STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV

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STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
ZU M EQUAL CAR E DAY 2 02 0

STREITKULTUR
                . FE B R U A R , C O LL EG IU M LE O N IN U M , B O N N
  28 . U N D 29

                                                           WEGE IN EINE
                                                ANSTÖSSE

                                                           FÜRSORGLICHE
                                                           DEMOKRATIE
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STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
02 INHALTSVERZEICHNIS

  VORWORT        // Almut Schnerring & Sascha Verlan
S. 03-04

  GRUSSWORT          // Elke Büdenbender
S. 05

   ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN IM POSTPATRIARCHALEN DURCH/EINANDER                                     // Ina Praetorius
S. 06-07

   ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN                                   // Gisela Bock
S. 08-10

  SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT                 // Uta Meier-Gräwe
S. 11-13

  SORGEARBEIT BRAUCHT BEZAHLUNG!                     // Karin Jurczyk
S. 14-15

  RAUS AUS DER CARE-ARBEIT DENKFALLE                    // Martin Speer & Vincent-Immanuel Herr
S. 16-17

  PUPPEN HABEN KEINE VÄTER – FRÜHKINDLICHE PRÄGUNGEN                             // Almut Schnerring & Sascha Verlan
S. 18-20

  MEIN GENDER CARE GAP ALS ALLEINERZIEHENDE? UNENDLICH!                            // Christine Finke
S. 21-22

  EQUAL CARE DAY KONFERENZ IN BONN
S. 23-26

  DO YOU EQUAL CARE?! DER MENTAL LOAD-SELBSTTEST                         // Johanna Lücke
S. 27-29

  GEMEINSAM GEGEN ALTE ROLLENMUSTER – EQUAL CARE UND KLISCHEEFREIE BERUFSWAHL                                         // Václav Demling
S. 30-31

  WIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ DIE BERUFSWAHL VON FRAUEN BEEINFLUSST                                 // Alexandra Geese
S. 32-33

  „NICHTS ÜBER UNS OHNE UNS!“                 // Interview mit Raúl Krauthausen
S. 34-35

  PROFESSIONELLE CARE-ARBEIT ALS SPIEGELBILD DER UNSICHTBAREN CARE-ARBEIT                                     // Edith Kühnle
S. 36-37

  EQUAL CARE FOR FUTURE – WAS HAT DER CARE GAP MIT DER KLIMAKRISE ZU TUN?                                  // Angela Häußler
S. 38-39

  SELBST SCHULD?! WAS DER LEBENSMITTELEINKAUF MIT „CARE“ ZU TUN HAT                                // Martin Rücker
S. 40-41

   CARE REVOLUTION – VON DER SORGEARBEIT AUS DIE GESELLSCHAFT VERÄNDERN!                                   // Gabriele Winker
S. 42-43

  BERICHTE VON PARTNER*INNEN UND KOLLEG*INNEN                          // Suzan Lara Tunç & Paulina Fröhlich
S. 44-46

IMPRESSUM
Die STREITKULTUR wurde gegründet vom Verein für politische Bildung und Information Bonn e. V. (VPI Bonn)
und ist heute eine Publikation der Willi-Eichler-Akademie e.V.
Herausgeber: Willi-Eichler-Akademie e.V. ,
Venloer Wall 15, 50672 Köln, Tel.: 0221-168 898 70, E-Mail: kontakt@web-koeln.de
Redaktion: Martin Schilling (verantwortl.), Dr. Sebastian Scharte, Almut Schnerring, Sascha Verlan, E-Mail: redaktion@streitkultur-magazin.de
Layout, Satz: Regina Fischer
Fotonachweise: Helene Souza/pixelio.de (S. 6, 26), Luise Pfefferkorn/pixelio.de (S. 8), Rainer Sturm/pixelio.de (S. 11, 22, 32, 38), Schemmi/pixelio.de (S. 12),
S. Hofschlaeger/pixelio.de (S. 14), Klaus Steves/pixelio.de (S. 16), Monika Koranzki/pixelio.de (S. 18), Erysipel/pixelio.de (S. 22), Klicker/pixelio.de (S. 28, 30),
Redsheep/pixelio.de (S. 34), Erwin Lorenzen/pixelio.de (S. 36), Pixplosion/pixelio.de (S. 40), Matchka/pixelio.de (S. 42)

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
VORWORT 03

VORWORT
Stellen Sie sich fünf Zimmer vor, irgend-                         Wie konnte es passieren, dass auch nach jahrzehntelangen
wo ganz in ihrer Nähe, vielleicht in dem
                                                                  Kämpfen der Frauenbewegung und allen Maßnahmen der
Haus, in dem Sie selbst leben oder gera-
de arbeiten:                                                      institutionalisierten Gleichstellungspolitik zum Trotz Sorgearbeit
                                                                  immer noch so ungleich und zulasten von Frauen aufgeteilt und
• Im ersten Zimmer sitzt jemand am
  Bett einer kranken Person und sieht
                                                                  organisiert wird?
  nach, ob das Fieber gestiegen ist.

• Im zweiten kocht jemand das Mittag-          Leben gar nicht möglich wäre, im allge-      Männer also viermal so lange … so kam
  essen für mehrere Menschen.                   meinen Sprachgebrauch nicht als Arbeit       es zum 29. Februar, den es nur alle vier
                                                gelten und damit auch nicht für wich-        Jahre gibt: der Schalttag solle in Zukunft
• Im dritten Zimmer sortiert jemand            tig genommen werden … „das bisschen          „Equal Care Day“ heißen! Die Reaktionen
  schmutzige Wäsche, der Staubsauger            Haushalt“ eben und mit den Kindern           zwischen ungläubigem Gelächter und
  steht schon bereit.                           spielen … und meine Frau macht das           zustimmender Empörung sowie die an-
                                                ja gerne. Wie konnte es passieren, dass      schließenden Diskussionen haben deut-
• Im vierten zieht jemand einem Kind           auch nach jahrzehntelangen Kämpfen           lich gezeigt, dass wir mit dieser spon-
  die Regenhose an, merkt, dass sie             der Frauenbewegung und allen Maßnah-         tanen Idee einen Nerv beim Publikum
  eng geworden ist, und notiert sich in         men der institutionalisierten Gleichstel-    getroffen hatten.
  Gedanken die Größe, um bald eine              lungspolitik zum Trotz Sorgearbeit im-
  neue zu besorgen.                             mer noch so ungleich und zulasten von        2016 – Der nächste Schalttag stand un-
                                                Frauen aufgeteilt und organisiert wird?      mittelbar bevor, also haben wir die Idee
• Und im fünften Zimmer liest                                                               ins Internet gestellt und Betroffene, In-
   jemand einer blinden Person aus              Ganz am Anfang, 2015, war es nur eine        teressierte und Engagierte, Menschen
   der Zeitung vor.                             bedrückend witzige Idee gewesen. Im          aus der Praxis, aus Politik und Wissen-
                                                Zuge der Recherchen zu unserem Buch          schaft um unterstützende Statements
In allen fünf Zimmern sind Menschen,            „Die Rosa-Hellblau-Falle“ hatten wir in      gebeten. Am 29. Februar 2016 hatte wir
die Care-Arbeit leisten. Vier der fünf Per-     vielen Statistiken und Studien nachge-       dann ein Grußwort aus dem Bundesfa-
sonen sind Frauen. Nur zwei von ihnen           lesen und waren dabei immer wieder           milienministerium, Statements aus dem
verdienen damit ihren Lebensunterhalt.          auf die Zahl 80 gestoßen. In eigentlich      Bundestag, Europa-Parlament und von
Und für die meisten birgt diese Art der         allen Care-Berufen liegt der Frauenan-       betroffenen Verbänden, wir hatten Car-
Tätigkeit die Gefahr, später einmal in          teil über 80 %: Kita (96 %), ambulante       toons und viel Unterstützung aus dem
Altersarmut leben zu müssen. In dieser          Pflegedienste (87 %), Altenpflege (85 %),    kulturellen Bereich. Und am Tag selber
Vorstellung fehlen fast komplett die            Krankenhäuser, Reinigungswesen, Ge-          folgte ein Pressetermin auf den nächs-
Männer, die gerade arbeiten, also gegen         burtshilfe, Grundschulen, Tagepflege …       ten, so dass wir viel über Care-Arbeit,
Lohn und Honorar arbeiten, wohlge-              überall, mal deutlich mehr, selten etwas     die mangelnde Wertschätzung und
merkt. Der Begriff „Arbeit“ ist nämlich         weniger als 80 %. Und im Privaten sieht      unfaire Verteilung zwischen den Ge-
inzwischen derart verkürzt auf diese Er-        es nicht wirklich besser aus. Je körpernä-   schlechtern sprechen konnten, während
werbsarbeit, dass alles andere dagegen          her und dringlicher Care-Arbeit ist, desto   unsere Kinder zuhause auf sich alleine
wertlos erscheint: Was arbeiten sie gera-       höher die Belastung und Verantwortung        gestellt waren, selbst für sich sorgen
de? – Och, nichts, ich bin in Elternzeit, ich   von Frauen. In einem unserer dialogi-        mussten. Dieser grundsätzliche Wider-
bin nur Hausfrau oder Mutter oder ich           schen Vorträge zur „Rosa-Hellblau-Falle“     spruch begleitet uns seitdem. Der fünf-
pflege gerade meinen Schwiegervater …           hatten wir dann die Idee, diese Ungleich-    te Familienbericht der Bundesregierung
                                                verteilung einmal analog zum „Equal          hatte hierfür bereits 1994 den Begriff
Wie konnte es dazu kommen, dass all             Pay Day“ in Zeit umzurechnen. Wenn           der „strukturellen Rücksichts­losigkeit“
die sorgenden Tätigkeiten, ohne die ein         Frauen über 80 % der professionellen         gegenüber Familien geprägt. Auch
gesellschaftliches Miteinander, ohne die        Care-Arbeit übernehmen, dann brauchen        wenn wir selbständig arbeiten und frei-

