Plattdeutsch - Sprache des Herzens - PLATT IN DE PLEEG - Länderzentrum für ...

 
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PLATT IN
                    DE PLEEG

Plattdeutsch -
 Sprache des Herzens
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Plattdeutsch - Sprache des Herzens - PLATT IN DE PLEEG - Länderzentrum für ...
Cristianne Nölting               Jan-Bernd Müller                        Dr. Ulrike Möller              Heinrich Siefer
Länderzentrum für Niederdeutsch   Wissenschaftlicher Mitarbeiter           Niederdeutsche Bibliothek             Bundesraat
     gemeinnützige GmbH            LZN gemeinnützige GmbH                    Carl-Toepfer-STIFTUNG           för Nedderdüütsch

        Foto: Beate Zoellner        Foto: FotoStudio Wucherpfennig Sögel        Foto: Carl-Toepfer-Stifung        Foto: privat

  Herausgegeben vom
  Länderzentrum für Niederdeutsch gGmbH
  Contrescarpe 32, 28203 Bremen
  Telefon: 0151 421 30 622
  E-Mail: info@lzn-bremen.de
  www.lzn-bremen.de

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INHALT

EINLEITUNG
                                                                                      Porträt: Dipl.-Psychologin Kirsten Hansen
Grußwort Dr. Henning Scherf �������������������������������� 4                       begleitet Menschen im Hamburger Hospiz -
Vorwort Christianne Nölting ����������������������������������� 6                    auch auf Plattdeutsch �������������������������������������������� 49

Die Regionalsprache Niederdeutsch                                                     Interview: Hella Einemann-Gräbert über
in der Begleitung und Betreuung                                                       die Zaubersprache Plattdeutsch an der
dementiell erkrankter Menschen                                                        BBS Wildeshausen ����������������������������������������������������� 53
von Heinrich Siefer
(Bundesrat für Niederdeutsch) �������������������������� 10
                                                                                      MATERIAL & INFOS

PORTRÄTS UND INTERVIEWS                                                               Christiane Ehlers über das Erinnerungsbuch
                                                                                      „Weetst Du noch?“ ���������������������������������������������������� 59
Porträt: Ursula Berlik bringt Menschen
seit 20 Jahren „op Platt“ ins Gespräch ����������� 19                                Beratung, Informationen
                                                                                      und Materialien ���������������������������������������������������������� 63
Interview: Palliativ-Fachkraft Tanja Zolc-Edzart
über ihre plattdeutschen Erfahrungen im                                               Weitere Anregungen,
Pflegealltag ������������������������������������������������������������������ 27   Wortsammlungen und Ideen ����������������������������� 65

Porträt: Werner Michael unterrichtet Azubis der
Alten- und Krankenpflege in Plattdeutsch ����� 35                                    ZUM SCHLUSS

Interview: In der Landesschulbehörde                                                  Lied: Otto Grote Ensemble
Niedersachsen vernetzt und begeistert                                                 Sie sieht an mir vorbei ��������������������������������������������� 66
Herbert Fuhs Menschen fürs Plattdeutsche ��� 41                                      Se kickt dör mi dör ������������������������������������������������������ 67

                                                                                                                                                           3
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„Das Plattdeutsche im Alltag der
    norddeutschen Pflegeeinrichtungen liegt mir sehr am Herzen.“

                         Dr. Henning Scherf
                             Bürgermeister a.D.
                       Der Freien Hansestadt Bremen
                         Foto: © Senatskanzlei | Anja Raschdorf

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Liebe Leserinnen und Leser,

Sie halten eine Broschüre zum Thema Plattdeutsch          Ich bin dankbar für viele herzliche Rückmeldungen
in der Pflege – „Platt in de Pleeg“ – in den Händen.      nach meinen Lesungen und fühle mich nach
Darüber freue ich mich, denn das Plattdeutsche            jedem Besuch reich beschenkt.
im Alltag der norddeutschen Pflegeeinrichtun-             Wenn Menschen sich in ihrer Muttersprache
gen liegt mir sehr am Herzen. Seit vielen Jahren          begegnen, löst das Wohlbefinden bei ihnen aus.
besuche ich gern und regelmäßig verschiedene              Sie fühlen sich verstanden, geborgen und zu
Bremer Einrichtungen, um dort zu lesen.                   Hause. Die Träger von Alteneinrichtungen möchte
Ich bin selbst kein Muttersprachler, allerdings schätze   ich ermutigen, den Bewohnerinnen und Bewohnern
ich die Sprache so sehr, dass ich gern auch platt-        dieses vertraute Zuhause zu geben.
deutsche Geschichten und Gedichte vorle-                  Und Sie alle, liebe Leserinnen und Leser, kann
se, jedenfalls das, was das strenge Ohr meiner            ich nur ermuntern, selbst Alteneinrichtungen zu
plattdeutsch sprechenden Ehefrau zulässt.                 besuchen und dort Plattdeutsch zu reden oder
Es gibt in norddeutschen Alteneinrichtungen               vorzulesen. Mögen Sie alle dabei genauso
deutlich mehr „Plattsnacker“, als man vielleicht          wunderbar beschenkt werden wie ich!
vermuten mag. Sie erzählen mir „op Platt“ ihre
Lebenserinnerungen. Der Austausch mit ihnen
ist intensiv und lebensnah und ich habe großen            Herzlich Ihr
Respekt vor ihren Lebensleistungen. Plattdeutsch          Dr. Henning Scherf
öffnet die Herzen sofort – wie es der Titel dieser        Bürgermeister a.D.
Broschüre auch wunderbar formuliert.                      Der Freien Hansestadt Bremen

                                                                                                     5
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Liebe Leserinnen und Leser,

Muttersprache wirkt. Bereits im Mutterleib hat sie   ein zutiefst menschliches Bedürfnis mit politischem
prägende Wirkung auf uns. Und auch, wenn unser       Fundament.
Lebensweg uns vielleicht vom Gebrauch abhält,        Während die Anwendung des Niederdeutschen
gewinnt sie im Alter oft eine besondere Bedeutung.   fester Bestandteil der Europäischen Charta für
                                                     Regional- und Minderheitensprachen ist, werden die
Im Pflegebereich können wir das Wirkvermögen         Belange und Rechte der hilfs- und pflegebedürftigen
der Muttersprache auf besondere Weise erkennen,      Menschen in der deutschen Pflegecharta geschützt.
wenn nämlich hilfs- und pflegebedürftige Menschen    So verweist Artikel 13, Abs. 2c der Sprachencharta
besonders oder ausschließlich durch ihren            explizit auf die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten
Gebrauch erreicht werden können.                     hin „sicherzustellen, dass soziale Einrichtungen wie
In der Muttersprache angesprochen zu werden und      Krankenhäuser, Altersheime und Heime die Möglich-
in ihr selbstverständlich zu kommunizieren ist       keit bieten, Sprecher einer Regional- oder Minder-

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heitensprache, die aufgrund von Krankheit, Alter        mit Vertretern der Carl-Toepfer-Stiftung, der Katho-
oder aus anderen Gründen der Betreuung bedür-           lischen Akademie Stapelfeld, dem Bundesrat für
fen, in deren eigener Sprache aufzunehmen und zu        Niederdeutsch und dem Niederdeutschsekretariat
behandeln.“ Gleichzeitig dürfen die hilfs- und pfle-    Menschen vorstellen, die sich über die Maße auf
gebedürftigen Menschen laut Artikel 6 der Pflege-       diesem Feld engagieren, viele gute Erfahrungen
charta erwarten, „dass Ihre Bedürfnisse und Erforder-   mit Plattdeutsch im Pflegebereich gemacht haben
nisse zur Kommunikation wie langsames und deut-         und diese teilen möchten. Unser Anliegen ist es zu
liches Sprechen oder Gestikulieren berücksichtigt       informieren und wertvolle Hinweise und Anregungen
werden und gegebenenfalls eine Sprach-Überset-          zu geben. Wir möchten zeigen, wie facettenreich
zung einbezogen wird.“ Und wenn es an anderer           die Bedeutung von Muttersprache in der Pflege
Stelle des gleichen Artikels heißt, dass jeder hilfs-   ist. Pflegekräfte, auch diejenigen mit Migrations-
und pflegebedürftige Mensch „das Recht auf              hintergrund, öffnen sich oft schon mit ein paar
Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen           Worten und Sätzen „op Platt“ die Herzen ihrer Gegen-
und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ hat,          über. Wir möchten Sie herzlich zum Lesen einladen.
dann wird implizit auch der Stellenwert des Nie-        Und melden Sie sich gern, wenn Sie Fragen oder
derdeutschen in der Pflege erkennbar, weil wir es       Anregungen haben.
mit vielen plattdeutschen Muttersprachlern zu tun
haben.Viele Praxisbeispiele zeigen bereits, dass
beim Einsatz von „Platt in de Pleeg“ in nord-           Wi grööt vun Harten!
deutschen Pflegeeinrichtungen keine zusätzli-           Christianne Nölting, M.A. phil.
che Belastung entsteht, sondern trägerübergrei-         Länderzentrum für Niederdeutsch
fend von Momenten gegenseitiger Anerkennung             Geschäftsführerin
und Wertschätzung berichtet wird.
                                                        Jan-Bernd Müller, M.A. Gerontologie
Mit dieser Broschüre möchten wir als Vertreter des      Länderzentrum für Niederdeutsch
Länderzentrums für Niederdeutsch gemeinsam              Wissenschaftlicher Mitarbeiter

