann es hilfreich sein, die besonderen Bereiche Viele Bewohner*innen in Pflegeheimen empfinden in der Muttersprache der Bewohner*innen benennen tagtäglich Defizite, fühlen sich durch scheinbar zu können. (Küche – Köök, gute Stube – beste Stuuv, unlösbare Probleme belastet und haben Sehn- Schlafzimmer- Slaapkamer, Lehnstuhl – Hörnstohl, sucht nach Leben und Entspannung, wollen aus Schrank – Schapp). ihrer Situation heraus. Hier können Märchen, Zur Milieugestaltung gehört auch, Bewohner*innen Phantasiereisen, -geschichten in der jeweiligen 13
Muttersprache vorgetragen oder audiovisuell des Geschmeckten in der Muttersprache) erlebt werden. • der Tastsinn (und das Beschreiben des Ertasteten in der Muttersprache) Basale Stimulation • das Riechen (und das Beschreiben der Gerüche in der Muttersprache) Die Basale Stimulation stammt aus der Arbeit mit schwerstbehinderten und komatösen Menschen. Die Bedeutung ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen Bei diesen Erkrankungen stellt sich die Situation ein, in der Betreuung für die Berücksichtigung von dass ein gleichbleibender Reiz sich nicht verändert Muttersprache in der Pflege und immer undifferenziert wahrgenommen wird. Jemand, der keine Sinnesanregungen wahrnimmt, Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen können und sollten kann sein Umfeld immer schlechter erkennen. Dies einbezogen werden, wenn die Einrichtung selbst trifft häufig auch auf demente Menschen zu. Sie sind über kein Personal mit muttersprachlichen Kennt- teilweise nicht mehr selbst in der Lage, ihre Sinne nissen der Bewohner*innen verfügt. Menschen, die zu aktivieren und benötigen Unterstützung. Eine sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren, fehlende Stimulation kann zu einer Apathie führen. haben häufig ihre eigene natürliche alltagsnahe Mit verschiedensten Maßnahmen, unterstützt u. a. Art mit Erkrankten zu kommunizieren und stellen durch den Gebrauch der Muttersprache, werden (bestimmte) Fragen anders als Pflegefachkräfte. die einzelnen Sinne des Bewohners angesprochen: Diese vielleicht manchmal unbefangene Art wirkt sich positiv auf das Wecken von Erinnerungen aus. • das Hören (z. B. durch das Vortragen von Auch die Milieugestaltung wird dadurch positiv Gedichten, Geschichten und beeinflusst. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, die Liedern in Muttersprache) sich für eine solche Tätigkeit interessieren, können • das Sehen (und das Beschreiben im Vorfeld geschult werden und ihre Tätigkeiten in des Gesehenen in der Muttersprache) Absprache mit der zuständigen Bezugspflegekraft • der Geschmack (und das Beschreiben durchführen. 14
Der Bundesrat für Niederdeutsch bleibt in der Bibliothek des Lebens bis zum Ende er- und das Thema Platt in der Pflege halten, auch wenn viele Befähigungen nach und nach verlöschen, z. B. Hochdeutsch oder andere Die Betreuung von an Demenz Erkrankten ist in einem Sprachen sprechen zu können, geistes- oder natur- beständigen Wandel. wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen und hand- Erst in den vergangenen Jahren hat man den be- werkliche Fertigkeiten zu haben. Die Muttersprache sonderen Wert der Muttersprache in der Pflege ist die Kompetenz, die am längsten erhalten bleibt. erkannt. Im Jahre 2008 hat der Bundesrat für Nieder- In ihr können auch mit zunehmender Demenz noch deutsch mit dem Schleswiger Appell erstmals auf lange Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Sorgen, die besondere Bedeutung des Niederdeutschen im Freude und Glück, Erinnerungen und Erfahrungen sozialen, therapeutischen, pflegerischen und seel- mitgeteilt oder auch durch Begegnung in der Mutter- sorgerischen Bereich aufmerksam gemacht und sprache erinnert und hervorgerufen werden. eine stärkere Berücksichtigung von Muttersprache in diesen Bereichen gefordert. Der Bundesraat för Aus der Erfahrung einer Pflegerin in einem Zentrum Nedderdüütsch ist eine nicht-staatliche Interessens- für an Demenz erkrankte Personen heißt es: vertretung der Sprecher*innen der Regionalsprache „Als die Bewohnerin in ihrer Muttersprache ange- Niederdeutsch mit Delegierten aus Brandenburg, sprochen wird, wird aus der alternden depressiven, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nie- schlaffen Frau eine vitale Person, die mit lebhafter dersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt Gestik und munterer Stimme spricht.“ und Schleswig-Holstein und (den Vertretern) der Daher forderte der Bundesraat för Nedderdüütsch Plautdietschen. Muttersprache ist für den Bundesraat bereits im Jahre 2008 Träger vor allem von Pflege- för Nedderdüütsch in diesem Zusammenhang ein einrichtungen auf, ein Konzept zur Einbeziehung besonders geeigneter Weg, der die Grundsätze der des Niederdeutschen in die soziale, therapeuti- persönlichen Annahme und der Wertschätzung in sche, pflegerische und seelsorgerische Arbeit den Pflege- und Beratungskonzepten verwirklichen als festen Bestandteil in die Einstellungspraxis kann. Denn das Buch Erstsprache (Muttersprache) sowie in die Aus-, Fort- und Weiterbildung ihrer 15
