"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010

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"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
„Sempre in Giro -
Immer unterwegs“

                  13. Europäische
      Asylrechtstagung in Palermo
           24. - 28. Oktober 2010

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"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Inhalt

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"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Einleitung
Die EU-Außengrenzen stehen im Fokus - immer wieder                       5
Flüchtlingsdramen an der Südgrenze der EU
(Pressemitteilung vom 25.10.2010 zur Eröffnung der Konferenz)           7

Grußworte
Deutsche Botschaft                                                       8
Mons. Francesco Montenegro                                               9

Wege nach Europa
Sichtbare und unsichtbare Grenzen in Europa                             12
Rückschiebungen nach Libyen                                             14
Like a Man on Earth                                                     17
Besuch der Küstenwache in Palermo                                       18
Siziliens Hochseefischer zwischen Libyen und Italien                     20
Aktuelle Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern            22

Flüchtlingspolitik in Italien
Italiens Politik lässt Flüchtlinge schutzlos                            26
Borderline Sicilia
Die Migrationsbeobachtungsstelle                                        28

Aufnahmebedingungen
„Sempre in Giro“ – Flüchtlinge in Italien auf sich gestellt             32
Das CARA Zentrum in Trapani                                             36
CARA Caltanissetta – teuer, aber nicht liebenswürdig                    38
SPRAR Aufnahme- und Unterbringungszentrum in Trapani                    40

Zivilgesellschaftliche Unterstützung
„Ein Zuhause, in das wir immer wieder gerne zurückkommen“               44
“Emergency-Ambulatorio”                                                 47
„Die Migranten, die in Sizilien bleiben, haben die Hoffnung verloren“   49
Hoffnung & Nächstenliebe                                                50

Asylverfahren und rechtliche Bewertung
Flüchtlingsschutz durch die „Lokale Kommission zur Anerkennung des
Flüchtlingsstatus“ und Ausreiseverfügungen durch die Prefectura         56
Erfahrungsaustausch mit Rechtsanwälten/-innen                           58

                                                                             3
"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Die Rolle der Medien
Die öffentliche Wahrnehmung von Migration und Asyl
aus der Sicht der Medien und die Rolle der Kirchen                  62

Ausblick Flüchtlingsschutz
Zusammenfassung und Ausblick der 13. Europäischen
Asylrechtskonferenz in Palermo                                      66
Kirchen fordern einen effektiven Schutz für Flüchtlinge in Europa   68

Anhang
Tagungsprogramm                                                     72
Inhalt der Internet-Dokumentation                                   74
Nützliche Links                                                     75
Pressemeldung „At Catania Migrants in Jail“                         76
Tanja Tricarico, Endstation Tripolis (EPD)                          77
Telinehmende Verbände                                               78
Impressum                                                           78
Kooperationspartner und Unterstützer                                79

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"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Die EU-Außengrenzen stehen
im Fokus – immer wieder

G
       anz aktuell erreichen uns in diesen Tagen   1998 fand in Paris die erste Europäische Asyl-
       die Bilder aus dem Norden Afrikas von       rechtskonferenz statt, organisiert damals von
       den Demokratiebewegungen in Tunesi-         der Evangelischen Kirche im Rheinland, der
en, Ägypten und nun auch Libyen.                   Badischen Landeskirche und der CIMADE. Ein
                                                   Ergebnis von damals war es, zu
Nur mühsam finden die Europäer ihre Sprache         erkennen, dass in der Flüchtlings- „... unser eigenes
und begrüßen die Entwicklung, dass Menschen
selbstbestimmt das Schicksal ihrer Länder in
                                                   politik mehr und mehr auf euro-
                                                   päischer Ebene agiert wird. Und
                                                                                      menschliches
die Hand nehmen. Weniger mühsam klingt die         dass es nötig ist für alle in der  Antlitz steht auf
andere Antwort: Aufstockung der europäischen       Flüchtlingsarbeit Engagierten, für
Grenzschutzagentur Frontex und Verstärkung al-     Kirchen, Diakonie und NGO`s, sich  dem Spiel, wenn
ler europäischen Bemühungen, Menschen, die         auszutauschen und zu vernetzen.    Menschenrechte
ihre gewonnene Freiheit nutzen und nach Euro-      Und dass es hilfreich ist, die spe-
pa fliehen wollen, von diesem Wege abzuhalten.      zielle Situation in den einzelnen  bei Migrantin-
Geradezu zynisch wirkt der Verweis der Bundes-
kanzlerin, die Menschen würden ja alle beim Auf-
                                                   Ländern in den Blick zu nehmen.
                                                   So fanden nun jährlich Europäi-
                                                                                      nen und Mig-
bau der demokratischen Gesellschaften in ihren     sche Asylrechtskonferenzen statt:  ranten nicht ge-
Heimatländern gebraucht.                           in Straßburg/Karlsruhe 1999, Rom
                                                   2000, Bratislava 2001, Brüssel     achtet werden.“
Die Unterstützung der demokratischen Entwick-      2002, Berekfürö/Ungarn 2003,
lung in den afrikanischen Staaten, der Aufbau      Malaga 2004, Sarajewo 2005 und in der Türkei
von Bildung und Gerechtigkeit dort, wo die Men-    2005, Casablanca 2006, Kiew 2007, Lesbos/
schen aufbrechen, um ihr Überleben zu sichern,     Griechenland 2008, Malta 2009 und nun die 13.
könnte vielleicht am ehesten dazu führen, dass     Europäische Asylrechtskonferenz in Palermo.
Menschen wieder Vertrauen schöpfen in das Le-
ben ihrer Heimat.                                  Gewachsen ist die Zahl der Kooperationspart-
                                                   ner. Die Konferenz auf Sizilien wurde verantwor-
Die gegenwärtige Entwicklung macht besonders       tet von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe
deutlich: die Kollaboration mit Unrechtsstaa-      in Kooperation mit der Evangelischen Kirche im
ten wie Libyen im Kampf gegen Migration und        Rheinland, der Evangelischen Landeskirche in
Flucht taugt nicht mehr als Antwort auf die He-    Baden, der Evangelischen Kirche in Hessen-
rausforderung, die durch Flucht und Migration      Nassau, dem Diakonischen Werk Baden und
entstehen. Immer deutlicher wird: unser eigenes    dem Diakonischen Werk Württemberg sowie
menschliches Antlitz steht auf dem Spiel, wenn     der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem
Menschenrechte bei Migrantinnen und Migran-        Diakonischen Werk der EKD, Caritasverband
ten nicht geachtet werden.                         für die Erzdiözese Freiburg, La Cimade und der
                                                   Churches Commission for Migrants in Europe
Die Aufnahme von Schutzsuchenden muss              mit Sitz in Brüssel.
nach menschenrechtlichen Standards erfolgen,
Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen wer-        Insgesamt 41 Expertinnen und Experten ver-
den und müssen Zugang haben zu einem fairen        schiedener Kirchen und NGO`s, unter anderem
Asylverfahren. Dies gilt nicht erst jetzt!         aus Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien,
                                                   Malta, Griechenland, der Türkei, Tschechien,
Auch abseits der ganz aktuellen Entwicklung        Ungarn, Polen, Schweden und Großbritannien
erreichen uns seit vielen Jahren beinahe täglich   waren fünf Tage zu Gast in der Chiesa Waldese
bedrängende Bilder von Flüchtlingen auf dem        di Palermo. Unser Experte aus Marokko konnte
Weg nach Europa.                                   leider nicht an der Tagung teilnehmen, weil sei-
                                                   nem Visumantrag nicht rechtzeitig stattgegeben
                                                   wurde.

                                                                                                5
"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Das Reflektieren und           auf Solidarität beruhende Lastenverteilung inner-
                           Diskutieren der Informati-    halb der EU-Mitgliedsstaaten ist nötig.
                           onen und Eindrücke aus
                           erster Hand in diesem         Wir danken allen, die die Tagung auf Sizilien fi-
                           internationalen Kontext       nanziell unterstützt haben.
                           sowie die Einsicht in die     Ein besonderer Dank gilt dem Vorbereitungsteam,
                           Praxis der italienischen      insbesondere Frau Karin Asboe (Diakonie Rhein-
                           Flüchtlingspolitik und der    land Westfalen Lippe), Herrn Jürgen Blechinger
                           Flüchtlingsarbeit italieni-   und Cecilia Baltieri (beide Evangelische Landes-
                           scher Kirchen und NGO`s       kirche in Baden), die unermüdlich und beharrlich
auf den Exkursionen war bereichernd und führte           das Gelingen dieser Tagung ermöglicht haben.
allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ta-
gung einerseits die Notwendigkeit einer humanen          Für die Redaktion der Dokumentation geht ein
Flüchtlingspolitik in Italien wie auch andererseits      herzlicher Dank an Frau Angelika von Loeper.
einer gesamteuropäischen Strategie zur Durch-            Viele Fakten und Eindrücke, wichtige Statements
setzung von menschenrechtlichen Standards in             und Berichte zur Konferenz auf Sizilien finden Sie
der Asyl- und Flüchtlingspolitik vor Augen. Eine         auf den folgenden Seiten.