                                                                                                      7
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Wünschelrute

                       „Schläft ein Lied in allen Dingen,
                          die da träumen fort und fort,
                       und die Welt hebt an zu singen,
                         triffst du nur das Zauberwort.“

                             Joseph Freiherr von Eichendorff
                                         (1835)

Denkfähigkeit und Gedächtnis lassen bei Menschen mit Demenz
  immer mehr nach - das Empfinden von Gefühlen bleibt jedoch erhalten.
                                                      Heinrich Siefer, Bundesraat för Nedderdüütsch

                                                                                             9
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Die Regionalsprache Niederdeutsch in der Begleitung
und Betreuung dementiell erkrankter Menschen
                                          Heinrich Siefer, Bundesraat för Nedderdüütsch

Eine Demenz ist der Verlust der geistigen Leis-       Fähigkeiten so lange wie möglich erhalten bleiben
tungsfähigkeit. Dieser Verlust ist begründet durch    und sie sich ganz in ihrem Sein angenommen
Veränderungen des Gehirns, die verschiedenste         fühlen. Auf diese Weise wird die Realität der
Ursachen haben können. Unter dem Begriff Demenz       Menschen mit Demenz ernst genommen und
vereinigen sich eine Vielzahl von Krankheitsbildern   akzeptiert und damit adäquat auf ihre Gefühle
und Ursachen. Diese führen zu Beeinträchtigun-        und Bedürfnisse eingegangen.
gen im alltäglichen Leben. Folgen einer Demenz-       Dabei wird besonders darauf geachtet, den
erkrankung können nach Schweregrad unterschied-       Betroffenen in ihrer Muttersprache, also ihrer ersten
lich ausgeprägt sein. Die häufigsten und auffäl-      Sprache, zu begegnen und diese in allen metho-
ligsten Erkennungszeichen einer Demenz sind die       dischen Ansätzen auch zu berücksichtigen, bzw.
Beeinträchtigung und der spätere Verlust des          einzuflechten. Das gilt für die Bereiche
Kurz- und Langzeitgedächtnisses.
Auch wenn bisher noch keine Methode entwickelt        •   Beziehungsgestaltung und Kommunikation
worden ist, mit der jedes problematische Verhal-      •   Validation
ten verlässlich und dauerhaft veränderbar ist, so     •   Biografiearbeit
erscheinen jene Methoden wichtig und hilfreich,       •   Milieutherapie
die das emotionale Gleichgewicht von an Demenz        •   Snoezelen
erkrankten Menschen positiv beeinflussen.             •   Basale Stimulation
Durch die Zunahme von Demenzerkrankungen
wird die Pflege künftig vor große Herausfor-          Dabei orientiert sich das Konzept am Pflegemodell
derungen gestellt. Indem Plattdeutsch in der          von Monika Krohwinkel. Sie vermittelt 13 Katego-
Begleitung und Begegnung mit dementiell               rien der Aktivitäten, Beziehungen und existentiellen
erkrankten Personen berücksichtigt wird, kann dem     Erfahrungen des Lebens, die sog. ABEDL´s, die
entgegengewirkt werden. Auf diese Weise wird          sich in den verschiedenen Schwerpunkten des
diesen Menschen ein Raum geboten, in dem sie          Demenzkonzeptes wiederfinden. Zum Konzept
Geborgenheit und Förderung erfahren, damit ihre       gehört, dass die von einer Demenz betroffenen

   10
Menschen all das, was sie noch können, selber        zu wollen. Dies bedeutet, dass zunächst die ver-
machen. Es wird dabei an die Erfahrungen und         wirrenden Äußerungen der Dementen durch das
Fertigkeiten angeknüpft, die ältere Menschen über    Personal als Realität angenommen werden. Es wird
Jahrzehnte erworben haben und die ihnen in Fleisch   nicht von der jetzigen Realität, der Gegenwart aus-
und Blut übergegangen sind. Und diese Erfahrun-      gegangen, sondern versucht sich in die Realität der
gen und Fertigkeiten sind immer auch eng mit der     Menschen hineinzuversetzen. Hierbei geht es um
Muttersprache verknüpft.                             Wertschätzung, Akzeptanz und Empathie gegen-
                                                     über den Betroffenen. Und auch hier geschehen
Beziehungsgestaltung und Kommunikation               Empathie, Akzeptanz und Wertschätzung über die
                                                     Begegnung in der Muttersprache.
Denkfähigkeit und Gedächtnis lassen bei Menschen
mit Demenz im Laufe der Erkrankung immer mehr        Biografiearbeit
nach. Das Empfinden von Gefühlen bleibt jedoch
erhalten.                                            Jeder Mensch definiert seine Person über das, was er
Beziehungsgestaltung und Kommunikation               erlebt und erreicht hat. Eine demenzielle Erkrankung
müssen deshalb von Echtheit und Wärme geprägt        nimmt Betroffenen nach und nach ihre Erinnerungen
sein. Gerade hier ist die Berücksichtigung der       und damit das Bewusstsein dafür, wer sie sind. Da
Muttersprache von ganz besonderer Bedeutung.         ist es umso wichtiger, dass die Mitarbeiter*innen in
                                                     der Pflegegruppe wissen, was die Menschen, die
Validation                                           sie betreuen, früher kennzeichnete und prägte.
                                                     (Muttersprache, Beruf, Brauchtumspflege, Wohn-
Validation bedeutet, sich einzufühlen in die Welt    situation, religiöse Orientierung, ...)
des Demenzkranken. Die Methode der Validation        Indem sie auf individuelle Gewohnheiten und Ver-
bietet die Möglichkeit, die Gefühle hinter einem     haltensmuster eingehen, stärken sie die persönliche
oft unverständlichen Verhalten zu erkennen, ohne     Identität und gleichzeitig das Selbstwertgefühl der
dieses Verhalten zu beurteilen oder korrigieren      Betroffenen.