Mitarbeiter*innen aufzunehmen und die Vorausset- ches Konzept. Mit einer Fachtagung im branden- zungen dafür zu schaffen, dass sie Niederdeutsch burgischen Wittstock und der dort verabschiede- lernen bzw. ihre Sprachkenntnisse auffrischen oder ten „Wittstocker Erklärung“ hat der Bundesraat för festigen können. Auch wenn im Nachhinein die Nedderdüütsch noch einmal eindringlich auf die Kenntnisse um die Bedeutung der Muttersprache Anerkennung der Regionalsprache Niederdeutsch im Pflegealltag immer stärker Berücksichtigung als Teil eines Pflege- und Betreuungskonzeptes in finden, u. a. an berufsbildenden Schulen in der sozialen Einrichtungen aufmerksam gemacht. Ausbildung von Altenpflegekräften, gibt es bis heute noch kein durchgängiges und verbindli- Wittstocker Erklärung (Mai 2019) Justiz, Verwaltung und öffentliche Dienstleistungs- einrichtungen, die Medien, der Kulturbereich zur Anerkennung der Regionalsprache Nieder- sowie das wirtschaftliche und soziale Leben. deutsch als Teil eines Pflege- und Betreuungskon- zeptes in sozialen Einrichtungen 2. Soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Altenheime, Hospize und weitere Pflegeeinrich- 1. Der Bundesraat för Nedderdüütsch als sprach- tungen tragen eine besondere Verantwortung politische Vertretung der niederdeutschen Spre- dafür, dass Niederdeutschsprecher*innen sowie chergruppe setzt sich für den Schutz und die aktive Sprecher*innen von Minderheitensprachen, die Förderung der Regionalsprache Niederdeutsch in der pflegerischen oder therapeutischen Betreu- allen Bereichen des öffentlichen Lebens ein. ung bedürfen, in ihrer eigenen Sprache aufge- Dazu zählen insbesondere der Bildungsbereich, nommen und behandelt werden (Artikel 13, 2c 16
der Europäischen Charta der Regional- oder damit bereits vorhandene und zukünftige Projek- Minderheitensprachen). Der Bundesraat för Nedder- te wissenschaftlich begleitet werden können. Die düütsch fordert die Träger dieser Einrichtungen auf, Forderung nach einer Dokumentation der Verwen- die Gespräche zwischen Mitarbeiter*innen und dung des Niederdeutschen in sozialen Einrichtungen zu Betreuenden in der Regionalsprache Nieder- wird bekräftigt (Schleswiger Appell 2008). deutsch nicht nur im Rahmen der Biografiearbeit ausdrücklich als pflegerische und therapeutische 5. Der Bundesraat för Nedderdüütsch appelliert an Tätigkeit anzuerkennen. die Landesregierungen aller acht Bundesländer, in denen niederdeutsch gesprochen wird, die 3. Um die niederdeutschen Sprachkenntnisse niederdeutsche Sprache als Teil des Gesamtkon- der Mitarbeiter*innen sozialer Einrichtungen zu zeptes zur Pflege und Betreuung anzuerkennen und gewährleisten, forder t der Bundesraat för entsprechende Maßnahmen zu unterstützen bzw. Nedderdüütsch besonders die Berufsfachschulen aktiv zu initiieren. für Gesundheit und Pflege in den entsprechenden Regionen auf, die niederdeutsche Sprache verpflich- tend als Unterrichtsfach mit einer angemessenen Stundenzahl und festgeschriebenen Lernzielen oder als Unterrichtssprache in mindestens einem Lernfeld 1 Krohwinkel, M. (2013): Fördernde Prozesspflege mit einzuführen. integrierten ABEDL´s. Forschung, Theorie und Praxis. Bern: Huber Verlag. 4. Weiterhin hält es der Bundesraat för Nedderdü- 2 Anlässlich der Tagung „Plattdüütsch in de Pleeg“ im ütsch für dringend geboten, interdisziplinäre Studien brandenburgischen Wittstock hat der Bundesraat för zur Rolle der Erstsprache im Prozess des Gedächt- Nedderdüütsch und der Verein für Niederdeutsch in nisverlustes von Demenzpatient*innen im Rahmen Brandenburg e.V. diese Erklärung am 03. Mai 2019 der allgemeinen Demenzforschung einzufordern, verabschiedet. 17