                                                         Rafael Nikodemus

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"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Flüchtlingsdramen an der
Südgrenze der EU
M
         it der Forderung nach einem fairen           Über die Zustände an der EU-Außengrenze be-
         Asylverfahren für Flüchtlinge in die EU      richteten am ersten Konferenztag Expertinnen
         hat die 13. Europäische Asylrechtsta-        und Experten aus Griechenland, der Türkei,
gung in Palermo begonnen. Nahezu täglich kom-         Malta, Spanien und Osteuropa. In
men Menschen bei ihrem Versuch ums Leben,             Griechenland gebe es nach wie
                                                                                         Pressemitteilung
über das Mittelmeer die Südküste der Europäi-         vor kein funktionierendes Asylver- vom 25.10.2010
schen Union zu erreichen. „Statt wegzuschau-          fahren, hieß es. Anträge würden
en, müssten Wege gefunden werden, wie die             nicht entgegengenommen, die        zur Eröffnung
Menschen Zugang zu einem fairen Asylverfah-           Betroffenen blieben sich selbst    der 13. Europäi-
ren finden“, verlangte der Flüchtlingsbeauftragte      überlassen.
der Evangelischen Kirche im Rheinland, Rafael                                            sche Asylrechts-
Nikodemus. „Flüchtlinge in Staaten wie Libyen         Am kommenden Donnerstag wird
zurückzuschieben, ist mit der Genfer Flücht-          das deutsche Bundesverfassungs-
                                                                                         tagung in Paler-
lingskonvention nicht zu vereinbaren“, betonte        gericht darüber verhandeln, ob     mo/Sizilien
Jürgen Blechinger, Jurist im Bereich Migration        angesichts dieser Zustände Asyl-
der Evangelischen Landeskirche in Baden.              bewerber von Deutschland zur Durchführung ih-
                                                      res Asylverfahrens nach Griechenland überstellt
Die Konferenz auf Sizilien wird verantwortet von      werden dürfen. Von besonderer Brisanz sind die
der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in Ko-         Rücküberstellungen von Griechenland in die Tür-
operation mit den Evangelischen Landeskirchen         kei. Dabei wendet die Türkei die Genfer Flücht-
im Rheinland, in Baden und Württemberg, Hes-          lingskonvention nach wie vor nur für Flüchtlinge
sen-Nassau sowie der Evangelischen Kirche in          an, die aus Europa kommen. In Malta werden
Deutschland, dem Bundesverband der Diakonie           Asylsuchende während des Verfahrens immer
und der Churches Commission for Migrants in           noch regelmäßig in Haft genommen.
Europe mit Sitz in Brüssel. 41 Fachleute ver-
schiedener Kirchen und Hilfsorganisationen,           In Spanien gebe es zwischen den Kanaren und
unter anderem aus Italien, Deutschland, Frank-        der mauretanischen Küste gemeinsame Kon-
reich, Spanien, Griechenland, der Türkei, Tsche-      trollen der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit
chien, Rumänien, Ungarn, Schweden und Groß-           mauretanischen und senegalesischen Regie-
britannien befassen sich bis Donnerstag mit der       rungsstellen. So soll verhindert werden, dass
schwierigen Situation von Flüchtlingen in Italien.    Flüchtlinge überhaupt die EU erreichen. Auch
                                                      an der Ostgrenze der EU werden beispielweise
In den vergangenen Jahren wurden etwa 9.000           tschetschenische Flüchtlinge häufig daran ge-
ertrunkene Flüchtlinge an der Südküste der EU         hindert, ein Schutzgesuch bei den zuständigen
registriert, die Dunkelziffer dürfte wesentlich hö-   EU-Behörden zu stellen. Das Problem Rück-
her liegen. Statt Flüchtlingen einen Zugang zum       schiebungen in Staaten östlich der EU sei dort
Asylverfahren zu gewähren, werden Flüchtlings-        ein großes Problem, hieß es auf der Tagung.
boote von den EU-Mittelmeeranrainerstaaten            Ebenso werden dort viele Asylbewerber in Haft
zurückgeschickt. Italien schiebt seit Mai 2009        genommen.
im Mittelmeer oder in den Häfen aufgegriffene
Flüchtlinge systematisch nach Libyen zurück.          Tägliche Tagungsberichte finden Sie unter:http://
Dort gibt es jedoch weder faire Asylverfahren,        www.ekiba.de/referat-5, Stichworte:
noch können die Zurückgeschobenen eine men-           Migration/Europa
schenwürdige Behandlung erwarten. Menschen-
rechtsorganisation berichten über willkürliche
Inhaftierung und Misshandlungen von Flüchtlin-
gen in Libyen, die aus Kriegs- und Bürgerkriegs-
gebieten in Afrika über dieses Land versuchen,
nach Europa zu gelangen.

                                                                                                   7
"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Grußwort der
                                 Deutschen Botschaft
Rechtsanwalt     Sehr geehrte Damen und Herren,
Berthold Münch

                 I
aus Heidelberg
verliest das        m Namen der Deutschen Botschaft möchte           Zwar ist die Zahl der Seeanlandungen im ver-
Grußwort der
Deutschen Bot-
                    ich Sie sehr herzlich zur 13. Asylrechtskon-     gangenen Jahr stark zurückgegangen; Lampe-
schaft.             ferenz begrüßen, die die evangelische Kirche     dusa ist geschlossen. Polizeiliche Maßnahmen
                 im Rheinland in einer Reihe von Konferenzen zu      verhinderten eine weitere Massenbewegung.
                 diesem Thema ausrichtet, dieses Jahr in Paler-      Allen Beteiligten ist jedoch klar, dass sich der Mi-
                 mo.                                                 grationsdruck damit nur verlagert, nicht jedoch
                                                                     aufgelöst hat.
   Die unmittelba-              Die Konferenz widmet sich in
                                einem fünftägigen Programm           Aber noch immer schaffen es viele Flüchtlinge an
    re Anschauung               der europäischen Immigrations-       die europäischen Küsten. Vor der politischen und
     ist unerlässlich,          und Asylrechtspolitik, diesmal       rechtlichen Entscheidung über Asyl, Immigration
                                mit Schwerpunkt Italien. Das         und Verbleib steht die Aufnahme und Versorgung
  um die Notwen-                Auswärtige Amt in Berlin fördert     der Menschen. Hier kann die Konferenz einen
     digkeiten einer            diese wie auch die vorangegan-
                                genen Konferenzen zu diesem
                                                                     Einblick verschaffen, was getan werden muss, in
                                                                     Gesprächen mit Praktikern und Verantwortlichen
   „richtigen“ Mig-             Thema. Es begrüßt den Focus          der Beratungs- und Aufnahmezentren. Die un-
                                der Konferenz und unterstützt sie    mittelbare Anschauung ist unerlässlich, um die
  rationspolitik für            im Rahmen der Projektförderung       Notwendigkeiten einer „richtigen“ Migrationspo-
  Europa zu erken-              zum Thema Menschenrechte             litik für Europa zu erkennen. Die Teilnehmer die-
                                auch finanziell.                      ser Konferenz kommen aus 16 verschiedenen
                 nen.                                                Staaten und können hier ihre verschiedenen Er-
                 Italien, genauer Sizilien als diesjähriger Konfe-   fahrungen zusammentragen.
                 renzort ist ein Brennpunkt der Migration nach
                 Europa. Neben Spaniens Südküste, Malta und          Leider ist die Botschaft erst an den letzten bei-
                 anderen Mittelmeeranrainern ist die Route nach      den Tagen der Konferenz selbst vertreten, des-
                 Süditalien einer der Hauptwege der sog. „Immi-      halb erfolgt das Begrüßungswort in schriftlicher
                 gration über den Seeweg“.                           Form. Wir werden jedoch am Mittwoch und
                                                                     Donnerstag noch Gelegenheit zu direktem Aus-
                 Im Sommer 2008 erreichte die Zahl der in Ita-       tausch haben.
                 lien Gestrandeten ihren traurigen Höhepunkt:
                 über 30.000 Bootsflüchtlinge begaben sich un-        Ich danke den Veranstaltern und dem Kirchenrat
                 ter Lebensgefahr von Nordafrika nach Italien.       für diese Initiative und wünsche den Teilnehmern
                 Die Mehrheit von ihnen stellte einen Asylantrag.    eine erfolgreiche Konferenz.
                 „Lampedusa“ ist zum Synonym geworden für ein
                 Problem, auf das die betroffenen Staaten, dazu
                 zählt Italien - wie auch die EU noch eine gemein-   Simone Maassen-Krupke
                 same Antwort suchen.                                Leiterin der Rechts- und Konsularabteilung
                                                                     der Deutschen Botschaft Rom