                                                                                                   11
Das Wissen über die Biografie der Menschen hilft,   macht er/sie das, dann wird dabei die Lebensge-
Normalität und Alltagsroutine zu schaffen.          schichte betrachtet. Dann können manche noch so
Aufgrund der sich verändernden Umwelt und der       seltsam erscheinenden Handlungen einen Sinn
sich stetig verändernden Gesellschaftsnormen              ergeben. Im Rahmen der Biografiearbeit kann
kann sich diese Normalität der De-                                auch eine Art „Lebensbuch“ geführt
menzerkrankten von der Normali-                                        werden.
tät der Betreuer*innen stark                                               Hier können Ereignisse, Erzäh-
unterscheiden. Deswegen                                                      lungen, Fotos, Sprüche aus
ist es immens wichtig, die                                                     dem Alltag und der Um-
Betroffenen und ihre Ge-                                                         gebung der Erkrankten
schichten kennen zu ler-                                                          festgehalten werden.
nen, um sie so besser                                                              In Gesprächen, die
zu verstehen.                                                                      die Betreuenden mit
Ein Austausch über die                                                             ihnen führen, kann die-
persönliche Lebensge-                                                             ses Buch immer wieder
schichte (und hier vor                                                           ergänzt werden. Zur An-
allem in der gewohnten                                                         regung der Gespräche
Muttersprache) führt zu                                                      können auch Gegenstände
einem Geborgenheitsgefühl                                                 oder Themen aus dem früheren
und einer Wertschätzung bei Be-                                       Leben verwendet werden: Fotos,
troffenen und lässt die Betreuenden                              Bilder, Haushaltsgegenstände, Gegen-
das Verhalten des Erkrankten verstehen. Den             stände aus dem jeweiligen Beruf usw. sein und
Betreuenden kann manches gezeigte Verhalten         ebenso auch die Verwendung plattdeutscher Be-
komisch vorkommen und im ersten Moment keinen       zeichnungen für verschiedenste Ereignisse und
Sinn ergeben.                                       Gegenstände.
Wenn jedoch die Frage gestellt wird, warum

   12
einen geregelten und strukturierten Tages- und
                                                        Wochenablauf zu gestalten. Wenn diese Struktur
Milieutherapie                                          klar nachvollziehbar ist, gibt sie Bewohner*innen
                                                        Orientierung und das Gefühl der Sicherheit. Hier ist
Durch die Milieutherapie soll für die Bewohner*in-      es hilfreich, die Tages- und Uhrzeiten auch mit der
nen einer Pflegeeinrichtung ein Klima geschaffen        Bezeichnung in der Muttersprache (der Menschen)
werden, in dem sie nur wenigen Störungen und Be-        benennen zu können, das gilt auch für die Benen-
lastungen ausgesetzt sind und welches sich nach         nung der Mahlzeiten.
den Defiziten der Erkrankten richtet. Auf diese Weise
bekommen sie Stabilität und Sicherheit. Das heißt,      Snoezelen
es wird ein Umfeld und eine Atmosphäre geschaf-
fen, die den dementen Bewohner*innen und ihren          Unter Snoezelen versteht man, sich in anregen-
Bedürfnissen gerecht wird. Die Gestaltung ihres Le-     der Umgebung (gemütliche Sitzkissen, besonde-
bens- und Wohnbereichs zeichnet sich dann durch         res Lichtdesign, entspannende Musik, Wasser-
eine familienähnliche Abgeschlossenheit aus. Durch      spiele, ...) in eine andere Welt versetzen zu lassen,
vertraute Einrichtungsgegenstände wie Sofa, Bücher-     eine Zeitreise ins eigene Leben zu machen und
regal, Garderobenständer etc. wird das Gefühl von       die Phantasie zu stimulieren. All das sind Vorstel-
Geborgenheit und Zuhause vermittelt. Dazu zählt         lungen und Wünsche, die Menschen oft dann
auch die „Gute Stube“, die zum Verweilen und Bei-       haben, wenn ihr Leben durch körperliche Beein-
einandersein einlädt, sowie die Wohnküche. Auch         trächtigung und Erkrankung sehr eingeschränkt ist.
hier kann es hilfreich sein, die besonderen Bereiche    Viele Bewohner*innen in Pflegeheimen empfinden
in der Muttersprache der Bewohner*innen benennen        tagtäglich Defizite, fühlen sich durch scheinbar
zu können. (Küche – Köök, gute Stube – beste Stuuv,     unlösbare Probleme belastet und haben Sehn-
Schlafzimmer- Slaapkamer, Lehnstuhl – Hörnstohl,        sucht nach Leben und Entspannung, wollen aus
Schrank – Schapp).                                      ihrer Situation heraus. Hier können Märchen,
Zur Milieugestaltung gehört auch, Bewohner*innen        Phantasiereisen, -geschichten in der jeweiligen

                                                                                                       13
Muttersprache vorgetragen oder audiovisuell                des Geschmeckten in der Muttersprache)
erlebt werden.                                           • der Tastsinn (und das Beschreiben
                                                           des Ertasteten in der Muttersprache)
Basale Stimulation                                       • das Riechen (und das Beschreiben
                                                           der Gerüche in der Muttersprache)
Die Basale Stimulation stammt aus der Arbeit mit
schwerstbehinderten und komatösen Menschen.              Die Bedeutung ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen
Bei diesen Erkrankungen stellt sich die Situation ein,   in der Betreuung für die Berücksichtigung von
dass ein gleichbleibender Reiz sich nicht verändert      Muttersprache in der Pflege
und immer undifferenziert wahrgenommen wird.
Jemand, der keine Sinnesanregungen wahrnimmt,            Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen können und sollten
kann sein Umfeld immer schlechter erkennen. Dies         einbezogen werden, wenn die Einrichtung selbst
trifft häufig auch auf demente Menschen zu. Sie sind     über kein Personal mit muttersprachlichen Kennt-
teilweise nicht mehr selbst in der Lage, ihre Sinne      nissen der Bewohner*innen verfügt. Menschen, die
zu aktivieren und benötigen Unterstützung. Eine          sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren,
fehlende Stimulation kann zu einer Apathie führen.       haben häufig ihre eigene natürliche alltagsnahe
Mit verschiedensten Maßnahmen, unterstützt u. a.         Art mit Erkrankten zu kommunizieren und stellen
durch den Gebrauch der Muttersprache, werden             (bestimmte) Fragen anders als Pflegefachkräfte.
die einzelnen Sinne des Bewohners angesprochen:          Diese vielleicht manchmal unbefangene Art wirkt
                                                         sich positiv auf das Wecken von Erinnerungen aus.
• das Hören (z. B. durch das Vortragen von               Auch die Milieugestaltung wird dadurch positiv
  Gedichten, Geschichten und 		                          beeinflusst. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, die
  Liedern in Muttersprache)                              sich für eine solche Tätigkeit interessieren, können
• das Sehen (und das Beschreiben                         im Vorfeld geschult werden und ihre Tätigkeiten in
  des Gesehenen in der Muttersprache)                    Absprache mit der zuständigen Bezugspflegekraft
• der Geschmack (und das Beschreiben                     durchführen.

    14
Der Bundesrat für Niederdeutsch                        bleibt in der Bibliothek des Lebens bis zum Ende er-
und das Thema Platt in der Pflege                      halten, auch wenn viele Befähigungen nach und
                                                       nach verlöschen, z. B. Hochdeutsch oder andere
Die Betreuung von an Demenz Erkrankten ist in einem    Sprachen sprechen zu können, geistes- oder natur-
beständigen Wandel.                                    wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen und hand-
Erst in den vergangenen Jahren hat man den be-         werkliche Fertigkeiten zu haben. Die Muttersprache
sonderen Wert der Muttersprache in der Pflege          ist die Kompetenz, die am längsten erhalten bleibt.
erkannt. Im Jahre 2008 hat der Bundesrat für Nieder-   In ihr können auch mit zunehmender Demenz noch
deutsch mit dem Schleswiger Appell erstmals auf        lange Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Sorgen,
die besondere Bedeutung des Niederdeutschen im         Freude und Glück, Erinnerungen und Erfahrungen
sozialen, therapeutischen, pflegerischen und seel-     mitgeteilt oder auch durch Begegnung in der Mutter-
sorgerischen Bereich aufmerksam gemacht und            sprache erinnert und hervorgerufen werden.
eine stärkere Berücksichtigung von Muttersprache
in diesen Bereichen gefordert. Der Bundesraat för      Aus der Erfahrung einer Pflegerin in einem Zentrum
Nedderdüütsch ist eine nicht-staatliche Interessens-   für an Demenz erkrankte Personen heißt es:
vertretung der Sprecher*innen der Regionalsprache      „Als die Bewohnerin in ihrer Muttersprache ange-
Niederdeutsch mit Delegierten aus Brandenburg,         sprochen wird, wird aus der alternden depressiven,
Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nie-          schlaffen Frau eine vitale Person, die mit lebhafter
dersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt        Gestik und munterer Stimme spricht.“
und Schleswig-Holstein und (den Vertretern) der        Daher forderte der Bundesraat för Nedderdüütsch
Plautdietschen. Muttersprache ist für den Bundesraat   bereits im Jahre 2008 Träger vor allem von Pflege-
för Nedderdüütsch in diesem Zusammenhang ein           einrichtungen auf, ein Konzept zur Einbeziehung
besonders geeigneter Weg, der die Grundsätze der       des Niederdeutschen in die soziale, therapeuti-
persönlichen Annahme und der Wertschätzung in          sche, pflegerische und seelsorgerische Arbeit
den Pflege- und Beratungskonzepten verwirklichen       als festen Bestandteil in die Einstellungspraxis
kann. Denn das Buch Erstsprache (Muttersprache)        sowie in die Aus-, Fort- und Weiterbildung ihrer

