AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MENSCHENRECHTE - BPB
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70. Jahrgang, 20/2020, 11. Mai 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Menschenrechte Anne Peters · Elif Askin Hannah Birkenkötter · Lisa Heemann INTERNATIONALER MENSCHENRECHTE MENSCHENRECHTSSCHUTZ: UND 75 JAHRE EINE EINFÜHRUNG VEREINTE NATIONEN Wolfgang Kaleck Claudia Kittel FUNDIERTE HOFFNUNG. DREI JAHRZEHNTE DER KAMPF FÜR UN-KINDERRECHTS- MENSCHENRECHTE KONVENTION IN KRISENZEITEN María do Mar Castro Varela · Stephen Hopgood Nikita Dhawan MORBIDE SYMPTOME. DIE UNIVERSALITÄT DIE KRISE DER MENSCHENRECHTE DER MENSCHENRECHTE ÜBERDENKEN ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Menschenrechte APuZ 20/2020 ANNE PETERS · ELIF ASKIN HANNAH BIRKENKÖTTER · LISA HEEMANN INTERNATIONALER MENSCHENRECHTE UND 75 JAHRE MENSCHENRECHTSSCHUTZ: VEREINTE NATIONEN EINE EINFÜHRUNG Wie haben sich seit der Gründung der Vereinten Was sind Menschenrechte aus völkerrechtlicher Nationen das Netz menschenrechtlicher Perspektive? Mithilfe welcher völkerrechtlicher Normen und sein flankierendes institutionelles Verfahren und Institutionen werden sie Gefüge entwickelt? Wie kann das UN-Men- gefördert und durchgesetzt? Und was können schenrechtssystem angesichts der zunehmenden Menschenrechte in der globalen oder gar post- Abkehr vom Multilateralismus gestärkt werden? globalisierten Konstellation leisten? Seite 20–25 Seite 04–10 CLAUDIA KITTEL WOLFGANG KALECK DREI JAHRZEHNTE FUNDIERTE HOFFNUNG. DER KAMPF UN-KINDERRECHTSKONVENTION FÜR MENSCHENRECHTE IN KRISENZEITEN Mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 Die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit wurde völkerrechtlich festgeschrieben: Kinder der vergangenen Dekaden zeigt: Der Abgesang sind eigeständige Träger_innen von Rechten. auf die Menschenrechte kommt verfrüht. Denn Dieser Grundsatz stellt auch nach drei Jahrzehn- sie birgt ein großes Potenzial und bietet eine ten weltweit und in Deutschland immer noch konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für eine große Herausforderung dar. eine fundierte Hoffnung. Seite 26–32 Seite 11–15 MARÍA DO MAR CASTRO VARELA · STEPHEN HOPGOOD NIKITA DHAWAN MORBIDE SYMPTOME. DIE UNIVERSALITÄT DER MENSCHENRECHTE DIE KRISE DER MENSCHENRECHTE ÜBERDENKEN In vielen Staaten des Westens gibt es Anzeichen Die postkoloniale Theorie untersucht Impli- einer schleichenden Entliberalisierung. Gleich- kationen des Kolonialismus für gegenwärtige zeitig gewinnen auf internationaler Ebene neue globale Politiken. Insbesondere die ambivalente Mächte an Einfluss. Mit dem Ende der westli- Rolle des Rechts wird kritisch beleuchtet. Dies chen Führung geraten auch die Menschenrechte umfasst auch eine Auseinandersetzung mit den unter Druck. internationalen Menschenrechten. Seite 16–19 Seite 33–38
EDITORIAL Mit der Charta der Vereinten Nationen legten die Unterzeichnerstaaten am 26. Juni 1945 den Grundstein für das moderne internationale Menschenrechts- schutzsystem: In Artikel 1 bekannten sie sich zu dem gemeinsamen Ziel, „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unter- schied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“. Seitdem wurden die Menschenrechte immer weiter präzisiert und kodifiziert sowie die Strukturen und Mechanismen zur Kontrolle ihrer Umset- zung inner- und außerhalb der Vereinten Nationen ausgebaut. Als politische Norm haben die Menschenrechte eine beachtliche Wirkmächtigkeit entfaltet und gehören heute zu den Leitmotiven des internationalen Diskurses. Doch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des interna- tionalen Menschenrechtsschutzes ist groß, und jüngere Entwicklungen geben Grund zur Sorge: Armut, humanitäre Katastrophen und Gewalt haben in den vergangenen Jahren so viele Menschen zur Flucht veranlasst wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Autoritäre Regime, die Menschenrechte gering schätzen, erstarken auf der Weltbühne, während in vielen liberalen Demokratien die Rechtsstaatlichkeit unter Druck gerät und sich insbesondere die USA unter Präsident Donald Trump zunehmend vom Multilateralismus abwenden. Der gerechtfertigte Krisendiskurs droht, Erfolge der Menschenrechtsarbeit etwa mit Blick auf die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, die Ächtung der Todesstrafe oder die Senkung der Kindersterblichkeit zu verdecken und das Engagement für Menschenrechte wirkungslos erscheinen zu lassen. Historisch betrachtet mussten Menschenrechte immer gegen Widerstände erkämpft und stets aufs Neue gegen Angriffe verteidigt werden. Für diesen fortwährenden Kampf braucht es auch heute einen langen Atem. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 20/2020 INTERNATIONALER MENSCHENRECHTSSCHUTZ Eine Einführung Anne Peters · Elif Askin Der internationale Menschenrechtsschutz ist der dern des Globalen Südens leben.04 Und in zahl- Phönix, der aus der Asche des Zweiten Welt- reichen Ländern der Welt wächst die private Ver- krieges aufgestiegen ist, schrieb der Oberste Ge- schuldung durch Studiendarlehen, medizinische richtshof Kanadas kürzlich in einem spektakulä- Verschuldung oder Kreditkartenverschuldung, ren Urteil gegen ein kanadisches Unternehmen, was dazu führen kann, dass die Verschuldeten das eine Mine in Eritrea unter Ausnutzung von Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wasser oder Zwangsarbeit betrieb.01 Aber was für ein Wesen Behausung nicht mehr befriedigen können.05 ist dieser Feuervogel? Die Kluft zwischen den Lippenbekenntnis- Auf dem Papier gedeiht er. Kaum ein Staat der sen der Staaten zu den Menschenrechten und ih- Welt spricht sich offen gegen Menschenrechts- rer praktischen Umsetzung ist also groß. Hinzu schutz aus. Die völkerrechtlichen Instrumente und kommt ein intellektueller Backlash gegen die Idee Institutionen werden ausgebaut und verfeinert. Es der Menschenrechte. Diese Angriffe sind nicht werden neue Menschenrechte proklamiert, vom nur strategisch, sondern hängen auch mit Kon- Recht gegen Korruption über ein Recht auf Inter- troversen über die philosophischen Grundlagen net bis hin zu