                   8
"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
Monsignore
Francesco Montenegro,
Erzbischof der Diözese Agrigent

W
            arum Menschen ihre Heimat verlas-        Heute wo immer mehr Länder ihre Grenzen her-           Monsignore
                                                                                                             Francesco
            sen, warum sie fliehen vor Kriegen,       metisch abriegeln wollen, ist es notwendig, aus       Montenegro,
            aus Hunger und aus Perspektivlosig-      der Gesellschaft heraus Initiativen zu starten.     Erzbischof der
keit, diese grundlegende Frage greift Erzbischof                                                       Diözese Agrigent

Montenegro in seinem Grußwort an die Teil-           So hat die Caritas für den Mittelmeerraum eine
nehmer der Konferenz auf. Gleichzeitig werden        länderübergreifende Arbeitsgruppe gebildet, die
überall in Europa die Bedingungen für Flüchtlin-     sich dem Thema Einreise, Asyl und Menschen-
ge verschärft. Die Europäische Union hat sich        handel widmet und nach gemeinsamen Lö-
auf ihren Konferenzen vorgenommen, gleiche           sungswegen sucht.
Standards für alle Flüchtlinge in Europa zu schaf-
fen. Im Moment erleben wir jedoch eher, dass         Als Erzbischof möchte ich Sie als     „Die steigende
viele Regelungen nur auf dem Hintergrund von         Teilnehmer dieser Konferenz er-
Sicherheitsüberlegungen und Flüchtlingsabwehr        muntern, mit Nachdruck für die
                                                                                           Zahl der Toten,
ausprobiert werden. Insbesondere betrifft das        Einhaltung der Menschenrechte         die meisten un-
auch die Situation an Italiens Grenzen und Küs-      einzutreten. Es ist notwendig Netz-
ten. Es gibt in der derzeitigen Situation keinen     werke zu bilden, die diese politi-    bekannt, sind eine
Grund die Menschenrechte so mit Füßen zu tre-        schen Vorhaben kritisch beobach-      große Belastung
ten, wie es geschieht. Hier an der Geburtsstätte     ten und begleiten um rechtzeitig
vieler Kulturen sind wir im Moment dabei, diese      die Stimme zu erheben.                für das Gewis-
Grundlagen preiszugeben. Wir alle müssen die
Frage der Flucht und der Flüchtlinge als gesell-     Ich erlaube mir einen Appell an Sie
                                                                                           sen derjenigen,
schaftliche Aufgabe begreifen und nicht nur refl-     zu richten: Lassen Sie uns zusam-     die sich selbst als
exhaft an Abwehr denken.                             menarbeiten um die Möglichkeiten
                                                     von Interventionen zu verstärken      zivilisierte Ge-
Der Blick muss von allen auf die reale Situation     und bestmögliche Ergebnisse für       sellschaft bezeich-
gerichtet werden, wie viele Menschen weltweit in     die Menschen zu erzielen.
Armut leben, ohne ihre Existenz mit einer Pers-                                            nen.“
pektive versehen zu können. Die Menschen ha-
ben ein Recht auf ein Leben in Sicherheit aber
auch in Würde und Hoffnung.

Dies ist bereits in der Enzyklika Nr. 66 „Gaudium
et spes“ des zweiten vatikanischen Konzils zur
zunehmenden Mobilität von Menschen so be-
schrieben.

                                                                                                 9
"Sempre in Giro - Immer unterwegs" - Europäische Asylrechtstagung in Palermo 24 - Oktober 2010
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Wege nach
Europa

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Sichtbare und unsichtbare
Grenzen in Europa

M
          it dem Fall der Berliner Mauer 1989       Ständig verändern sich in der Not die Routen
          sind in ganz Europa Mauern gefallen.      der Einreiseversuche – Schleuser wie die alba-
          Ohne den Eisernen Vorhang standen         nische Mafia entwickeln dabei ungeahnte Verfei-
plötzlich Räume offen, die vorher unpassierbar      nerungskünste und Geschäftssinn. Flüchtlinge
und deshalb auch undenkbar waren.                   „reisen“ in unverdächtigen Luxuslinern, versteckt
                                                    in Lastwagen oder sogar in Kühlschränken.
Dass auch für Italien eine Art „Eiserner Vorhang“
gefallen war, machte die Ankunft der ersten         Gestern Lampedusa, das aufgrund des Abkom-
30.000 albanischen Flüchtlinge auf dem Seeweg       mens mit Libyen nun fast vollständig als erste
im Jahr 1991 klar: über das Meer „einwandern“       Anlandestelle für Flüchtlinge ausfällt, Malta, Si-
würden künftig nicht mehr nur Algen, die die        zilien, Apulien - heute Kalabrien, Sardinien oder
Strände und damit den Tourismus bedrohten,          Rom … Letztlich ist die illegale Einreise auf dem
sondern Menschen auf der Flucht vor Krieg und       Seeweg mit rund 10% der Einreisen nicht von
Verfolgung.                                         größerem Belang, denn 80% aller Einreisen er-
                                                    folgen über den Luft- oder Landweg mit einem
Eine „heimliche“, aber weniger spektakuläre         Touristen-Visum. Dennoch werden keine An-
Zuwanderung als die der albanischen Flüchtlin-      strengungen gescheut, die Flüchtlinge im Mittel-
ge hatte es in Italien auch schon in den Jahren     meer nach Libyen zurückzubringen, selbst wenn
zuvor gegeben. Sie war möglich vor allem über       sie sich nur noch wenige Kilometer vor der sizi-
die Einreise mit Touristen-Visa und über generell   lianischen Küste befinden. Diese Politik Italiens
noch durchlässigere Grenzen. Die Wege damals        findet - mehr oder minder offen ausgesprochen
führten über Frankreich, Deutschland und die        – große Zustimmung in Europa und bestätigt auf
Schweiz, vor dem Balkankrieg auch über Jugos-       traurige Weise den Gesamteindruck von zumeist
lawien – und natürlich über Malta, das über die     unwillkommenen Flüchtlingen, die als Feinde be-
Zwischenstation Libyen vor allem für Ägypter,       trachtet werden.
Palästinenser und Menschen aus Pakistan einen
relativ kurzen und unproblematischen Weg zur        Das Gefühl, mit 7.000 km Küstenlinie eine un-
Einreise über Sizilien eröffnete.                   erreichbare „Insel der Glückseligen“ zu sein, hat
                                                    sich in Italien total verändert. Flüchtlingspolitik
Die großen Flüchtlingsbewegungen der 1990er         wird deshalb nicht erst im Land gemacht, son-
Jahre veränderten alles, nur nicht das Elend der    dern bereits „ante portas“. Die verschiedenen
Flüchtlinge. Diese kamen nun vorwiegend aus         Zonen auf See bedeuten Geltungsbereiche von
Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten - Albaner, Kur-    verschiedenen Gesetzen, verschiedene Akteure
den, Eritreer, Sudanesen, Somalier - alle auf der   und unterschiedliche Kompetenzen - in einem
Flucht vor Verfolgung und die meisten mit einem     Mix von Streitkräften, Guardia Costiera, Guardia
Rechtsanspruch auf Schutz und Asyl.                 di Finanza, Frontex … Auf Hoher See gilt das
                                                    Völkerrecht, das nur in wenigen Ausnahmen wie
Mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen            Piraterie oder Selbstverteidigung ein Eingreifen
wuchsen auch die Versuche sie abzuwehren: zu-       rechtfertigt, die Verhinderung illegaler Einwande-
erst zwangsweise Rückführungen, dann bereits        rung fällt jedenfalls nicht darunter.
durch das Verhindern ihrer Einreise mit der Folge
menschlicher Tragödien auf See, der Abschluss       Undurchsichtiger wird die Rechtslage in der so
bilateraler Abkommen sowie das so genann-           genannten Anschlusszone zu den nationalen
te „Freundschaftsabkommen“ mit Libyen, und          Gewässern. Überall gilt für Admiral Domenico
zuletzt das Ansinnen, Asylverfahren für Europa      Passaro, den Kommandanten der Küstenwa-
gleich in den nordafrikanischen Grenzstaaten er-    che in Palermo, dass ein Eingreifen, zumal mit
ledigen zu lassen …                                 Gewalt, verhältnismäßig sein müsse. Schüsse
                                                    auf Fischerboote seien dies sicher nicht, betont
                                                    der Kommandant. Aufgabe der Küstenwache ist