                                                                                                     15
Mitarbeiter*innen aufzunehmen und die Vorausset-      ches Konzept. Mit einer Fachtagung im branden-
zungen dafür zu schaffen, dass sie Niederdeutsch      burgischen Wittstock und der dort verabschiede-
lernen bzw. ihre Sprachkenntnisse auffrischen oder    ten „Wittstocker Erklärung“ hat der Bundesraat för
festigen können. Auch wenn im Nachhinein die          Nedderdüütsch noch einmal eindringlich auf die
Kenntnisse um die Bedeutung der Muttersprache         Anerkennung der Regionalsprache Niederdeutsch
im Pflegealltag immer stärker Berücksichtigung        als Teil eines Pflege- und Betreuungskonzeptes in
finden, u. a. an berufsbildenden Schulen in der       sozialen Einrichtungen aufmerksam gemacht.
Ausbildung von Altenpflegekräften, gibt es bis
heute noch kein durchgängiges und verbindli-

Wittstocker Erklärung (Mai 2019)                      Justiz, Verwaltung und öffentliche Dienstleistungs-
                                                      einrichtungen, die Medien, der Kulturbereich
zur Anerkennung der Regionalsprache Nieder-           sowie das wirtschaftliche und soziale Leben.
deutsch als Teil eines Pflege- und Betreuungskon-
zeptes in sozialen Einrichtungen                      2. Soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser,
                                                      Altenheime, Hospize und weitere Pflegeeinrich-
1. Der Bundesraat för Nedderdüütsch als sprach-       tungen tragen eine besondere Verantwortung
politische Vertretung der niederdeutschen Spre-       dafür, dass Niederdeutschsprecher*innen sowie
chergruppe setzt sich für den Schutz und die aktive   Sprecher*innen von Minderheitensprachen, die
Förderung der Regionalsprache Niederdeutsch in        der pflegerischen oder therapeutischen Betreu-
allen Bereichen des öffentlichen Lebens ein.          ung bedürfen, in ihrer eigenen Sprache aufge-
Dazu zählen insbesondere der Bildungsbereich,         nommen und behandelt werden (Artikel 13, 2c

   16
der Europäischen Charta der Regional- oder              damit bereits vorhandene und zukünftige Projek-
Minderheitensprachen). Der Bundesraat för Nedder-       te wissenschaftlich begleitet werden können. Die
düütsch fordert die Träger dieser Einrichtungen auf,    Forderung nach einer Dokumentation der Verwen-
die Gespräche zwischen Mitarbeiter*innen und            dung des Niederdeutschen in sozialen Einrichtungen
zu Betreuenden in der Regionalsprache Nieder-           wird bekräftigt (Schleswiger Appell 2008).
deutsch nicht nur im Rahmen der Biografiearbeit
ausdrücklich als pflegerische und therapeutische        5. Der Bundesraat för Nedderdüütsch appelliert an
Tätigkeit anzuerkennen.                                 die Landesregierungen aller acht Bundesländer,
                                                        in denen niederdeutsch gesprochen wird, die
3. Um die niederdeutschen Sprachkenntnisse              niederdeutsche Sprache als Teil des Gesamtkon-
der Mitarbeiter*innen sozialer Einrichtungen zu         zeptes zur Pflege und Betreuung anzuerkennen und
gewährleisten, forder t der Bundesraat för              entsprechende Maßnahmen zu unterstützen bzw.
Nedderdüütsch besonders die Berufsfachschulen           aktiv zu initiieren.
für Gesundheit und Pflege in den entsprechenden
Regionen auf, die niederdeutsche Sprache verpflich-
tend als Unterrichtsfach mit einer angemessenen
Stundenzahl und festgeschriebenen Lernzielen oder
als Unterrichtssprache in mindestens einem Lernfeld     1
                                                          Krohwinkel, M. (2013): Fördernde Prozesspflege mit
einzuführen.                                            integrierten ABEDL´s. Forschung, Theorie und Praxis.
                                                        Bern: Huber Verlag.
4. Weiterhin hält es der Bundesraat för Nedderdü-       2
                                                          Anlässlich der Tagung „Plattdüütsch in de Pleeg“ im
ütsch für dringend geboten, interdisziplinäre Studien   brandenburgischen Wittstock hat der Bundesraat för
zur Rolle der Erstsprache im Prozess des Gedächt-       Nedderdüütsch und der Verein für Niederdeutsch in
nisverlustes von Demenzpatient*innen im Rahmen          Brandenburg e.V. diese Erklärung am 03. Mai 2019
der allgemeinen Demenzforschung einzufordern,           verabschiedet.

                                                                                                       17
18
„Neugier und Entdeckerfreude wecken -
         und ein bisschen Denkarbeit ist auch immer dabei“

                     In plattdeutschen Erzählcafés und Sprachkursen bringt
            Ursula Berlik seit über 20 Jahren Menschen miteinander ins Gespräch

Ein Erlebnis treibt Ursula Berlik fast immer                  Dithmarscher Dichters Klaus Groth gehen:
noch Tränen der Rührung in die                                     „Lütt Matten, de Has‘“.
Augen, wenn sie davon erzählt.                                         Ursula Berlik hat gerade einige ein-
Es ist schon ein paar Jahre her,                                         leitende Worte dazu gesagt, da
als sie als ehrenamtliche Mit-                                            beginnt, zum Erstaunen aller
arbeiterin des Hamburger
Seniorenzentrums St. Markus die             Porträt                        Anwesenden, sich die alte
                                                                           Dame mühsam aus ihrem Sitz
Bewohner zu einem monatlichen                                             zu erheben, um sich langsam
plattdeutschen Gesprächsnach-                                            und unter Aufwendung aller Kraft
mittag eingeladen hat: „Die Ver-                                       hinter ihren Rollstuhl zu stellen:
anstaltung war immer recht gut be-                                 „Mit beiden Händen stützte sie sich
sucht, unter den rund 15 Teilnehmern                           auf die Griffe, um aufrecht stehen zu
war auch eine alte Dame im Rollstuhl, die            können – und begann dann mit klarer Stimme
schon mehrere Male dabei gewesen war,                das ganze Gedicht aufzusagen. Alle drei
aber noch nie etwas gesagt und auch sonst            Strophen, fehlerfrei.“ Als sie sich danach – ein
keinerlei Regung gezeigt hatte.“                     kleines Lächeln im Gesicht – wieder in ihren
Man berichtet ihr, die Bewohnerin sei dement         Rollstuhl setzt, klatschen alle Anwesenden Beifall:
und zudem motorisch stark eingeschränkt. Bei         „So etwas habe ich selten erlebt.“
diesem wohl fünften oder sechsten Gesprächs-
kreis nun soll es um das plattdeutsche Gedicht des