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„Neugier und Entdeckerfreude wecken - und ein bisschen Denkarbeit ist auch immer dabei“ In plattdeutschen Erzählcafés und Sprachkursen bringt Ursula Berlik seit über 20 Jahren Menschen miteinander ins Gespräch Ein Erlebnis treibt Ursula Berlik fast immer Dithmarscher Dichters Klaus Groth gehen: noch Tränen der Rührung in die „Lütt Matten, de Has‘“. Augen, wenn sie davon erzählt. Ursula Berlik hat gerade einige ein- Es ist schon ein paar Jahre her, leitende Worte dazu gesagt, da als sie als ehrenamtliche Mit- beginnt, zum Erstaunen aller arbeiterin des Hamburger Seniorenzentrums St. Markus die Porträt Anwesenden, sich die alte Dame mühsam aus ihrem Sitz Bewohner zu einem monatlichen zu erheben, um sich langsam plattdeutschen Gesprächsnach- und unter Aufwendung aller Kraft mittag eingeladen hat: „Die Ver- hinter ihren Rollstuhl zu stellen: anstaltung war immer recht gut be- „Mit beiden Händen stützte sie sich sucht, unter den rund 15 Teilnehmern auf die Griffe, um aufrecht stehen zu war auch eine alte Dame im Rollstuhl, die können – und begann dann mit klarer Stimme schon mehrere Male dabei gewesen war, das ganze Gedicht aufzusagen. Alle drei aber noch nie etwas gesagt und auch sonst Strophen, fehlerfrei.“ Als sie sich danach – ein keinerlei Regung gezeigt hatte.“ kleines Lächeln im Gesicht – wieder in ihren Man berichtet ihr, die Bewohnerin sei dement Rollstuhl setzt, klatschen alle Anwesenden Beifall: und zudem motorisch stark eingeschränkt. Bei „So etwas habe ich selten erlebt.“ diesem wohl fünften oder sechsten Gesprächs- kreis nun soll es um das plattdeutsche Gedicht des 19
Eine von unzähligen Erfahrungen mit der „Herzens- Seniorenzentrums St. Markus sofort auf offene sprache Plattdeutsch“, von denen Ursula Berlik Ohren: „Die Mitarbeiter zeigten sich äußerst ko- aus rund 22 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit zu operativ und unterstützten mein Vorhaben von berichten weiß: „Gerade bei Demenz lassen sich Anfang an.“ Los geht es mit einem Gesprächs- Menschen in der norddeutschen Region offen- nachmittag auf Hochdeutsch – aber ganz schnell bar mit dem Plattdeutschen viel direkter und entdeckt sie, dass viele der Teilnehmer plattdeutsche emotionaler ansprechen.“ Muttersprachler sind: „Da habe ich das Ganze Eben diese Ansprache – „Langsam und geduldig“ natürlich gleich „op Platt“ angeboten!“ – sagt sie, sei das A und O, um mit Menschen in Der Beginn einer langjährigen, und wie sie sagt, Kontakt zu kommen, die sich aufgrund von Krank- sehr bereichernden ehrenamtlichen Plattdeutsch- heit, Alter oder Demenz äußerlich schon vom Arbeit mit Senioren und pflegebedürftigen Men- Leben abgewandt und augenscheinlich in ihre schen: „Ich habe dann ziemlich schnell auch ent- Innenwelt zurückgezogen haben. sprechende Fortbildungen gemacht, etwa in der „Da muss was passieren!“ Biografiearbeit.“ Dabei steht das Ziel im Vorder- Das ist denn auch ihr erster Gedanke, der vor gut grund, sich mit der eigenen Vergangenheit aus- 20 Jahren alles ins Rollen bringt. einanderzusetzen, Mut zum Erzählen zu gewinnen 1997 besucht Ursula Berlik häufig ihre pflege- und die eigenen Erinnerungen als „verborgene bedürftige Mutter in einem Hamburger Senioren- Schätze“ wahrzunehmen. zentrum, wo diese wegen schwerer gesundheit- Im „Erinnerungscafé“ lernt die engagier te licher Probleme für sechs Monate ein Zimmer Plattdeutsch-Vermittlerin zudem, wie wichtig dabei bezogen hat. das Zuhören ist: „Und die Menschen immer wieder Ziemlich schnell fällt ihr auf, dass die Bewohner zu ermuntern, sich an das zu erinnern, was in ihrem dort „kaum Gelegenheit zum Sprechen haben“. Leben wichtig war und darüber zu erzählen.“ Um das zu ändern, schlägt sie der Einrichtung Ein Blick in Ursula Berliks eigene Biografie zeigt, vor, regelmäßig einen offenen Gesprächskreis wie früh die plattdeutsche Sprache ihr Leben anzubieten. Und triff t bei der Leitung des prägt: Geboren 1943 in Timmendorfer Strand, 20
G e rade be i De me n z l as se n s ich Me ns ch e n i n de r nordde u ts ch e n Re gio n o f fe nb a r mi t de m P l at tde u ts ch e n v ie l di re k te r und e mo t io n a le r anspre ch e n . zieht sie mit ihrer Mutter als gerade mal acht Namen „als norddeutscher Günther Jauch“. Wochen altes Baby auf einen Bauernhof bei Gemeinsam mit dem plattdeutschen Autor Süderbrarup in Angeln, weil sie an einer Bronchitis Heinrich Kahl veröffentlicht sie im Wachholtz- leidet. Dort wird sie die nächsten viereinhalb Jahre Verlag das „Hamborg Quiz op Platt: 200 Fragen über ihrer Kindheit verleben und spricht mit den Bauern die Hansestadt“. und deren Kindern nur Plattdeutsch. Alles im Dienste der Plattdeutsch-Pflege – und Zu den Enkelkindern dort habe sie bis heute natürlich dem Anliegen, für die niederdeutsche Kontakt: „Und immer wenn wir uns sehen, fragen Sprache mit innovativen Methoden und Zugän- sie: Na, Ursula, kannst du denn noch Plattdüütsch gen zu begeistern: „Ich hatte schon vorher fest- schnacken?