  12
für ihn allein die Seenotrettung, nicht die Rück-     Exkursionen wird klar: die Küstenwache wird
schiebung von Flüchtlingen nach Libyen. In den        dann aktiv, wenn es um die Seenotrettung geht,
letzten Jahren sind 100.000 Menschen gerettet         die Sicherung der Außengrenze übernehmen an-
worden. Nicht immer verliefen alle Einsätze wie       dere: vor allem die Guardia di Finanza und die
gewünscht – Menschen fliehen in Panik selbst           Libyer mit ihren von Italien finanzierten Booten
vor Rettungsmaßnahmen und verunglücken da-            mit teils italienischer Besatzung.
bei, auch sind Menschen dabei schon ums Le-
ben gekommen. Und ständig steht der Einsatz           Der Umgang mit Flüchtlingen vor den Küsten Eu-
der Küstenwache selbst unter Beschuss und             ropas wirft neben allen politischen, juristischen,
bedeutet einen permanenten Balanceakt: der            formalen und operativen Aspekten zuallererst
eine Offizier wird angeklagt wegen Beihilfe zur        moralische Fragen auf, seine „erste und letzte
illegalen Einreise, der andere wegen Verletzung       Grenze“ ist die Ethik.
des Rechts auf Asyl … Später im Rahmen der

                                                          die Genfer Konvention hätten
Wenn dein Sohn                                            verlassen können, denn dieser
dich morgen fragt …                                       Staat garantiert Menschrechte      Wenn dein Sohn
                                                          nicht einmal für seine Bürgerin-
                                                          nen und Bürger.                    dich morgen fragt ...
5. Mose 6,20
                                                         sage ihm nicht, du hättest 5. Mose 6,20
Wenn dein Sohn dich morgen fragt, was mit den
                                                          nichts gewusst von den ent-
Flüchtlingen im Mittelmeerraum vor Italien ge-
                                                          setzlichen Bedingungen und
schah …
                                                          der inhumanen Behandlung
                                                          der Flüchtlinge in den libyschen Lagern, denn
   sage ihm nicht, du hättest nichts gewusst,
                                                          es gab immer einige Journalisten und Hilfsor-
    denn es gibt keinen Mangel an Informatio-
                                                          ganisationen, die Zugang hatten und von den
    nen.
                                                          skandalösen Zuständen in der Versorgung
                                                          der Flüchtlinge berichteten.
   sage ihm nicht, dass niemand wusste, was
    auf den Booten auf dem Meer zwischen Liby-
                                                         sage ihm nicht, du hättest nichts gewusst
    en und Italien wirklich geschah, denn die Ab-
                                                          von den mehrstelligen Millionenbeträgen, mit
    wehr von Flüchtlingen schon vor der Einreise
                                                          denen Europa Libyen für seine Dienste der
    war das erklärte politische Ziel.
                                                          Flüchtlingsabwehr bezahlt hat, denn darüber
                                                          wurde in Parlamenten verhandelt.
   sage ihm nicht, dass es lediglich um die Ver-
    hinderung illegaler Einreisen gegangen sei,
                                                         sage ihm nicht, dass niemand verantwortlich
    denn letztlich wollte Europa überhaupt keine
                                                          zu machen war, denn zu durchschaubar war
    Flüchtlinge.
                                                          und ist das System der hin- und hergescho-
                                                          benen Verantwortung zwischen den Beteilig-
   sage ihm nicht, dass Libyen als möglicher
                                                          ten und Mächtigen.
    Kooperationspartner erschien, denn wie kann
    ein Staat ein zuverlässiger Partner im Flücht-
                                                         sage ihm nicht, dass du hättest nichts tun
    lingsschutz sein, der sogar die Vertretung des
                                                          können, denn es lassen sich immer Men-
    Hohen Flüchtlingkommissars der Vereinten
                                                          schen ansprechen, die sich gemeinsam für
    Nationen zur Aufgabe ihres Büros zwingt?
                                                          Menschenrechte und das Recht auf ein fai-
                                                          res Asylverfahren stark machen - und es gibt
   sage ihm nicht, dass sich Flüchtlinge in Libyen
                                                          immer Medien und eine Öffentlichkeit, die für
    auf die Einhaltung von Menschenrechten und
                                                          die Wahrheit verpflichtet werden können.

                                                                                                   13
Rückschiebungen
nach Libyen
„Ich wurde von der Polizei in Tripolis verhaftet       gegen feierte der italienische Innenminister Ro-
und nach Ganfuda geschickt.                            berto Maroni die Aktion als „historischen Tag ge-
Ich hatte viele Probleme. Die Wachen schlugen          gen die illegale Einwanderung“ und forderte die
mich mit Stöcken,                                      übrigen EU-Staaten auf, sich der erfolgreichen
es gab kaum was zu essen und wir hatten                Strategie anzuschließen und pries sie als „Modell
praktisch kein Sonnenlicht –                           für Europa“. Nur eine Woche später kündigen Li-
keine Chance. Wir waren fast immer in unseren          byen und Italien gemeinsame Patrouillenfahrten
Zellen.“                                               in libyschen und internationalen Gewässern an.
                                           Tesfaye*    Die Zahl der Bootsflüchtlinge nimmt nun rasant
                                                       ab, die Haftzentren auf Lampedusa leeren sich

D
        as ist nur eines der vielen Zeugnisse von      im Sommer 2009. „Wir werden mehr Gas und
        Flüchtlingen, die auf ihrem Weg durch          Benzin aus Libyen bekommen und weniger ille-
        Libyen festgehalten, malträtiert und in        gale Einwanderung“ war Berlusconis zuversicht-
eines der vielen Haftzentren gesteckt wurden.          liche Prognose kurz nach Beginn der gemeinsa-
Aber auch wer den gefährlichen Weg durch Li-           men Aktionen im Mittelmeer.
byen hinter sich bringen konnte, ist vor Libyens
Gefängnissen nicht sicher. 2004 und 2005 hat           „Weiß die internationale Gemeinschaft, was hier
Italien tausende Flüchtlinge direkt von der Insel      passiert?
Lampedusa nach Libyen abgeschoben. Ohne                Das fragten wir uns immer wieder, als wir in
ihre Schutzbedürftigkeit zu prüfen, lieferte Italien   Libyen im Gefängnis saßen.“
die Zuflucht Suchenden einem unberechenbaren                                                       Asad*
Regime aus.
                                                       Eklatante Menschenrechtsverstöße
Berlusconi: Mehr Gas, mehr Benzin                      Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen un-
– weniger illegale Einwanderer                         ter ihnen Amnesty International, Human Rights
Italien setzt sich mit Gaddafi an den Verhand-          Watch, der Jesuiten Flüchtlingsdienst Malta ha-
lungstisch. Der im August 2008 unterzeichnete          ben die Menschenrechtsverletzungen an Migran-
„Vertrag über Freundschaft, Partnerschaft und          tInnen im Staat des Revolutionsführers Gaddafi
Kooperation“ beinhaltet neben einer Entschul-          dokumentiert. Schutzsuchende aus Eritrea sind
digung für jegliche Verbrechen aus der Koloni-         in ihren Verfolgerstaat abgeschoben worden.
alzeit eine Kompensationszahlung von 5 Milliar-        Amnesty International kritisiert im Jahresbericht
den Dollar in Raten über 25 Jahre hinweg, die in       2010, die Abschiebepraxis von Italien nach Li-
Infrastrukturprojekte in Libyen investiert werden      byen komme einer Verletzung des Non-Refoule-
sollen. Eine intensivierte Kooperation in der „Be-     ment-Prinzips gleich. In einem Interview mit dem
kämpfung von Terrorismus, organisiertem Ver-           Europäischen Flüchtlingsrat ECRE betont der
brechen, Drogenhandel und illegaler Migration“         Menschenrechtskommissar des Europarates
ist ebenso Bestandteil des Vertrages. Der 6. Mai       Thomas Hammarberg: „Ich habe meine Missbil-
2009 steht für ein neues Kapitel in der europä-        ligung bilateraler oder multilateraler Übereinkom-
ischen Flüchtlingspolitik: Italien beginnt, Boots-     men zur Durchführung von Zwangsabschiebun-
flüchtlinge auf hoher See aufzugreifen und nach         gen irregulärer Migranten mit Staaten wie Libyen
Libyen abzudrängen. Die italienische Küstenwa-         – die über eine längst erwiesene Folterpraxis
che hat bis Ende 2009 über 1.400 Bootsflücht-           verfügen – klar geäußert.“ Laurence Hart, Re-
linge in die »libysche Hölle« (O-Ton eritreische       präsentant der IOM in Libyen meint aber, dass
Flüchtlingsfrau) zurückgeschoben. Ein beteiligter      „Verstöße gegen Menschenrechte in libyschen
italienischer Beamter berichtet voller Scham: „Es      Lagern für irreguläre Migranten, die von meh-
waren schwangere Frauen und Kinder an Bord.            reren internationalen Organisationen behauptet
Viele waren gesundheitlich in kritischem Zustand.      werden, […] keiner Strategie der libyschen Re-
Wir mussten dem Befehl gehorchen, aber ich             gierung [entsprechen], sondern […] in Zusam-
schäme mich für das, was wir getan haben.“ Da-         menhang mit der Überfüllung und der zeitweise