einem Recht auf Klimaschutz. Men- von Menschenrechten zusammen.06 schenrechte werden für neue Gruppen, etwa Tiere, Was sind Menschenrechte aus völkerrechtli- diskutiert und gegen neue Verpflichtete, insbeson- cher Perspektive? Mithilfe welcher völkerrecht- dere Wirtschaftsunternehmen, eingesetzt. Immer licher Verfahren und Institutionen werden sie mehr Rechtsregime werden im Lichte der Men- gefördert und durchgesetzt? Und was können schenrechte Betroffener verändert, etwa die Re- Menschenrechte in der globalen oder gar post- geln zum Schutz von Auslandsinvestitionen im globalisierten Konstellation leisten? Verhältnis zu Rechten indigener Bevölkerungen. Dem stehen anhaltende Menschenrechts- SCHUTZ MENSCHLICHER verletzungen in allen Regionen der Welt gegen- GRUNDBEDÜRFNISSE über.02 Diese reichen von der Missachtung quasi UND INTERESSEN aller Rechte in Ländern wie Venezuela oder Syri- en über Misshandlung und Diskriminierung von Menschenrechte sollen grundlegende Interessen Migranten und Geflüchteten in fast allen Ziellän- und Bedürfnisse schützen, etwa das Interesse am dern bis hin zu übermäßigen Eingriffen in die Pri- Leben und das damit einhergehende Bedürfnis nach vatsphäre durch internetbasierte Überwachung in Nahrung; sie sollen die Entfaltung menschlicher Fä- vielen Staaten des Globalen Nordens. 2019 lebten higkeiten ermöglichen, etwa das Leben in Gemein- nur drei Prozent der gesamten Weltbevölkerung schaft und in Kommunikation mit anderen, und in Ländern, welche die klassischen bürgerlichen insgesamt Menschen befähigen, ihr Leben in Wür- Menschenrechte der Meinungs-, Versammlungs- de zu gestalten. Das Gegenstück zu den Menschen- und Vereinigungsfreiheit vollständig gewährleis- rechten sind die Pflichten des Staates, diese Rechte ten.03 Bei den wirtschaftlichen und sozialen Men- zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. schenrechten, etwa den Rechten auf Nahrung, Menschenrechte sind sogenannte subjektive Gesundheit oder Arbeit, sieht es nicht besser aus. Rechte, anders als rein objektive Schutznormen Mehr als 820 Millionen Menschen sind weltweit oder Standards wie Umwelt- oder Tierschutz- chronisch unterernährt, von denen fast alle in Län- vorschriften. Weil Menschenrechte juridische 04
Menschenrechte APuZ Ansprüche erzeugen, ermächtigen sie Einzelne, sicherten Prinzip der Nichteinmischung in inne- die Beeinträchtigung ihrer Rechte anzuprangern. re Angelegenheiten und der Staatensouveränität in Menschenrechte verwandeln damit Opfer in Bür- einem Spannungsverhältnis, das mit dem Ende des ger (empowerment). Kalten Krieges zwar abgemildert, aber nicht voll- Menschenrechte sind eine historische Antwort kommen überwunden wurde. Ein wichtiger Mei- auf konkrete Bedrohungssituationen. Bereits im lenstein war hier die Wiener Menschenrechtskon- 17. Jahrhundert wurde in England die Habeas- ferenz von 1993, deren Schlussdeklaration festhält, Corpus-Beschwerdemöglichkeit geschaffen, mit dass der Menschenrechtsschutz eine Sache der in- der ein verhafteter Mensch eine richterliche Prü- ternationalen Gemeinschaft ist und keine inner- fung seiner Haft verlangen konnte. Habeas Cor- staatliche Angelegenheit. Unter der Maxime „alle pus ist unvermindert wichtig und wurde etwa von Menschenrechte für alle“ betonten die damaligen inhaftierten Terrorverdächtigen in Guantánamo Staatsoberhäupter die Universalität, Unteilbarkeit beansprucht. Da Menschenrechte eine konkre- und Interdependenz aller Menschenrechte. te juristische Antwort auf Bedrohungen sind, die Das Fundament des universellen Menschen- sich stetig verändern, werden immer wieder neue rechtsschutzes, die International Bill of Human Menschenrechte formuliert, etwa das Recht auf Rights, bilden neben der AEMR die beiden UN- Datenschutz oder das Recht auf Schutz vor gene- Menschenrechtspakte von 1966. Der Internationale tischer Diskriminierung. Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivil- pakt) umfasst die klassischen liberalen Freiheits- KODIFIKATIONEN NACH 1945 rechte beziehungsweise die sogenannten Rechte der ersten Generation wie das Recht auf Leben, Schutz Menschenrechte waren historisch in erster Linie vor Folter, Religionsfreiheit und die Meinungs- und gegen den Staat gerichtet, weil dieser aufgrund Informationsfreiheit. Der Internationale Pakt über seines Gewaltmonopols ein spezifisches Bedro- wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (So- hungspotenzial aufweist. Die Staaten sind aber zialpakt) enthält hingegen die Rechte der zweiten auch diejenigen Institutionen, welche die Men- Generation wie das Recht auf einen angemessenen schenrechte sichern und gewährleisten. In Situati- Lebensstandard einschließlich Nahrung, Gesund- onen prekärer Staatlichkeit oder in failed states ist heit oder Wasser, das Recht auf soziale Sicherheit die Menschenrechtslage schlechter als in stabilen und das Recht auf Bildung. Diese Aufteilung der Staaten. Nachdem in den Staatsverfassungen der Rechte in zwei völkerrechtliche Verträge hatte mit westlichen Welt Menschen- und Grundrechtskata- der damaligen ideologischen Auseinandersetzung loge schon im 18. Jahrhundert aufkamen, wurden zu tun: Das westliche Lager hielt die bürgerlichen zusätzliche überstaatliche Garantien erst nach dem und politischen Rechte für die „eigentlichen“ Men- Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf Nationalsozia- schenrechte, im sozialistischen Block war es ge- lismus und Krieg eingeführt. Der Menschenrechts- nau umgekehrt. Heute gelten die Menschenrechte schutz wurde als Ziel und Aufgabe der Vereinten als unteilbar. Dennoch lebt der alte Gegensatz fort: Nationen in der UN-Charta von 1945 anerkannt. China hat nur den Sozialpakt ratifiziert, wohinge- Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Er- gen die USA nur dem Zivilpakt beigetreten sind. klärung der Menschenrechte (AEMR) als Resolu- Tatsächlich unterscheidet sich die Verpflich- tion der UN-Generalversammlung verabschiedet. tungsstruktur beider Gruppen von Menschen- Das internationale Menschenrechtsschutzsys- rechten: Während der Zivilpakt die darin enthalte- tem steht mit dem ebenfalls völkerrechtlich abge- nen Rechte für sofort und unmittelbar verbindlich erklärt, wird im Sozialpakt lediglich eine allmäh- liche Umsetzung unter dem Vorbehalt des Mög- 01 Vgl. Kanadischer Supreme Court, Nevsun Resources Ltd. v. Araya, 2020 SCC 5, Urt. v. 28. 