“ gestellt, dass sich Quizfragen und Rätsel gut als Und ob sie kann. Um das Plattdeutsche nicht nur Gesprächsanlässe eignen“, sagt Ursula Berlik. in ihrem eigenen Leben zu pflegen, sondern es „Gerade in der Seniorenarbeit bieten sie einen auch möglichst vielen Menschen nahezubrin- zwanglosen, oft auch heiteren Einstieg, um in den gen bzw. in Erinnerung zu bewahren, geht Ursu- Dialog zu kommen: „Jo, wie weer dat noch? la Berlik seit nunmehr zwei Jahrzehnten ganz Weet ji noch …?“ unterschiedliche, oft auch ungewöhnliche Wege: Da fragt sie dann etwa – op Platt, natürlich! - nach Grundschulkindern in ihrem heutigen Wohnort der unerlässlichen und charakteristischen Zutat Hamburg-Niendorf bringt sie die Sprache bei, des Original Hamburger Franzbrötchen: Scho- sie unterrichtet an Sprachenschulen (z. B. Lingu- kolade? Kaneel? Rosinen? (Richtige Antwort: fit), schult Pflegepersonal und Ärzte in Kranken- Kaneel): „Einige freuen sich dann übers eigene häusern (etwa in der Geriatrie der Asklepios-Klink Wissen, andere über eine Neuentdeckung“, so in Hamburg-Wandsbek), sitzt bei plattdeut- Ursula Berlik. schen Vorlesewettbewerben als Jurorin neben „Auf jeden Fall werden so Neugier und Entdecker- Gerd Spiekermann und (dem im Juni 2019 freude geweckt, und ein bisschen Denkarbeit ist verstorbenen) Wilhelm Wieben. auch immer dabei.“ Und macht sich 2007 nebenbei noch einen 21
Dabei sei die Frage, wie gut der Einzelne nun die Herzen offener, als wenn man gleich mit einem schon Plattdeutsch kann, gar nicht relevant: „Selbst Gespräch einsteigt. Das ist natürlich gerade für de- wenn sie es nicht selbst sprechen – mente bzw. sprachlich eingeschränkte Menschen mehr oder weniger verstehen können es die sehr wichtig.“ meisten.“ Für die Teilnehmer, die keine oder Auf Plattdeutsch geht das wenig Erfahrung mit dem Nie- nochmal so gut, so Ursula Berlik. derdeutschen haben, wählt Und erinnert sich dabei an Ursula Berlik bewusst auch ein weiteres bewegendes andere spielerische Ein- Erlebnis im St-Markus stiege, die erste Berüh- S e n i o re n z e n t r u m i n rungsängste abbauen diesem Sommer. helfen. Singen zum Bei- Mit den Teilnehmern spiel. eines plattdeutschen „Häufig beginne ich Gesprächskreises den Kurs mit einem be- spricht sie über das kannten plattdeutschen alte Kinderspiel „Kibbel- Lied wie „Anne Eck steiht Kabbel“, das in der (Nach-) ‘n Jung mit ‘n Tüdelband“, Kriegszeit, als gepflasterte dazu verteile ich Zettel mit dem Straßen noch selten waren, sehr Text.“ Wer kann – und mag! – singt mit: beliebt war: „Dorto bruken de Kinner „Und die anderen kriegen so schon mal ein Gefühl enen korten, dicken Stock, de an beide Ennen für die Sprache.“ Ohne dass viel geredet werden anspitzt weer, de Kibbel. Un de wörr nu över en müsse, schaffe das gemeinsame Singen ganz utbuddelt Lock in de Eer leggt …“. natürlich eine Atmosphäre der Verbundenheit: „Damit ist schon eine Barriere übersprungen und sind 22
Als sie in die Runde fragt, wer das Spiel aus seiner Bilanz gezogen: „Der Mann ist schneller gesund Kindheit noch kenne, möchte sich auch ein älte- geworden als jeder andere Patient in dieser rer Herr, der an schweren Sprachstörungen leidet, Situation.“ dazu äußern: „Er bemühte sich unglaublich, einige Worte herauszubringen, aber es Ursula Berlik, Jahrgang 1943, Steckbrief gelang ihm nicht. Tränen stiegen ihm in die in Angeln /Schleswig-Holstein mit der Augen, er schien sehr bewegt.“ Auch wenn plattdeutschen Sprache aufgewach- das Sprechen nicht gelang: „Die Tür zum sen. Seit 22 Jahren ehrenamtliche Herzen war offen.“ Organisation und Leitung von plattdeut- Im Laufe ihrer Arbeit mit der Sprache, so schen Sprachkursen und Gesprächskreisen Ursula Berlik, habe sie immer wieder erfahren, im Sozial- und Bildungsbereich, v. a. in der Senioren- dass es beim Plattdeutschen keineswegs auf und Pflegearbeit. Zudem Jurorin in plattdeutschen Perfektion ankomme, sondern auf das, „was Vorlesewettbewerben und Autorin: Seit 11 Jahren Foto: Götz Berlik man damit macht.“ schreibt sie regelmäßig plattdeutsche Artikel für ein Wie der Chefarzt der Universitäts-Hautklinik Hamburger Regionalblatt. in Kiel etwa, den sie vor rund zehn Jahren während einer Routineuntersuchung dort ken- Auch mit wenig Vokabular – mutig und munter drauf nenlernt. Einer seiner Patienten kommt vom Land, los! Ein Credo, das Ursula Berlik in späteren Umfragen wie er dem Pfleger erzählt hat. immer wieder bestätigt findet. Bei der nächsten Visite nun, im Gefolge ein ganzer Im Hamburger Seniorenzentrum St. Markus etwa Tross von Assistenz- und Fachärzten, spricht dieser seien die Bewohner gefragt worden, ob sie auch Professor den Patienten an: „Na, Herr Schulze, wo im Krankenhaus gern Plattdeutsch sprechen geiht Se dat denn hüüt?“ würden. Einhellige Antwort: „Oh ja, das wäre toll!“ Der alte Herr ist fassungslos: „Herr Perfes- ser – und Se snackt Platt?!“ Wochen spä- ter habe selbiger „Perfesser“ die schlichte 23
