STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
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ZU M EQUAL CAR E DAY 2 02 0 STREITKULTUR . FE B R U A R , C O LL EG IU M LE O N IN U M , B O N N 28 . U N D 29 WEGE IN EINE ANSTÖSSE FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE www.streitkultur-magazin.de
02 INHALTSVERZEICHNIS VORWORT // Almut Schnerring & Sascha Verlan S. 03-04 GRUSSWORT // Elke Büdenbender S. 05 ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN IM POSTPATRIARCHALEN DURCH/EINANDER // Ina Praetorius S. 06-07 ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN // Gisela Bock S. 08-10 SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT // Uta Meier-Gräwe S. 11-13 SORGEARBEIT BRAUCHT BEZAHLUNG! // Karin Jurczyk S. 14-15 RAUS AUS DER CARE-ARBEIT DENKFALLE // Martin Speer & Vincent-Immanuel Herr S. 16-17 PUPPEN HABEN KEINE VÄTER – FRÜHKINDLICHE PRÄGUNGEN // Almut Schnerring & Sascha Verlan S. 18-20 MEIN GENDER CARE GAP ALS ALLEINERZIEHENDE? UNENDLICH! // Christine Finke S. 21-22 EQUAL CARE DAY KONFERENZ IN BONN S. 23-26 DO YOU EQUAL CARE?! DER MENTAL LOAD-SELBSTTEST // Johanna Lücke S. 27-29 GEMEINSAM GEGEN ALTE ROLLENMUSTER – EQUAL CARE UND KLISCHEEFREIE BERUFSWAHL // Václav Demling S. 30-31 WIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ DIE BERUFSWAHL VON FRAUEN BEEINFLUSST // Alexandra Geese S. 32-33 „NICHTS ÜBER UNS OHNE UNS!“ // Interview mit Raúl Krauthausen S. 34-35 PROFESSIONELLE CARE-ARBEIT ALS SPIEGELBILD DER UNSICHTBAREN CARE-ARBEIT // Edith Kühnle S. 36-37 EQUAL CARE FOR FUTURE – WAS HAT DER CARE GAP MIT DER KLIMAKRISE ZU TUN? // Angela Häußler S. 38-39 SELBST SCHULD?! WAS DER LEBENSMITTELEINKAUF MIT „CARE“ ZU TUN HAT // Martin Rücker S. 40-41 CARE REVOLUTION – VON DER SORGEARBEIT AUS DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERN! // Gabriele Winker S. 42-43 BERICHTE VON PARTNER*INNEN UND KOLLEG*INNEN // Suzan Lara Tunç & Paulina Fröhlich S. 44-46 IMPRESSUM Die STREITKULTUR wurde gegründet vom Verein für politische Bildung und Information Bonn e. V. (VPI Bonn) und ist heute eine Publikation der Willi-Eichler-Akademie e.V. Herausgeber: Willi-Eichler-Akademie e.V. , Venloer Wall 15, 50672 Köln, Tel.: 0221-168 898 70, E-Mail: kontakt@web-koeln.de Redaktion: Martin Schilling (verantwortl.), Dr. Sebastian Scharte, Almut Schnerring, Sascha Verlan, E-Mail: redaktion@streitkultur-magazin.de Layout, Satz: Regina Fischer Fotonachweise: Helene Souza/pixelio.de (S. 6, 26), Luise Pfefferkorn/pixelio.de (S. 8), Rainer Sturm/pixelio.de (S. 11, 22, 32, 38), Schemmi/pixelio.de (S. 12), S. Hofschlaeger/pixelio.de (S. 14), Klaus Steves/pixelio.de (S. 16), Monika Koranzki/pixelio.de (S. 18), Erysipel/pixelio.de (S. 22), Klicker/pixelio.de (S. 28, 30), Redsheep/pixelio.de (S. 34), Erwin Lorenzen/pixelio.de (S. 36), Pixplosion/pixelio.de (S. 40), Matchka/pixelio.de (S. 42) STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
VORWORT 03 VORWORT Stellen Sie sich fünf Zimmer vor, irgend- Wie konnte es passieren, dass auch nach jahrzehntelangen wo ganz in ihrer Nähe, vielleicht in dem Kämpfen der Frauenbewegung und allen Maßnahmen der Haus, in dem Sie selbst leben oder gera- de arbeiten: institutionalisierten Gleichstellungspolitik zum Trotz Sorgearbeit immer noch so ungleich und zulasten von Frauen aufgeteilt und • Im ersten Zimmer sitzt jemand am Bett einer kranken Person und sieht organisiert wird? nach, ob das Fieber gestiegen ist. • Im zweiten kocht jemand das Mittag- Leben gar nicht möglich wäre, im allge- Männer also viermal so lange … so kam essen für mehrere Menschen. meinen Sprachgebrauch nicht als Arbeit es zum 29. Februar, den es nur alle vier gelten und damit auch nicht für wich- Jahre gibt: der Schalttag solle in Zukunft • Im dritten Zimmer sortiert jemand tig genommen werden … „das bisschen „Equal Care Day“ heißen! Die Reaktionen schmutzige Wäsche, der Staubsauger Haushalt“ eben und mit den Kindern zwischen ungläubigem Gelächter und steht schon bereit. spielen … und meine Frau macht das zustimmender Empörung sowie die an- ja gerne. Wie konnte es passieren, dass schließenden Diskussionen haben deut- • Im vierten zieht jemand einem Kind auch nach jahrzehntelangen Kämpfen lich gezeigt, dass wir mit dieser spon- die Regenhose an, merkt, dass sie der Frauenbewegung und allen Maßnah- tanen Idee einen Nerv beim Publikum eng geworden ist, und notiert sich in men der institutionalisierten Gleichstel- getroffen hatten. Gedanken die Größe, um bald eine lungspolitik zum Trotz Sorgearbeit im- neue zu besorgen. mer noch so ungleich und zulasten von 2016 – Der nächste Schalttag stand un- Frauen aufgeteilt und organisiert wird? mittelbar bevor, also haben wir die Idee • Und im fünften Zimmer liest ins Internet gestellt und Betroffene, In- jemand einer blinden Person aus Ganz am Anfang, 2015, war es nur eine teressierte und Engagierte, Menschen der Zeitung vor. bedrückend witzige Idee gewesen. Im aus der Praxis, aus Politik und Wissen- Zuge der Recherchen zu unserem Buch schaft um unterstützende Statements In allen fünf Zimmern sind Menschen, „Die Rosa-Hellblau-Falle“ hatten wir in gebeten. Am 29. Februar 2016 hatte wir die Care-Arbeit leisten. Vier der fünf Per- vielen Statistiken und Studien nachge- dann ein Grußwort aus dem Bundesfa- sonen sind Frauen. Nur zwei von ihnen lesen und waren dabei immer wieder milienministerium, Statements aus dem verdienen damit ihren Lebensunterhalt. auf die Zahl 80 gestoßen. In eigentlich Bundestag, Europa-Parlament und von Und für die meisten birgt diese Art der allen Care-Berufen liegt der Frauenan- betroffenen Verbänden, wir hatten Car- Tätigkeit die Gefahr, später einmal in teil über 80 %: Kita (96 %), ambulante toons und viel Unterstützung aus dem Altersarmut leben zu müssen. In dieser Pflegedienste (87 %), Altenpflege (85 %), kulturellen Bereich. Und am Tag selber Vorstellung fehlen fast komplett die Krankenhäuser, Reinigungswesen, Ge- folgte ein Pressetermin auf den nächs- Männer, die gerade arbeiten, also gegen burtshilfe, Grundschulen, Tagepflege … ten, so dass wir viel über Care-Arbeit, Lohn und Honorar arbeiten, wohlge- überall, mal deutlich mehr, selten etwas die mangelnde Wertschätzung und merkt. Der Begriff „Arbeit“ ist nämlich weniger als 80 %. Und im Privaten sieht unfaire Verteilung zwischen den Ge- inzwischen derart verkürzt auf diese Er- es nicht wirklich besser aus. Je körpernä- schlechtern sprechen konnten, während werbsarbeit, dass alles andere dagegen her und dringlicher Care-Arbeit ist, desto unsere Kinder