                                                                                                                  STREITKULTUR
                                                                                                                  ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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04 VORWORT

er entscheiden können, wann und wie        men einer Diskussionsrunde vor und          Es geht um Wertschätzung, Sichtbarkeit
viel wir arbeiten, der allgemeine Wirt-    auch sonst gab es wieder viel Resonanz.     und die drängende Frage, wie sich Sor-
schaftsbetrieb nimmt keine Rücksicht       Überrascht hat uns, dass Ulle Schauws       gearbeit fair verteilen lässt zwischen den
auf die persönliche Care-Situation der     von Bündnis 90/Die Grünen in der ak-        Geschlechtern, denn nur dann haben alle
Menschen. Und wer beruflich erfolg-        tuellen Bundestagsdebatte am 1. März        Menschen gleichermaßen die Möglich-
reich sein möchte, muss dann eben im       2018 an den „Equal Care Day“ und die        keit zur gesellschaftlichen Teilhabe, po-
Privatleben Abstriche machen und ge-       ungelösten Probleme im Care-Bereich         litisch und wirtschaftlich, in Kultur und
gebenenfalls Aufgaben auslagern. Und       erinnerte. Das war der Startschuss für      Wissenschaft, privat, beruflich, auf allen
wer sich das nicht leisten kann?           die Kampagne zum 29. Februar 2020.          Ebenen und Hierarchiestufen. Die Ver-
                                                                                       teilung der Sorgearbeit ist eine grundle-
2017 – Wir steckten mitten in den Vor-     2019 blieb der „Equal Care Day“ unsicht-    gende Frage der sozialen Gerechtigkeit.
bereitungen für den „Goldenen Zaun-        bar, wie die Care-Arbeit im Allgemeinen
pfahl – Negativpreis für absurdes Gen-     auch. Wir haben hinter den Kulissen         Wir danken der Willi-Eichler-Akademie
dermarketing“, den wir in diesem Jahr      gearbeitet, die Zeit genutzt und starke     für die Kooperation, der Bundeszentra-
erstmals im Rahmen einer öffentlichen      Kooperationspartner*innen gewonnen          le für politische Bildung, Aktion Mensch,
Gala im Theater HAU Hebbel am Ufer         für eine zweitägige Konferenz: die Bun-     UN Women und der Stadt Bonn für die
in Berlin verliehen, als die ersten Me-    deszentrale für politische Bildung, die     finanzielle Förderung und allen, die uns
dienanfragen kamen, was wir denn in        Willi-Eichler-Akademie, Aktion Mensch,      in der Vorbereitung und Planung unter-
diesem Jahr zum „Equal Care Day“ ge-       UN Women und die Stadt Bonn. Wir star-      stützt haben: Martina Hahn, Katja Schül-
plant hätten? Wir waren nicht vorberei-    ten am 28. Februar mit einem BarCamp,       ke und Gertrud Hennen, Martina Steimer
tet und ehrlich überrascht von diesem      am Abend wird es eine Equal Care-Gala       und Harald Kirsch, Bonn.digital. Den Teil-
neuerlichen Interesse … also haben         geben und am 29. Februar dann Vorträ-       nehmenden an den Vorbereitungstreffen:
wir kurzerhand Geschichten und State-      ge und Workshops, um gemeinsam ei-          Václav Demling, Ulrike Pfaff, Ursel Sand-
ments von Paaren gesucht, die Familie,     nen Forderungskatalog an Politik und        forth, Sabine Zander, Rainer Opitz, ­Philipp
Hausarbeit und Beruf fair untereinan-      Verbände zu erarbeiten. Darüber hinaus      Schapps, ­Petra Römer-Westarp, Marianne
der aufteilen. Kurz darauf erschien dann   wird es dezentral organisierte Veranstal-   Völlmecke, Lisa von Reiche, Katja Schülke,
„Who Cares?!“ (feat. Charlotte Brandi):    tungen geben unter anderem in Berlin,       Hannah Kröll, G  ­ ertrud Hennen, G ­ abriele
Die Berliner Rapperin Sookee gehörte       Bremen, Dortmund, Heidelberg, Frankfurt     Neuhöfer, ­ Frauke ­ Linne, Frauke ­ Fischer,
zu den ersten Unterstützer*innen des       a.M., Leipzig, Luxemburg, München und       Edith Kühnle, C ­ laudia Wittkampf, B­ rigitte
„Equal Care Day“ und hatte sich von        Wien. Was 2016 als digitaler Versuchs-      Bührlen, B­ ettina Metz und Astrid Mönni-
der Initiative zu einem Song inspirieren   ballon begann, wird damit zum realen        kes. Den Studierenden, die sich im Rahmen
lassen. Und wie im ersten Jahr gab es      Veranstaltungsformat, für uns ein weite-    eines Seminars an der Bonner Universität
auch 2017 wieder Berichte, die unab-       rer Schritt auf dem Weg in eine fürsorg-    in die Planung, Bewerbung und Organisa-
hängig von uns den „Equal Care Day“        liche Demokratie. Seitdem sind wir viel     tion des „Equal Care Day“ eingebracht ha-
zum Anlass nahmen, um über Fachkräf-       unterwegs im politischen Kontext und        ben: Larissa Ratschkowski, Viola Bender,
temangel in der Pflege, die ungeklärte     immer wieder aufs Neue erstaunt: Hm,        Janet Kinnert, Hannah Schmidt, Laura Eh-
finanzielle und versicherungsrechtliche    Fokus Pflege oder Kinder, beruflich oder    rich, Alina Neujahr, Antonia Mohr, Anasta-
Situation für Hebammen, die ungleiche      privat, Haushalt oder Arbeitszeitmodel-     sia Schormann, Nik Hemmer, J­ulia Sykora,
Verteilung der Familienarbeit oder an-     le, Ausbildung oder Vergütung, bezahlt,     Jana Rapp, Selina Kramer und S   ­ ophie Bi-
dere Care-Aspekte zu berichten.            unbezahlt … zu welchem Ressort oder         qmeti. Und insbesondere für Blog-Artikel,
                                           Fachbereich würde das Thema am bes-         Vorträge, Moderation und die Leitung der
2018 – In diesem Jahr waren wir besser     ten passen? Das sei eben nicht so ein-      Workshops, Angela Häußler, Uta Meier-
vorbereitet und wurden doch wieder         fach mit diesen Querschnittsthemen. Die     Gräwe, Helma Lutz und Martin Speer,
überrascht. Wir hatten schon früh einen    einzelnen Aspekte der Care-Thematik         Daniela Erdmann, Heiner Fischer, Patricia
Aufruf gestartet, „Briefe an die nächste   haben durchaus ihren Platz in den Insti-    Cammarata, Mireille Schauer, K   ­arin Jur-
Generation“ zu schreiben. Es ging dar-     tutionen, werden aber isoliert behandelt,   czyk, ­Hanna Voelkle, Edith ­Kühnle, Mara
um, die eigene Care-Situation zu schil-    je nach Zuständigkeitsbereich eben, und     Brückner und Ute ­Lange, Martin ­Rücker,
dern und Wünsche zu formulieren, was       viel zu oft gegeneinander ausgespielt.      Alexandra ­  Geese, Karin Krubek, Antje
sich für die eigenen Kinder und Enkel-                                                 Schrupp, János Wágner. //
kinder ändern sollte, ändern müsste. Die   Mit dieser Ausgabe der Streitkultur tritt
Redaktion frau.tv hat in einem Beitrag     der „Equal Care Day“ nun an die breite      // Von Almut Schnerring und
berichtet, das ZDF stellte uns im Rah-     politische und mediale Öffentlichkeit.          Sascha Verlan, wu2k.de