Aber auch schon auf dem Weg ins Krankenhaus meint Ursula Berlik: „Und meistens sind es schöne kann die plattdeutsche Sprache offenbar überaus Erlebnisse, die dabei wieder ins Bewusstsein hilfreich sein. Das erfährt Ursula Berlik vor drei Jahren, geholt werden.“ Erinnerungen, die gerade bei als sie nach einem Fahrradunfall in ihrem Wohnort Menschen, die in der Gegenwar t schwere in Hamburg-Niendorf von einem Krankentransport Zeiten durchleben, wahre „kleine Wunder“ des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in die nächste bewirken können, hat sie festgestellt. Orthopädieklinik gebracht wird. Etwa bei ihrem Besuch im Pik-As in der Hamburger Während der Fahrt kommt sie mit dem jungen Neustadt – die älteste Obdachloseneinrichtung Sanitäter ins Gespräch: „Und was machen Sie so?“ Deutschlands –, in der wohnungslose Männer eine Als er von ihrem niederdeutschen Engagement Übernachtungsstätte finden. 2014 ist das, in der erfährt, berichtet er vom kürzlichen Transport einer Vorweihnachtszeit. Anlässlich eines gemeinsamen sehr alten Dame, die nur Plattdeutsch gesprochen Weihnachtsessens dort bietet Ursula Berlik den Be- habe. Man habe sich partout nicht verständigen wohnern einen Gesprächskreis an: „Wi snackt Platt.“ können, erst als der Sohn angerufen wurde um Im Anschluss an die Veranstaltung lädt sie die rund zu dolmetschen, habe man die notwendigen 30 Teilnehmer ein, an ihren kleinen Stand mit Info-Ma- medizinischen Fragen klären können. terial zu kommen: „Wenn jemand noch Fragen hat, Als Ursula Berlik daraufhin von dem einen oder kann er sich gern bei mir melden.“ anderen ihrer Erlebnisse mit Patienten erzählt, Und das, sagt sie, macht dann auch etwa ein bricht es irgendwann aus vollem Herzen aus dem Drittel der Besucher – allerdings um sich zu bedan- jungen Mann hervor: „Plattdeutsch ist ja cool!“ ken. „Meine Oma hat auch Platt geschnackt, das Und trifft dabei oft genug „mitten ins Herz“. war so schön in der Kindheit“, erzählt ihr freude- Das habe sicherlich damit zu tun, dass die strahlend einer der Männer. Ein anderer kommt, Sprache vor allem bei Älteren Erinnerungen um ihr seinen Dank mit einem kleinen Geschenk zu wecke, an Kindheit, Jugend und Zeiten, in denen bekunden, lässt sich durch nichts davon abbrin- Menschen mit Plattdeutsch in Berührung waren gen. Ganz energisch greift er in seine Tasche: „Ich – ob nun selbst gesprochen oder nur gehört, habe zwar nur noch einen davon, aber diesen 24
Ohrring sollen Sie bekommen!“ Ein weiterer sagt ihr Menschen. Schon „auf der Straße“, sagt sie, wenn auf der Treppe beim Rausgehen: „Ich freue mich, man etwa einem älteren Passanten nur anbiete, wenn Sie das nächste Mal wiederkommen.“ Erleb- ihm über die Straße zu helfen, zaubere eine An- nisse, die Ursula Berlik bis heute tief berühren: „Als sprache auf Platt beim Gegenüber meist gleich ich draußen war, hatte ich Tränen in den Augen.“ ein Lächeln ins Gesicht. Ein persönliches Band sei Mit Plattdeutsch, davon hat sie sich in ihrer lang- geknüpft, der Zugang da: „Oh, Se snacken Platt? jährigen ehrenamtlichen Arbeit immer wieder So sehn Se gor nich ut! – Wo süht denn eener ut, de überzeugen können, schaffe man einfach viel Platt snack? - Na ja, …“. direkter eine Ver trauensbasis zu fremden Und schon ist man im Gespräch. 25
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„Ich verstehe zwar nicht alles, was ihr so besprecht, aber euer Schnacken und Lachen erfreut mich immer wieder“ Als Altenpflegerin und Palliativ-Fachkraft erlebt Tanja Zolc-Edzards jeden Tag, welchen Unterschied die plattdeutsche Sprache im Miteinander ausmacht Welche Rolle spielt Plattdeutsch Wann haben Sie entdeckt, dass das Plattdeutsche in Ihrem persönlichen Leben? auch in Ihrem Beruf eine zentrale Rolle spielt? Ich bin in Groß Häuslingen (Kreis Soltau-Falling- Nach der Schule habe ich erst eine Ausbildung bostel) aufgewachsen, einem kleinen Dorf zur Dorfhelferin gemacht – mir war eigent- zwischen Verden/Aller und Walsrode. lich immer klar, dass ich als Altenpflege- Meine Mutter hat kein Plattdeutsch rin auf dem Land arbeiten möchte. gesprochen, mein Vater ja. Den Und die Menschen hier