zuhause auf sich alleine wertlos erscheint: Was arbeiten sie gera- höher die Belastung und Verantwortung gestellt waren, selbst für sich sorgen de? – Och, nichts, ich bin in Elternzeit, ich von Frauen. In einem unserer dialogi- mussten. Dieser grundsätzliche Wider- bin nur Hausfrau oder Mutter oder ich schen Vorträge zur „Rosa-Hellblau-Falle“ spruch begleitet uns seitdem. Der fünf- pflege gerade meinen Schwiegervater … hatten wir dann die Idee, diese Ungleich- te Familienbericht der Bundesregierung verteilung einmal analog zum „Equal hatte hierfür bereits 1994 den Begriff Wie konnte es dazu kommen, dass all Pay Day“ in Zeit umzurechnen. Wenn der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ die sorgenden Tätigkeiten, ohne die ein Frauen über 80 % der professionellen gegenüber Familien geprägt. Auch gesellschaftliches Miteinander, ohne die Care-Arbeit übernehmen, dann brauchen wenn wir selbständig arbeiten und frei- STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
04 VORWORT er entscheiden können, wann und wie men einer Diskussionsrunde vor und Es geht um Wertschätzung, Sichtbarkeit viel wir arbeiten, der allgemeine Wirt- auch sonst gab es wieder viel Resonanz. und die drängende Frage, wie sich Sor- schaftsbetrieb nimmt keine Rücksicht Überrascht hat uns, dass Ulle Schauws gearbeit fair verteilen lässt zwischen den auf die persönliche Care-Situation der von Bündnis 90/Die Grünen in der ak- Geschlechtern, denn nur dann haben alle Menschen. Und wer beruflich erfolg- tuellen Bundestagsdebatte am 1. März Menschen gleichermaßen die Möglich- reich sein möchte, muss dann eben im 2018 an den „Equal Care Day“ und die keit zur gesellschaftlichen Teilhabe, po- Privatleben Abstriche machen und ge- ungelösten Probleme im Care-Bereich litisch und wirtschaftlich, in Kultur und gebenenfalls Aufgaben auslagern. Und erinnerte. Das war der Startschuss für Wissenschaft, privat, beruflich, auf allen wer sich das nicht leisten kann? die Kampagne zum 29. Februar 2020. Ebenen und Hierarchiestufen. Die Ver- teilung der Sorgearbeit ist eine grundle- 2017 – Wir steckten mitten in den Vor- 2019 blieb der „Equal Care Day“ unsicht- gende Frage der sozialen Gerechtigkeit. bereitungen für den „Goldenen Zaun- bar, wie die Care-Arbeit im Allgemeinen pfahl – Negativpreis für absurdes Gen- auch. Wir haben hinter den Kulissen Wir danken der Willi-Eichler-Akademie dermarketing“, den wir in diesem Jahr gearbeitet, die Zeit genutzt und starke für die Kooperation, der Bundeszentra- erstmals im Rahmen einer öffentlichen Kooperationspartner*innen gewonnen le für politische Bildung, Aktion Mensch, Gala im Theater HAU Hebbel am Ufer für eine zweitägige Konferenz: die Bun- UN Women und der Stadt Bonn für die in Berlin verliehen, als die ersten Me- deszentrale für politische Bildung, die finanzielle Förderung und allen, die uns dienanfragen kamen, was wir denn in Willi-Eichler-Akademie, Aktion Mensch, in der Vorbereitung und Planung unter- diesem Jahr zum „Equal Care Day“ ge- UN Women und die Stadt Bonn. Wir star- stützt haben: Martina Hahn, Katja Schül- plant hätten? Wir waren nicht vorberei- ten am 28. Februar mit einem BarCamp, ke und Gertrud Hennen, Martina Steimer tet und ehrlich überrascht von diesem am Abend wird es eine Equal Care-Gala und Harald Kirsch, Bonn.digital. Den Teil- neuerlichen Interesse … also haben geben und am 29. Februar dann Vorträ- nehmenden an den Vorbereitungstreffen: wir kurzerhand Geschichten und State- ge und Workshops, um gemeinsam ei- Václav Demling, Ulrike Pfaff, Ursel Sand- ments von Paaren gesucht, die Familie, nen Forderungskatalog an Politik und forth, Sabine Zander, Rainer Opitz, Philipp Hausarbeit und Beruf fair untereinan- Verbände zu erarbeiten. Darüber hinaus Schapps, Petra Römer-Westarp, Marianne der aufteilen. Kurz darauf erschien dann wird es dezentral organisierte Veranstal- Völlmecke, Lisa von Reiche, Katja Schülke, „Who Cares?!“ (feat. Charlotte Brandi): tungen geben unter anderem in Berlin, Hannah Kröll, G ertrud Hennen, G abriele Die Berliner Rapperin Sookee gehörte Bremen, Dortmund, Heidelberg, Frankfurt Neuhöfer, Frauke Linne, Frauke Fischer, zu den ersten Unterstützer*innen des a.M., Leipzig, Luxemburg, München und Edith Kühnle, C laudia Wittkampf, B rigitte „Equal Care Day“ und hatte sich von Wien. Was 2016 als digitaler Versuchs- Bührlen, B ettina Metz und Astrid Mönni- der Initiative zu einem Song inspirieren ballon begann, wird damit zum realen kes. Den Studierenden, die sich im Rahmen lassen. Und wie im ersten Jahr gab es Veranstaltungsformat, für uns ein weite- eines Seminars an der Bonner Universität auch 2017 wieder Berichte, die unab- rer Schritt auf dem Weg in eine fürsorg- in die Planung, Bewerbung und Organisa- hängig von uns den „Equal Care Day“ liche Demokratie. Seitdem sind wir viel tion des „Equal Care Day“ eingebracht ha- zum Anlass nahmen, um über Fachkräf- unterwegs im politischen Kontext und ben: Larissa Ratschkowski, Viola Bender, temangel in der Pflege, die ungeklärte immer wieder aufs Neue erstaunt: Hm, Janet Kinnert, Hannah Schmidt, Laura Eh- finanzielle und versicherungsrechtliche Fokus Pflege oder Kinder, beruflich oder rich, Alina Neujahr, Antonia Mohr, Anasta- Situation für Hebammen, die ungleiche privat, Haushalt oder Arbeitszeitmodel- sia Schormann, Nik Hemmer, Julia Sykora, Verteilung der Familienarbeit oder an- le, Ausbildung oder Vergütung, bezahlt, Jana Rapp, Selina Kramer und S ophie Bi- dere Care-Aspekte zu berichten. unbezahlt … zu welchem Ressort oder qmeti. Und insbesondere für Blog-Artikel, Fachbereich würde das Thema am bes- Vorträge, Moderation und die Leitung der 2018 – In diesem Jahr waren wir besser ten passen? Das sei eben nicht so ein- Workshops, Angela Häußler, Uta Meier- vorbereitet und wurden doch wieder fach mit diesen Querschnittsthemen. Die Gräwe, Helma Lutz und Martin Speer, überrascht. Wir hatten schon früh einen einzelnen Aspekte der Care-Thematik Daniela Erdmann, Heiner Fischer, Patricia Aufruf gestartet, „Briefe an die nächste haben durchaus ihren Platz in den Insti- Cammarata, Mireille Schauer, K arin Jur- Generation“ zu schreiben. Es ging dar- tutionen, werden aber isoliert behandelt, czyk, Hanna Voelkle, Edith Kühnle, Mara um, die eigene Care-Situation zu schil- je nach Zuständigkeitsbereich eben, und Brückner und Ute Lange, Martin Rücker, dern und Wünsche zu formulieren, was viel zu oft gegeneinander ausgespielt. Alexandra Geese, Karin Krubek, Antje sich für die eigenen Kinder und Enkel- Schrupp, János Wágner. // kinder ändern sollte, ändern müsste. Die Mit dieser Ausgabe der Streitkultur tritt Redaktion frau.tv hat in einem Beitrag der „Equal Care Day“ nun an die breite // Von Almut Schnerring und berichtet, das ZDF stellte uns im Rah- politische und mediale Öffentlichkeit. Sascha Verlan, wu2k.de STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