                                                                                                    19
Eine von unzähligen Erfahrungen mit der „Herzens-   Seniorenzentrums St. Markus sofort auf offene
sprache Plattdeutsch“, von denen Ursula Berlik      Ohren: „Die Mitarbeiter zeigten sich äußerst ko-
aus rund 22 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit zu      operativ und unterstützten mein Vorhaben von
berichten weiß: „Gerade bei Demenz lassen sich      Anfang an.“ Los geht es mit einem Gesprächs-
Menschen in der norddeutschen Region offen-         nachmittag auf Hochdeutsch – aber ganz schnell
bar mit dem Plattdeutschen viel direkter und        entdeckt sie, dass viele der Teilnehmer plattdeutsche
emotionaler ansprechen.“                            Muttersprachler sind: „Da habe ich das Ganze
Eben diese Ansprache – „Langsam und geduldig“       natürlich gleich „op Platt“ angeboten!“
– sagt sie, sei das A und O, um mit Menschen in     Der Beginn einer langjährigen, und wie sie sagt,
Kontakt zu kommen, die sich aufgrund von Krank-     sehr bereichernden ehrenamtlichen Plattdeutsch-
heit, Alter oder Demenz äußerlich schon vom         Arbeit mit Senioren und pflegebedürftigen Men-
Leben abgewandt und augenscheinlich in ihre         schen: „Ich habe dann ziemlich schnell auch ent-
Innenwelt zurückgezogen haben.                      sprechende Fortbildungen gemacht, etwa in der
„Da muss was passieren!“                            Biografiearbeit.“ Dabei steht das Ziel im Vorder-
Das ist denn auch ihr erster Gedanke, der vor gut   grund, sich mit der eigenen Vergangenheit aus-
20 Jahren alles ins Rollen bringt.                  einanderzusetzen, Mut zum Erzählen zu gewinnen
1997 besucht Ursula Berlik häufig ihre pflege-      und die eigenen Erinnerungen als „verborgene
bedürftige Mutter in einem Hamburger Senioren-      Schätze“ wahrzunehmen.
zentrum, wo diese wegen schwerer gesundheit-        Im „Erinnerungscafé“ lernt die engagier te
licher Probleme für sechs Monate ein Zimmer         Plattdeutsch-Vermittlerin zudem, wie wichtig dabei
bezogen hat.                                        das Zuhören ist: „Und die Menschen immer wieder
Ziemlich schnell fällt ihr auf, dass die Bewohner   zu ermuntern, sich an das zu erinnern, was in ihrem
dort „kaum Gelegenheit zum Sprechen haben“.         Leben wichtig war und darüber zu erzählen.“
Um das zu ändern, schlägt sie der Einrichtung       Ein Blick in Ursula Berliks eigene Biografie zeigt,
vor, regelmäßig einen offenen Gesprächskreis        wie früh die plattdeutsche Sprache ihr Leben
anzubieten. Und triff t bei der Leitung des         prägt: Geboren 1943 in Timmendorfer Strand,

   20
G e rade be i De me n z l as se n s ich Me ns ch e n
          i n de r nordde u ts ch e n Re gio n o f fe nb a r mi t de m P l at tde u ts ch e n
                      v ie l di re k te r und e mo t io n a le r anspre ch e n .

zieht sie mit ihrer Mutter als gerade mal acht         Namen „als norddeutscher Günther Jauch“.
Wochen altes Baby auf einen Bauernhof bei              Gemeinsam mit dem plattdeutschen Autor
Süderbrarup in Angeln, weil sie an einer Bronchitis    Heinrich Kahl veröffentlicht sie im Wachholtz-
leidet. Dort wird sie die nächsten viereinhalb Jahre   Verlag das „Hamborg Quiz op Platt: 200 Fragen über
ihrer Kindheit verleben und spricht mit den Bauern     die Hansestadt“.
und deren Kindern nur Plattdeutsch.                    Alles im Dienste der Plattdeutsch-Pflege – und
Zu den Enkelkindern dort habe sie bis heute            natürlich dem Anliegen, für die niederdeutsche
Kontakt: „Und immer wenn wir uns sehen, fragen         Sprache mit innovativen Methoden und Zugän-
sie: Na, Ursula, kannst du denn noch Plattdüütsch      gen zu begeistern: „Ich hatte schon vorher fest-
schnacken?“                                            gestellt, dass sich Quizfragen und Rätsel gut als
Und ob sie kann. Um das Plattdeutsche nicht nur        Gesprächsanlässe eignen“, sagt Ursula Berlik.
in ihrem eigenen Leben zu pflegen, sondern es          „Gerade in der Seniorenarbeit bieten sie einen
auch möglichst vielen Menschen nahezubrin-             zwanglosen, oft auch heiteren Einstieg, um in den
gen bzw. in Erinnerung zu bewahren, geht Ursu-         Dialog zu kommen: „Jo, wie weer dat noch?
la Berlik seit nunmehr zwei Jahrzehnten ganz           Weet ji noch …?“
unterschiedliche, oft auch ungewöhnliche Wege:         Da fragt sie dann etwa – op Platt, natürlich! - nach
Grundschulkindern in ihrem heutigen Wohnort            der unerlässlichen und charakteristischen Zutat
Hamburg-Niendorf bringt sie die Sprache bei,           des Original Hamburger Franzbrötchen: Scho-
sie unterrichtet an Sprachenschulen (z. B. Lingu-      kolade? Kaneel? Rosinen? (Richtige Antwort:
fit), schult Pflegepersonal und Ärzte in Kranken-      Kaneel): „Einige freuen sich dann übers eigene
häusern (etwa in der Geriatrie der Asklepios-Klink     Wissen, andere über eine Neuentdeckung“, so
in Hamburg-Wandsbek), sitzt bei plattdeut-             Ursula Berlik.
schen Vorlesewettbewerben als Jurorin neben            „Auf jeden Fall werden so Neugier und Entdecker-
Gerd Spiekermann und (dem im Juni 2019                 freude geweckt, und ein bisschen Denkarbeit ist
verstorbenen) Wilhelm Wieben.                          auch immer dabei.“
Und macht sich 2007 nebenbei noch einen

                                                                                                     21
Dabei sei die Frage, wie gut der Einzelne nun          die Herzen offener, als wenn man gleich mit einem
schon Plattdeutsch kann, gar nicht relevant: „Selbst   Gespräch einsteigt. Das ist natürlich gerade für de-
wenn sie es nicht selbst sprechen –                    mente bzw. sprachlich eingeschränkte Menschen
mehr oder weniger verstehen können es die                     sehr wichtig.“
meisten.“
Für die Teilnehmer, die keine oder                                       Auf Plattdeutsch geht das
wenig Erfahrung mit dem Nie-                                                 nochmal so gut, so Ursula Berlik.
derdeutschen haben, wählt                                                       Und erinnert sich dabei an
Ursula Berlik bewusst auch                                                       ein weiteres bewegendes
andere spielerische Ein-                                                          Erlebnis im St-Markus
stiege, die erste Berüh-                                                           S e n i o re n z e n t r u m i n
rungsängste abbauen                                                                 diesem Sommer.
helfen. Singen zum Bei-                                                             Mit den Teilnehmern
spiel.                                                                              eines plattdeutschen
„Häufig beginne ich                                                                Gesprächskreises
den Kurs mit einem be-                                                            spricht sie über das
kannten plattdeutschen                                                           alte Kinderspiel „Kibbel-
Lied wie „Anne Eck steiht                                                      Kabbel“, das in der (Nach-)
‘n Jung mit ‘n Tüdelband“,                                                  Kriegszeit, als gepflasterte
dazu verteile ich Zettel mit dem                                        Straßen noch selten waren, sehr
Text.“ Wer kann – und mag! – singt mit:                            beliebt war: „Dorto bruken de Kinner
„Und die anderen kriegen so schon mal ein Gefühl       enen korten, dicken Stock, de an beide Ennen
für die Sprache.“ Ohne dass viel geredet werden        anspitzt weer, de Kibbel. Un de wörr nu över en
müsse, schaffe das gemeinsame Singen ganz              utbuddelt Lock in de Eer leggt …“.
natürlich eine Atmosphäre der Verbundenheit:
„Damit ist schon eine Barriere übersprungen und sind

   22
Als sie in die Runde fragt, wer das Spiel aus seiner                 Bilanz gezogen: „Der Mann ist schneller gesund
Kindheit noch kenne, möchte sich auch ein älte-                      geworden als jeder andere Patient in dieser
rer Herr, der an schweren Sprachstörungen leidet,                    Situation.“
dazu äußern: „Er bemühte sich unglaublich,
einige Worte herauszubringen, aber es                                Ursula Berlik, Jahrgang 1943,