  14
nicht sehr rationalen Verwaltung der Lager [ste-
hen].“ Für die Betroffenen macht es die Situation
allerdings nicht besser.

Gaddafi verweist UNHCR außer Landes
Nachdem Libyen am 8. Juni 2010 das Flücht-
lingswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, zum
Verlassen des Landes aufforderte, war von Seiten
der EU-Kommission eine Woche später lediglich
ein vages „Bedauern“ zu vernehmen. Das Euro-
pa-Parlament hingegen forderte die EU-Mitglied-
staaten und Frontex auf, die Abschiebungen und
Zurückweisungen nach Libyen umgehend zu be-
enden. In der Entschließung vom 17. Juni 2010
heißt es, dass es in den libyschen Auffanglagern
„zu Misshandlungen, Folter und Ermordungen“
komme und dass „Flüchtlinge im menschenlee-
ren Grenzgebiet zwischen Libyen und anderen
afrikanischen Staaten ausgesetzt werden.“ Oh-
nehin hat Libyen die Genfer Flüchtlinskonvention
niemals unterzeichnet.

Die Beteiligung der EU – Frontex ist mit
im Boot
Obwohl die Flüchtlingspolitik längst auf euro-
päischer Ebene entschieden wird, bezeichnet
EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström die
Abschiebepolitik Italiens als „bilaterale Angele-
genheiten“. Schon lange gilt Libyen als strate-
gisch wichtiges Ziel im Vorfeld der Fluchtwege
nach Europa. Die Kooperationsbemühungen
der Europäischen Kommission hatten bereits
im Mai 2003 begonnen. Im Anschluss an eine          teneindringlingen“ sowie Patrouillenboote. Laut     Roman Herzog
                                                                                                         berichtet über
2004 durchgeführte „technical mission“ wurde        Delegationsbericht waren zu diesem Zeitpunkt          die Lage der
das europäische Engagement ganz konkret.            60.000 Flüchtlinge und Migranten in Libyen in-        Flüchtlinge in

Obwohl die Delegation in ihrem Bericht die Haft-    haftiert. Dennoch äußerte der Vizedirektor von              Libyen.

bedingungen für Flüchtlinge und MigrantInnen        Frontex, Gil Arias-Fernandez, den Wunsch nach
in Libyen kritisierte, kam es zu einer Lieferung    einer Beteiligung Libyens an der Operation Nau-
unterschiedlichster Materialien, darunter auch      tilus. Dem kam Libyen aber nicht nach. Bislang
tausend Leichensäcke. Zugleich wurden erste         findet eine Zusammenarbeit auf hoher See durch
Schulungen für libysche Polizisten durchgeführt.    Patrouillenfahrten alleine mit Italien statt.
Bei einer weiteren Delegationsreise 2007 unter
Leitung der Grenzagentur Frontex wurde von          Millionen an Libyen für Grenzregime
Libyen eine Wunschliste mit fehlendem Material      Im Juli 2007 wurde schließlich ein „Memoran-
angefordert. Darunter waren Kommandostän-           dum of Understanding“ unterzeichnet, das Mi-
de, Überwachungsradars, Nachtsichtgeräte,           gration als Themenbereich von gemeinsamem
Fingerabdruck- und Bilderkennungssysteme,           Interesse identifizierte und den Weg für ein künf-
satellitengestützte Kommunikation, Navigations-     tiges Rahmenabkommen EU-Libyen bereiten
geräte, Lastwagen „für die Entfernung von Wüs-      soll. Die Zusammenarbeit mit Libyen lässt sich

                                                                                                15
Strategie der Vorverlagerung
                                                   Durch Frontexpatrouillien, bilaterale Koopera-
                                                   tions- und Rückübernahmeabkommen wollen
                                                   die EU und ihre Mitgliedsstaaten MigrantInnen
                                                   und Flüchtlinge von Europa fernhalten. „Erfolgs-
                                                   meldungen“ gibt es bereits auf breiter Front. So
                                                   hat Frontex Ende Mai 2010 eine Abnahme der
                                                   irregulären Migration von Libyen nach Malta und
                                                   Italien um 83% registriert. Die Anzahl der An-
                                                   künfte von Bootsflüchtlingen hatte in Malta von
die EU so einiges kosten. Die verschiedenen        ca. 2.700 im Jahr 2008 auf 1.470 im Jahr 2009
Rahmenabkommen und thematischen Pro-               und in Italien von 36.000 auf 8.700 im selben
gramme lösen EU-Investitionen im hohen zwei-       Zeitraum abgenommen. Innenminister Maroni
stelligen Millionenbereich aus. Finanziert wer-    kommentierte bei einer Pressekonferenz im April
den damit Grenzsicherungssysteme, effiziente        2010: „Das italienische Modell der Bekämpfung
Überwachungssysteme, die Verbesserung der          illegaler Einwanderung hat zu außergewöhnli-
Kapazitäten libyscher Behörden, Unterstützung      chen Resultaten geführt und wir denken, dass
für eine angemessene Registrierung, Aufnahme       es von anderen europäischen Staaten kopiert
und Behandlung irregulärer Migranten sowie die     werden sollte.“ Dabei hatten im Jahr 2008 75%
Förderung begleiteter freiwilliger Rückführungen   der Bootsflüchtlinge einen Asylantrag gestellt,
und Resettlement-Programme. Bislang ist die        der in 50 % der Fälle positiv beschieden wurde.
Unterzeichnung eines Rahmenabkommens an            Die Zahl der Bootsflüchtlinge, die es bis an die
den hohen Forderungen Libyens gescheitert.         spanische Küste geschafft haben, ist ebenfalls
Gaddafi will 5 Milliarden. Dennoch bestärkte der    gesunken. Auf den Kanarischen Inseln wurden
Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen       2009 nur noch 2.242 Flüchtlinge und Migran-
am 29./30.10.2009 die Absicht, die Kooperation     tInnen registriert, im Jahr 2006 waren es noch
mit Transit- und Herkunftsländern in der Mittel-   31.600 gewesen. Auch dies darf, neben Polizei-
meerregion zu stärken: Er „ruft den Vorsitz und    kooperationen mit verschiedenen afrikanischen
die Kommission auf, den Dialog mit Libyen über     Staaten, den Einsätzen von Frontexpatrouillen
die Steuerung der Migration und über die Be-       zugerechnet werden. Sie haben die Bootsflücht-
kämpfung der illegalen Einwanderung, der auch      linge teilweise direkt vor der afrikanischen Küste
die Zusammenarbeit auf See, die Grenzkontrolle     aufgehalten und zurückgeleitet. Eine im August
und die Rückübernahme einschließt, zu intensi-     2010 veröffentlichte Eurodac-Statistik belegt,
vieren.“ Im November 2010 fordert der libysche     dass die Zahl der so genannten irregulären Ein-
Staatschef Muammar al-Gadaffi beim dritten          reisen nach Europa 2009 um die Hälfte zurück-
EU-Afrika-Gipfel von den Europäern fünf Milliar-   gegangen ist. Auch dies eine Folge bilateraler
den Euro zur Sicherung der Grenzen. Wenn Eu-       Abkommen und von Frontexmissionen. Eine
ropa nicht auf die Forderungen eingehe, müsse      traurige Bilanz der europäischen Abschottung
es sich „auf gewaltige Veränderungen gefasst       sind die 14.714 MigrantInnen, die in der Zeit von
machen. Europa wird schwarz werden“, warn-         1988 bis 2009 entlang der europäischen Gren-
te Gadaffi. Der deutsche Außenminister Guido        zen ums Leben gekommen sind. 6.344 Leichen
Westerwelle verwies darauf, dass das vor kur-      sind immer noch im Mittelmeer verschollen.
zem geschlossene Rahmenabkommen der EU
angemessen sei. Damit werden dem Land 50           * Zitate aus „Do they know?“ - Asylum Seekers testify to Life
Mio. Euro für die Grenzsicherung zugesagt.         in Libya. Jesuit Refugee Service Malta, Dec. 2009.