GRUSSWORT 05 GRUSSWORT Oma am Bahnhof abholen? ... ich bestell einfach ein Uber! Bügeln? ... ach, das macht der Typ von der Haushaltshilfen-App morgen, der kann dann auch den Müll gleich mit runter nehmen, wenn er geht! Abendessen? ... wir bestellen einfach online und lassen liefern! Den Wocheneinkauf? ... lassen wir auch liefern! Die jährlichen Arzttermine der Kinder und die Verabredungen? ... daran erinnert uns der online Familienkalender! In unserer zunehmend digitalisierten Hause sein. Gleichzeitig sind sie dann wird bleiben: das weinende Kind in Welt scheint es doch für jedes Problem jedoch Putzfrau, Koch, Fahrdienst, Leh- den Arm nehmen, mit der Oma lachen, eine vermeintlich schnelle und un- rerin, Gärtner und Hausmeisterin oder dem älteren alleinstehenden Nachbarn komplizierte Lösung lediglich ein paar Altenpfleger zugleich. Am Ende eines einfach mal zuhören. Eine Gesellschaft, Klicks entfernt zu geben, die Organisa- jeden Tages kann man nicht ernsthaft ein Land, eine Volkswirtschaft, eine De- torisches im Privatleben oder im Haus- attestieren, sie hätten nichts getan. mokratie, die diese Dimensionen der halt – die sogenannte Care-Arbeit – für Care-Arbeit nicht wertschätzt oder am uns regelt. Dass die Arbeit, die im Haushalt oder Ende überhaupt nicht mehr vorsieht, ist im Privaten geleistet wird, in der volks- unmenschlich und wenig lebenswert! Aber: Können wir menschliche Fürsor- wirtschaftlichen und gesellschaftlichen ge einfach delegieren? An andere oder Gesamtheit einen eher geringen Stel- Wie aber können wir den Stellenwert an Algorithmen? Fehlt unserer Gesell- lenwert genießt, hat historische Wur- der Care-Arbeit – im Privaten, wie als schaft im Ganzen und einer Familie im zeln und reicht zurück in die Zeit, als Beruf – in unserer Gesellschaft und un- Kleinen dann am Ende nicht vor allem Frauen und Kinder als Besitz des Man- serer Volkswirtschaft verbessern? eines: menschliche Wärme? Kann man nes betrachtet wurden und Tätigkeiten für unpersönliche Zuneigung und Auf- in der privaten Sphäre als nichtselbst- Das Thema muss in all seinen Dimen- merksamkeit dieselbe Dankbarkeit ständige aber zugleich selbstverständ- sionen in der Öffentlichkeit präsenter und dasselbe Glück empfinden, wie für lich galten. Auch wenn dem schon lang und verständlicher werden. Deshalb menschliche und vertraute? nicht mehr so ist, liegt darin der Grund, bin ich dankbar, dass am 28. und 29. warum Pflegekräfte im Krankenhaus Februar 2020 im Rahmen einer zwei- Die Fragen zeigen, wie komplex das oder Erzieherinnen und Erzieher in den tägigen Konferenz der Equal Care Cay Thema Care-Arbeit ist, wie vielschich- Kitas im Vergleich zu Berufen außer- stattfinden wird, denn er wird zu mehr tig unsere Antworten sein müssen. halb der Care-Arbeit schlechter ent- Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit bei- Care-Arbeit findet statt, unbezahlt im lohnt werden. tragen. Ich wünsche dabei allen viele Privaten oder bezahlt als Beruf – die ihr spannende und bereichernde Gesprä- gebührende Wertschätzung erfährt sie Vielleicht lassen sich einzelne Fahrten, che, Arbeitsgruppen, Podiumsdiskussio- jedoch in beiden Bereichen nicht hin- Einkäufe und Tätigkeiten im Haushalt nen und viel Freude! // reichend. Hausfrauen und Hausmänner delegieren und professionalisieren. werden belächelt – ja, sie sagen oft sel- Das Menschliche, Fürsorgliche und // Ihre ber, sie würden „nichts tun“ und nur zu Persönliche an der Care-Arbeit jedoch Elke Büdenbender STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
06 ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN IM POSTPATRIARCHALEN DURCH/EINANDER Wenn ich irgend UND WORUM GEHT ES BEIM HAUSHALTEN? jemanden auf der Straße Als Theologin, die Griechisch gelernt Wenn die Sache so klar ist, warum reden frage, was Ökonomie hat, unterbreche ich mein Gegenüber dann Ökonom*innen ungefähr ab Seite ist, dann wird er oder dann aber: Stopp! Ökonomie leitet sich 2 ihrer Lehrbücher nur noch von kauf- von zwei griechischen Wörtern ab: oikos und verkaufbaren Dingen und lassen sie schnell aufs Geld und nomos. Oikos heißt Haushalt, Nomos die unbezahlte Arbeit weg? Der Grund zu sprechen kommen: heißt Gesetz oder Lehre. Die Oiko-Nomia ist einfach: Unsere Vorfahr*innen leb- auf Banken, Konzerne, ist also die Lehre vom guten Haushal- ten in einer patriarchal organisierten ten. Und worum geht es beim Haushal- Sklav*innenhaltergesellschaft, und wir Aktienkurse oder Lohn- ten? Darum, dass alle bekommen, was haben die Denke der Sklaverei in unse- verhandlungen. sie zum Leben brauchen. Das steht so ren Köpfen bis heute nicht vollständig auf den ersten Seiten der meisten Lehr- verabschiedet. Einer der prominenten Auf all das also, was bücher der Ökonomie. Zum Beispiel im Begründer der Sklaverei war Aristote- man im sogenannten „Grundwissen Wirtschaft“ von Günter les, der einflussreichste Philosoph des „Wirtschaftsteil“ der Ashauer: „Es ist Aufgabe der Wirtschafts- Westens. Im vierten Jahrhundert vor der lehre zu untersuchen, wie die Mittel zur Zeitenwende hat er die Welt in höhere Zeitung lesen kann. Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und niedere Sphären aufgeteilt: Der am sinnvollsten hergestellt, verteilt und freie männliche Bürger, der sich am ge- oder verbraucht werden.