                                                                                                                              Steckbrief
gelang ihm nicht. Tränen stiegen ihm in die                                      in Angeln /Schleswig-Holstein mit der
Augen, er schien sehr bewegt.“ Auch wenn                                            plattdeutschen Sprache aufgewach-
das Sprechen nicht gelang: „Die Tür zum                                             sen. Seit 22 Jahren ehrenamtliche
Herzen war offen.“                                                                 Organisation und Leitung von plattdeut-
Im Laufe ihrer Arbeit mit der Sprache, so                                   schen Sprachkursen und Gesprächskreisen
Ursula Berlik, habe sie immer wieder erfahren,                       im Sozial- und Bildungsbereich, v. a. in der Senioren-
dass es beim Plattdeutschen keineswegs auf                           und Pflegearbeit. Zudem Jurorin in plattdeutschen
Perfektion ankomme, sondern auf das, „was                            Vorlesewettbewerben und Autorin: Seit 11 Jahren
                                                 Foto: Götz Berlik

man damit macht.“                                                    schreibt sie regelmäßig plattdeutsche Artikel für ein
Wie der Chefarzt der Universitäts-Hautklinik                         Hamburger Regionalblatt.
in Kiel etwa, den sie vor rund zehn Jahren
während einer Routineuntersuchung dort ken-                          Auch mit wenig Vokabular – mutig und munter drauf
nenlernt. Einer seiner Patienten kommt vom Land,                     los! Ein Credo, das Ursula Berlik in späteren Umfragen
wie er dem Pfleger erzählt hat.                                      immer wieder bestätigt findet.
Bei der nächsten Visite nun, im Gefolge ein ganzer                   Im Hamburger Seniorenzentrum St. Markus etwa
Tross von Assistenz- und Fachärzten, spricht dieser                  seien die Bewohner gefragt worden, ob sie auch
Professor den Patienten an: „Na, Herr Schulze, wo                    im Krankenhaus gern Plattdeutsch sprechen
geiht Se dat denn hüüt?“                                             würden. Einhellige Antwort: „Oh ja, das wäre toll!“
Der alte Herr ist fassungslos: „Herr Perfes-
ser – und Se snackt Platt?!“ Wochen spä-
ter habe selbiger „Perfesser“ die schlichte

                                                                                                                    23
Aber auch schon auf dem Weg ins Krankenhaus                  meint Ursula Berlik: „Und meistens sind es schöne
kann die plattdeutsche Sprache offenbar überaus              Erlebnisse, die dabei wieder ins Bewusstsein
hilfreich sein. Das erfährt Ursula Berlik vor drei Jahren,   geholt werden.“ Erinnerungen, die gerade bei
als sie nach einem Fahrradunfall in ihrem Wohnort            Menschen, die in der Gegenwar t schwere
in Hamburg-Niendorf von einem Krankentransport               Zeiten durchleben, wahre „kleine Wunder“
des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in die nächste           bewirken können, hat sie festgestellt.
Orthopädieklinik gebracht wird.                              Etwa bei ihrem Besuch im Pik-As in der Hamburger
Während der Fahrt kommt sie mit dem jungen                   Neustadt – die älteste Obdachloseneinrichtung
Sanitäter ins Gespräch: „Und was machen Sie so?“             Deutschlands –, in der wohnungslose Männer eine
Als er von ihrem niederdeutschen Engagement                  Übernachtungsstätte finden. 2014 ist das, in der
erfährt, berichtet er vom kürzlichen Transport einer         Vorweihnachtszeit. Anlässlich eines gemeinsamen
sehr alten Dame, die nur Plattdeutsch gesprochen             Weihnachtsessens dort bietet Ursula Berlik den Be-
habe. Man habe sich partout nicht verständigen               wohnern einen Gesprächskreis an: „Wi snackt Platt.“
können, erst als der Sohn angerufen wurde um                 Im Anschluss an die Veranstaltung lädt sie die rund
zu dolmetschen, habe man die notwendigen                     30 Teilnehmer ein, an ihren kleinen Stand mit Info-Ma-
medizinischen Fragen klären können.                          terial zu kommen: „Wenn jemand noch Fragen hat,
Als Ursula Berlik daraufhin von dem einen oder               kann er sich gern bei mir melden.“
anderen ihrer Erlebnisse mit Patienten erzählt,              Und das, sagt sie, macht dann auch etwa ein
bricht es irgendwann aus vollem Herzen aus dem               Drittel der Besucher – allerdings um sich zu bedan-
jungen Mann hervor: „Plattdeutsch ist ja cool!“              ken. „Meine Oma hat auch Platt geschnackt, das
Und trifft dabei oft genug „mitten ins Herz“.                war so schön in der Kindheit“, erzählt ihr freude-
Das habe sicherlich damit zu tun, dass die                   strahlend einer der Männer. Ein anderer kommt,
Sprache vor allem bei Älteren Erinnerungen                   um ihr seinen Dank mit einem kleinen Geschenk zu
wecke, an Kindheit, Jugend und Zeiten, in denen              bekunden, lässt sich durch nichts davon abbrin-
Menschen mit Plattdeutsch in Berührung waren                 gen. Ganz energisch greift er in seine Tasche: „Ich
– ob nun selbst gesprochen oder nur gehört,                  habe zwar nur noch einen davon, aber diesen

    24
Ohrring sollen Sie bekommen!“ Ein weiterer sagt ihr      Menschen. Schon „auf der Straße“, sagt sie, wenn
auf der Treppe beim Rausgehen: „Ich freue mich,          man etwa einem älteren Passanten nur anbiete,
wenn Sie das nächste Mal wiederkommen.“ Erleb-           ihm über die Straße zu helfen, zaubere eine An-
nisse, die Ursula Berlik bis heute tief berühren: „Als   sprache auf Platt beim Gegenüber meist gleich
ich draußen war, hatte ich Tränen in den Augen.“         ein Lächeln ins Gesicht. Ein persönliches Band sei
Mit Plattdeutsch, davon hat sie sich in ihrer lang-      geknüpft, der Zugang da: „Oh, Se snacken Platt?
jährigen ehrenamtlichen Arbeit immer wieder              So sehn Se gor nich ut! – Wo süht denn eener ut, de
überzeugen können, schaffe man einfach viel              Platt snack? - Na ja, …“.
direkter eine Ver trauensbasis zu fremden                Und schon ist man im Gespräch.

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26
„Ich verstehe zwar nicht alles, was ihr so besprecht,
          aber euer Schnacken und Lachen erfreut mich immer wieder“

        Als Altenpflegerin und Palliativ-Fachkraft erlebt Tanja Zolc-Edzards jeden Tag,
        welchen Unterschied die plattdeutsche Sprache im Miteinander ausmacht

Welche Rolle spielt Plattdeutsch                    Wann haben Sie entdeckt, dass das Plattdeutsche
in Ihrem persönlichen Leben?                        auch in Ihrem Beruf eine zentrale Rolle spielt?

Ich bin in Groß Häuslingen (Kreis Soltau-Falling-   Nach der Schule habe ich erst eine Ausbildung
bostel) aufgewachsen, einem kleinen Dorf                 zur Dorfhelferin gemacht – mir war eigent-
zwischen Verden/Aller und Walsrode.                           lich immer klar, dass ich als Altenpflege-
Meine Mutter hat kein Plattdeutsch                                rin auf dem Land arbeiten möchte.
gesprochen, mein Vater ja. Den                                       Und die Menschen hier sprechen
größten Einfluss hatten aber                                          nun mal überwiegend Platt.
meine Großeltern, die beide nur
Platt sprachen und einen kleinen        Interview                      2003 bin ich dann mit meinem
                                                                       Mann nach Halenhorst (Landkreis
landwirtschaftlichen Betrieb in                                        Oldenburg) gezogen. In meinem
unserem Dorf hatten. Nach der                                         Ausbildungsbetrieb in Wildeshau-
Arbeit meines Vaters waren wir                                       sen gab es einen Bewohner, der
täglich dort, um ihnen zu helfen.                                 nur Platt sprach: Er war in einem klei-
Ich kann mich nicht erinnern, dass                            nen Dorf in der Nähe als Schmied tätig
meine Großeltern jemals Hochdeutsch                      gewesen. Bei diesem Patienten bemerkte
gesprochen haben; auch meine Schwiegereltern        ich zum ersten Mal, wie viel unkomplizierter der
sprechen nur Plattdeutsch.                          Umgang wurde, wenn man ihn in seiner Mutter-
                                                    sprache ansprach.