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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GRUSSWORT 05

GRUSSWORT
            Oma am Bahnhof abholen? ... ich bestell einfach ein Uber!
            Bügeln? ... ach, das macht der Typ von der Haushaltshilfen-App morgen, der kann dann auch
            den Müll gleich mit runter nehmen, wenn er geht!
            Abendessen? ... wir bestellen einfach online und lassen liefern!
            Den Wocheneinkauf? ... lassen wir auch liefern!
            Die jährlichen Arzt­termine der Kinder und die Verabredungen?
            ... daran erinnert uns der online Familienkalender!

In unserer zunehmend digitalisierten        Hause sein. Gleichzeitig sind sie dann      wird bleiben: das weinende Kind in
Welt scheint es doch für jedes Problem      jedoch Putzfrau, Koch, Fahrdienst, Leh-     den Arm nehmen, mit der Oma lachen,
eine vermeintlich schnelle und un-          rerin, Gärtner und Hausmeisterin oder       dem älteren alleinstehenden Nachbarn
komplizierte Lösung lediglich ein paar      Altenpfleger zugleich. Am Ende eines        einfach mal zuhören. Eine Gesellschaft,
Klicks entfernt zu geben, die Organisa-     jeden Tages kann man nicht ernsthaft        ein Land, eine Volkswirtschaft, eine De-
torisches im Privatleben oder im Haus-      attestieren, sie hätten nichts getan.       mokratie, die diese Dimensionen der
halt – die sogenannte Care-Arbeit – für                                                 Care-Arbeit nicht wertschätzt oder am
uns regelt.                                 Dass die Arbeit, die im Haushalt oder       Ende überhaupt nicht mehr vorsieht, ist
                                            im Privaten geleistet wird, in der volks-   unmenschlich und wenig lebenswert!
Aber: Können wir menschliche Fürsor-        wirtschaftlichen und ­gesellschaftlichen
ge einfach delegieren? An andere oder       Gesamtheit einen eher geringen Stel-        Wie aber können wir den Stellenwert
an Algorithmen? Fehlt unserer Gesell-       lenwert genießt, hat historische Wur-       der Care-Arbeit – im Privaten, wie als
schaft im Ganzen und einer Familie im       zeln und reicht zurück in die Zeit, als     Beruf – in unserer Gesellschaft und un-
Kleinen dann am Ende nicht vor allem        Frauen und Kinder als Besitz des Man-       serer Volkswirtschaft verbessern?
eines: menschliche Wärme? Kann man          nes betrachtet wurden und Tätigkeiten
für unpersönliche Zuneigung und Auf-        in der privaten Sphäre als nichtselbst-     Das Thema muss in all seinen Dimen-
merksamkeit dieselbe Dankbarkeit            ständige aber zugleich selbstverständ-      sionen in der Öffentlichkeit präsenter
und dasselbe Glück empfinden, wie für       lich galten. Auch wenn dem schon lang       und verständlicher werden. Deshalb
menschliche und vertraute?                  nicht mehr so ist, liegt darin der Grund,   bin ich dankbar, dass am 28. und 29.
                                            warum Pflegekräfte im Krankenhaus           Februar 2020 im Rahmen einer zwei-
Die Fragen zeigen, wie komplex das          oder Erzieherinnen und Erzieher in den      tägigen Konferenz der Equal Care Cay
Thema Care-Arbeit ist, wie vielschich-      Kitas im Vergleich zu Berufen außer-        stattfinden wird, denn er wird zu mehr
tig unsere Antworten sein müssen.           halb der Care-Arbeit schlechter ent-        Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit bei-
Care-Arbeit findet statt, unbezahlt im      lohnt werden.                               tragen. Ich wünsche dabei allen viele
Privaten oder bezahlt als Beruf – die ihr                                               spannende und bereichernde Gesprä-
gebührende Wertschätzung erfährt sie        Vielleicht lassen sich einzelne Fahrten,    che, Arbeitsgruppen, Podiumsdiskussio-
jedoch in beiden Bereichen nicht hin-       Einkäufe und Tätigkeiten im Haushalt        nen und viel Freude! //
reichend. Hausfrauen und Hausmänner         delegieren und professionalisieren.
werden belächelt – ja, sie sagen oft sel-   Das Menschliche, Fürsorgliche und           // Ihre
ber, sie würden „nichts tun“ und nur zu     Persönliche an der Care-Arbeit jedoch           Elke Büdenbender

                                                                                                            STREITKULTUR
                                                                                                            ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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      ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN
      IM POSTPATRIARCHALEN
      DURCH/EINANDER

              Wenn ich irgend­          UND WORUM GEHT ES BEIM HAUSHALTEN?
              jemanden auf der Straße
                                        Als Theologin, die Griechisch gelernt       Wenn die Sache so klar ist, warum reden
              frage, was Ökonomie       hat, unterbreche ich mein Gegenüber         dann Ökonom*innen ungefähr ab Seite
              ist, dann wird er oder    dann aber: Stopp! Ökonomie leitet sich      2 ihrer Lehrbücher nur noch von kauf-
                                        von zwei griechischen Wörtern ab: oikos     und verkaufbaren Dingen und lassen
              sie schnell aufs Geld     und nomos. Oikos heißt Haushalt, Nomos      die unbezahlte Arbeit weg? Der Grund
              zu sprechen kommen:       heißt Gesetz oder Lehre. Die Oiko-Nomia     ist einfach: Unsere Vorfahr*innen leb-
              auf Banken, Konzerne,     ist also die Lehre vom guten Haushal-       ten in einer patriarchal organisierten
                                        ten. Und worum geht es beim Haushal-        Sklav*innenhaltergesellschaft, und wir
              Aktienkurse oder Lohn-    ten? Darum, dass alle bekommen, was         haben die Denke der Sklaverei in unse-
              verhandlungen.            sie zum Leben brauchen. Das steht so        ren Köpfen bis heute nicht vollständig
                                        auf den ersten Seiten der meisten Lehr-     verabschiedet. Einer der prominenten
              Auf all das also, was
                                        bücher der Ökonomie. Zum Beispiel im        Begründer der Sklaverei war Aristote-
              man im sogenannten        „Grundwissen Wirtschaft“ von Günter         les, der einflussreichste Philosoph des
              „Wirtschaftsteil“ der     Ashauer: „Es ist Aufgabe der Wirtschafts-   Westens. Im vierten Jahrhundert vor der
                                        lehre zu untersuchen, wie die Mittel zur    Zeitenwende hat er die Welt in höhere
              Zeitung lesen kann.       Befriedigung menschlicher Bedürfnisse       und niedere Sphären aufgeteilt: Der
                                        am sinnvollsten hergestellt, verteilt und   freie männliche Bürger, der sich am
                                        ge- oder verbraucht werden.“                liebsten mit Politik, Krieg und Ideolo-