2. 2020, Rn. 1. lichen gefordert. Die Rechtsprechungsaktivität 02 Siehe etwa die jährlichen Berichte von Amnesty International. staatlicher Gerichte hat aber soziale Menschen- 03 Vgl. Civicus, People Power Under Attack 2019, Dezember rechte in vielen Staaten operationalisiert.07 Die- 2019, https://civicus.contentfiles.net/media/assets/file/GlobalRe- port2019.pdf. 04 Vgl. FAO, The State of Food and Agriculture, Rom 2019, S. v. 07 Wegweisend das südafrikanische Verfassungsgericht, 05 Vgl. UN Doc. A/HRC/43/45. Government of the Republic of South Africa v. Grootboom, Urt. 06 Vgl. Rowan Cruft/S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hrsg.), v. 4. 10. 2000 (CCT11/00) [2000] ZACC 19; 2001 (1) SA 46, Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015. 2000 (11) BCLR 1169. 05
APuZ 20/2020 se sind also nicht nur Programmsätze, deren Ver- unterschiedliche Auffassungen über den Schutz- wirklichung ausschließlich eine dem Gesetzgeber umfang der in diesen Verträgen ausformulierten obliegende politische Angelegenheit wäre. Rechte fort, vor allem mit Blick auf die Familie, Weitere universelle Menschenrechtsabkom- die Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis men wurden für bestimmte Themen oder Gruppen des Einzelnen zur Gruppe. Beispielsweise werden geschlossen, beispielsweise die Anti-Rassismus- sogenannte Ehrenmorde in einigen arabischen konvention von 1965, die Frauenrechtskonventi- Staaten und die Genitalverstümmelung von Frau- on von 1979 und die Anti-Folterkonvention von en in einigen Staaten Afrikas von Behörden to- 1984.08 Daneben existieren regionale Menschen- leriert. Manche asiatischen Gesellschaften halten rechtsverträge, die jeweils kulturelle Besonderhei- eine sehr weitgehende Datenerfassung und Perso- ten aufweisen. Die Europäische Menschenrechts- nentracking zum Schutz der öffentlichen Gesund- konvention (EMRK) von 1950 ist ein klassisch heit für angemessen. In vielen Bundesstaaten der liberales Instrument mit bürgerlichen und poli- USA sowie in anderen Weltregionen gilt die To- tischen Rechten, enthält aber nicht ausdrücklich desstrafe als vereinbar mit dem Recht auf Leben. soziale Menschenrechte. Sozialrechtliche Dimen- In der Präambel der UNESCO-Konvention sionen wurden in den Vertragsstaaten durch die über den Schutz und die Förderung der Vielfalt dynamische Rechtsprechung des Europäischen kultureller Ausdrucksformen von 2005 wird die Gerichthofs für Menschenrechte (EGMR) einge- kulturelle Vielfalt als gemeinsames Menschheits- führt, etwa ein Recht auf bezahlten Elternurlaub, erbe bezeichnet. Zugleich soll niemand die Vor- abgeleitet aus dem Grundrecht auf Nichtdiskri- schriften dieses Abkommens anführen dürfen, minierung.09 Die Afrikanische Charta der Men- um die international garantierten Menschenrech- schenrechte und Rechte der Völker (Banjul-Char- te einzuschränken oder zu verletzen. Fraglich ist ta) von 1981 umfasst auch kollektive Rechte der also, ab wann kulturell verwurzelte Menschen- dritten Generation wie ein Recht der Völker auf rechtsbeeinträchtigungen eine Verletzung der Entwicklung und auf Verfügung über ihre Boden- universellen Mindeststandards darstellen. schätze und statuiert ferner Pflichten des Einzel- Das internationale Menschenrechtssystem stellt nen gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat. juristische Instrumente zur Verfügung, die der kul- Die Arabische Charta der Menschenrechte von turellen Vielfalt Rechnung tragen. Da die in den 2004 verankert ein „Menschenrecht“ auf natio- Verträgen enthaltenen Rechte sehr vage und weit nale Souveränität und territoriale Integrität, und formuliert sind, können kulturelle Besonderheiten die Gleichberechtigung von Männern und Frauen durch Auslegung berücksichtigt werden. Die Ge- besteht hier unter Vorbehalt der „positiven“ Dis- richte räumen hier den nationalen Behörden einen kriminierung von Frauen durch die Scharia. besonderen Spielraum ein. So hat der EGMR im Kontext des französischen Burkaverbots im öffent- UNIVERSALITÄT lichen Raum anerkannt, dass dieses durch das Prin- UND KULTURELLE VIELFALT zip des Zusammenlebens (vivre ensemble) in der französischen Gesellschaft mittels visueller Kom- Zur Grundidee von Menschenrechten gehört, dass munikation gerechtfertigt sei.10 Auch können Staa- sie allen Menschen zukommen, also universell gel- ten zu einzelnen Vertragsvorschriften Vorbehalte ten. Aber erst nach Ende der Ost-West-Spaltung erklären. Deutschland hat etwa das Fakultativpro- stieg in den 1990er Jahren die Ratifikation und da- tokoll zum Zivilpakt unter dem Vorbehalt ratifi- mit die Verbindlichmachung der Verträge in allen ziert, dass Personen sich nicht auf die allgemeine Staaten der Welt steil an. Heute haben 80 Prozent Gleichheitsgarantie (Artikel 26) berufen dürfen, der Staaten mindestens vier der wichtigsten Men- wenn Freiheitsrechte betroffen sind, die nicht selbst schenrechtsverträge ratifiziert. Dennoch bestehen im Pakt garantiert sind, etwa das Recht auf Eigen- tum oder Gesundheit. Islamische Staaten bringen sehr oft Vorbehalte zur Religionsfreiheit an. 08 Zu den fünf genannten Abkommen treten die Kinderrechts- Die Frage bleibt, wo genau der universel- konvention, die Wanderarbeitnehmerkonvention, die Behinder- le Mindeststandard liegt, unter den Staaten trotz tenrechtskonvention und die Konvention gegen erzwungenes Verschwindenlassen hinzu. kultureller oder regionaler Eigenarten nicht fal- 09 Vgl. EGMR, Konstantin Markin v. Russia, 22. 3. 2012 (Nr. 30078/06). 10 Vgl. ders., S. A. S. v. France, Urt. v. 1. 7. 2014 (Nr. 43835/11). 06