sprechen größten Einfluss hatten aber nun mal überwiegend Platt. meine Großeltern, die beide nur Platt sprachen und einen kleinen Interview 2003 bin ich dann mit meinem Mann nach Halenhorst (Landkreis landwirtschaftlichen Betrieb in Oldenburg) gezogen. In meinem unserem Dorf hatten. Nach der Ausbildungsbetrieb in Wildeshau- Arbeit meines Vaters waren wir sen gab es einen Bewohner, der täglich dort, um ihnen zu helfen. nur Platt sprach: Er war in einem klei- Ich kann mich nicht erinnern, dass nen Dorf in der Nähe als Schmied tätig meine Großeltern jemals Hochdeutsch gewesen. Bei diesem Patienten bemerkte gesprochen haben; auch meine Schwiegereltern ich zum ersten Mal, wie viel unkomplizierter der sprechen nur Plattdeutsch. Umgang wurde, wenn man ihn in seiner Mutter- sprache ansprach. 27
Wie zeigte sich das genau? Seit 2016 arbeite ich bei einem Ambulanten Pflegedienst der Diakonie Sozialstation in Großen- Bei Kolleginnen, die nicht seine Sprache kneten und versorge Patienten in verschiedenen sprachen, reagierte dieser Mann meist Gemeinden des Landkreises zu Hause in viel ungehaltener, als wenn man ihrer gewohnten Umgebung. Mir ihn auf Plattdeutsch ansprach. gefällt die ambulante Arbeit Vielleicht fühlte er sich einfach besser, da der Zeit- „op Platt“ eher als „gan- druck wesentlich geringer zer“ Mensch gesehen ist. Ich kann mich ganz statt „nur“ als Patient, diesem einen Patienten möglich wäre das. widmen – es gibt keine Jedenfalls war die Klingel im Hintergrund, Zusammenarbeit mit weil ein anderer Be- ihm dann deutlich wohner gerade ein Pro- entspannter. Wenn es blem hat oder ein Kolle- z. B. ums Rasieren ging, ge Hilfe benötigt. Hinzu s agte ic h: „He i n rich, kommt, dass die Menschen do di man eben rasie- in der Ambulanten Pflege ren“, und machte dabei häufig nicht so stark dementiell e i n e e n t s p re c h e n d e H a n d - verändert sind wie im Pflegeheim. bewegung. So hat der alte Den meisten liegt viel daran, solange Herr vers tanden und kam der Auf forde- wie möglich zu Hause selbstständig bleiben zu rung dann auch gern nach. können – möglichst bis zum Lebensende. Deshalb habe ich 2017 auch eine Weiterbildung Welche Rolle spielt die plattdeutsche Sprache zur Palliativ-Fachkraft gemacht, 2018 zusätzlich heute in Ihrem Beruf als Pflegefachkraft? eine zur Praxisanleiterin in der Pflege, d. h. ich darf 28
Vie l le ich t fühl t de r Pat ie n t s ich „op P l at t “ e h e r a ls g an ze r Me ns ch ge se h e n s t at t nu r a ls Pat ie n t. Auszubildende der Altenpflege anleiten. unterricht“. Im Schuljahr 2012/13 fand sechs Monate lang ein zweistündiger wöchentlicher Sprachunter- Haben Sie das Plattdeutsche in Ihrer richt statt, dazu kam der wöchentliche Fachunterricht Palliativ-Arbeit ebenfalls als hilfreich erlebt? von 2011 bis 2013 auf Plattdeutsch. Ja, auch jeden Fall. Ich erinnere mich dabei an Warum diese Unterteilung von Sprach- und Fach- einen alten Herrn, der eine Schmerzpumpe hatte. unterricht auf Plattdeutsch? Dieser Patient hatte nachts geträumt, dass seine Schmerzpumpe „explodieren“ würde. Im Sprachunterricht geht es mehr um Vokalbel- Am nächsten Morgen schien er sehr verunsi- arbeit (Anatomie, Kleidungsstücke, Begrüßungs- chert und wollte dieses Gerät nicht mehr bei sich formeln), um einfache, kurze Sätze auf Platt für die haben. Auch hier konnte ich ihn erst auf Plattdeutsch Direktpflege anwenden zu können wie „Moin, good beruhigen und ihm erklären, dass diese Pumpe nicht slapen?“ Oder auch Kinderreime, an die sich die explodieren könne. ältere Generation oft gern erinnert. Der Fachunter- Später sagte ich mit einem Augenzwinkern richt beinhaltet pflegespezifische Themen wie die zu ihm: „De Knall dei ik in Halenhorst ok noch hören!“ 10-Minuten-Aktivierung, Validation oder Assessments („Den Knall würde ich in Halenhorst auch noch (Erfassung von kognitiven Leistungsstörungen ein- hören!“ 12 km entfernt!). Darüber lachten wir dann schließlich Schweregradeinschätzung). beide. Haben Sie das als sinnvoll erlebt? Obwohl Sie schon Plattdeutsch konnten, haben Sie 2012 einen Platt-Kurs an der Berufsschule (BBS) in Auf jeden Fall. In unserer Klasse waren ja nicht nur Wildeshausen gemacht. Warum? Schüler aus dem Landkreis Oldenburg, sondern auch aus Berlin oder mit Migrationshintergrund. Plattdeutsch war für die ganze Altenpflegeklasse in der Berufsschule Wildeshausen ein „Pflicht- Sprach- 29