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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ÖKONOMIE NEU ORGANISIEREN IM POSTPATRIARCHALEN DURCH/EINANDER         07

gieproduktion beschäftigt, besitzt ein               abhängig von sogenannten „Ernährern“           Es ist Aufgabe
Haus. In diesem Oikos sorgen abhän-                  gratis das Notwendige zu tun, zum Bei-
                                                                                                    der Wirtschaftslehre
gige Menschen dafür, dass alle bekom-                spiel den diversen Dreck wegzuräumen,
men, was sie brauchen. Als abhängig                  den die Geldwirtschaft hinterlässt. Sie        zu untersuchen,
gelten Frauen, Sklav*innen, Kinder, dazu             sind nicht mehr bereit, die Basisversor-       wie die Mittel
die Haustiere. Bezahlen muss man die                 gung in Kindergärten, Krankenhäusern
nicht, denn sie gehören ja ihren Herren.             und Altersheimen zu Hungerlöhnen zu
                                                                                                    zur Befriedigung
Ihre Arbeit gilt als Natur.                          leisten, denn sie haben erkannt: Weib-         menschlicher
                                                     lichkeit ist keine Naturressource, Frau-       Bedürfnisse am
An dieses grundlegende Abhängig-                     en wollen in Würde leben. Im Übrigen
keitsverhältnis schließt sich eine ganze             mehren sich die Anzeichen, dass auch           sinnvollsten hergestellt,
symbolische Ordnung aus höheren und                  die Natur, also das, woraus wir alle           verteilt und ge-
niedrigen, freien und abhängigen Sphä-               bestehen, das bewusstlose Weiterwirt-
                                                                                                    oder verbraucht
ren an: Der Staat verhält sich zum Haus-             schaften auf Kosten des gemeinsamen
halt wie die Kultur zu Natur, das Spre-              Lebensraumes Welt nicht länger erträgt.        werden.
chen zum Schweigen, der Herrgott zur                 Eine Ökonomie, die Care und natürliche
Welt, hell zu dunkel, wichtig zu unwich-             Lebensgrundlagen ins Abseits schiebt,
tig, Kolonialherr zu Kolonie, Verstand zu            erfüllt ihren selbstgesetzten Zweck
Gefühl, Wissen zu Glauben und so weiter.             nicht und muss neu organisiert werden.
Es ist nicht einfach, aus dieser Struktur
begrifflicher Ehebetten auszusteigen.                Das Wort „Durcheinander“ kann man
Deshalb bleiben viele lieber drin liegen.            auf drei verschiedene Arten verste-
Die ganze wissenschaftliche Ökonomie                 hen: Normalerweise schreibt man es
zum Beispiel beruht, von wenigen Aus-                in einem Wort. Dann bedeutet es Un-
nahmen abgesehen, noch heute auf der                 ordnung und löst einen Aufräumreflex
antiken Zweiteilung der Welt, also auf               aus. Man kann es auch in zwei Wörtern
der Vorstellung, dass die Erzeugung von              schreiben. Dann gibt es einen Hinweis
Menschen automatisch in Privathaus-                  darauf, wie es weitergehen könnte:
halten passiert, außerhalb der erhabe-               Nicht durch Befehle oder Sachzwänge,
nen Sphäre, die sich „Wirtschaft“ nennen             sondern durch einander finden wir Wege
darf, gesteuert nicht von den vermeint-              aus dem postpatriarchalen Durchein-
lich notwendigen „finanziellen Anreizen“,            ander, in das wir nach dem Kollaps der
sondern von ominösen Prinzipien wie                  zweigeteilten Welt zum Glück endlich
„Mutterliebe“ oder „Fürsorglichkeit“.                geraten sind. Und schließlich kann man
                                                     kann das Durcheinander in drei Wörtern
Allen Schwierigkeiten zum Trotz ist der              schreiben, obwohl das grammatikalisch
Ausstieg aus der Zweiteilung heute                   nicht ganz korrekt ist: Durch ein ANDER.
aber im vollen Gange. Denn wir befin-                Dann kommt das wieder herein, was
den uns nicht mehr im Patriarchat, son-              mir als abtrünniger Theologin wichtig
dern im postpatriarchalen Durcheinan-                ist: das Göttliche. Jetzt aber nicht mehr
der: Die Sklaverei ist abgeschafft, die              als herrischer Herrgott, sondern als
Menschenrechte sind verkündet und                    das ­ANDERE, das uns weiterhilft, wenn
zumindest auf dem Papier fast überall                wir uns vor lauter Durcheinander nicht
anerkannt. Frauen haben aufgehört,                   mehr auskennen. //

// Von Dr. theol. Ina Praetorius
Germanistin und konfessionslose Theologin. Sie lebt in der Schweiz, arbeitet als freie Autorin
und Referentin und setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass Care-Arbeit in die Mitte der
Ökonomie gerückt wird, wo sie hingehört. Im Dezember 2015 hat sie den Verein WiC „Wirtschaft
ist Care“ mitgegründet.

                                                                                                         STREITKULTUR
                                                                                                          ZUM EQUAL CARE DAY 2020
STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
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      ZUR ENTSTEHUNG DER
      MODERNEN HAUSARBEIT
      IN DEN VEREINIGTEN STAATEN1

              Vorbemerkung: In ihrem       „HAUSFRAUEN ARBEITEN TATSÄCHLICH.“
              grundlegenden Sammel-
                                           Einer gängigen Antwort auf die Frage                 Verallgemeinerungen, die sich über die
              band „The Majority Finds
                                           „Arbeiten Sie?“, nämlich „Nein, ich bin              Stellung von Frauen in der Gesellschaft
              Its Past“ schloss Gerda      bloß Hausfrau“, setzte Lerner entgegen:              machen lasse, ungeachtet von deren
              Lerner auch einen Aufsatz    „Hausfrauen arbeiten tatsächlich.“ Und               ansonsten höchst unterschiedlicher
                                           solange Frauen für unbezahlte Haus-                  Situation. Zur Jahrtausendwende kam
              von 1977 über die histori-   arbeit zuständig sind, werde sämtliche               Lerner wieder auf dieses Thema zurück,
              sche Figur der Hausfrau      Frauenarbeit entwertet; dies sei gera-               diesmal aber mit Bezug auf den Platz
              ein; zu dieser Zeit und      dezu die Wurzel des „Frauenproblems“,                der Frauen innerhalb der nunmehr neu
                                           und auch die damals in den USA und                   entstehenden „World History“. In der Tat
              spätestens mit diesem        Europa verbreitete Forderung nach „wa-               ist – trotz allen seitherigen Wandels und
              Text war die „unpaid         ges for housework“ verbleibe lediglich               aller Unterschiedlichkeiten der globa-
                                           an seiner Oberfläche. Dass die überwäl-              len condition féminine – die häusliche,
              labor of love“ zu einem
                                           tigende Mehrheit der Amerikanerinnen,                die Versorgungs- und Sorge-Arbeit so-
              wichtigen Thema der neu      kaum aber Männer, unbezahlte Haus-                   wie das, was man unter „labor of love“
              entstehenden Frauen- und     arbeit verrichten, sei eine der wenigen              zu verstehen pflegt, weltweit in der Re-

              Geschlechter­geschichte
                                           	Auszug eines Textes von 1976, wieder aufgelegt in: Bock, Gisela. Geschlechtergeschichten
                                           1

              geworden.                      der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2014.

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ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN 09