“ liebsten mit Politik, Krieg und Ideolo- STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN IM POSTPATRIARCHALEN DURCH/EINANDER 07 gieproduktion beschäftigt, besitzt ein abhängig von sogenannten „Ernährern“ Es ist Aufgabe Haus. In diesem Oikos sorgen abhän- gratis das Notwendige zu tun, zum Bei- der Wirtschaftslehre gige Menschen dafür, dass alle bekom- spiel den diversen Dreck wegzuräumen, men, was sie brauchen. Als abhängig den die Geldwirtschaft hinterlässt. Sie zu untersuchen, gelten Frauen, Sklav*innen, Kinder, dazu sind nicht mehr bereit, die Basisversor- wie die Mittel die Haustiere. Bezahlen muss man die gung in Kindergärten, Krankenhäusern nicht, denn sie gehören ja ihren Herren. und Altersheimen zu Hungerlöhnen zu zur Befriedigung Ihre Arbeit gilt als Natur. leisten, denn sie haben erkannt: Weib- menschlicher lichkeit ist keine Naturressource, Frau- Bedürfnisse am An dieses grundlegende Abhängig- en wollen in Würde leben. Im Übrigen keitsverhältnis schließt sich eine ganze mehren sich die Anzeichen, dass auch sinnvollsten hergestellt, symbolische Ordnung aus höheren und die Natur, also das, woraus wir alle verteilt und ge- niedrigen, freien und abhängigen Sphä- bestehen, das bewusstlose Weiterwirt- oder verbraucht ren an: Der Staat verhält sich zum Haus- schaften auf Kosten des gemeinsamen halt wie die Kultur zu Natur, das Spre- Lebensraumes Welt nicht länger erträgt. werden. chen zum Schweigen, der Herrgott zur Eine Ökonomie, die Care und natürliche Welt, hell zu dunkel, wichtig zu unwich- Lebensgrundlagen ins Abseits schiebt, tig, Kolonialherr zu Kolonie, Verstand zu erfüllt ihren selbstgesetzten Zweck Gefühl, Wissen zu Glauben und so weiter. nicht und muss neu organisiert werden. Es ist nicht einfach, aus dieser Struktur begrifflicher Ehebetten auszusteigen. Das Wort „Durcheinander“ kann man Deshalb bleiben viele lieber drin liegen. auf drei verschiedene Arten verste- Die ganze wissenschaftliche Ökonomie hen: Normalerweise schreibt man es zum Beispiel beruht, von wenigen Aus- in einem Wort. Dann bedeutet es Un- nahmen abgesehen, noch heute auf der ordnung und löst einen Aufräumreflex antiken Zweiteilung der Welt, also auf aus. Man kann es auch in zwei Wörtern der Vorstellung, dass die Erzeugung von schreiben. Dann gibt es einen Hinweis Menschen automatisch in Privathaus- darauf, wie es weitergehen könnte: halten passiert, außerhalb der erhabe- Nicht durch Befehle oder Sachzwänge, nen Sphäre, die sich „Wirtschaft“ nennen sondern durch einander finden wir Wege darf, gesteuert nicht von den vermeint- aus dem postpatriarchalen Durchein- lich notwendigen „finanziellen Anreizen“, ander, in das wir nach dem Kollaps der sondern von ominösen Prinzipien wie zweigeteilten Welt zum Glück endlich „Mutterliebe“ oder „Fürsorglichkeit“. geraten sind. Und schließlich kann man kann das Durcheinander in drei Wörtern Allen Schwierigkeiten zum Trotz ist der schreiben, obwohl das grammatikalisch Ausstieg aus der Zweiteilung heute nicht ganz korrekt ist: Durch ein ANDER. aber im vollen Gange. Denn wir befin- Dann kommt das wieder herein, was den uns nicht mehr im Patriarchat, son- mir als abtrünniger Theologin wichtig dern im postpatriarchalen Durcheinan- ist: das Göttliche. Jetzt aber nicht mehr der: Die Sklaverei ist abgeschafft, die als herrischer Herrgott, sondern als Menschenrechte sind verkündet und das ANDERE, das uns weiterhilft, wenn zumindest auf dem Papier fast überall wir uns vor lauter Durcheinander nicht anerkannt. Frauen haben aufgehört, mehr auskennen. // // Von Dr. theol. Ina Praetorius Germanistin und konfessionslose Theologin. Sie lebt in der Schweiz, arbeitet als freie Autorin und Referentin und setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass Care-Arbeit in die Mitte der Ökonomie gerückt wird, wo sie hingehört. Im Dezember 2015 hat sie den Verein WiC „Wirtschaft ist Care“ mitgegründet. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
08 ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN1 Vorbemerkung: In ihrem „HAUSFRAUEN ARBEITEN TATSÄCHLICH.“ grundlegenden Sammel- Einer gängigen Antwort auf die Frage Verallgemeinerungen, die sich über die band „The Majority Finds „Arbeiten Sie?“, nämlich „Nein, ich bin Stellung von Frauen in der Gesellschaft Its Past“ schloss Gerda bloß Hausfrau“, setzte Lerner entgegen: machen lasse, ungeachtet von deren Lerner auch einen Aufsatz „Hausfrauen arbeiten tatsächlich.“ Und ansonsten höchst unterschiedlicher solange Frauen für unbezahlte Haus- Situation. Zur Jahrtausendwende kam von 1977 über die histori- arbeit zuständig sind, werde sämtliche Lerner wieder auf dieses Thema zurück, sche Figur der Hausfrau Frauenarbeit entwertet; dies sei gera- diesmal aber mit Bezug auf den Platz ein; zu dieser Zeit und dezu die Wurzel des „Frauenproblems“, der Frauen innerhalb der nunmehr neu und auch die damals in den USA und entstehenden „World History“. In der Tat spätestens mit diesem Europa verbreitete Forderung nach „wa- ist – trotz allen seitherigen Wandels und Text war die „unpaid ges for housework“ verbleibe lediglich aller Unterschiedlichkeiten der globa- an seiner Oberfläche. Dass die überwäl- len condition féminine – die häusliche, labor of love“ zu einem tigende Mehrheit der Amerikanerinnen, die Versorgungs- und Sorge-Arbeit so- wichtigen Thema der neu kaum aber Männer, unbezahlte Haus- wie das, was man unter „labor of love“ entstehenden Frauen- und arbeit verrichten, sei eine der wenigen zu verstehen pflegt, weltweit in der Re- Geschlechtergeschichte Auszug eines Textes von 1976, wieder aufgelegt in: Bock, Gisela. Geschlechtergeschichten 1 geworden. der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN 09 gel die Aufgabe des einen Geschlechts Für den größeren Teil der weiblichen bungen und ihre Konsequenzen für (geblieben oder geworden) ist: sowohl Bevölkerung blieb zur Zeit der frühen die Geschichte der Hausarbeit und der wenn sie im eigenen Haushalt unbe- Industrialisierung und noch lange da- Hausarbeiterinnen zwischen dem letz- zahlt, als auch wenn sie in einem frem- nach die Grenze zwischen häuslicher ten Drittel des 19. Jahrhunderts und den Privat- oder öffentlichen Haushalt unbezahlter Arbeit und außerhäus- dem ersten des 20. Jahrhunderts lassen gegen (meist schlechte) Bezahlung ver- licher, bezahlter Arbeit fließend. Die sich am Beispiel der häuslichen Arbeit richtet wird, heutzutage oft im Kontext Kategorie der häuslichen oder haus- der Dienstboten verdeutlichen, und transnationaler Migrationsbewegungen. haltsnahen, aber (meist bescheiden) zwar im Zusammenhang mit der begin- bezahlten Arbeit war sehr verbreitet. nenden Mechanisierung des Haushalts. Als Lerner in den 1970er Jahren schrieb, Dazu gehörte im 19. Und frühen 20. tat sie das im Einklang mit einem inter- Jahrhundert etwa der Beruf der selb- Die Mechanisierung des Haushalts nationalen Interesse an jenen Fragen ständigen Näherin und Wäscherin, dann machte seit Mitte des 19. Jahrhunderts und einem Forschungstrend, der nur vor allem das Phänomen der „boarders“ mächtige Fortschritte, wie der große wenige Jahre lang anhielt und für die und „lodgers“, Kostgänger und Inwoh- Architekturhistoriker Siegfried Giedion nordamerikanische Geschichte zu meh- ner, für welche die Hausfrau bezahlte umfassend gezeigt hat. Für eines der reren Standardwerken führte. Standen Arbeit verrichtete. Eine weitere wich- wichtigsten arbeitssparenden Gerä- sie anfänglich im Kontext der Geschich- tige häusliche Einkommensquelle