Menschenrechte APuZ len dürfen. Im internationalen Menschenrechts- se Staatenberichtsverfahren leiden jedoch an zeitli- schutzsystem gibt es kaum Durchsetzungsinstan- chen Rückständen bei der Erstellung der Berichte zen, die verbindliche Entscheidungen zu solchen und bei der Prüfung durch die überlasteten Aus- Fragen treffen können. Die Frage des universellen schüsse. Auch sind die Berichte teilweise oberfläch- Minimums muss deshalb immer wieder im globa- lich oder verfälscht. NGOs haben die Möglichkeit, len Diskurs ausgehandelt werden. Entscheidend flankierende und zum Teil korrigierende „Schatten- ist, dass hieran nicht nur die Machthaber, die von berichte“ zu erstellen, die in das Verfahren einbe- restriktiven Auslegungen profitieren, teilnehmen, zogen werden. Die staatliche Umsetzung der Aus- sondern vor allem die Betroffenen selbst. schussempfehlungen wird nur schwach überwacht, da die Ausschüsse keine Druckmittel besitzen. DURCHSETZUNG Individualmitteilungsverfahren, wie sie in einigen Menschenrechtsverträgen vorgesehen Für die Durchsetzung der Menschenrechte sind in sind, eröffnen Einzelnen die Möglichkeit, sich erster Linie die Staaten verantwortlich, denn sie sind direkt an einen Expertenausschuss zu wenden. kraft ihrer Souveränität verpflichtet, die Menschen- Vorbedingung ist allerdings, dass der jeweili- rechte auf eigenem Staatsgebiet zu verwirklichen. ge Verletzerstaat dieser Möglichkeit grundsätz- Vor diesem Hintergrund sind Individuen grund- lich zugestimmt hat. So hat etwa Deutschland sätzlich angehalten, den innerstaatlichen Rechtsweg die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschus- im Verletzerstaat zu durchlaufen, bevor sie sich an ses zum Zivilpakt zur Prüfung von Individual- die überstaatlichen Instanzen wenden können. Auf mitteilungen anerkannt. Der Ausschuss spricht völkerrechtlicher Ebene werden Menschenrechte in der Regel eine Empfehlung zur Wiedergut- zum einen mit dezentralen beziehungsweise bilate- machung der Menschenrechtsverletzung an den ralen Mitteln durch die Staaten selbst durchgesetzt, Verletzerstaat aus. Die das Verfahren abschlie- etwa mittels Menschenrechtsdialogen oder Wirt- ßenden Auffassungen des Ausschusses entfalten schaftssanktionen. Zum anderen bestehen zentrale jedoch keine rechtliche Bindungswirkung. Die Durchsetzungsmechanismen. Zu unterscheiden Verletzerstaaten sind lediglich zu ihrer Berück- sind hierbei die vertragsbezogenen von den nicht- sichtigung nach Treu und Glauben verpflichtet. vertragsspezifischen sowie die universellen von den 2013 wurde das Individualmitteilungsverfahren regionalen Durchsetzungsmechanismen. vor dem UN-Sozialausschuss eingeführt.12 We- der Deutschland noch die USA noch China ha- Universeller Menschenrechtsschutz ben dieses Fakultativprotokoll ratifiziert. Die Die vertraglichen Prüfungsorgane der universel- meisten Individualmitteilungen sind bislang ge- len Menschenrechtsverträge sind keine Gerichte, gen Spanien ergangen. Beispielsweise hat Spanien sondern unabhängige Expertenausschüsse. Diese das Recht auf Behausung durch fehlende Beteili- arbeiten mit verschiedenen Durchsetzungsinstru- gung der Eigentümerin einer Wohnung bei der menten: Staatenberichtsverfahren, Individualmit- Vollstreckung einer Hypothek verletzt.13 teilungen und Staatenbeschwerden. Staatenbeschwerdeverfahren berechtigen einen Regelmäßige Staatenberichte sind alle zwei Vertragsstaat, gegen eine andere Vertragspartei Be- bis fünf Jahre obligatorisch. Die Ausschüsse ver- schwerde wegen Verletzung der Menschenrechts- fassen zu den Berichten sogenannte Abschließen- pflichten einzureichen. Da eine Staatenbeschwer- de Bemerkungen, in denen sie Empfehlungen an de die Beziehungen zum beklagten Staat erheblich den überprüften Staat abgeben. Der Ausschuss beeinträchtigen kann, setzen Staaten dieses Ver- zum Sozialpakt, der UN-Sozialausschuss, hat bei- fahren nur selten in Gang. spielsweise in den Abschließenden Bemerkun- Zu den universellen nicht-vertragsspezifi- gen zum Staatenbericht von Deutschland 2018 die schen Durchsetzungsinstanzen zählt insbesonde- Menschenrechtsstandards für Unternehmen als zu re der 2006 gegründete UN-Menschenrechtsrat. unverbindlich kritisiert und die Bundesrepublik Dieser setzt sich aus Vertretern von 47 UN-Mit- angemahnt, die menschenrechtsrelevanten Auswir- gliedstaaten zusammen, die turnusmäßig von der kungen ihrer Handels- oder Investitionspolitik auf Generalversammlung gewählt werden. Seine Mit- Individuen im Ausland zu berücksichtigen.11 Die- 12 Vgl. UN Doc. A/RES/63/117. 11 Vgl. UN Doc. E/C .12/DEU/CO/6, Rn. 7 ff. 13 Vgl. UN Doc. E/C .12/55/D/2/2014. 07
APuZ 20/2020 glieder sind also keine unabhängigen Sachver- teile diskutiert werden.16 2019 wurden 44 500 Be- ständigen, sondern weisungsgebunden. Der Men- schwerden vorgelegt. Der Gerichtshof entschied im schenrechtsrat ist dementsprechend ein genuin selben Jahr in fast 40 000 Fällen, wobei die meisten politisches Organ. Er befasst sich unter anderem Beschwerden für unzulässig erklärt wurden.17 Ak- mit groben und systematischen Menschenrechts- tuell sind fast 60 000 Beschwerden anhängig. Die verletzungen durch Abgabe von Empfehlungen. häufigsten abgeurteilten Konventionsverstöße be- Mit Gründung des Menschenrechtsrates wurde gehen Russland, die Türkei und die Ukraine. Gegen auch der Universal Periodic Review (UPR) ein- Deutschland wurden 2019 über 500 Beschwerden geführt. Hiermit überprüfen sich die Staaten ge- erhoben, bei acht wurde der Fall sachlich geprüft genseitig am Maßstab der jeweils für den Staat und in keinem Fall eine Konventionsverletzung geltenden Menschenrechtspflichten. Es kann zu festgestellt. In den Jahren zuvor ist Deutschland Manipulationen bei der Überprüfung kommen, verschiedentlich verurteilt worden, beispielsweise etwa wenn einflussreiche Staaten sich von be- wegen Polizeigewalt gegen Hooligans18 oder wegen freundeten Staaten oder Schein-NGOs loben las- der Diskriminierung eines nichtehelichen Kindes.19 sen. Ein UPR endet mit einem Schlussbericht, der Im interamerikanischen Menschenrechtsschutz eine Einschätzung der Menschenrechtssituation system existieren zur Umsetzung der Amerikani- und Empfehlungen enthält. Deutschland wurde schen Menschenrechtskonvention (AMRK) von zuletzt 2018 überprüft und erhielt Empfehlungen 1969 eine Kommission (IAKMR) und der Intera- zum Umgang mit Rassismus und Hassrede.14 merikanische Gerichtshof (IAGMR). Mit der Ra- tifizierung der AMRK erkennen die