  16
Like a Man on Earth

                                I
                                    ndem er in         ches Leid artikuliert, um anzuprangern, was wie
                                    Rom lebenden       eine tragische politische und humanitäre Situati-
                                    äthiopischen       on erscheint. Italien und Europa sind gleicherma-
                                Flüchtlingen eine      ßen für diese Situation verantwortlich und sollten
                                Stimme verleiht,       dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
                                liefert dieser Film
                                einen      direkten
                                Einblick in die bru-
                                tale Art und Wei-
                                se, mit der Libyen
                                Migrationsbewe-
                                gungen von Afrika
                                nach Europa mit-
                                tels italienischer
                                und europäischer
Finanzierung kontrolliert. Dag studierte Jura in
Addis Abeba, Äthiopien. Starken politischen Re-
pressionen ausgesetzt, entscheidet er sich, das
Land zu verlassen. Im Winter 2005 macht er sich
auf einen schwierigen Weg durch die Wüste zwi-
schen Sudan und Libyen. In Libyen angekommen
sah er sich alsbald einem Netz von Gewalt und
kriminellen Aktivitäten Schutzgeld erpressender
Banden ausgeliefert, die die Routen durch das
Mittelmeer überwachen. Er kam vom Regen in
die Traufe und endete schließlich in den Hän-
den der libyschen Polizei, die für eine Reihe von
Verhaftungen und Massendeportationen verant-
wortlich ist. Dag überlebt die Torturen in Libyen
und schafft es schließlich, das Meer zu überque-
ren und die italienische Küste zu erreichen. In
Rom gelandet besucht er eine Sprachenschu-
le. Diese wird von Asinitas Onlus, einem ersten
Anlaufpunkt für afrikanische Migranten, geleitet
und von Marco Carsetti und anderen Ehrenamt-
lichen koordiniert. Hier besucht Dag einen Itali-
enisch-Sprachkurs und erhält die Möglichkeit,
grundlegende Filmtechniken zu erlernen. Diese
Erfahrungen inspirieren ihn dazu, Zeugenaus-           Italien 2008 – 60’ - miniDV italien. mit engl. Untertiteln               Dagmawi Yimer
                                                       mit: Fikirte Inghida, Dawit Seyum, Senait Tesfaye, Tighist Wolde, Tse-     zur Situation in
sagen seiner Landsleute zu sammeln, die seine          gaye Nedda, Damallash Amtataw, Johannes Eyob, Tsegaye Tadesse,           Libyen und über
traumatischen Erfahrungen teilen. Er bricht das        Negga Demitse                                                                 seinen Film.
                                                       von: Riccardo Biadene, Andrea Segre, Dagmawi Yimer
Schweigen über das Schicksal, das afrikanische         Regie: Andrea Segre, Dagmawi Yimer
Migranten auf dem Weg durch Gaddafis Land               in Zusammenarbeit mit: Riccardo Biadene
                                                       Idee und Photographie: Andrea Segre
erwartet.                                              Schnitt: Luca Manes (OFF!CINE) in Zusammenarbeit mit: Sara Za-
„Like a Man on Earth“ ist eine Reise voller            varsie
Schmerz und Würde, in der Dagmawi Yimer                Co-Autor: Stefano Liberti
                                                       Journalistische Beratung : Stefano Liberti und Gabriele Del Grande
seine Erinnerungen an unvorstellbares menschli-        Historische Beratung: Alessandro Triulz

                                                                                                                      17
Besuch der Küstenwache
         in Palermo

         D
                 rei unterschiedliche italienische Behörden       liegt in Palermo und wird von Herrn Admiral Do-
                 sind in den Hoheitsgewässern Italiens,           menico Pessaro geleitet. Der östliche Teil unter
                 der Anschlusszone und der Hohen See              Leitung von Herrn De Michele liegt in Catania.
         aktiv: Die italienische Küstenwache, der italieni-       Auf dem Satellitenradar erhält die Küstenwache
         sche Zoll und die italienische Marine. Jede der          alle zwei Stunden Signale von registrierten Schif-
         drei Behörden hat unterschiedliche Aufgabenbe-           fen, die eine Länge von 15 Metern überschreiten.
         reiche und Handlungsfelder.                              Kleinere Boote sind nicht erkennbar.
                         Die sizilianische Küstenwache han-       Laut Admiral Pessaro gibt es kein „legales“ Sys-
    Die Angele-          delt aufgrund der Bestimmungen           tem, um kleine Boote mit Migranten zu erkennen,
 genheit illegaler       des internationalen Übereinkom-          die die SAR Zone ihrer Zuständigkeit erreichen.
                         mens zum Schutz des menschli-            Wahrscheinlich wird dazu ein anderes System
Einwanderer, die         chen Lebens auf See (SOLAS) und          der italienischen Marine genutzt. Die Marine lässt
  in sizilianische       der SAR Konvention aus dem Jahr
                         1979 zur Rettung von Menschen in
                                                                  täglich ein Kriegsschiff in der Seeregion zwi-
                                                                  schen Zypern und Italien patrouillieren. Es wird
 Küstengewässer          Seenot. Die Küstenwachenopera-           dabei von einem kleinen Flugzeug unterstützt ,
                         tionen sind grundsätzlich begrenzt       das diese Umgebung mit einem mobilen Radar-
  kämen, müsse           auf das Gebiet der SAR Zone (Safe-       system überwacht. Jeder Mittelmeeranrainer hat
politisch geklärt        guard und Rescue Zone), die inter-       ein unterschiedliches Kontrollsystem zum Küs-
                         national festgelegt wird.                tenschutz etabliert.
          werden.        In Sizilien ist die Küstenwache in ei-   Herrn Pessaro wurde die Frage gestellt, ob die
                         nen östlichen und einen westlichen       Küstenwache auch im Rahmen von Frontex-Be-
                         Bezirk aufgeteilt. Der Hauptsitz         stimmungen tätig wird. Er verneinte die Frage

            18
und bestritt jede direkte Zusammenarbeit von           nische Küstengewässer kämen, müsse politisch
Frontex und der italienischen Küstenwache. Zur         geklärt werden.
Zeit sind zwei Liaison Beamte der italienischen        Herr Pessaro überreichte den Teilnehmern einen
Küstenwache bei der Frontex-Agentur in War-            Bericht, der die Ereignisse irregulärer Einwande-
schau angesiedelt. Herr Pessaro stellte fest,          rung im Jahr 2010 verzeichnete. Generell ent-
dass EU-Mitgliedsstaaten in der Interpretation         stand der Eindruck, dass die meisten Push-Back
von europäischem und internationalem See-              Aktionen gegen Flüchtlinge und Schutzsuchen-
recht zum Teil sehr weit auseinander gingen und        de wahrscheinlich vom italienischen Zoll und der
dass die originäre Aufgabe der Küstenwache in          Marine ausgeführt werden. Diese Behörden han-
der Seenotrettung Schiffbrüchiger bestehe. Die         deln nach italienischem und nicht nach internati-
Angelegenheit illegaler Einwanderer, die in sizilia-   onalem Seerecht.