gel die Aufgabe des einen Geschlechts      Für den größeren Teil der weiblichen       bungen und ihre Konsequenzen für
(geblieben oder geworden) ist: sowohl      Bevölkerung blieb zur Zeit der frühen      die Geschichte der Hausarbeit und der
wenn sie im eigenen Haushalt unbe-         Industrialisierung und noch lange da-      Hausarbeiterinnen zwischen dem letz-
zahlt, als auch wenn sie in einem frem-    nach die Grenze zwischen häuslicher        ten Drittel des 19. Jahrhunderts und
den Privat- oder öffentlichen Haushalt     unbezahlter Arbeit und außerhäus-          dem ersten des 20. Jahrhunderts lassen
gegen (meist schlechte) Bezahlung ver-     licher, bezahlter Arbeit fließend. Die     sich am Beispiel der häuslichen Arbeit
richtet wird, heutzutage oft im Kontext    Kategorie der häuslichen oder haus-        der Dienstboten verdeutlichen, und
transnationaler Migrationsbewegungen.      haltsnahen, aber (meist bescheiden)        zwar im Zusammenhang mit der begin-
                                           bezahlten Arbeit war sehr verbreitet.      nenden Mechanisierung des Haushalts.
Als Lerner in den 1970er Jahren schrieb,   Dazu gehörte im 19. Und frühen 20.
tat sie das im Einklang mit einem inter-   Jahrhundert etwa der Beruf der selb-       Die Mechanisierung des Haushalts
nationalen Interesse an jenen Fragen       ständigen Näherin und Wäscherin, dann      machte seit Mitte des 19. Jahrhunderts
und einem Forschungstrend, der nur         vor allem das Phänomen der „boarders“      mächtige Fortschritte, wie der große
wenige Jahre lang anhielt und für die      und „lodgers“, Kostgänger und Inwoh-       Architekturhistoriker Siegfried Giedion
nordamerikanische Geschichte zu meh-       ner, für welche die Hausfrau bezahlte      umfassend gezeigt hat. Für eines der
reren Standardwerken führte. Standen       Arbeit verrichtete. Eine weitere wich-     wichtigsten arbeitssparenden Gerä-
sie anfänglich im Kontext der Geschich-    tige häusliche Einkommensquelle von        te, die Waschmaschine, gab es in den
te von Arbeit, so später im Kontext der    Frauen waren die verschiedenen For-        1860er Jahren 2.000 Patentanmeldun-
Geschichte des Sozialstaats. Bei Susan     men gewerblicher Heimarbeit („sweat-       gen. Ihre Wirkung bestand nun aber
Strasser stand die technologische Ent-     shop“), die erst seit den 1920er Jahren    keineswegs, wie häufig angenommen
wicklung im Zentrum, bei Ruth Cowan        und vor allem in der Folge zahlreicher     wird, darin, dass nun die zuvor hart
„die Erfindung der Hausarbeit“ und bei     Frauenstreiks gegen die miserablen Ar-     arbeitende Hausfrau zur „idle woman“
Molly Ladd-Taylor die „Mutter-Arbeit“.     beitsbedingungen allmählich abgebaut       wurde oder auch „freigesetzt“ wurde
Ein bemerkenswerter Sprachwandel           wurde. Die Veränderung in der weibli-      für die sogenannten produktiven Beru-
ergab sich: Im Englischen war nunmehr      chen Familien- und Arbeitssituation in     fe außer Haus. Vielmehr befanden sich
die Rede von „paid“ und „unpaid work“      unserem Zeitraum ist also keineswegs       die meisten mechanischen Haushalts-
(und nicht mehr nur von „work and fa-      lediglich die bekannte Verschiebung        geräte bis hin zur Jahrhundertwende in
mily“), im Deutschen ebenso oder auch      von unbezahlter häuslicher Arbeit zur      den Händen einer recht kleinen Gruppe
von „Erwerbsarbeit“ und „Hausarbeit“;      zusätzlichen und entlohnten Arbeit als     von Wohlhabenden, die allerdings zah-
beides galt nicht nur in der Wissen-       Teil der außerhäuslichen „labour force“,   lenmäßig sehr schwer zu erfassen ist.
schaftssprache. Inzwischen ist der letz-   ein Weg, der gängigerweise, aber mei-      In diesen Haushalten wurde ein großer
tere Sprachwandel weitgehend rück-         nes Erachtens zu Unrecht, als der einzig   Teil der Hausarbeit ohnehin und tra-
gängig gemacht worden: Jedenfalls ist      wahrhafte Weg der Frauenemanzipati-        ditionell den Dienstboten übertragen,
in der deutschen Medienöffentlichkeit      on angesehen wird. Vielmehr handelt        und die Hausherrin hatte nicht so sehr
praktisch nur noch von „Arbeit“ und        es sich außerdem um zwei weitere           mit der häuslichen Arbeit selbst als mit
„Nichtarbeit“ oder „Arbeit“ und „Zuhau-    einschneidende Verschiebungen: die-        der Aufsicht über die fast immer weibli-
sebleiben“ die Rede. Vor diesem Hinter-    jenige von bezahlter Arbeit im Haus        chen und meist aus Übersee eingewan-
grund mag der folgende Text[auszug]        zu unbezahlter Arbeit außer Haus, und      derten oder schwarzen (oft vom Süden
aus dem Jahr 1976 vielleicht noch ein-     schließlich die von bezahlter Arbeit im    in den Norden gewanderten) Dienst-
mal Beachtung erfahren:                    Haus. Die beiden letzteren Verschie-       boten zu tun. (Für das 19. Jahrhundert
                                                                                      kann man im Übrigen geradezu von ei-
                                                                                      ner Feminisierung des Dienstbotenbe-
                                                                                      rufs sprechen.) Die mechanischen Ge-
                                                                                      räte der Frühzeit ersparten also nicht
           Für eines der wichtigsten arbeitssparenden Geräte, die Wasch-              die Arbeit der Hausherrin, sondern die
                                                                                      Arbeit von „Dienst“- oder „Hausmäd-
           ­maschine, gab es in den 1860er Jahren 2.000 Patentanmeldungen.
                                                                                      chen“, von domestic servants (über
            Ihre Wirkung bestand nun aber keineswegs, wie häufig angenommen           deren vermeintliche Unfähigkeit, mit
            wird, darin, dass nun die zuvor hart arbeitende Hausfrau zur              den neuen Maschinen umzugehen, oft
                                                                                      geklagt wurde). Die Zahl dieser Haus-
            „idle woman“ wurde oder auch „freigesetzt“ wurde für die                  angestellten verringerte sich bis in die
            sogenannten produktiven Berufe außer Haus.                                1920er Jahre drastisch, was – keines-

                                                                                                          STREITKULTUR
                                                                                                          ZUM EQUAL CARE DAY 2020
STREITKULTUR - FÜRSORGLICHE DEMOKRATIE WEGE IN EINE - Willi-Eichler-Akademie eV
10    ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HAUSARBEIT IN DEN VEREINIGTEN STAATEN

              Was sich am Beispiel des Verhältnisses von Mechanisierung                           arbeit herstellten, mochten zuweilen
                                                                                                  dieselben sein, die kurz zuvor noch für
              und „servant problem“ zeigt, ist also ein Prozess, in dessen
                                                                                                  die Herrschaft gefegt hatten. Ihre Löhne
              Verlauf sowohl aus der Hausherrin wie aus der Haus­dienerin                         waren nun zwar höher als zuvor, reich-
              eine Hausfrau wird, die im eigenen Heim unbezahlte Haus­                            ten jedoch für eine anständige Existenz
                                                                                                  kaum aus. Aber Fabrikarbeit und später
              arbeit selbst und „aus Liebe“ verrichtet.                                           die Ehe eröffneten ihnen jetzt die Mög-
                                                                                                  lichkeit, einen eigenen Hausstand zu
                                                                                                  gründen, privat zu leben und unabhän-
                                                                                                  gig von der Herrschaft zu sein: Dies war
                                                                                                  der Weg von der entlohnten Hausarbeit
wegs nur in den USA – zu dem soge-                   Beecher Stowe (bekannt als Autorin von       in einem fremden Familienbetrieb zur
nannten „servant problem“ führte, der                „Onkel Toms Hütte“) und ihre Schwester       unbezahlten Hausarbeit in der eigenen
Verknappung des Angebots an Haus-                    Catherine E. Beecher beschrieben 1869,       Familie, vom Hausmädchen zur Haus-
angestellten. Und in einer immer grö-                unter dem Titel „The American Woman‘s        frau.
ßeren Anzahl von Haushalten zog die                  Home“, diese „resistance which demo-
Herrin es vor, die Hausarbeit selbst zu              cracy inspires in the working class“,        Was sich am Beispiel des Verhältnis-
verrichten, wenn auch mit besseren Ge-               womit sie die Aufsässigkeit der Dienst-      ses von Mechanisierung und „servant
räten als zuvor. Dies aber war der Über-             boten meinten: „Life became a sort of        problem“ zeigt, ist also ein Prozess, in
gang von der Hausherrin zur Hausfrau,                domestic wrangle and struggle bet-           dessen Verlauf sowohl aus der Haus-
von der Aufsicht über bezahlte Arbeit                ween the employers [...] and the em-         herrin wie aus der Hausdienerin eine
anderer Frauen zur eigenen unbezahl-                 ployed [...] and a common topic of con-      Hausfrau wird, die im eigenen Heim
ten Hausarbeit.                                      versation in American female society         unbezahlte Hausarbeit selbst und „aus
                                                     has often been the general servile war       Liebe“ verrichtet. Dieser Prozess lässt
Aus der Perspektive der Dienenden war,               which in one form or another was go-         sich beschreiben als eine tendenzielle
wie ein Zeitgenosse 1906 schrieb, das                ing on in their different families – a war   Homogenisierung der Situationen von
„servant problem“ auch ein „servant‘s                as interminable as would be a strugg-        sozial ganz unterschiedlich gestellten
problem“ – nämlich ein Problem nicht                 le between aristocracy and common            Frauen in Bezug auf die Hausarbeit, Er-
nur für die Herrschaft, sondern für die              people, undefined by any bill of rights      gebnis nicht nur einer technisch-orga-
Dienstboten selbst: Niedrige Löhne,                  or constitution.“ Die Mechanisierung         nisatorischen Modernisierung, sondern
zum Teil in Naturalien beziehungs-                   bot der Hausherrin eine Lösung dieser        ebenso sehr konkreter sozialer Kon-
weise Kost und Logis ausbezahlt, lang                Form von „class struggle“ oder schärfer      flikte und Antagonismen – auch unter
ausgedehnte und vor allem nicht fest-                ausgedrückt: Die Mechanisierung des          Frauen. […] Diesen historischen Prozess
gelegte Arbeitszeiten, Abhängigkeit von              Haushalts ergab sich nicht so sehr aus       resümierte 1973 John Kenneth Galb-
der Herrschaft auch im persönlichen                  einem quasi-autonomen wissenschaft-          raith, ein scharfsinniger Soziologe und
Bereich, wohl auch eine beträchtliche                lich-technischen Fortschritt, sondern        Ökonom: „Die Umwandlung der Frauen
Anzahl unehelicher Geburten – das                    war auch eine Antwort auf das Verhal-        in eine auf unsichtbare Weise dienende
war die Existenz der Dienstboten. Sie                ten der Dienstboten zu dieser Zeit, wie      Klasse war eine ökonomische Leistung
verfügten dagegen über zwei Mittel:                  im Übrigen auch Giedion ausführt („The       ersten Ranges. Dienstboten für gesell-
Entweder wichen sie in einen anderen                 mechanization of the household had its       schaftlich unterbewertete Arbeiten
Beruf aus, und in diesem Fall waren es               starting point in social problems: the       standen einst nur einer Minderheit der
hauptsächlich Fabrikarbeit oder Pros-                status of American women and the sta-        vorindustriellen Bevölkerung zur Verfü-
titution, die ihnen offenstanden. Oder               tus of domestic servants.“)                  gung; eine dienstbare Hausfrau steht
aber sie leisteten offenen oder versteck-                                                         jedoch heute auf ganz demokratische
ten Widerstand gegen die Ausbeutung                  Die Frauen, die in den zwanziger Jahren      Weise fast der gesamten männlichen
an ihrem Arbeitsplatz Haushalt. Harriet              Staubsauger in Fabrik- und Fließband-        Bevölkerung zur Verfügung.“ //