Staaten die Regionaler Menschenrechtsschutz Zuständigkeit der Kommission für Individualbe- Anders als auf der UN-Ebene finden sich auf re- schwerdeverfahren automatisch an. Dies gilt ak- gionaler Ebene Menschenrechtsgerichte. Das eu- tuell für 25 Staaten. Die USA haben die AMRK ropäische Menschenrechtssystem ist am stärksten nicht ratifiziert, erkennen jedoch die Amerikani- entwickelt. Der EGMR in Straßburg ist seit 1998 sche Menschenrechtserklärung an. Anhand die- eine ständige Institution. Jeder der 47 Mitglied- ser kann die IAKMR auch die USA messen. Der staaten des Europarates ist automatisch seiner IAGMR kann nicht automatisch von Individuen Gerichtsbarkeit unterworfen. Die Individualbe- angerufen werden, sondern wird lediglich nach Be- schwerde zum EGMR ist das wichtigste Verfah- handlung einer Beschwerde durch die Kommissi- ren. Jede Person, die sich in der Hoheitsgewalt on zuständig. Deshalb ist dieser Gerichtshof auch (Jurisdiktion) eines Konventionsstaates befindet, viel weniger ausgelastet als der EGMR. Beide in- hat ein individuelles Beschwerderecht gegen die- teramerikanischen Instanzen behandeln schwerste sen Staat. Der Konventionsschutz gilt auch hier Regimekriminalität und zunehmend auch „alltäg- nur subsidiär. Geschädigte Individuen müssen liche“ Menschenrechtsverletzungen wie Diskrimi- also zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg nierungen gleichgeschlechtlicher Paare in Kolum- durchlaufen, bevor sie sich an den EGMR wen- bien oder moderne Sklaverei in Brasilien.20 den dürfen. Ferner besteht die Möglichkeit, dass Auch das afrikanische Menschenrechtsschutz- ein Staat mittels Staatenbeschwerde stellvertre- system ist zweistufig, mit einer Kommission und tend für seine Staatsangehörigen oder in seiner einem Gerichtshof. Unter bestimmten Voraus- „Wächterfunktion“ der EMRK eine andere Ver- setzungen können Nichtregierungsorganisatio- tragspartei verklagt. Beispielsweise hat Zypern gegen die Türkei wegen der Besetzung Nordzy- perns Beschwerde erhoben und die Ukraine ge- 16 Neuere Reformvorschläge enthält die Kopenhagen-Erklä- rung der Konventionsstaaten vom 12./13. April 2018. gen Russland nach der Annexion der Krim und 17 Vgl. EGMR, Statistics 2019, 2020, https://echr.coe.int/ dem Krieg in der Ostukraine.15 Documents/Stats_annual_2019_ENG.pdf. So gab es „nur“ 2187 Der EGMR ist extrem ausgelastet, sodass in Sachurteile. 38 480 Beschwerden wurden für unzulässig erklärt. jüngerer Zeit Reformen zur Bewältigung des Rück- 18 Vgl. ders., Hentschel u. Stark v. Deutschland, Urt. v. 9. 11. 2017 staus in der Aburteilung und Umsetzung der Ur- (Nr. 47274/15). 19 Vgl. ders., Mitzinger v. Deutschland, Urt. v. 9. 4. 2017 (Nr. 29762/10). 14 Vgl. UN Doc. A/HRC/39/9. 20 Vgl. IAGMR, Duquze v. Colombia, Urt. v. 2. 4. 2014, Report on 15 Vgl. EGMR, Cyprus v. Turkey, Urt. v. 12. 5. 2014 (Nr. 25781/94); Merits, No. 5/14, Case No. 12.841; ders., Workers of the Hacien- ders., Ukraine v. Russia (Nr. 55855/18), anhängig. da Brasil Verde v. Brazil, Urt. v. 20. 10. 2016, Series C No. 318. 08
Menschenrechte APuZ nen oder Einzelne direkt an das Gericht gelangen. Hinzu kommt, dass sogar langjährige Mitgliedstaa- Es sind bisher erst einige Hundert Kommissions- ten wie das Vereinigte Königreich und die Schweiz entscheidungen und gut 30 Urteile ergangen. Bei- die Legitimität des Gerichtshofs in Zweifel ziehen. spielsweise wurde festgestellt, dass Kenia durch Auf nationaler Ebene fällt in immer mehr die Vertreibung der indigenen Volksgruppe Ogiek Staaten eine populistische Unterminierung von von ihrem angestammten Land im Mau-Wald die Menschenrechtserrungenschaften unter Verweis Konvention verletzt hat.21 Restriktive Zulässig- auf die angebliche Mehrheitsmeinung in der Ge- keitsvoraussetzungen für die Einreichung von sellschaft auf, die sich für Minderheitenanliegen Beschwerden sowie Ressourcenmangel erschwe- wie die Stärkung der Rechte Homosexueller nicht ren jedoch den Zugang zu diesen Instanzen. interessierte.24 Dies geht häufig einher mit der Die Arabische Menschenrechtscharta begrün- Dämonisierung der internationalen Menschen- det keinen Gerichtshof, sondern lediglich eine rechtsinstanzen, die solche Rechte schützen. Kommission, die Staatenberichte zu prüfen hat. Vielfach sind Einwände gegen Menschen- Individualbeschwerden sind nicht vorgesehen. rechte Schutzbehauptungen lokaler Eliten, die Eine wirksame Kommissionstätigkeit ist nicht ihre Pfründe und Privilegien durch die Forde- zu verzeichnen. In Asien wurde bislang kein ver- rungen nach gleicher Freiheit für alle bedroht se- bindliches Menschenrechtsschutzsystem geschaf- hen. Die politisch-strategische Gegenbewegung fen. Zwar liegen verschiedene Menschenrechts- trifft heute mit einer Fundamentalkritik an den erklärungen vor, wie etwa die von der ASEAN Menschenrechten zusammen, die sich aus un- ausgearbeitete Menschenrechtserklärung von 2012. terschiedlichen ideologischen Quellen speist.25 Diese Instrumente entfalten allerdings keine Kommunitaristen und Tugendethiker befürch- rechtlichen Bindungswirkungen. ten, dass der Fokus auf Rechte zu einer über- mäßigen Verrechtlichung des gesellschaftlichen BACKLASH Zusammenlebens führt und ein Anspruchsden- ken zulasten von Verantwortung und Solidari- Die Urteile der regionalen Menschenrechtsgerichte tät geht. Demokratietheoretiker sehen eine Kne- sind rechtsverbindlich, aber es häufen sich die Fälle belung der Demokratie, wenn zu starke oder von Nichtbefolgung. So haben Russland oder die zu viele Menschenrechte einer Veränderung im Türkei in den vergangenen Jahren die meisten ge- politischen Prozess enthoben werden. Für den gen sie ergangenen Urteile des EGMR nicht voll- Neomarxismus und die nahestehende kritische ständig oder überhaupt nicht umgesetzt, oft un- Rechtstheorie dienen Menschenrechte dem Be- ter Verweis auf die „Politisierung“ des Gerichts. sitzbürgertum, lenken vom Grundproblem der 2015 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, Herrschaft des globalen Kapitals ab und ver- das die Umsetzung von Urteilen verhindert, wenn hindern die wünschenswerte Revolution. Am diese der russischen Verfassung