von te, die Waschmaschine, gab es in den te von Arbeit, so später im Kontext der Frauen waren die verschiedenen For- 1860er Jahren 2.000 Patentanmeldun- Geschichte des Sozialstaats. Bei Susan men gewerblicher Heimarbeit („sweat- gen. Ihre Wirkung bestand nun aber Strasser stand die technologische Ent- shop“), die erst seit den 1920er Jahren keineswegs, wie häufig angenommen wicklung im Zentrum, bei Ruth Cowan und vor allem in der Folge zahlreicher wird, darin, dass nun die zuvor hart „die Erfindung der Hausarbeit“ und bei Frauenstreiks gegen die miserablen Ar- arbeitende Hausfrau zur „idle woman“ Molly Ladd-Taylor die „Mutter-Arbeit“. beitsbedingungen allmählich abgebaut wurde oder auch „freigesetzt“ wurde Ein bemerkenswerter Sprachwandel wurde. Die Veränderung in der weibli- für die sogenannten produktiven Beru- ergab sich: Im Englischen war nunmehr chen Familien- und Arbeitssituation in fe außer Haus. Vielmehr befanden sich die Rede von „paid“ und „unpaid work“ unserem Zeitraum ist also keineswegs die meisten mechanischen Haushalts- (und nicht mehr nur von „work and fa- lediglich die bekannte Verschiebung geräte bis hin zur Jahrhundertwende in mily“), im Deutschen ebenso oder auch von unbezahlter häuslicher Arbeit zur den Händen einer recht kleinen Gruppe von „Erwerbsarbeit“ und „Hausarbeit“; zusätzlichen und entlohnten Arbeit als von Wohlhabenden, die allerdings zah- beides galt nicht nur in der Wissen- Teil der außerhäuslichen „labour force“, lenmäßig sehr schwer zu erfassen ist. schaftssprache. Inzwischen ist der letz- ein Weg, der gängigerweise, aber mei- In diesen Haushalten wurde ein großer tere Sprachwandel weitgehend rück- nes Erachtens zu Unrecht, als der einzig Teil der Hausarbeit ohnehin und tra- gängig gemacht worden: Jedenfalls ist wahrhafte Weg der Frauenemanzipati- ditionell den Dienstboten übertragen, in der deutschen Medienöffentlichkeit on angesehen wird. Vielmehr handelt und die Hausherrin hatte nicht so sehr praktisch nur noch von „Arbeit“ und es sich außerdem um zwei weitere mit der häuslichen Arbeit selbst als mit „Nichtarbeit“ oder „Arbeit“ und „Zuhau- einschneidende Verschiebungen: die- der Aufsicht über die fast immer weibli- sebleiben“ die Rede. Vor diesem Hinter- jenige von bezahlter Arbeit im Haus chen und meist aus Übersee eingewan- grund mag der folgende Text[auszug] zu unbezahlter Arbeit außer Haus, und derten oder schwarzen (oft vom Süden aus dem Jahr 1976 vielleicht noch ein- schließlich die von bezahlter Arbeit im in den Norden gewanderten) Dienst- mal Beachtung erfahren: Haus. Die beiden letzteren Verschie- boten zu tun. (Für das 19. Jahrhundert kann man im Übrigen geradezu von ei- ner Feminisierung des Dienstbotenbe- rufs sprechen.) Die mechanischen Ge- räte der Frühzeit ersparten also nicht Für eines der wichtigsten arbeitssparenden Geräte, die Wasch- die Arbeit der Hausherrin, sondern die Arbeit von „Dienst“- oder „Hausmäd- maschine, gab es in den 1860er Jahren 2.000 Patentanmeldungen. chen“, von domestic servants (über Ihre Wirkung bestand nun aber keineswegs, wie häufig angenommen deren vermeintliche Unfähigkeit, mit wird, darin, dass nun die zuvor hart arbeitende Hausfrau zur den neuen Maschinen umzugehen, oft geklagt wurde). Die Zahl dieser Haus- „idle woman“ wurde oder auch „freigesetzt“ wurde für die angestellten verringerte sich bis in die sogenannten produktiven Berufe außer Haus. 1920er Jahre drastisch, was – keines- STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
10 ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN Was sich am Beispiel des Verhältnisses von Mechanisierung arbeit herstellten, mochten zuweilen dieselben sein, die kurz zuvor noch für und „servant problem“ zeigt, ist also ein Prozess, in dessen die Herrschaft gefegt hatten. Ihre Löhne Verlauf sowohl aus der Hausherrin wie aus der Hausdienerin waren nun zwar höher als zuvor, reich- eine Hausfrau wird, die im eigenen Heim unbezahlte Haus ten jedoch für eine anständige Existenz kaum aus. Aber Fabrikarbeit und später arbeit selbst und „aus Liebe“ verrichtet. die Ehe eröffneten ihnen jetzt die Mög- lichkeit, einen eigenen Hausstand zu gründen, privat zu leben und unabhän- gig von der Herrschaft zu sein: Dies war der Weg von der entlohnten Hausarbeit wegs nur in den USA – zu dem soge- Beecher Stowe (bekannt als Autorin von in einem fremden Familienbetrieb zur nannten „servant problem“ führte, der „Onkel Toms Hütte“) und ihre Schwester unbezahlten Hausarbeit in der eigenen Verknappung des Angebots an Haus- Catherine E. Beecher beschrieben 1869, Familie, vom Hausmädchen zur Haus- angestellten. Und in einer immer grö- unter dem Titel „The American Woman‘s frau. ßeren Anzahl von Haushalten zog die Home“, diese „resistance which demo- Herrin es vor, die Hausarbeit selbst zu cracy inspires in the working class“, Was sich am Beispiel des Verhältnis- verrichten, wenn auch mit besseren Ge- womit sie die Aufsässigkeit der Dienst- ses von Mechanisierung und „servant räten als zuvor. Dies aber war der Über- boten meinten: „Life became a sort of problem“ zeigt, ist also ein Prozess, in gang von der Hausherrin zur Hausfrau, domestic wrangle and struggle bet- dessen Verlauf sowohl aus der Haus- von der Aufsicht über bezahlte Arbeit ween the employers [...] and the em- herrin wie aus der Hausdienerin eine anderer Frauen zur eigenen unbezahl- ployed [...] and a common topic of con- Hausfrau wird, die im eigenen Heim ten Hausarbeit. versation in American female society unbezahlte Hausarbeit selbst und „aus has often been the general servile war Liebe“ verrichtet. Dieser Prozess lässt Aus der Perspektive der Dienenden war, which in one form or another was go- sich beschreiben als eine tendenzielle wie ein Zeitgenosse 1906 schrieb, das ing on in their different families – a war Homogenisierung der Situationen von „servant problem“ auch ein „servant‘s as interminable as would be a strugg- sozial ganz unterschiedlich gestellten problem“ – nämlich ein Problem nicht le between aristocracy and common Frauen in Bezug auf die Hausarbeit, Er- nur für die Herrschaft, sondern für die people, undefined by any bill of rights gebnis nicht nur einer technisch-orga- Dienstboten selbst: Niedrige Löhne, or constitution.