                                                                                                   27
Wie zeigte sich das genau?                      Seit 2016 arbeite ich bei einem Ambulanten
                                                Pflegedienst der Diakonie Sozialstation in Großen-
Bei Kolleginnen, die nicht seine Sprache        kneten und versorge Patienten in verschiedenen
sprachen, reagierte dieser Mann meist                      Gemeinden des Landkreises zu Hause in
viel ungehaltener, als wenn man                                  ihrer gewohnten Umgebung. Mir
ihn auf Plattdeutsch ansprach.                                       gefällt die ambulante Arbeit
Vielleicht fühlte er sich                                               einfach besser, da der Zeit-
„op Platt“ eher als „gan-                                                  druck wesentlich geringer
zer“ Mensch gesehen                                                          ist. Ich kann mich ganz
statt „nur“ als Patient,                                                       diesem einen Patienten
möglich wäre das.                                                              widmen – es gibt keine
Jedenfalls war die                                                              Klingel im Hintergrund,
Zusammenarbeit mit                                                              weil ein anderer Be-
ihm dann deutlich                                                              wohner gerade ein Pro-
entspannter. Wenn es                                                           blem hat oder ein Kolle-
z. B. ums Rasieren ging,                                                     ge Hilfe benötigt. Hinzu
s agte ic h: „He i n rich,                                                 kommt, dass die Menschen
do di man eben rasie-                                                   in der Ambulanten Pflege
ren“, und machte dabei                                               häufig nicht so stark dementiell
e i n e e n t s p re c h e n d e H a n d -                      verändert sind wie im Pflegeheim.
bewegung. So hat der alte                                 Den meisten liegt viel daran, solange
Herr vers tanden und kam der Auf forde-         wie möglich zu Hause selbstständig bleiben zu
rung dann auch gern nach.                       können – möglichst bis zum Lebensende.
                                                Deshalb habe ich 2017 auch eine Weiterbildung
Welche Rolle spielt die plattdeutsche Sprache   zur Palliativ-Fachkraft gemacht, 2018 zusätzlich
heute in Ihrem Beruf als Pflegefachkraft?       eine zur Praxisanleiterin in der Pflege, d. h. ich darf

   28
Vie l le ich t fühl t de r Pat ie n t s ich „op P l at t “ e h e r
                    a ls g an ze r Me ns ch ge se h e n s t at t nu r a ls Pat ie n t.

Auszubildende der Altenpflege anleiten.                  unterricht“. Im Schuljahr 2012/13 fand sechs Monate
                                                         lang ein zweistündiger wöchentlicher Sprachunter-
Haben Sie das Plattdeutsche in Ihrer                     richt statt, dazu kam der wöchentliche Fachunterricht
Palliativ-Arbeit ebenfalls als hilfreich erlebt?         von 2011 bis 2013 auf Plattdeutsch.

Ja, auch jeden Fall. Ich erinnere mich dabei an          Warum diese Unterteilung von Sprach- und Fach-
einen alten Herrn, der eine Schmerzpumpe hatte.          unterricht auf Plattdeutsch?
Dieser Patient hatte nachts geträumt, dass seine
Schmerzpumpe „explodieren“ würde.                        Im Sprachunterricht geht es mehr um Vokalbel-
Am nächsten Morgen schien er sehr verunsi-               arbeit (Anatomie, Kleidungsstücke, Begrüßungs-
chert und wollte dieses Gerät nicht mehr bei sich        formeln), um einfache, kurze Sätze auf Platt für die
haben. Auch hier konnte ich ihn erst auf Plattdeutsch    Direktpflege anwenden zu können wie „Moin, good
beruhigen und ihm erklären, dass diese Pumpe nicht       slapen?“ Oder auch Kinderreime, an die sich die
explodieren könne.                                       ältere Generation oft gern erinnert. Der Fachunter-
Später sagte ich mit einem Augenzwinkern                 richt beinhaltet pflegespezifische Themen wie die
zu ihm: „De Knall dei ik in Halenhorst ok noch hören!“   10-Minuten-Aktivierung, Validation oder Assessments
(„Den Knall würde ich in Halenhorst auch noch            (Erfassung von kognitiven Leistungsstörungen ein-
hören!“ 12 km entfernt!). Darüber lachten wir dann       schließlich Schweregradeinschätzung).
beide.
                                                         Haben Sie das als sinnvoll erlebt?
Obwohl Sie schon Plattdeutsch konnten, haben Sie
2012 einen Platt-Kurs an der Berufsschule (BBS) in       Auf jeden Fall. In unserer Klasse waren ja nicht nur
Wildeshausen gemacht. Warum?                             Schüler aus dem Landkreis Oldenburg, sondern auch
                                                         aus Berlin oder mit Migrationshintergrund.
Plattdeutsch war für die ganze Altenpflegeklasse
in der Berufsschule Wildeshausen ein „Pflicht- Sprach-

                                                                                                       29
Für diese Mitschüler stellte Plattdeutsch ein   Dort haben wir an einer plattdeutschen Führung teil-
wichtiges Handwerkszeug dar, um in ihrem        genommen und konnten ein bisschen eintauchen in
Pflegealltag den einen oder anderen Satz        den Alltag der 1950er Jahre, was uns die Lebenswirk-
einfließen lassen zu können und so leichter              lichkeit unserer Patienten in früheren Jahren
ins Gespräch zu kommen.                                          ein Stückchen näher gebracht hat:
Auch mit wenig lässt sich                                            Wie sah es damals etwa in einem
v i e l e rre i c h e n : Ä l te re                                     Landwirtschaftsbetrieb, einer
Menschen fühlen sich                                                       Küche oder auch einem
gebraucht und wertge-                                                        Friseursalon aus? Damit
schätzt, wenn sie einem                                                       hatte man auch wieder
jungen Menschen etwa                                                           einen lebendigen Ge-
bei der Aussprache hel-                                                         sprächsstoff mit den
fen oder ihm ein neues                                                          Patienten.
plattdeutsches Wort                                                            So war das auch mit
beibringen können.                                                             unserem Besuch im
Das verbessert die Be-                                                       NDR-Studio in Hanno-
ziehungsebene zwischen                                                      ver, wo wir uns im zweiten
Bewohner und Pflegekraft                                                  Ausbildungsjahr in der Sen-
oft ganz entscheidend.                                                 dung „Plattenkiste“ als Klasse
                                                                   vorgestellt und vom Plattdeutsch-
Gab es besondere Aktivitäten im                              Unterricht in der Berufsfachschule
Unterricht, um das Plattdeutsche auch einmal    Wildeshausen erzählt haben.
außerhalb der Klassenräume zu erleben?
                                                Im dritten Ausbildungsjahr haben Sie dann sogar
Auf Wunsch der Klasse gab es etwa einen ganz-   erste Videos „op Platt“ gedreht – was war die
tägigen Besuch im Moormuseum in Benthullen.     Idee dahinter?

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Die Idee war, den Gedanken „Platt in der Pflege“          zu scherzen. Einer meiner Patienten hat z. B. bei
im Internet weiter bekannt zu machen. Und um              der Bahn im Stellwerk gearbeitet. Und wir lachen
Außenstehenden einen Eindruck zu vermitteln,              häufig über die Berufsbezeichnung „Bahnpahl-
wie das aussehen kann. Es gab da z. B. nachge-            op-un-dol-Dreiher“(„Bahnschranken-Rauf-und-
spielte Szenen aus dem Pflegealltag, wenn etwa ein        Runter-Dreher“). Bei einer anderen Patientin lau-
Patient partout nicht aufstehen oder auch nicht           tet die ritualisierte scherzhafte Verabschiedung
schlafen gehen wollte. Am schönsten war eine              „Slap di wat!“ („Schlaf gut!“). Eine andere sagt beim
Szene zum Thema Mittagessen: Dabei ging es um             Abschied immer, wie schön es wieder war:
einen dementiell veränderten Patienten, einem             So konnten wir „mol eben Mund vull snacken“
früheren Tischler, der mit einem Schuh über die           („einen Mundvoll schnacken“).
Tischkante schleifte und immer wieder betonte,
er müsse dies unbedingt noch fertig machen                Wie steht es mit den Angehörigen
bis zum Abend. Erst als eine Mitschülerin ihn auf         der Patienten – bekommen Sie auch von der
Plattdeutsch anspricht: „Is Klock twölf, Middagstiet!“,   Seite Rückmeldungen?
unterbricht er seine Arbeit für die Frage: „Watt gifft
dat denn hüüt?“                                           Angehörige sind häufig erstaunt, dass eine
                                                          Pflegekraft Plattdeutsch spricht - und finden es in
Mit wie vielen Ihrer Patienten sprechen Sie               der Regel toll. Die Ehefrau eines Patienten sag-
heute Plattdeutsch? Versuchen Sie auch manch-             te zum Beispiel: „Ach, es ist einfach schön, wenn
mal, die Sprache zur „Auflockerung“ von                   du da bist. Ich verstehe zwar akustisch nicht,
Situationen anzuwenden?                                   was ihr im Nebenraum besprecht. Aber euer
                                                          Schnacken und Lachen erfreut mich immer.“
Es ist immer unterschiedlich, mit wie vielen              Ihr Mann war ein Palliativ-Patient, der zum Ster-
Patienten ich Plattdeutsch spreche, aktuell sind          ben nach Hause entlassen worden war. Auf Platt
es fünf von ca. 12 Patienten. Manchmal benutze            konnten wir uns recht vertraut austauschen
ich sie auch nur, um ein bisschen mit den Leuten          und fanden, selbst in dieser schweren Situation,