widersprechen anderen Ende des ideellen Spektrums bekla- würden.22 Um der Nichtumsetzung entgegenzu- gen neo- und wirtschaftsliberale Skeptiker ei- wirken, war schon 2010 ein Urteilsbefolgungsver- nen Wildwuchs an Menschenrechten, der die fahren eingeführt worden: Das politische Organ, Grundidee abwerte und durch seine Undurch- das Ministerkomitee, kann seitdem den EGMR mit sichtigkeit die Wirksamkeit des Basisschutzes der Frage befassen, ob der Staat seiner Befolgungs- elementarer Freiheiten schmälere. Im postkolo- pflicht nachgekommen ist. Der Gerichtshof kann nialen Kontext ist die Skepsis auch eine Reaktion dann in einem zweiten Urteil feststellen, ob der auf die historische Erfahrung, dass die ohnehin Staat durch Nichtbefolgung des Ersturteils Arti- als westlich geprägt kritisierten Menschenrechte kel 46 Absatz 1 EMRK verletzt hat. Wegen der ho- durch westliche Staaten missbraucht wurden, um hen Hürden ist dieses Verfahren aber sehr selten.23 ökonomische oder sogar militärische Interventi- onen in anderen Weltregionen zu rechtfertigen. 21 Vgl. African Court on Human and Peoples’ Rights, African Commission on Human and Peoples’ Rights v. Republic of Kenya, 24 Vgl. Veronika Bílková, Populism and Human Rights, in: Urt. v. 27. 5. 2017 (Nr. 006/2012). Netherlands Yearbook of International Law 49/2018, S. 143 ff. 22 Siehe auch Venice Commission, Opinion Nr. 832/2015. 25 Vgl. Marie-Bénédicte Dembour, Critiques, in: Daniel Moeckli/ 23 Erstmals hat EGMR, Mammadov v. Azerbaijan, Urt. v. Sangeeta Shah/Sandesh Sivakumaran (Hrsg.), International 29. 5. 2019 (Nr. 15172/13) eine Nichtbefolgung bestätigt. Human Rights Law, Oxford 20173, S. 53 ff. 09
APuZ 20/2020 AUSWEITUNG FAZIT Trotz dieser Gegenbewegungen und der Über- Der internationale Menschenrechtsschutz unter- lastung der Durchsetzungsinstanzen erfahren liegt aktuell gegenläufigen Trends. Funktioniert er Menschenrechte immer mehr Ausweitungen und in dieser ambivalenten Situation? Klar ist, dass die Verfeinerungen. Es werden zunehmend neue völkerrechtlichen Verträge keine harten Durch- Menschenrechte anerkannt und neue Rechtsträ- setzungsmaßnahmen erlauben, um Staaten zu ih- ger identifiziert. Auch eine örtliche Ausweitung rer wirksamen Einhaltung zu zwingen. Zudem des Anwendungsbereichs der Verträge ist zu ver- haben die internationalen Schutzinstanzen durch zeichnen. Angesichts steigender Polizei- und Mi- zunehmende Überlastung und Legitimitätskri- litäreinsätze im Ausland stellt sich etwa in Europa sen an Effektivität eingebüßt. Die Verwirklichung die Frage, ob Polizeibeamte und Soldaten auch der Menschenrechte ist aber ohnehin weniger mit auf fremdem Territorium an Menschenrechts- Druck von außen als vielmehr durch Sozialisie- verträge gebunden sind. Der EGMR hat vielfach rung, also durch gesellschaftliche und politische die EMRK „extraterritorial“ angewendet, etwa Auseinandersetzung im Inneren eines Verletzer- auf Patrouillen britischer Soldaten im Irak.26 Au- staates, zu erreichen. Menschenrechte erlauben ßerdem können sich wirtschaftspolitische Maß- die „Kanalisierung“ von Diskursen in der Spra- nahmen nachteilig auf Rechte von Individuen im che der Rechte und können so von Vertretern der Ausland auswirken. Beispielsweise erleichtern Zivilgesellschaft als Argumente aufgegriffen wer- EU-Exportsubventionen den Absatz billiger eu- den. Allerdings bestehen hier zwei Gefahren: Ers- ropäischer Agrarprodukte in anderen Kontinen- tens sind Menschenrechte nur beschränkt geeig- ten. Im Extremfall kann das Recht auf Nahrung net, jeglichen gesellschaftlichen Anforderungen afrikanischer Bauern, die dadurch ihre eigenen in Zeiten der Globalisierung effektiv zu begegnen. Produkte nicht mehr für ihren Lebensunterhalt Das Vokabular der Menschenrechte sollte nicht veräußern können, verletzt werden. Solche un- zum cheap talk werden und die Menschenrechts- ter Umständen massiv schädlichen Auswirkun- idee überstrapazieren. Zweitens wird nicht selten gen auf Bevölkerungen anderswo sind aber sehr mit zweierlei Maß gemessen, also schwachen Staa- schwer bestimmbar und rückverfolgbar. Deshalb ten menschenrechtliche Pflichten auferlegt, die ist fraglich, ob Menschenrechte hier eine Lösung reiche und mächtige Staaten selbst nicht einhal- bieten können. ten. Westliche Akteure sollten sich hier konsistent Auch in Richtung der Pflichtenträger werden verhalten, um glaubwürdig zu bleiben. Außerdem Menschenrechte ausgeweitet. Die Frage, wie auch ist ein „milder“ Relativismus angemessen, der auf private Akteure, insbesondere transnationale Wirt- verschiedene Regionen und Kulturen der Welt schaftsunternehmen, für von ihnen mitverursachte Rücksicht nimmt, ohne aber ein universelles Mi- Menschenrechtsprobleme juristisch zur Verantwor- nimum zu unterschreiten. Dieses Minimum muss tung gezogen werden können, wird gegenwärtig immer wieder neu definiert werden, und zwar intensiv diskutiert. Vorstöße wie das französische letztlich bottom-up, nach den Wertvorstellungen Sorgfaltspflichtengesetz und die schweizerische der Opfer, nicht der Täter.27 Wenn wir Inflation Konzernverantwortungsinitative versuchen, die und Doppelstandards vermeiden, bleiben die in- Unternehmen indirekt, über eine schärfere staatli- ternationalen Menschenrechte wirkmächtig – als che Gesetzgebung, in die Pflicht zu nehmen. Und „letzte Utopie“ der Menschheit.28 im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates wird ge- genwärtig ein Vertragsentwurf beraten, der Staaten ANNE PETERS dazu verpflichten soll, ihre Unternehmen für Men- ist Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländi- schenrechtsverstöße zu belangen. sches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) in Heidelberg und Professorin an den Universitäten Heidelberg, Freie Universität Berlin und Basel. 26 Vgl. EGMR, Al-Skeini u. a. v. UK, Urt. v. 7. 7. 2011 (Nr. 55721/07). apeters-office@mpil.de 27 Siehe zur empirischen Ermittlung der Wertvorstellungen von Menschen weltweit den World Values Survey unter www. worldvaluessurvey.org/wvs.jsp. ELIF ASKIN 28 Samuel Moyn, The Last Utopia: Human Rights in History, ist wissenschaftliche Referentin am MPIL. Cambridge MA 2010. askin@mpil.de 10