// Von Dr. Gisela Bock
Professorin für Neuere Geschichte, sie lehrte bis 2007 an der Freien Universität Berlin.

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
11

SORGEARBEIT
IM 21. JAHRHUNDERT
                                                                                                         Die Schweizer Theologin
                                                                                                         Ina Praetorius wirft
                                                                                                         völlig zurecht die Frage
                                                                                                         auf, wie es eigentlich
GESELLSCHAFTLICHE WERTSCHÖPFUNG
                                                                                                         dazu kommen konnte,
Auf Basis der repräsentativen Zeitver-               toinlandsprodukt (BIP) enthaltenen                  dass die Ökonomie als
wendungsstudien des Statistischen                    gesamten Bruttowertschöpfung von                    Leitwissenschaft gerade
Bundes­amtes wurde ermittelt, dass                   Staat und Wirtschaft in Deutschland3.
die in Deutschland lebende Bevöl-                    Dieser Anteil geht jedoch nicht in das              jene Tätigkeiten zur
kerung im Jahr 2013 insgesamt 35 %                   BIP als Wohlstandsmaß der Nation ein,               Bedürfnisbefriedigung
mehr Zeit für unbezahlte Haus- und                   was ohne Zweifel die Geringschätzung
                                                                                                         außer Acht lässt und
Sorgearbeit aufgewendet hat als für                  der unbezahlten Sorgearbeit und ihre
bezahlte Erwerbsarbeit. Die dadurch                  Wahrnehmung als einer vermeintlich                  bestenfalls als „legale
entstehende gesellschaftliche Wert-                  unbegrenzt verfügbaren Ressource be-                Schattenwirtschaft“
schöpfung ist beträchtlich und beträgt               fördert. Die Schweizer Theologin Ina
rechnerisch 987 Milliarden Euro2. Das                Praetorius wirft völlig zurecht die Fra-            deklariert, die in den
entspricht immerhin 39 % der im Brut-                ge auf, wie es eigentlich dazu kommen               ­Privathaushalten geleis-
                                                                                                          tet werden und ohne die
	Für die Bewertung der unbezahlten Arbeit wurde ein durchschnittlicher Nettostundenlohn von 9,25
2
                                                                                                          kaum jemand als Kind
  Euro für eine hauswirtschaftliche Fachkraft angesetzt. Würde der Nettodurchschnittslohn der erwerbs-
  tätigen Bevölkerung zu Grunde gelegt, wäre die erzielte Bruttowertschöpfung erheblich höher.            überleben könnte?
	Statistisches Bundesamt: Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland. Wiesba-
3

  den, 2017.

                                                                                                              STREITKULTUR
                                                                                                               ZUM EQUAL CARE DAY 2020
12    SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT

                                                                                                                                 Ein „Alleinverdiener“
                                                                                                                                 lebt hierfür in einer
                                                                                                                                 „Versorgerehe“ mit einer
                                                                                                                                 „Hausfrau“ zusammen,
                                                                                                                                 welche die private
                                                                                                                                 Sorgearbeit beinahe
                                                                                                                                 komplett übernimmt.
                                                                                                                                 Mit dem steigenden
                                                                                                                                 Bildungsniveau von
                                                                                                                                 Frauen hat sich dieses
                                                                                                                                 Leitbild in den letzten
                                                                                                                                 Jahrzehnten in Richtung
                                                                                                                                 „Zuverdienst“ verändert.

konnte, dass die Ökonomie als Leitwis-                dertagesstätten, Ganztagsschulen oder                  von Frauen hat sich dieses Leitbild in
senschaft gerade jene Tätigkeiten zur                 Pflegeeinrichtungen. Hier tut sich ein                 den letzten Jahrzehnten in Richtung
Bedürfnisbefriedigung außer Acht lässt                weiteres Problemfeld auf: denn auch                    „Zuverdienst“ verändert. Aus gleich-
und bestenfalls als „legale Schatten-                 die erwerbsförmig organisierte Sorge-                  stellungspolitischer Sicht bedeutet
wirtschaft“ deklariert, die in den Privat-            arbeit leidet bundesweit an mangeln-                   dies jedoch lediglich eine Variation des
haushalten geleistet werden und ohne                  der gesellschaftlicher Wertschätzung,                  Familienernährer-Modells. So bleibt für
die kaum jemand als Kind überleben                    was sich unter anderem an einer hohen                  den meist männlichen Familienernäh-
könnte?4 Sorgende Tätigkeiten sind zu-                Arbeitsverdichtung bei schlechter Be-                  rer weiterhin kaum Zeit für die Familie
dem keine unerschöpfliche Ressource,                  zahlung im Vergleich zu männlich kon-                  und die meist weibliche Zuverdienerin
wie sich im Zeitverlauf zeigt: Im Ver-                notierten Berufen niederschlägt.                       kann trotz der Last, Teilzeiterwerbsar-
gleich zu 1992 ging der Umfang an un-                                                                        beit und familiale Sorgearbeit verein-
bezahlter Arbeit um fast 13 Prozent zu-               Lange Zeit haben sich in der Bundes-                   baren zu müssen, kaum eine substanti-
rück. Darin spiegelt sich der Rückgang                republik staatliche Regelungen wie die                 elle Erwerbsbiographie aufbauen, ihre
der Kinderzahlen zwischen 1992 und                    Steuerpolitik, Institutionen und kultu-                eigene Existenz sichern und sich beruf-
2013 von 10,6 Millionen auf 8,3 Milli-                relle Wertvorstellungen am Leitbild des                lich selten entwickeln. Das Modell der
onen. Hinzu kommt, dass offensichtlich                „Familienernährers“ orientiert. Diesem                 „universellen Erwerbstätigkeit“ (adult
ein Teil der in den Privathaushalten an-              Leitbild gemäß wird Sorgearbeit weit-                  worker model) wiederum sieht für alle
fallenden sorgenden Tätigkeiten inzwi-                gehend privat organisiert, das heißt in                Personen eine Vollzeiterwerbstätig-
schen auf den legalen oder informellen                Paar- und Familienbeziehungen. Ein                     keit vor, ohne zu berücksichtigen, dass
Arbeitsmarkt übertragen wird, das heißt               „Alleinverdiener“ lebt hierfür in einer                sich Menschen in einem bestimmten
an eine dritte Person (oft mit einer fa-              „Versorgerehe“ mit einer „Hausfrau“                    Umfang um die eigenen Kinder oder
miliären Migrationsgeschichte) oder                   zusammen, welche die private Sorge-                    pflegebedürftige Angehörige kümmern
an Beschäftigte in Dienstleistungsbe-                 arbeit beinahe komplett übernimmt.                     oder einen Teil der Hausarbeit selbst
trieben personaler Versorgung wie Kin-                Mit dem steigenden Bildungsniveau                      erledigen wollen.