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immer wieder auch einen Anlass zu scherzen.            Auszubildenden oder Praktikanten dabei habe,
Das geht auf Plattdeutsch irgendwie unkomplizierter.   versuche ich schon jetzt, ihn zum Platt schnacken
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Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?          zu den Herzen der alten Menschen. Es baut
                                                       Barrieren ab und schafft Vertrauen, so dass sich
Wichtig wäre mir, dass sich viel mehr Schwestern       Patienten häufig eher trauen, über Probleme zu
und Pfleger trauen würden, in ihrem Beruf              sprechen. Gerade bei demenziell veränderten
Plattdeutsch anzuwenden. Viele junge Menschen          Menschen ist die Sprache aus ihrer Kindheit
sprechen kaum noch Plattdeutsch, als Sprach-           noch lange lebendig – und oft eine Brücke in
unterricht ist es leider nicht fest in allen           die Gegenwart, ein Schritt hinein oder zurück ins
Altenpflegeschulen integriert. Ich fände es gut,       Hier und Jetzt. Mit dieser Sprache ist einfach alles
wenn dies ein Pflichtangebot in allen Alten- und       möglich.
Krankenpflegeschulen wird. Wenn ich einen

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             Tanja Zolc-Edzards, Jahrgang 1978,        Plattdeutsch hat sie in der
              geboren in Walsrode, arbeitet als        Kindheit gelernt und 2011 bis 2013 zudem an einen
            ausgebildete Altenpflegerin, Pallia-       plattdeutschen Fach- und Sprachunterricht zur
tiv-Fachkraft und Praxisanleiterin bei einem Ambu-     Pflegefachfachkraft an der BBS Wildeshausen
lanten Pflegedienst der Diakonie Sozialstation in      teilgenommen.
Großenkneten (Landkreis Oldenburg).

                                                                                          Foto: Foto-Studio Brockmeyer

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„Se könnt mit mi gern Platt snacken.
         Ik kann dat ans – oder tomindest tomeist – verstahn“

     Werner Michael bringt Auszubildenden der Alten- und Krankenpflege Plattdeutsch
           bei - Beziehungsaufbau und Empathie werden dabei großgeschrieben

Der große Durchbruch fürs Plattdeut-                           gesprochen und mit sechs Jahren in der
sche kommt im Sommer 2014.                                         Grundschule überhaupt erst ange-
An der Bremerhavener Ursula-Kal-                                     fangen, Hochdeutsch zu lernen.
tenstein-Akademie für Gesund-                                          Heute ist es genau umgekehrt:
heit und Pflege der Arbeiter-                                          Seit nunmehr sechs Jahren
wohlfahrt (AWO) begleitet
Werner Michael angehende
                                            Porträt                     geht der 69-Jährige in Schulen
                                                                        und Einrichtungen, um Azubis
Altenpflegekräfte erstmalig in                                         der Alten- und Krankenpflege
zwei Klassen während ihrer ge-                                        das Plattdeutsche nahezubrin-
samten dreijährigen Ausbildung:                                     gen: „Weil ich diese Sprache liebe
„Mit 20 Unterrichtsstunden wurde                                 und inzwischen immer mehr erfahren
Englisch praktisch durch Platt ersetzt.“                     habe, wie viel Gutes sie bewirken kann.“

Besonders verwunderlich findet er das eigentlich      Dieser Leidenschaft widmet er zunehmend Zeit,
nicht: Vor allem unter den älteren Einwohnern         nachdem er sich 2013 aus dem aktiven Berufsle-
des Kreises Cuxhaven werde nun mal vorrangig          ben als Manager der Bremerhavener Kaufleute-In-
Plattdeutsch gesprochen. Auch das eigene Le-          teressengemeinschaft City Skipper zurückgezogen
ben des gebürtigen Freißenbüttelers (Kreis Os-        hat. Und hat in den letzten Jahren erfreut festge-
terholz) ist zutiefst in dieser Sprache verwurzelt.   stellt, wie stark das Interesse am Plattdeutschen ge-
Mit seiner Mutter habe er ausschließlich Platt        rade in den Pflegeberufen gestiegen ist.

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„Dabei kommt es gar nicht darauf an, die Sprache      Oftmals reiche es tatsächlich schon, die Sprache
möglichst perfekt zu beherrschen. Es sind manch-      nur zu verstehen: „Ik kann allens verstahn, bloots
mal schon die ganz kleinen Worte, die eine große      Platt snacken fallt mi swoor.“ Auch dann käme man
Wirkung haben.“ Wenn zum Beispiel eine Pflege-        „op Platt“ meist bestens ins Gespräch, weil viele
kraft nur auf einen Patienten zugehe mit der Frage:   Senioren sich freuten, wenn sie ein wenig sprachli-
„Wo geiht Se dat?“, schaffe das oft genug schon       che Nachhilfe leisten könnten: „Gerade dieses Ge-
den entscheidenden Vertrauensvorsprung.               fühl, nicht ausschließlich Unterstützung annehmen
                                                      zu müssen, sondern in diesem Fall auch einmal
Beziehungsaufbau sei das A und O in den Kursen        geben zu können, stärkt das Selbstbewusstsein der
„Plattdeutsch in der Pflege“, so Werner Michael:      Patienten.“
„Da helfen oft schon ganz einfache Sätze, wenn        Seine 40 Schüler an der Ursula-Kaltenstein-Akade-
ich etwa ins Zimmer eines Patienten komme und         mie können nach zehn Doppelstunden allerdings
sage „Moin, hebb Se good slopen? Schall ik hel-       schon deutlich mehr: Sie wissen, wie man auf Platt
pen?“. In seinem Unterricht kommt es ihm be-          über Blutdruck, Beschwerden oder Medikamente
sonders darauf an, dass die Schüler Empathie          spricht. Vor allem wissen sie, wie wichtig das ers-
entwickeln und ihre Scheu verlieren, auf Patien-      te Kennenlernen ist und mit welchen Fragen „op
ten „op Platt“ zuzugehen: „Denn die Menschen          Platt“ man gut miteinander ins Gespräch kommen
freuen sich über diese persönliche Ansprache,         kann: „Wo Heet Se? Hebt Se Verwandschop? Wo-
auch wenn es nicht immer alles auf Anhieb             keen is Ehr Huusdokter?”
klappt.“ Was zähle, sei die gute Absicht – der Rest   Über diese Alltagsthemen hinaus geschehe
erledige sich dann meist von selbst. Auf einen        „zwischen den Zeilen“ aber noch etwas viel Be-
„Schlüsselsatz“ legt der Plattdeutsch-Lehrer aller-   deutsameres, so Werner Michael: „Mit der platt-
dings ganz besonderen Wert, den sollten alle sa-      deutschen Sprache gelingt es, den Bewohnern
gen können: „Se könnt mit mi gern Platt snacken.      in Pflegeheimen ein kleines Stück Heimat zurück-
Ik kann dat ans – oder tomindest dat meeste –         zugeben.“ Ihr gewohntes Zuhause haben sie
verstahn.“                                            verlassen müssen, das ist nicht leicht.

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