                                                                                                   19
Siziliens Hochseefischer
                   zwischen Libyen und Italien

                                      G
                                                egen 18:00 Uhr trifft     dass nicht schon vielfach auf Schiffe und Boo-
                                                Kapitän Gaspare Mar-      te geschossen wurde? Wie viele Flüchtlinge hat
                                                rone und seine Mann-      man vielleicht schon versenkt, so wie in Marokko
                                       schaft im Golf von Sirte in        und Griechenland geschehen? Vielleicht sind wir
                                       internationalen      Gewässern     gar nicht so weit entfernt von dieser Realität.
                                       auf eine libysche Einheit. Das
                                       Schiff kommt ihnen bekannt         Vincenzo Asaro, Reeder und Besitzer der „Arie-
                                       vor: es sieht aus wie ein Boot     te“, und sein Kapitän stellen klar: man hat nicht
                                       der italienischen Guardia di Fi-   in libyschen Gewässern gefischt, zum Einen,
                                       nanza (italienischer Zoll), aber   weil man eh auf Fahrt gewesen sei und die Net-
                                       es läuft unter libyscher Flagge.   ze gar nicht draußen waren, zum Anderen, weil
                                       Sie werden in reinem Italie-       sie sich zum Zeitpunkt der Schüsse zwar unweit
                                       nisch aufgefordert, beizudre-      der libysch-tunesischen Grenze, aber in interna-
                                       hen. Marrone verweigert den        tionalen Gewässern befunden haben. Der Ree-
Vincenzo Asaro,    Stopp – in internationalen Gewässern können            der und der Kapitän werden gezwungen, sich
    Besitzer der
        „Ariete“
                   ihn die Libyer nicht einfach stoppen, er möch-         auch noch gegen die Beschuss zu verteidigen,
                   te einen italienischen Befehl sehen. Doch dieser       als seien sie Schuld. Zwar äußert sich die italieni-
                   kam nicht, auch wenn sich sechs italienische           sche Opposition sofort, dass die libysch-italieni-
                   Offiziere und Mitarbeiter der Guardia di Finanza        schen Verträge überdacht werden müssen, aber
                   an Bord des libyschen Schiffes befinden. Diese          ob das große Schreien anhält ist fragwürdig. Die
                   hatten sich sofort unter Deck zu begeben, wie          Staatsanwaltschaft in Agrigento hat jedoch ein
                   die Libyer anordneten. Und dann eröffneten sie         Untersuchungsverfahren eingeleitet: Versuchter
                   das Maschinengewehrfeuer auf die „Ariete“.             Mord heißt es hier.
                   Über fünf Stunden verfolgen die Libyer den si-
                   zilianischen Fischer, der Richtung Lampedusa           Marrone und sein Reeder haben Preise erhalten,
                   fährt, feuern immer wieder auf das Schiff, bis sie     Preise für die Rettung von Flüchtlingen auf See,
                   endlich gegen 23 Uhr beidrehen. Die „Ariete“ ist       die Schiffbruch erlitten hatten und ohne die Hilfe
                   ein 32 m langer Fischkutter aus Metall, sie wird       des Kommandanten ertrunken wären. Marrone
                   in der gesamten Längsseite vielfach getroffen.         ist ein bekannter Mann, ebenso wie einige seiner
                   Es ist ein unglaubliches Glück für die Besatzung,
                   dass sie nicht verletzt wird, dass die getroffenen
                   Gasflaschen nicht explodieren.

                   Die Italienische Regierung geht nach der Mel-
                   dung Marrones über das Geschehen erst einmal
                   in die Defensive: „Die haben wohl in libyschen
                   Gewässern gefischt“, so Außenminister Frat-
                   tini. „Die Libyer dachten wohl, da seien Illegale
                   an Bord“, so Innenminister Maroni und Verteidi-
                   gungsminister La Russa. Diese Aussage bedeu-
                   tet im Umkehrschluss jedoch, wenn „Illegale“ an
                   Bord sind, dann kann man schon mal schießen.
                   Sind die Wünsche der Lega Nord, die schon vor
                   Jahren riefen „schießt auf die Migrantenboote“,
                   damit niemand mehr ankommt, also in Erfül-
                   lung gegangen? La Russa redet sich in einem
                   Nachrichteninterview des Senders RAI 3 raus,
                   so habe man das nicht gemeint. Aber wer mag
                   das glauben? Wer mag nun überhaupt glauben,
                                                                          Wurde für die Rettung von Migranten aus Seenot ausgezeichnet.

                     20
Kollegen aus Mazara del Vallo, die couragierten      schreckliche Auf-
Kapitäne, die trotz aller Drohungen, dass Pro-       gabe, die einen
zesse gegen sie eingeleitet werden, Flüchtlinge      nachts nicht mehr
gerettet haben. Die Libyer hatten die „Ariete“       schlafen      lässt,
längst identifiziert, als sie das Feuer eröffneten,   zu Recht. Viele
sie wussten also, auf wen sie da schießen.           werden plötzlich
                                                     krank, oder es
Der Kapitän aus Mazara hat richtig gesehen, das      gibt ein „techni-
Schiff, dass sie beschossen hat, gehört zu den       sches Problem“
sechs von Italien an Libyen übergebenen Schif-       an Bord. Viele
fen der Guardia di Finanza, die für die gemein-      Flüchtlinge haben
samen Patrouillen zur Eindämmung der illegalen       Angst, dass wir
Migration eingesetzt werden. Grundlage sind die      sie nach Libyen
libysch-italienischen Abkommen von 2007 (also        zurück bringen,
noch unter der alten Regierung) und von 2009.        wenn wir sie an Bord nehmen. Sie drohen uns,         Fischer aus
                                                                                                          Mazara, die
Sie besagen, dass die beiden Länder gemein-          sich umzubringen. Auch die Frauen, mit Kindern       bereits viele
sam Patrouillen fahren, wobei die Italiener jedoch   auf den Armen, sie drohen, sich ins Meer zu           Menschen
nur technische Kontroll- und Beobachtungsauf-        stürzen. Was machst du in einer solchen Situ-            gerettet
                                                                                                               haben.
gaben haben, das Kommando liegt allein bei den       ation? Ich bin ein Militär, aber vor allem bin ich
Libyern. Sie haben sich unter Deck zu begeben,       ein Mensch, ein Vater. Und auch wenn sie mich
wenn die Libyer einen Einsatz beginnen.              bestrafen, ich werde das nie wieder machen. Ir-
Das allein schon gefällt den italienischen Offizie-   gendwann muss ich mich vor irgendjemanden
ren auf den libyschen Einheiten wenig. In einem      rechtfertigen, und ich möchte ein reines Gewis-
Interview mit der Tageszeitung „La Repubblica“       sen haben.“
vom 15.9.2010 berichtet ein 45-jähriger Leut-        Derweil lächelt Verteidigungsminister La Russa
nant der Guardia di Finanza, dass den Kollegen       siegessicher in die Kamera und meint, es sei gut,
bei Beginn des Beschusses absolut die Hände          dass die Libyer sich entschuldigt hätten. Hätte
gebunden waren, sie konnten nur zuschauen.           es Opfer gegeben, würde die Entschuldigung
Die Kollegen versuchen, wenn sie eine Ahnung         natürlich nicht reichen. Die Flüchtlinge, die auf-
haben, es könnte ein kritischer Einsatz werden,      grund der italienischen Zurückweisungen in den
nicht an Bord zu gehen: „Genau um solche Epi-        libyschen Gefängnissen inhaftiert werden, zählen
soden wie am Sonntag zu vermeiden. Inzwischen        allerdings nicht.
kennen wir die libyschen Offiziere ein wenig und
wir wissen, wenn es in eine bestimmte Richtung
geht, gibt es Ärger. Und wenn wir da aus irgend-
welchen Gründen Zweifel haben, weigern wir
uns an Bord zu gehen. Dieses Mal hatten meine
Kollegen keinerlei Verdacht geschöpft.“
Er spricht auch über die Einsätze bei den Zu-
rückweisungen auf See nach Libyen, die die
Guardia di Finanza durchführen: „Was sollen wir
machen? Wenn wir sie nicht zurückweisen, gibt
es Disziplinarverfahren. Wie also sollen wir aus
dieser Zwickmühle rauskommen? Diese Zurück-
weisungen sind eine der grausamsten unserer
Aufgaben. Seit vielen Monaten verweigern immer
mehr Kollegen aus den ligurischen und toskani-
schen Häfen, uns abzulösen und den Dienst zu
übernehmen. Unsere Kollegen verweigern diese

                                                                                                  21
Aktuelle Entwicklungen
in verschiedenen

G
       anz im Vordergrund stand der Bericht        Im Januar 2011 hat Deutschland Überstellungen
       aus Griechenland. In mehreren europäi-      nach Griechenland offiziell für ein Jahr ausgesetzt
       schen Ländern wurden Abschiebungen          und ist damit einer Grundsatzentscheidung des
von Flüchtlingen in das „Erstasylland“ Griechen-   Bundesverfassungsgerichtes zuvorgekommen.
land vorläufig gestoppt, so auch in Deutschland.