Für diese Mitschüler stellte Plattdeutsch ein Dort haben wir an einer plattdeutschen Führung teil- wichtiges Handwerkszeug dar, um in ihrem genommen und konnten ein bisschen eintauchen in Pflegealltag den einen oder anderen Satz den Alltag der 1950er Jahre, was uns die Lebenswirk- einfließen lassen zu können und so leichter lichkeit unserer Patienten in früheren Jahren ins Gespräch zu kommen. ein Stückchen näher gebracht hat: Auch mit wenig lässt sich Wie sah es damals etwa in einem v i e l e rre i c h e n : Ä l te re Landwirtschaftsbetrieb, einer Menschen fühlen sich Küche oder auch einem gebraucht und wertge- Friseursalon aus? Damit schätzt, wenn sie einem hatte man auch wieder jungen Menschen etwa einen lebendigen Ge- bei der Aussprache hel- sprächsstoff mit den fen oder ihm ein neues Patienten. plattdeutsches Wort So war das auch mit beibringen können. unserem Besuch im Das verbessert die Be- NDR-Studio in Hanno- ziehungsebene zwischen ver, wo wir uns im zweiten Bewohner und Pflegekraft Ausbildungsjahr in der Sen- oft ganz entscheidend. dung „Plattenkiste“ als Klasse vorgestellt und vom Plattdeutsch- Gab es besondere Aktivitäten im Unterricht in der Berufsfachschule Unterricht, um das Plattdeutsche auch einmal Wildeshausen erzählt haben. außerhalb der Klassenräume zu erleben? Im dritten Ausbildungsjahr haben Sie dann sogar Auf Wunsch der Klasse gab es etwa einen ganz- erste Videos „op Platt“ gedreht – was war die tägigen Besuch im Moormuseum in Benthullen. Idee dahinter? 30
Die Idee war, den Gedanken „Platt in der Pflege“ zu scherzen. Einer meiner Patienten hat z. B. bei im Internet weiter bekannt zu machen. Und um der Bahn im Stellwerk gearbeitet. Und wir lachen Außenstehenden einen Eindruck zu vermitteln, häufig über die Berufsbezeichnung „Bahnpahl- wie das aussehen kann. Es gab da z. B. nachge- op-un-dol-Dreiher“(„Bahnschranken-Rauf-und- spielte Szenen aus dem Pflegealltag, wenn etwa ein Runter-Dreher“). Bei einer anderen Patientin lau- Patient partout nicht aufstehen oder auch nicht tet die ritualisierte scherzhafte Verabschiedung schlafen gehen wollte. Am schönsten war eine „Slap di wat!“ („Schlaf gut!“). Eine andere sagt beim Szene zum Thema Mittagessen: Dabei ging es um Abschied immer, wie schön es wieder war: einen dementiell veränderten Patienten, einem So konnten wir „mol eben Mund vull snacken“ früheren Tischler, der mit einem Schuh über die („einen Mundvoll schnacken“). Tischkante schleifte und immer wieder betonte, er müsse dies unbedingt noch fertig machen Wie steht es mit den Angehörigen bis zum Abend. Erst als eine Mitschülerin ihn auf der Patienten – bekommen Sie auch von der Plattdeutsch anspricht: „Is Klock twölf, Middagstiet!“, Seite Rückmeldungen? unterbricht er seine Arbeit für die Frage: „Watt gifft dat denn hüüt?“ Angehörige sind häufig erstaunt, dass eine Pflegekraft Plattdeutsch spricht - und finden es in Mit wie vielen Ihrer Patienten sprechen Sie der Regel toll. Die Ehefrau eines Patienten sag- heute Plattdeutsch? Versuchen Sie auch manch- te zum Beispiel: „Ach, es ist einfach schön, wenn mal, die Sprache zur „Auflockerung“ von du da bist. Ich verstehe zwar akustisch nicht, Situationen anzuwenden? was ihr im Nebenraum besprecht. Aber euer Schnacken und Lachen erfreut mich immer.“ Es ist immer unterschiedlich, mit wie vielen Ihr Mann war ein Palliativ-Patient, der zum Ster- Patienten ich Plattdeutsch spreche, aktuell sind ben nach Hause entlassen worden war. Auf Platt es fünf von ca. 12 Patienten. Manchmal benutze konnten wir uns recht vertraut austauschen ich sie auch nur, um ein bisschen mit den Leuten und fanden, selbst in dieser schweren Situation, 31
immer wieder auch einen Anlass zu scherzen. Auszubildenden oder Praktikanten dabei habe, Das geht auf Plattdeutsch irgendwie unkomplizierter. versuche ich schon jetzt, ihn zum Platt schnacken zu ermuntern. Plattdeutsch ist einfach ein Schlüssel Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen? zu den Herzen der alten Menschen. Es baut Barrieren ab und schafft Vertrauen, so dass sich Wichtig wäre mir, dass sich viel mehr Schwestern Patienten häufig eher trauen, über Probleme zu und Pfleger trauen würden, in ihrem Beruf sprechen. Gerade bei demenziell veränderten Plattdeutsch anzuwenden. Viele junge Menschen Menschen ist die Sprache aus ihrer Kindheit sprechen kaum noch Plattdeutsch, als Sprach- noch lange lebendig – und oft eine Brücke in unterricht ist es leider nicht fest in allen die Gegenwart, ein Schritt hinein oder zurück ins Altenpflegeschulen integriert. Ich fände es gut, Hier und Jetzt. Mit dieser Sprache ist einfach alles wenn dies ein Pflichtangebot in allen Alten- und möglich. Krankenpflegeschulen wird. Wenn ich einen Steckbrief Tanja Zolc-Edzards, Jahrgang 1978, Plattdeutsch hat sie in der geboren in Walsrode, arbeitet als Kindheit gelernt und 2011 bis 2013 zudem an einen ausgebildete Altenpflegerin, Pallia- plattdeutschen Fach- und Sprachunterricht zur tiv-Fachkraft und Praxisanleiterin bei einem Ambu- Pflegefachfachkraft an der BBS Wildeshausen lanten Pflegedienst der Diakonie Sozialstation in teilgenommen. Großenkneten (Landkreis Oldenburg). Foto: Foto-Studio Brockmeyer 32