Menschenrechte APuZ ESSAY FUNDIERTE HOFFNUNG Der Kampf für Menschenrechte in Krisenzeiten Wolfgang Kaleck In der Corona-Krise manifestieren sich viele Ent- rungen und die USA, nicht erst unter Präsident wicklungen der vergangenen Jahre, die die Lage Donald Trump, verletzen Völkerrecht und Men- der Menschenrechte negativ beeinflusst haben: schenrechte. Damit wenden sich diese Staaten von ein die Welt umspannender Kapitalismus und eine jenem Normensystem ab, das sie nach dem Zwei- unkontrollierte, beschleunigte Digitalisierung, die ten Weltkrieg mit etabliert haben. Nicht zuletzt zu immer größerer Ungleichheit weltweit führen; deshalb machen sich neue Dystopien und eine läh- die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse; die mende Hoffnungslosigkeit breit. Dagegen muss Beschneidung von Sozialsystemen; die Privatisie- mit dem Philosophen Michel Serres erst einmal rung und der drastische Abbau der Gesundheits- gefragt werden: „Was genau war früher besser?“02 versorgung; der Verlust von öffentlichen Räumen; Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die verheerenden Auswirkungen des Klimawan- von 1948 und die beiden großen Pakte für politi- dels; knapper werdende lebenswichtige Ressour- sche und bürgerliche sowie für wirtschaftliche, so- cen wie Energie, sauberes Wasser und Nahrung. ziale und kulturelle Rechte von 1966 sind zweifel- Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, los als Meilensteine zu bewerten. Sie formulierten einer Verkündung der „Endzeit der Menschen- Ansprüche und Versprechen, an denen alle Staaten, rechte“01 entgegenzutreten und sich kontrazyk- gerade auch von ihren jeweiligen Gegnern im Kal- lisch dem Unbekannten der Geschichte positiv zu ten Krieg, gemessen wurden. Die vagen Programm- öffnen. Im Folgenden soll erstens ergründet wer- sätze wurden in den folgenden Jahrzehnten in kon- den, ob und – falls ja – warum die Menschenrech- kretere Rechtsnormen gegossen und entsprechende te in den vergangenen Jahren in eine Krise geraten Verfahren und Institutionen geschaffen. sind, die Anlass für das grassierende dystopische Dem westlichen Narrativ einer Fortschritts- Denken böte. Zweitens sollen der Skepsis Erfah- geschichte der Menschenrechte nach dem Zwei- rungen aus der Praxis von (juristischen) Kämp- ten Weltkrieg sind jedoch die Realitäten entge- fen um Menschenrechte der vergangenen beiden genzuhalten: Dem aus den Nürnberger Prozessen Dekaden gegenübergestellt und drittens Ideen für erwachsenen Anspruch, ein internationales Recht neue Koalitionen im Kampf für die Menschen- zu etablieren, mit dem die Verbrechen gegen die rechte formuliert werden. Menschlichkeit aller Nationen gleichermaßen ge- ahndet werden können, handelten nicht nur das MENSCHENRECHTE stalinistische Russland und das ebenfalls dem IN DER KRISE? UN-Sicherheitsrat ständig angehörende China zuwider, auch die europäischen Imperialmächte Die Menschenrechte werden derzeit an vielen Or- verübten bei der Niederschlagung der Unabhän- ten der Welt mit Füßen getreten – nicht nur von gigkeitsbewegungen in ihren Kolonien Kriegs- den „üblichen Verdächtigen“, den autokratischen verbrechen, und die USA unterstützten Militär- Herrschern von China, Russland und der Türkei. diktaturen etwa in Süd- und Mittelamerika. Auch aus Indien, Brasilien und Südafrika wer- Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der Politik- den gravierende Menschenrechtsverstöße und die wissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen Geschichte“, den Erfolg des westlich-liberalkapi- berichtet, ebenso aus Polen und Ungarn, insbe- talistischen Gesellschaftsmodells, zu dem es keine sondere im Umgang mit Minderheiten und Mi Alternative mehr gebe. Doch auch in den 1990er grant*innen. Auch die westeuropäischen Regie- Jahren war es nicht besser um die Menschenrechte 11
APuZ 20/2020 bestellt als vorher. Abseits der Metropolen wurden der Rechtswissenschaftler Makau Mutua den fast Völkermorde auf dem Balkan und in Ruanda sowie ausschließlichen Fokus auf Menschenrechtsver- zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit letzungen im Globalen Süden nach dem Sche- verübt, unter anderem in den kurdischen Gebieten ma „Wilde-Opfer-Retter“: Die Opfer von Men- der Türkei, in Kolumbien und in Zentralafrika. schenrechtsverletzungen durch unzivilisierte Wil- Das Ende dieser Erzählung leiteten die west- de müssen gerettet werden, wobei die Staaten und lichen Staaten schließlich selbst ein: mit dem Ein- Akteure des Globalen Nordens die Rolle der Ret- satz der Nato im Kosovo ohne UN-Mandat 1999, ter für sich beanspruchen.05 Zudem kritisiert er, mit willkürlichen Verhaftungen und Folterungen dass die großen zivilgesellschaftlichen Akteure von Terrorismusverdächtigen nach dem 11. Sep- wie Amnesty International und Human Rights tember 2001 sowie mit dem Irak-Krieg 2003, in Watch sich auf politische und bürgerliche Rechte den die USA und Großbritannien an der Spitze sowie auf Individualrechte beschränkten und die einer „Koalition der Willigen“ ohne UN-Man- kollektiven wirtschaftlichen, sozialen und kultu- dat zogen. Diese Rechtsverstöße signalisierten der rellen Rechte vernachlässigten.06 Welt: Wir halten uns an das Völkerrecht, solange Befinden sich die Menschenrechte also in der es unseren Interessen dient. Zeitgleich erstarkten Krise? Hat der Politikwissenschaftler Stephen weitere Akteure auf der Weltbühne wie China, Hopgood Recht, wenn er sagt, im Sinne einer ent- Brasilien, Indien, Südafrika und erneut Russland, stehenden neowestfälischen Weltordnung stehen die in einer nunmehr multipolaren Weltordnung die Menschenrechte als säkulares, universelles diese an den eigenen Interessen orientierte Ein- und nicht verhandelbares Normensystem für das stellung zum Völkerrecht übernahmen. alte Modell Europa, das so nicht mehr existiere? Auch in die zurückliegende Dekade fal- Sind Menschenrechte als Konzept gescheitert? len viele Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt allerdings, dass das seit 1945 entwickel- ERFAHRUNGEN AUS DER te Menschenrechtsschutzsystem sowie die (Völ- MENSCHENRECHTLICHEN PRAXIS