	Praetorius, Ina: Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen. Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 16, Berlin, 2015
4

  (Heinrich Böll-Stiftung), S. 10.

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
SORGEARBEIT IM 21. JAHRHUNDERT                  13

Die Gleichstellungskommission5 hat                                           Aufgrund bestehender Lohnunterschiede sowie
deshalb eine neue Variante vorgeschla-
                                                                             gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen
gen und verwendet dafür den Begriff
„Erwerb-und-Sorge-Modell“ (earner-car-                                       sind es jedoch überwiegend Frauen, die von diesen
er-model). Viele junge Frauen und Män-                                       Instrumenten Gebrauch machen. Die Folge sind
ner erwarten heute, dass sie sich nicht
nur gleichberechtigt im Berufsleben
                                                                             lange Unterbrechungen in ihren Erwerbsbiographien,
einbringen können sondern auch, dass                                         geringe berufliche Entwicklungsperspektiven und eine
der Beruf das Private nicht vollständig                                      ­erhebliche Lohn- und Rentenlücke. Deshalb kommt es
dominiert. Frauen wollen sich beruflich
entwickeln und in allen Branchen und                                          immer auf die konkrete Ausgestaltung von vereinbar-
auf allen Ebenen tätig sein können. Män-                                      keitspolitischen Instrumenten an.
ner wollen Sorgearbeit leisten können,
ohne dabei stereotypisierender Abwehr
am Arbeitsplatz zu begegnen. Beide wol-
len nicht in ökonomische Sackgassen
geraten. Lebenslauftheoretisch gesehen
geht es deshalb um die Auflösung der                ausgegangen, dass das, was die Verein-               Das Erwerb-und-Sorge-Modell heißt
traditionell nach Geschlecht getrennten             barkeit fördere, auch der Geschlech-                 auch: Die nachweislich bestehenden
Lebenswege und um eine Neujustierung                tergerechtigkeit dient. Diese Annahme                Probleme der Aufteilung von Erwerbs-
sämtlicher, den Lebenslauf begleiten-               trifft in dieser Pauschalität jedoch nicht           und Sorgearbeit sind keine Privatan-
der Institutionen und Regelungen, so                zu. So ermöglichen großzügige und un-                gelegenheit, die von den Einzelnen
dass die Verbindung von Bildungs-, Er-              bezahlte Freistellungsmöglichkeiten                  irgendwie bewältigt werden müssen.
werbs- und Sorgearbeit als Grundmuster              zwar mehr Zeit für die Familie. Auf-                 Stattdessen werden Rahmenbedingun-
der Biographie einer Person – und zwar              grund bestehender Lohnunterschiede                   gen erforderlich, die es ermöglichen,
unabhängig vom Geschlecht – in unter-               sowie gesellschaftlicher Normen und                  ein Erwerb-und-Sorge-Modell ohne
schiedlichen Mischungen und mit flexi-              Wertvorstellungen sind es jedoch über-               Überforderung leben zu können und
blen Übergängen gelebt werden kann.                 wiegend Frauen, die von diesen Instru-               zwar unabhängig vom Geschlecht. Die
                                                    menten Gebrauch machen. Die Folge                    Umsetzung des Erwerb-und-Sorge-
Dafür braucht es konsistente Rah-                   sind lange Unterbrechungen in ihren                  Modells setzt eine verlässliche, alltags-
menbedingungen, die es Menschen                     Erwerbsbiographien, geringe berufliche               unterstützende Infrastruktur mit quali-
ermöglichen, gleichberechtigt an der                Entwicklungsperspektiven und eine er-                fizierten Beschäftigten in den Berufen
Erwerbsarbeit teilzuhaben, ohne dafür               hebliche Lohn- und Rentenlücke. Des-                 der Sozialen Arbeit, der Hausarbeit, Ge-
auf private Sorgearbeit verzichten zu               halb kommt es immer auf die konkrete                 sundheit, Pflege und der Kinderbetreu-
müssen. Deshalb gehören auch Maß-                   Ausgestaltung von vereinbarkeitspoli-                ung und -erziehung voraus. Aus diesem
nahmen zur Vereinbarkeit unter Gleich-              tischen Instrumenten an: Wie wirkt die               Grund hat die Sachverständigenkom-
stellungsaspekten auf den Prüfstand.                Vereinbarkeitspolitik auf die Aufteilung             mission auch nachdrücklich für eine
In der Debatte um eine bessere Work-                von Erwerbs- und Sorgearbeit und die                 Neubewertung und Aufwertung dieser
Life-Balance wird derzeit häufig davon              Geschlechtergleichstellung?                          Sorgeberufe plädiert. //

// Von Uta Meier-Gräwe
Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung und der Enquete-Kommission
„Zukunft der Familienpolitik in NRW“ der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Sie war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des
Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitete von 2013 -2018 das Kompetenzzentrum zur
Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen.

	Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg): Erwerbs- und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten. Zweiter Gleichstellungsbericht
5

  der Bundesregierung. Berlin, 2017.

                                                                                                                                   STREITKULTUR
                                                                                                                                   ZUM EQUAL CARE DAY 2020
14

SORGEGERECHTIGKEIT
BRAUCHT BEZAHLUNG!

GESCHLECHTERGERECHTE AUFTEILUNG DER SORGEZEIT

Bislang gilt die männliche Biografie                Welche Anreize für eine geschlechterge-               nehmung ihrer individuellen Zeitoptio-
mit durchgängiger Vollzeitarbeit als                rechte Aufteilung der Sorgezeit für Väter             nen überwinden helfen würde. Zudem
„Normalbiografie“, die typisch weibli-              und männliche Sorgepersonen müssten                   sind mit Nicht-Erwerbsarbeit meist
che Biografie dagegen ist von Unter-                in einem solchen Modell enthalten sein?               erhebliche Einkommensverluste oder
brechungen, von Teilzeitarbeit und als              Wie könnte verhindert werden, dass                    -einbußen verbunden. Es braucht also
Abweichung von der Norm gekenn-                     auch das Care-Zeit-Budget vor allem von               eine durchdachte Entgeltersatzstruktur,
zeichnet. Um Sorgearbeit im Privaten                Frauen genutzt wird? Und wie ließe sich               denn der finanzielle Rahmen, den ein
geschlechtergerechter zu verteilen,                 die notwendige finanzielle Absicherung                Optionszeiten-Budget erhalten muss,
müssen Erwerbsverläufe und das Ver-                 der Sorgezeiten gewährleisten?                        ist von grundsätzlicher Bedeutung, um
hältnis von Erwerbsarbeit und Sor-                                                                        bedarfsgerecht wirksam zu werden: Ein
gearbeit im Lebenslauf neu gestaltet                Insgesamt weisen gegenwärtige Be-                     gerechter Finanzierungsrahmen muss
werden – im Sinne eines rechtlichen                 urlaubungs- und Freistellungsansprü-                  erstens fair verteilen, wem die Lasten
Anspruchs auf bezahlte Sorgezeiten.                 che zwei zentrale Wirkungsdefizite auf.               welcher Ziehungsrechte auferlegt wer-
Ein solches Optionszeiten-Modell                    Einmal sind die förmlich garantierten                 den, sowie zweitens Einkommen so
mit einem „Care-Zeit-Budget“ könnte                 Rechte nicht in einer Weise ausgestal-                gestalten, dass die Ziehung von Opti-
atmende Lebensläufe für beide Ge-                   tet, dass von ihnen tatsächlich Gebrauch              onszeiten für alle eine reale Durchset-
schlechter ermöglichen6, wenn für jede              gemacht wird, weil eine kollektive Un-                zungschance erhält.
und jeden über die Erwerbsbiografie                 terstützung bei der Wahrnehmung
hinweg per „Ziehungsrechten“ ein noch               fehlt, also zum Beispiel ein betriebli-               Bereits aus dem geltenden Recht von
zu bestimmendes Zeitkontingent für                  ches oder tarifliches Unterstützungs-                 Ziehungsrechten lässt sich ein erster Ver-
Sorge für andere, für Selbstsorge und               gefüge, das die Scheu und Schwäche                    teilungsrahmen extrapolieren. Er diffe-
für Weiterbildung abrufbar wäre.                    einzelner Beschäftigter bei der Wahr-                 renziert nach den Zwecken, für die diese

	siehe Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (Hrsg.): Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf. Abschlussbericht des Forschungsprojekts im Rahmen
6

  des „Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“ (FIS) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bremen/München, 2020.