“ Die Mechanisierung nisatorischen Modernisierung, sondern zum Teil in Naturalien beziehungs- bot der Hausherrin eine Lösung dieser ebenso sehr konkreter sozialer Kon- weise Kost und Logis ausbezahlt, lang Form von „class struggle“ oder schärfer flikte und Antagonismen – auch unter ausgedehnte und vor allem nicht fest- ausgedrückt: Die Mechanisierung des Frauen. […] Diesen historischen Prozess gelegte Arbeitszeiten, Abhängigkeit von Haushalts ergab sich nicht so sehr aus resümierte 1973 John Kenneth Galb- der Herrschaft auch im persönlichen einem quasi-autonomen wissenschaft- raith, ein scharfsinniger Soziologe und Bereich, wohl auch eine beträchtliche lich-technischen Fortschritt, sondern Ökonom: „Die Umwandlung der Frauen Anzahl unehelicher Geburten – das war auch eine Antwort auf das Verhal- in eine auf unsichtbare Weise dienende war die Existenz der Dienstboten. Sie ten der Dienstboten zu dieser Zeit, wie Klasse war eine ökonomische Leistung verfügten dagegen über zwei Mittel: im Übrigen auch Giedion ausführt („The ersten Ranges. Dienstboten für gesell- Entweder wichen sie in einen anderen mechanization of the household had its schaftlich unterbewertete Arbeiten Beruf aus, und in diesem Fall waren es starting point in social problems: the standen einst nur einer Minderheit der hauptsächlich Fabrikarbeit oder Pros- status of American women and the sta- vorindustriellen Bevölkerung zur Verfü- titution, die ihnen offenstanden. Oder tus of domestic servants.“) gung; eine dienstbare Hausfrau steht aber sie leisteten offenen oder versteck- jedoch heute auf ganz demokratische ten Widerstand gegen die Ausbeutung Die Frauen, die in den zwanziger Jahren Weise fast der gesamten männlichen an ihrem Arbeitsplatz Haushalt. Harriet Staubsauger in Fabrik- und Fließband- Bevölkerung zur Verfügung.“ // // Von Dr. Gisela Bock Professorin für Neuere Geschichte, sie lehrte bis 2007 an der Freien Universität Berlin. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
11 SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT Die Schweizer Theologin Ina Praetorius wirft völlig zurecht die Frage auf, wie es eigentlich GESELLSCHAFTLICHE WERTSCHÖPFUNG dazu kommen konnte, Auf Basis der repräsentativen Zeitver- toinlandsprodukt (BIP) enthaltenen dass die Ökonomie als wendungsstudien des Statistischen gesamten Bruttowertschöpfung von Leitwissenschaft gerade Bundesamtes wurde ermittelt, dass Staat und Wirtschaft in Deutschland3. die in Deutschland lebende Bevöl- Dieser Anteil geht jedoch nicht in das jene Tätigkeiten zur kerung im Jahr 2013 insgesamt 35 % BIP als Wohlstandsmaß der Nation ein, Bedürfnisbefriedigung mehr Zeit für unbezahlte Haus- und was ohne Zweifel die Geringschätzung außer Acht lässt und Sorgearbeit aufgewendet hat als für der unbezahlten Sorgearbeit und ihre bezahlte Erwerbsarbeit. Die dadurch Wahrnehmung als einer vermeintlich bestenfalls als „legale entstehende gesellschaftliche Wert- unbegrenzt verfügbaren Ressource be- Schattenwirtschaft“ schöpfung ist beträchtlich und beträgt fördert. Die Schweizer Theologin Ina rechnerisch 987 Milliarden Euro2. Das Praetorius wirft völlig zurecht die Fra- deklariert, die in den entspricht immerhin 39 % der im Brut- ge auf, wie es eigentlich dazu kommen Privathaushalten geleis- tet werden und ohne die Für die Bewertung der unbezahlten Arbeit wurde ein durchschnittlicher Nettostundenlohn von 9,25 2 kaum jemand als Kind Euro für eine hauswirtschaftliche Fachkraft angesetzt. Würde der Nettodurchschnittslohn der erwerbs- tätigen Bevölkerung zu Grunde gelegt, wäre die erzielte Bruttowertschöpfung erheblich höher. überleben könnte? Statistisches Bundesamt: Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland. Wiesba- 3 den, 2017. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
12 SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT Ein „Alleinverdiener“ lebt hierfür in einer „Versorgerehe“ mit einer „Hausfrau“ zusammen, welche die private Sorgearbeit beinahe komplett übernimmt. Mit dem steigenden Bildungsniveau von Frauen hat sich dieses Leitbild in den letzten Jahrzehnten in Richtung „Zuverdienst“ verändert. konnte, dass die Ökonomie als Leitwis- dertagesstätten, Ganztagsschulen oder von Frauen hat sich dieses Leitbild in senschaft gerade jene Tätigkeiten zur Pflegeeinrichtungen. Hier tut sich ein den letzten Jahrzehnten in Richtung Bedürfnisbefriedigung außer Acht lässt weiteres Problemfeld auf: denn auch „Zuverdienst“ verändert. Aus gleich- und bestenfalls als „legale Schatten- die erwerbsförmig organisierte Sorge- stellungspolitischer Sicht bedeutet wirtschaft“ deklariert, die in den Privat- arbeit leidet bundesweit an mangeln- dies jedoch lediglich eine Variation des haushalten geleistet werden und ohne der gesellschaftlicher Wertschätzung, Familienernährer-Modells. So bleibt für die kaum jemand als Kind überleben was sich unter anderem an einer hohen den meist männlichen Familienernäh- könnte?4 Sorgende Tätigkeiten sind zu- Arbeitsverdichtung bei schlechter Be- rer weiterhin kaum Zeit für die Familie dem keine unerschöpfliche Ressource, zahlung im Vergleich zu männlich kon- und die meist weibliche Zuverdienerin wie sich im Zeitverlauf zeigt: Im Ver- notierten Berufen niederschlägt. kann trotz der Last, Teilzeiterwerbsar- gleich zu 1992 ging der Umfang an un- beit und familiale Sorgearbeit verein- bezahlter Arbeit um fast 13 Prozent zu- Lange Zeit haben sich in der Bundes- baren zu müssen, kaum eine substanti- rück. Darin spiegelt sich der Rückgang republik staatliche Regelungen wie die elle Erwerbsbiographie aufbauen, ihre der Kinderzahlen zwischen 1992 und Steuerpolitik, Institutionen und kultu- eigene Existenz sichern und sich beruf- 2013 von 10,6 Millionen auf 8,3 Milli- relle Wertvorstellungen am Leitbild des lich selten entwickeln. Das Modell der onen. Hinzu kommt, dass offensichtlich „Familienernährers“ orientiert. Diesem „universellen Erwerbstätigkeit“ (adult ein Teil der in den Privathaushalten an- Leitbild gemäß wird Sorgearbeit weit- worker model) wiederum sieht für alle fallenden sorgenden Tätigkeiten inzwi- gehend privat organisiert, das heißt in Personen eine Vollzeiterwerbstätig- schen auf den legalen oder informellen Paar- und Familienbeziehungen. Ein keit vor, ohne zu berücksichtigen, dass Arbeitsmarkt übertragen wird, das heißt „Alleinverdiener“ lebt hierfür in einer sich Menschen in einem bestimmten an eine dritte Person (oft mit einer fa- „Versorgerehe“ mit einer „Hausfrau“ Umfang um die eigenen Kinder oder miliären Migrationsgeschichte) oder zusammen, welche die private Sorge- pflegebedürftige Angehörige kümmern an Beschäftigte in Dienstleistungsbe- arbeit beinahe komplett übernimmt. oder einen Teil der Hausarbeit selbst trieben personaler Versorgung wie Kin- Mit dem steigenden Bildungsniveau erledigen wollen. Praetorius, Ina: Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen. Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 16, Berlin, 2015 4 (Heinrich Böll-Stiftung), S. 10. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT 13 Die Gleichstellungskommission5 hat Aufgrund bestehender Lohnunterschiede sowie deshalb eine neue Variante vorgeschla- gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen gen und verwendet dafür den Begriff „Erwerb-und-Sorge-Modell“ (earner-car- sind es jedoch überwiegend Frauen, die von diesen er-model). Viele junge Frauen und Män- Instrumenten Gebrauch machen. Die Folge sind ner erwarten heute, dass sie sich nicht nur gleichberechtigt im Berufsleben lange Unterbrechungen in ihren Erwerbsbiographien, einbringen können sondern auch, dass geringe berufliche Entwicklungsperspektiven und eine der Beruf das Private nicht vollständig erhebliche Lohn- und Rentenlücke. Deshalb kommt es dominiert. Frauen wollen sich beruflich entwickeln und in allen Branchen und immer auf die konkrete Ausgestaltung von vereinbar- auf allen Ebenen tätig sein können. Män- keitspolitischen Instrumenten an. ner wollen Sorgearbeit leisten können, ohne dabei stereotypisierender Abwehr am Arbeitsplatz zu begegnen. Beide wol- len nicht in ökonomische Sackgassen geraten. Lebenslauftheoretisch gesehen geht es deshalb um die Auflösung der ausgegangen, dass das, was die Verein- Das Erwerb-und-Sorge-Modell heißt traditionell nach Geschlecht getrennten barkeit fördere, auch der Geschlech- auch: Die nachweislich bestehenden Lebenswege und um eine Neujustierung tergerechtigkeit dient. Diese Annahme Probleme der Aufteilung von Erwerbs- sämtlicher, den Lebenslauf begleiten- trifft in dieser Pauschalität jedoch nicht und Sorgearbeit sind keine Privatan- der Institutionen und Regelungen, so zu. So ermöglichen großzügige und un- gelegenheit, die von den Einzelnen dass die Verbindung von Bildungs-, Er- bezahlte Freistellungsmöglichkeiten irgendwie bewältigt werden müssen. werbs- und Sorgearbeit als Grundmuster zwar mehr Zeit für die Familie. Auf- Stattdessen werden Rahmenbedingun- der Biographie einer Person – und zwar grund bestehender Lohnunterschiede gen erforderlich, die es ermöglichen, unabhängig vom Geschlecht – in unter- sowie gesellschaftlicher Normen und ein Erwerb-und-Sorge-Modell ohne schiedlichen Mischungen und mit flexi- Wertvorstellungen sind es jedoch über- Überforderung leben zu können und blen Übergängen gelebt werden kann. wiegend Frauen, die von diesen Instru- zwar unabhängig vom Geschlecht. Die menten Gebrauch machen. Die Folge Umsetzung des Erwerb-und-Sorge- Dafür braucht es konsistente Rah- sind lange Unterbrechungen in ihren Modells setzt eine verlässliche, alltags- menbedingungen, die es Menschen Erwerbsbiographien, geringe berufliche unterstützende Infrastruktur mit quali- ermöglichen, gleichberechtigt an der Entwicklungsperspektiven und eine er- fizierten Beschäftigten in den Berufen Erwerbsarbeit teilzuhaben, ohne dafür hebliche Lohn- und Rentenlücke. Des- der Sozialen Arbeit, der Hausarbeit, Ge- auf private Sorgearbeit verzichten zu halb kommt es immer auf die konkrete sundheit, Pflege und der Kinderbetreu- müssen. Deshalb gehören auch Maß- Ausgestaltung von vereinbarkeitspoli- ung und -erziehung voraus. Aus diesem nahmen zur Vereinbarkeit unter Gleich- tischen Instrumenten an: Wie wirkt die Grund hat die Sachverständigenkom- stellungsaspekten auf den Prüfstand. Vereinbarkeitspolitik auf die Aufteilung mission auch nachdrücklich für eine In der Debatte um eine bessere Work- von Erwerbs- und Sorgearbeit und die Neubewertung und Aufwertung dieser Life-Balance wird derzeit häufig davon Geschlechtergleichstellung? Sorgeberufe plädiert. // // Von Uta Meier-Gräwe Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung und der Enquete-Kommission „Zukunft der Familienpolitik in NRW“ der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Sie war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitete von 2013 -2018 das Kompetenzzentrum zur Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg): Erwerbs- und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten. Zweiter Gleichstellungsbericht 5 der Bundesregierung. Berlin, 2017. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
14 SORGEGERECHTIGKEIT BRAUCHT BEZAHLUNG! GESCHLECHTERGERECHTE AUFTEILUNG DER SORGEZEIT Bislang gilt die männliche Biografie Welche Anreize für eine geschlechterge- nehmung ihrer individuellen Zeitoptio- mit durchgängiger Vollzeitarbeit als rechte Aufteilung der Sorgezeit für Väter nen überwinden helfen würde. Zudem „Normalbiografie“, die typisch weibli- und männliche Sorgepersonen müssten sind mit Nicht-Erwerbsarbeit meist che Biografie dagegen ist von Unter- in einem solchen Modell enthalten sein? erhebliche Einkommensverluste oder brechungen, von Teilzeitarbeit und als Wie könnte verhindert werden, dass -einbußen verbunden. Es braucht also Abweichung von der Norm gekenn- auch das Care-Zeit-Budget vor allem von eine durchdachte Entgeltersatzstruktur, zeichnet. Um Sorgearbeit im Privaten Frauen genutzt wird? Und wie ließe sich denn der finanzielle Rahmen, den ein geschlechtergerechter zu verteilen, die notwendige finanzielle Absicherung Optionszeiten-Budget erhalten muss, müssen Erwerbsverläufe und das Ver- der Sorgezeiten gewährleisten? ist von grundsätzlicher Bedeutung, um hältnis von Erwerbsarbeit und Sor- bedarfsgerecht wirksam zu werden: Ein gearbeit im Lebenslauf neu gestaltet Insgesamt weisen gegenwärtige Be- gerechter Finanzierungsrahmen muss werden – im Sinne eines rechtlichen urlaubungs- und Freistellungsansprü- erstens fair verteilen, wem die Lasten Anspruchs auf bezahlte Sorgezeiten. che zwei zentrale Wirkungsdefizite auf. welcher Ziehungsrechte auferlegt wer- Ein solches Optionszeiten-Modell Einmal sind die förmlich garantierten den, sowie zweitens Einkommen so mit einem „Care-Zeit-Budget“ könnte Rechte nicht in einer Weise ausgestal- gestalten, dass die Ziehung von Opti- atmende Lebensläufe für beide Ge- tet, dass von ihnen tatsächlich Gebrauch onszeiten für alle eine reale Durchset- schlechter ermöglichen6, wenn für jede gemacht wird, weil eine kollektive Un- zungschance erhält. und jeden über die Erwerbsbiografie terstützung bei der Wahrnehmung hinweg per „Ziehungsrechten“ ein noch fehlt, also zum Beispiel ein betriebli- Bereits aus dem geltenden Recht von zu bestimmendes Zeitkontingent für ches oder tarifliches Unterstützungs- Ziehungsrechten lässt sich ein erster Ver- Sorge für andere, für Selbstsorge und gefüge, das die Scheu und Schwäche teilungsrahmen extrapolieren. Er diffe- für Weiterbildung abrufbar wäre. einzelner Beschäftigter bei der Wahr- renziert nach den Zwecken, für die diese siehe Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (Hrsg.): Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf. Abschlussbericht des Forschungsprojekts im Rahmen 6 des „Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“ (FIS) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bremen/München, 2020. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