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„Se könnt mit mi gern Platt snacken. Ik kann dat ans – oder tomindest tomeist – verstahn“ Werner Michael bringt Auszubildenden der Alten- und Krankenpflege Plattdeutsch bei - Beziehungsaufbau und Empathie werden dabei großgeschrieben Der große Durchbruch fürs Plattdeut- gesprochen und mit sechs Jahren in der sche kommt im Sommer 2014. Grundschule überhaupt erst ange- An der Bremerhavener Ursula-Kal- fangen, Hochdeutsch zu lernen. tenstein-Akademie für Gesund- Heute ist es genau umgekehrt: heit und Pflege der Arbeiter- Seit nunmehr sechs Jahren wohlfahrt (AWO) begleitet Werner Michael angehende Porträt geht der 69-Jährige in Schulen und Einrichtungen, um Azubis Altenpflegekräfte erstmalig in der Alten- und Krankenpflege zwei Klassen während ihrer ge- das Plattdeutsche nahezubrin- samten dreijährigen Ausbildung: gen: „Weil ich diese Sprache liebe „Mit 20 Unterrichtsstunden wurde und inzwischen immer mehr erfahren Englisch praktisch durch Platt ersetzt.“ habe, wie viel Gutes sie bewirken kann.“ Besonders verwunderlich findet er das eigentlich Dieser Leidenschaft widmet er zunehmend Zeit, nicht: Vor allem unter den älteren Einwohnern nachdem er sich 2013 aus dem aktiven Berufsle- des Kreises Cuxhaven werde nun mal vorrangig ben als Manager der Bremerhavener Kaufleute-In- Plattdeutsch gesprochen. Auch das eigene Le- teressengemeinschaft City Skipper zurückgezogen ben des gebürtigen Freißenbüttelers (Kreis Os- hat. Und hat in den letzten Jahren erfreut festge- terholz) ist zutiefst in dieser Sprache verwurzelt. stellt, wie stark das Interesse am Plattdeutschen ge- Mit seiner Mutter habe er ausschließlich Platt rade in den Pflegeberufen gestiegen ist. 35
„Dabei kommt es gar nicht darauf an, die Sprache Oftmals reiche es tatsächlich schon, die Sprache möglichst perfekt zu beherrschen. Es sind manch- nur zu verstehen: „Ik kann allens verstahn, bloots mal schon die ganz kleinen Worte, die eine große Platt snacken fallt mi swoor.“ Auch dann käme man Wirkung haben.“ Wenn zum Beispiel eine Pflege- „op Platt“ meist bestens ins Gespräch, weil viele kraft nur auf einen Patienten zugehe mit der Frage: Senioren sich freuten, wenn sie ein wenig sprachli- „Wo geiht Se dat?“, schaffe das oft genug schon che Nachhilfe leisten könnten: „Gerade dieses Ge- den entscheidenden Vertrauensvorsprung. fühl, nicht ausschließlich Unterstützung annehmen zu müssen, sondern in diesem Fall auch einmal Beziehungsaufbau sei das A und O in den Kursen geben zu können, stärkt das Selbstbewusstsein der „Plattdeutsch in der Pflege“, so Werner Michael: Patienten.“ „Da helfen oft schon ganz einfache Sätze, wenn Seine 40 Schüler an der Ursula-Kaltenstein-Akade- ich etwa ins Zimmer eines Patienten komme und mie können nach zehn Doppelstunden allerdings sage „Moin, hebb Se good slopen? Schall ik hel- schon deutlich mehr: Sie wissen, wie man auf Platt pen?“. In seinem Unterricht kommt es ihm be- über Blutdruck, Beschwerden oder Medikamente sonders darauf an, dass die Schüler Empathie spricht. Vor allem wissen sie, wie wichtig das ers- entwickeln und ihre Scheu verlieren, auf Patien- te Kennenlernen ist und mit welchen Fragen „op ten „op Platt“ zuzugehen: „Denn die Menschen Platt“ man gut miteinander ins Gespräch kommen freuen sich über diese persönliche Ansprache, kann: „Wo Heet Se? Hebt Se Verwandschop? Wo- auch wenn es nicht immer alles auf Anhieb keen is Ehr Huusdokter?” klappt.“ Was zähle, sei die gute Absicht – der Rest Über diese Alltagsthemen hinaus geschehe erledige sich dann meist von selbst. Auf einen „zwischen den Zeilen“ aber noch etwas viel Be- „Schlüsselsatz“ legt der Plattdeutsch-Lehrer aller- deutsameres, so Werner Michael: „Mit der platt- dings ganz besonderen Wert, den sollten alle sa- deutschen Sprache gelingt es, den Bewohnern gen können: „Se könnt mit mi gern Platt snacken. in Pflegeheimen ein kleines Stück Heimat zurück- Ik kann dat ans – oder tomindest dat meeste – zugeben.“ Ihr gewohntes Zuhause haben sie verstahn.“ verlassen müssen, das ist nicht leicht. 36
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