STREITKULTUR
ZUM EQUAL CARE DAY 2020
SORGEGERECHTIGKEIT BRAUCHT BEZAHLUNG!                        15

Ziehungsrechte eingeräumt werden, be-            Unternehmen in gewissem Rahmen die        sozial selektiv greift. Auch wenn man
wertet diese Zwecke nach gesellschaft-           Lasten von Herstellung und Wiederher-     sich grundsätzlich an der oben genann-
lichen Wert- und Nützlichkeitskriterien          stellung der Arbeitskraft Beschäftigter   ten Dreigliederung orientiert, kommt
und bestimmt daraus, wer die jeweiligen          auferlegt. Deshalb werden der Gesell-     man bei einem System von Ziehungs-
Lasten zu tragen hat. Bei dieser Systema-        schaft in gewissem Rahmen die Lasten      rechten ohne gleichzeitige Orientierung
tisierung hilft das „Drei-Ringe-Modell“.         der von ihr gewünschten Zeitoptionen      an einem situativen Grundeinkommen
                                                 für die demographische Entwicklung        bzw. einem erwerbsunabhängigen Min-
In der notwendigen Typisierung können            und den gesellschaftlichen Zusammen-      desteinkommen nicht vorbei – und zwar
wir die Zwecke, denen die Zeitoptionen           halt auferlegt. Und deshalb werden den    aus zwei Gründen. Erstens werden Zie-
dienen, in drei große Gruppen einteilen.         Menschen selbst die meisten Lasten für    hungsrechte eingeräumt, um dem ge-
Eine erste Gruppe von Freistellungen             ihre Selbstsorge auferlegt. Allgemein     sellschaftlich wünschenswerten Ziel
dient Anliegen von Unternehmen – etwa            folgt aus diesen Überlegungen, dass       der Stärkung von Care und dem gesell-
wenn es um die Erhöhung der beruflichen          mit Ziehungsrechten ein gemischtes        schaftlichen Zusammenhalt näherzu-
Qualifizierung oder auch um die Wie-             System der Finanzierung (Entgelt-, Ent-   kommen. Zweitens darf das System der
derherstellung der Arbeitskraft von Be-          geltersatzzahlung etc.) einhergehen       Ziehungsrechte weniger verdienende
schäftigten geht. Eine zweite (und immer         muss. Der Wegfall oder die Minderung      Bevölkerungsteile nicht ausschließen.
wichtiger und umfangreicher werdende)            des Erwerbseinkommens, die durch den      Eine Förderung gesellschaftlicher nicht-
Gruppe von Zeitoptionen dient der Ge-            Gebrauch von Ziehungsrechten im Re-       erwerblicher Care-Arbeit verlangt eine
sellschaft – etwa politische Ehrenämter,         gelfall entstehen, wird entsprechend      qualitativ andersartige Entkoppelung
zunehmend aber auch die Sorgetätigkeit           dem Kriterium kompensiert (oder auch      von Einkommen und Erwerbsarbeit,
für Kinder und Ältere sowie Ehrenämter           nicht kompensiert), wem die Nutzung       als sie gegenwärtig besteht. Damit ist
im sozialen Sinne. Eine dritte Gruppe von        der Ziehungsrechte zugutekommt:           nicht die Frage eines bedingungslo-
Zeitoptionen dient eher den Individuen                                                     sen Grundeinkommens allgemein auf-
selber – etwa wenn es um Sabbatjahre,            Ein gerechter Finanzierungsrahmen         geworfen – vielmehr geht es um eine
Auszeiten und Selbstsorge geht.                  muss aber nicht nur fair verteilen, wem   finanzielle Mindestausstattung in sol-
                                                 die Lasten welcher Ziehungsrechte auf-    chen Zeiten, für die Ziehungsrechte in
Im Sinne einer gerechten Verteilung              erlegt werden, sondern er muss Einkom-    Anspruch genommen werden: das soge-
sollte die Lasten tragen, wer von der            men so gestalten, dass die Ziehung der    nannte „situative Grundeinkommen“. Ein
Wahrnehmung des Ziehungsrechts in                Optionszeiten eine reale Durchsetzungs-   solcher, über den Hartz IV-Leistungen
erster Linie profitiert. Deshalb werden          chance erhält und bedarfsgerecht, nicht   liegender Sockel soll nicht lediglich
                                                                                           für Selbstsorgezeiten anwendbar sein.
                                                                                           Er führt vielmehr bei Arbeitslosen und
                                                                                           Niedrigverdiener*innen zu einer Aufsto-
  Drei-Ringe-Modell
                                                                                           ckung ihres Einkommens, wenn und so-
                                  Tätigkeit für sich                                       lange sie Tätigkeiten verrichten, für die
                                     (z . B. Muße)                                         Ziehungsrechte bestehen. Dieser finan-
                                  » Eigenfinanzierung/
                              situatives Grundeinkommen                                    zielle Anreiz wirkt dem Ausschluss die-
                                                                                           ser Personenkreise aus dem System des
                                                                                           Optionszeiten-Budgets – und damit der
                                Tätigkeit zugunsten
                                   Unter­nehmen
                                                                                           sozialen Segmentierung des Systems
                                  (z . B. Weiterbildung)                                   der Ziehungsrechte – entgegen. Er mil-
                                       » Entgelt                                           dert zugleich für alle Verdienstgruppen
                                                                                           den Entgeltverlust bei Tätigkeiten, die
                                                                                           dem äußeren Ring im Drei-Ringe-Mo-
                                Tätigkeit zugunsten                                        dell entsprechen, ab. //
                                    Gesellschaft
                             (z . B. Kinder- und Altenpflege,
                                        Gemeinwohl)                                        // Von Karin Jurczyk
                                     » Lohnersatz/                                         Soziologin, bis Mai 2019 war sie Leiterin der
                                      Steuermittel                                         Abteilung Familie und Familienpolitik am
                                                                                           Deutschen Jugendinstitut, derzeit ist sie aktiv im
                                                                                           Initiativkreis Care.Macht.Mehr sowie im Vorstand
                                                                                           der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.

                                                                                                                    STREITKULTUR
                                                                                                                     ZUM EQUAL CARE DAY 2020
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RAUS AUS DER
CARE-ARBEIT DENKFALLE

                                        KLARWERDUNG EIN PROZESS
              Wenn wir das Wort         Wie problematisch die Bilder sind, die      würde hier etwas stattfinden, das gar
                                        wir selbst rund um das Thema Care-          nicht in unsere Welt passt. Vincents
              „Putzkraft“ hören,
                                        Arbeit in uns tragen, ist uns erst spät     Frau war in den letzten Jahren auf ver-
              ­denken wir nach wie      klargeworden. Ehrlich gesagt, ist diese     schiedenen Babyshowers eingeladen
               vor zu oft automatisch   Klarwerdung ein Prozess, in dem wir         – partyähnlichen Zusammenkünften,
                                        noch tief drinstecken. Es ist gar nicht     bei denen einer werdenden Mutter Ge-
               an eine Frau – in der    so einfach, Muster, Erwartungen und         schenke, aber auch Tipps und Tricks für
               Regel an eine aus­       Verhaltensweisen zu entlernen, die uns      den anstehenden Nachwuchs überge-
               ländische Frau.          so „normal“ vorkommen, mit denen wir        ben und vermittelt werden. Interessant
                                        aufgewachsen sind, die wir nie infrage      nur: Es sind normalerweise keine Män-
                                        stellen mussten oder die ständig medi-      ner dabei – als hätten diese weder Teil
                                        al transportiert werden. Wenn wir das       an Kindeserziehung noch irgendetwas
                                        Wort „Putzkraft“ hören, denken wir nach     Nützliches dazu beizutragen.
                                        wie vor zu oft automatisch an eine Frau –
                                        in der Regel an eine ausländische Frau.     Martin ist in einem kleinen mittelfrän-
                                        Das eine Mal, als ein Mann in Martins       kischen Ort aufgewachsen. Damals in
                                        WG sauber gemacht hat, hat sich das         den frühen 1990ern kannte er keinen
                                        fast merkwürdig angefühlt – so, als         einzigen Mann, der zu Hause blieb und

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