SORGEGERECHTIGKEIT BRAUCHT BEZAHLUNG! 15 Ziehungsrechte eingeräumt werden, be- Unternehmen in gewissem Rahmen die sozial selektiv greift. Auch wenn man wertet diese Zwecke nach gesellschaft- Lasten von Herstellung und Wiederher- sich grundsätzlich an der oben genann- lichen Wert- und Nützlichkeitskriterien stellung der Arbeitskraft Beschäftigter ten Dreigliederung orientiert, kommt und bestimmt daraus, wer die jeweiligen auferlegt. Deshalb werden der Gesell- man bei einem System von Ziehungs- Lasten zu tragen hat. Bei dieser Systema- schaft in gewissem Rahmen die Lasten rechten ohne gleichzeitige Orientierung tisierung hilft das „Drei-Ringe-Modell“. der von ihr gewünschten Zeitoptionen an einem situativen Grundeinkommen für die demographische Entwicklung bzw. einem erwerbsunabhängigen Min- In der notwendigen Typisierung können und den gesellschaftlichen Zusammen- desteinkommen nicht vorbei – und zwar wir die Zwecke, denen die Zeitoptionen halt auferlegt. Und deshalb werden den aus zwei Gründen. Erstens werden Zie- dienen, in drei große Gruppen einteilen. Menschen selbst die meisten Lasten für hungsrechte eingeräumt, um dem ge- Eine erste Gruppe von Freistellungen ihre Selbstsorge auferlegt. Allgemein sellschaftlich wünschenswerten Ziel dient Anliegen von Unternehmen – etwa folgt aus diesen Überlegungen, dass der Stärkung von Care und dem gesell- wenn es um die Erhöhung der beruflichen mit Ziehungsrechten ein gemischtes schaftlichen Zusammenhalt näherzu- Qualifizierung oder auch um die Wie- System der Finanzierung (Entgelt-, Ent- kommen. Zweitens darf das System der derherstellung der Arbeitskraft von Be- geltersatzzahlung etc.) einhergehen Ziehungsrechte weniger verdienende schäftigten geht. Eine zweite (und immer muss. Der Wegfall oder die Minderung Bevölkerungsteile nicht ausschließen. wichtiger und umfangreicher werdende) des Erwerbseinkommens, die durch den Eine Förderung gesellschaftlicher nicht- Gruppe von Zeitoptionen dient der Ge- Gebrauch von Ziehungsrechten im Re- erwerblicher Care-Arbeit verlangt eine sellschaft – etwa politische Ehrenämter, gelfall entstehen, wird entsprechend qualitativ andersartige Entkoppelung zunehmend aber auch die Sorgetätigkeit dem Kriterium kompensiert (oder auch von Einkommen und Erwerbsarbeit, für Kinder und Ältere sowie Ehrenämter nicht kompensiert), wem die Nutzung als sie gegenwärtig besteht. Damit ist im sozialen Sinne. Eine dritte Gruppe von der Ziehungsrechte zugutekommt: nicht die Frage eines bedingungslo- Zeitoptionen dient eher den Individuen sen Grundeinkommens allgemein auf- selber – etwa wenn es um Sabbatjahre, Ein gerechter Finanzierungsrahmen geworfen – vielmehr geht es um eine Auszeiten und Selbstsorge geht. muss aber nicht nur fair verteilen, wem finanzielle Mindestausstattung in sol- die Lasten welcher Ziehungsrechte auf- chen Zeiten, für die Ziehungsrechte in Im Sinne einer gerechten Verteilung erlegt werden, sondern er muss Einkom- Anspruch genommen werden: das soge- sollte die Lasten tragen, wer von der men so gestalten, dass die Ziehung der nannte „situative Grundeinkommen“. Ein Wahrnehmung des Ziehungsrechts in Optionszeiten eine reale Durchsetzungs- solcher, über den Hartz IV-Leistungen erster Linie profitiert. Deshalb werden chance erhält und bedarfsgerecht, nicht liegender Sockel soll nicht lediglich für Selbstsorgezeiten anwendbar sein. Er führt vielmehr bei Arbeitslosen und Niedrigverdiener*innen zu einer Aufsto- Drei-Ringe-Modell ckung ihres Einkommens, wenn und so- Tätigkeit für sich lange sie Tätigkeiten verrichten, für die (z . B. Muße) Ziehungsrechte bestehen. Dieser finan- » Eigenfinanzierung/ situatives Grundeinkommen zielle Anreiz wirkt dem Ausschluss die- ser Personenkreise aus dem System des Optionszeiten-Budgets – und damit der Tätigkeit zugunsten Unternehmen sozialen Segmentierung des Systems (z . B. Weiterbildung) der Ziehungsrechte – entgegen. Er mil- » Entgelt dert zugleich für alle Verdienstgruppen den Entgeltverlust bei Tätigkeiten, die dem äußeren Ring im Drei-Ringe-Mo- Tätigkeit zugunsten dell entsprechen, ab. // Gesellschaft (z . B. Kinder- und Altenpflege, Gemeinwohl) // Von Karin Jurczyk » Lohnersatz/ Soziologin, bis Mai 2019 war sie Leiterin der Steuermittel Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut, derzeit ist sie aktiv im Initiativkreis Care.Macht.Mehr sowie im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
16 RAUS AUS DER CARE-ARBEIT DENKFALLE KLARWERDUNG EIN PROZESS Wenn wir das Wort Wie problematisch die Bilder sind, die würde hier etwas stattfinden, das gar wir selbst rund um das Thema Care- nicht in unsere Welt passt. Vincents „Putzkraft“ hören, Arbeit in uns tragen, ist uns erst spät Frau war in den letzten Jahren auf ver- denken wir nach wie klargeworden. Ehrlich gesagt, ist diese schiedenen Babyshowers eingeladen vor zu oft automatisch Klarwerdung ein Prozess, in dem wir – partyähnlichen Zusammenkünften, noch tief drinstecken. Es ist gar nicht bei denen einer werdenden Mutter Ge- an eine Frau – in der so einfach, Muster, Erwartungen und schenke, aber auch Tipps und Tricks für Regel an eine aus Verhaltensweisen zu entlernen, die uns den anstehenden Nachwuchs überge- ländische Frau. so „normal“ vorkommen, mit denen wir ben und vermittelt werden. Interessant aufgewachsen sind, die wir nie infrage nur: Es sind normalerweise keine Män- stellen mussten oder die ständig medi- ner dabei – als hätten diese weder Teil al transportiert werden. Wenn wir das an Kindeserziehung noch irgendetwas Wort „Putzkraft“ hören, denken wir nach Nützliches dazu beizutragen. wie vor zu oft automatisch an eine Frau – in der Regel an eine ausländische Frau. Martin ist in einem kleinen mittelfrän- Das eine Mal, als ein Mann in Martins kischen Ort aufgewachsen. Damals in WG sauber gemacht hat, hat sich das den frühen 1990ern kannte er keinen fast merkwürdig angefühlt – so, als einzigen Mann, der zu Hause blieb und STREITKULTUR ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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