  22
europäischen Ländern

Die griechische Konferenzteilnehmerin Eftha-        ren sei allerdings, dass Flüchtlinge nach wie vor
lia Pappas zitierte in ihrem Beitrag zustimmend     in das Niemandsland an der algerischen Grenze
den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten        abgeschoben würden.
Nationen (UNHCR), der jüngst von einer „hu-
manitären Krise“ in Griechenland gesprochen         Aus Polen berichtete Frau Gutkowska von einer
hatte. Nach wie vor würden Flüchtlinge an der       schleichenden Entwertung des internationa-
Grenze abgewiesen und in großer Zahl z. B. in       len Schutzes für Flüchtlinge. Nach Einführung
die Türkei zurückgeschoben. Frau Pappas be-         des sog. „subsidiären Schutzes“ aus dem eu-
zeichnete die Lage als „extrem schwierig“. Auch     ropäischen Recht sei zu beobachten, dass die
auf griechischem Territorium sei der Zugang zu      polnischen Behörden weniger die Flüchtlingsei-
einem geregelten Asylverfahren kaum möglich:        genschaft als vielmehr diesen geringwertigeren
die Verfahren würden kursorisch betrieben, oft      subsidiären Schutz gewährten. Problematisch
ohne qualifizierte Dolmetscher und von hierzu        seien auch Zurückschiebungen nach Weißruss-
nicht qualifizierten Polizeibeamten. Für Flücht-     land.
linge gebe es fast keine Unterkünfte und kaum
soziale Betreuung.                                  Übereinstimmend beklagten Konferenzteilneh-
                                                    mer aus Spanien, Polen, Rumänien, Griechen-
Besonders irritiert zeigte sich Frau Pappas darü-   land und Deutschland die Schwerfälligkeit der
ber, dass die auf Bitten der griechischen Regie-    Anerkennungsverfahren und die mangelnde
rung bereits fertig formulierten Vorschläge einer   Unterstützung besonders verletzlicher Personen
Expertenkommission, der auch Frau Pappas an-        wie unbegleitete Minderjährige und Opfer von
gehört, immer noch nicht umgesetzt sind.            Gewalt.

Zur EU-Außengrenze im westlichen Mittelmeer         Hoffnungsvoll nahm die Konferenz auf, dass in
hatte Herr Daichai Poudiougo aus Marokko, der       Spanien und in Rumänien offenbar die Rahmen-
leider von den italienischen Behörden kein Visum    bedingungen für sog. Resettlement-Programme
für die Teilnahme an der Konferenz erhielt, einen   geschaffen wurden. So hat Rumänien bereits 40
Vorbericht übermittelt. Danach ist für Marokko      Flüchtlinge aus Myanmar von Drittländern über-
als erfreuliche Tendenz zu berichten, dass die      nommen und plant, weitere 80 Personen in den
von UNHCR ausgegebenen Flüchtlingskarten            nächsten zwei Jahren aufzunehmen. Schon lan-
von den marokkanischen Behörden zwar noch           ge setzen sich die Konferenzteilnehmer in ihren
nicht vollständig anerkannt, wohl aber zuneh-       Ländern dafür ein, ebenfalls Resettlement-Pro-
mend respektiert würden. Besonders zu kritisie-     gramme aufzulegen.

                                                                                                23
24
Flüchtlings-
 politik
  in Italien

        25
Italiens Politik lässt
                  Flüchtlinge schutzlos

                  I
                       n Sizilien, wo in den vorangegangenen Jah-        Sein Ziel war es, auf der Insel Lampedusa ein
                       ren einige Tausend Migranten und Flüchtlinge      großes Abschiebungsgefängnis einzurichten.
                       angelandet sind, hat sich die Situation inzwi-    Diejenigen, die keinen Asylantrag gestellt hatten,
                  schen sehr verändert.                                  sollten erst gar nicht auf das italienische Festland
                                   Kamen 2008 noch ca. 36.000            kommen, sondern sofort von dort wieder abge-
                                   Flüchtlinge an den Küsten Italiens    schoben werden. Da aber ca. 75% der Ange-
                                   an, alleine 31.000 auf oder bei       kommenen potentielle Asylsuchende waren und
                                   Lampedusa und an den siziliani-       auch die anderen aufgrund mangelnder Papiere
                                   schen Küsten, so spricht das In-      nicht sofort abgeschoben werden konnten, war
                                   nenministerium 2009 bereits von       das Zentrum auf Lampedusa heillos überfüllt.
                                   einem Rückgang von über 88%           Eine Möglichkeit zur Stellung eines Asylantrags
                                   der Ankünfte an italienischen Küs-    war nicht garantiert. Im Dezember 2008 und im
                                   ten. Aber, auch wenn dies viel er-    Januar 2009 befanden sich ca. 2.000 Menschen
                                   scheint, so fanden lediglich 10%      in einem Lager, das eine Kapazität von 300, im
Judith Gleitze,   der nicht legalen Ankünfte über See statt. Die         Notfall von 800 Aufnahmeplätzen hat. Es brach
Borderline
Europe
                  meisten anderen Migranten und Flüchtlinge, die         eine Revolte aus. Unter den so genannten “Gäs-
                  sich irregulär in Italien aufhalten, sind so genann-   ten”, aber auch unter den Einheimischen, die
                  te Overstayer. Das sind Menschen, die mit einem        aus ihrer Insel kein Alcatraz, keine Gefängnisinsel
                  Visum eingereist und nach dessen Ablauf geblie-        machen wollten.
                  ben sind.
                  Italiens Regierung versucht dennoch immer              Freundschaftsvertrag mit Libyen –
                  wieder, mittels der Medien Angst vor Migran-           für Flüchtlinge verheerend
                  ten und Flüchtlingen zu schüren - was natürlich        Da dieses Vorhaben Maronis nicht funktioniert
                  mit Bildern überfüllter Boote sehr viel einfacher      hatte, bemühte sich die italienische Regierung
                  ist. Trotzdem unterscheidet sich die italienische      intensiv darum, endlich den Freundschaftsver-
                  Anti-Immigrationspolitik, oder noch treffender         trag mit Libyen und die nötigen Protokolle dafür
                  Antischutzpolitik, nicht so sehr von der anderer       unter Dach und Fach zu bekommen. Im März
                  europäischer Staaten. Die geographische Lage           2009 unterschrieb Gaddafi die Protokolle des im
                  lässt Italien – wie auch Griechenland, Spanien,        August 2008 mit Italien geschlossenen Freund-
                  Malta oder Polen – eine besondere Rolle zukom-         schaftsvertrags. Hier wurden auch die Zurück-
                  men: die Verteidigung der Außengrenzen der             weisungen auf See festgelegt: Libyen erklärte
                  EU. So wird die Abwehrpolitik in diesen Staaten        sich bereit, die zurückgewiesenen Flüchtlinge
                  umso härter gefahren, denn Europa will vor der         wieder aufzunehmen. So endeten die Ankünfte
                  „Invasion der Armen“ verteidigt werden.                auf Lampedusa und an der sizilianischen Küste
                  Leider vergessen wir dabei gern, dass auch Eur-        schlagartig im Mai 2009, bis auf wenige Ausnah-
                  opa aufgrund seiner Ausbeutungspolitik und Ko-         men. Auf See aufgebrachte Flüchtlinge wurden
                  lonialgeschichte für die Armut beispielsweise in       von der Guardia di Finanza (eine spezialisierte
                  afrikanischen Staaten eine große Verantwortung         italienische Polizeieinheit) direkt nach Tripolis
                  trägt. Ebenso vergessen wird, dass es noch ein         zurückgebracht. Später dann wurden sie direkt
                  existierendes völkerrechtliches Schutzsystem           an libysche Einheiten auf See übergeben. Ohne
                  für Flüchtlinge gibt. Faktisch wird dies allerdings    jegliche Identifizierung, ohne die Möglichkeit, ei-
                  nach und nach ausgelagert und ausgehebelt.             nen Asylantrag zu stellen. Unter den zurückge-
                                                                         schobenen Flüchtlingen befanden sich sehr viele
                  Die Überwachung der Grenzen wird auch                  Eritreer, Somalier und Äthiopier - alles Nationali-
                  in Sizilien immer stärker spürbar                      täten, die eine gute Chance auf Flüchtlingsaner-
                  2008 hat Innenminister Roberto Maroni, Mitglied        kennung in Italien gehabt hätten.
                  der rechten Partei Lega Nord, beschlossen,             Der Film “Come un uomo sulla terra“ (Like a Man
                  dass man den “Zustrom” von Migranten und               on Earth), von Andrea Segre und Dagmawi Yi-
                  Flüchtlingen nun endlich eindämmen müsse.              mer, ist ein eindrucksvolles Zeugnis über die Situ-

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