ker-)Rechtsordnung insgesamt als Referenzrah- men gerade von jenen Akteuren aufgegeben wird, Die Kritik ist in den vergangenen Jahren von die an ihrer Schaffung entscheidenden Anteil hat- Menschenrechtsorganisationen sowohl im Nor- ten. Nicht nur die USA vollziehen eine Abkehr den als auch im Süden rezipiert worden, sodass vom Multilateralismus, auch in Europa beugt sich beispielsweise die Praxis der juristischen Men- der Europäische Gerichtshof für Menschenrech- schenrechtsarbeit der zurückliegenden zwei Jahr- te (EGMR) insbesondere im Bereich Migration zehnte ein sehr viel differenzierteres Bild ergibt. zunehmend politischem Druck. Ausdruck dafür So trägt in weiten Teilen Lateinamerikas ein brei- sind zwei jüngere Entscheidungen zur Rechtmä- tes Spektrum an Organisationen sowohl indivi- ßigkeit von Lagern im Grenzbereich von Ungarn duelle als auch kollektive Kämpfe für Menschen- und Serbien sowie im Fall von kollektiven Rück- rechte aus, zum Teil vor Gericht, zum Teil auf der schiebungen nach Spanien.03 Straße. Vieles von dem, was Kritiker*innen for- Kritik am Menschenrechtssystem und sei- nen Institutionen etwa in New York und Genf ist Anne Orford/Florian Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook durchaus berechtigt, wurde aber auch schon von of the Theory of International Law, Oxford 2016, S. 155–172; postkolonialen Kritiker*innen westlicher Men- Upendra Baxi, The Future of Human Rights, Delhi 2006; Bhupin- schenrechtspraxis geäußert.04 So beklagt etwa der Chimni, International Law and World Order: A Critique of Contemporary Approaches, Cambridge 2017; Makau Mutua, Human Rights Standards: Hegemony, Law, and Politics, Albany 01 Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, New 2016. York 2013. 05 Vgl. Makau Mutua, Savages, Victims, and Saviors: The Me- 02 Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimisti- taphor of Human Rights, in: Harvard International Law Journal scher Wutanfall, Berlin 2019. 1/2001, S. 201–245. 03 Vgl. EGMR, Ilias u. Ahmed v. Ungarn, Urt. v. 21. 11. 2019 06 Vgl. ders., Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (Nr. 47287/15); ders., N. D. u. N. T. v. Spanien, Urt. v. 13. 2. 2020 bei der Rechtserzeugung, in: Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Nr. 8675/15 und 8697/15). (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden 04 Vgl. etwa Antony Anghie, Whose Utopia? Development, 2020, S. 223–262; Tshepo Madlingozi, On Transitional Justice Human Rights and the Third World, in: Qui Parle 1/2013, Entrepreneurs and the Production of Victims, in: Journal of S. 63–80; ders., Imperialism and International Legal Theory, in: Human Rights Practice 2/2010, S. 208–228. 12
Menschenrechte APuZ dern, etwa den Kampf um die Menschenrechte von Millionen Menschen spürbar. Zugleich schrieb als eine populäre Kultur zu etablieren und einen das Urteil globale Rechtsgeschichte, denn es zeigte, ganzheitlichen politischen Blick zu entwerfen, wie mittels des Rechts vermeintlich schwache sozi- wird von solchen Organisationen, etwa dem Zen- ale Menschenrechte durchgesetzt werden können. trum für Rechts- und Sozialwissenschaften CELS Statt bei der Kritik an den Menschenrechten in Argentinien, längst gepflegt. den Blick auf die im Globalen Norden angesie- Anders als noch vor einer Dekade beschäfti- delten Menschenrechtsinstitutionen zu verengen, gen sich weltweit immer mehr Netzwerke und sollte die Wechselwirkung zwischen dem, was dort Akteure mit dem Themenfeld Wirtschaft und und anderswo passiert, betrachtet werden.09 Denn Menschenrechte. Ablesbar ist dies sowohl an den auch dafür gibt es gute Beispiele. So ist etwa mit Bemühungen um nationale und globale Rege- Blick auf die Verhaftung des chilenischen Ex-Dik- lungen zur Kontrolle und Sanktionierung trans- tators Augusto Pinochet im Oktober 1998 in Lon- nationaler Unternehmen als auch bei Klagen ge- don die größte Wirkung nicht in seiner Verhaftung, gen Menschenrechtsverletzungen. Neben Fällen den Klarstellungen zur Immunität, die das House von Verfolgungen von Gewerkschafter*innen of Lords vor dem Hintergrund der Anklagepunkte in Konfliktregionen sowie von Lieferungen von Folter und Entführung sowie Pinochets Status als Waffen, Überwachungstechnologien und ande- ehemaliges Staatsoberhaupt formulierte, und dem ren gefährlichen Gütern an repressive Regime, Gerichtsverfahren selbst zu sehen, sondern in der verfolgten die Klagen zuletzt komplexere Zie- Tatsache, dass sich mit der Anklageerhebung gegen le wie die Herstellung von Verantwortlichkeit in Pinochet die Verhältnisse in Chile und vor allem globalen Lieferketten, etwa am Beispiel der süd- auch in Argentinien dynamisierten und politische asiatischen Textilindustrie.07 Hindernisse für die juristische Aufarbeitung der Zudem haben sich in vielen Staaten des Glo- Diktaturen in beiden Ländern wegfielen.10 Dies balen Südens Menschenrechtsorganisationen und äußert sich bis heute in Hunderten Gerichtsverfah- Aktivist*innenkollektive herausgebildet, um kol- ren und Verurteilungen gegen zum Teil hochrangi- lektive Rechte einzuklagen. So argumentierten ge Militärs, Geheimdienstler*innen, Polizist*innen etwa Anwält*innen 2001 vor dem Obersten Ge- und andere Mittäter*innen der Diktaturmorde. richt in Indien, dass das verfassungsmäßige Recht Ferner sollten nationale Strafverfahren nach auf Leben verletzt werde, wenn jährlich Tausende dem Weltrechtsprinzip, auch „universelle Juris- Inder*innen an Hunger sterben. Das Gericht folgte diktion“ genannt, stärker in den Fokus rücken. den Argumenten und diktierte der Regierung Er- Dieses ermöglicht, schwerste Verbrechen auch nährungsprogramme für etwa 300 Millionen Men- außerhalb des Staatsgebietes, auf dem sie began- schen.08 Nun haben infolge dieser Gerichtsent- gen wurden, juristisch zu verfolgen und über scheidung sicherlich nicht alle Menschen in Indien das traditionelle Mittel des naming and shaming genügend Nahrung. Allerdings sind die Initiator* von Menschenrechtsorganisationen hinauszuge- innen solcher Klagen auch nicht so naiv, für den hen. Ein aktuelles Beispiel ist die Aufarbeitung Fall eines Erfolgs vor Gericht die prompte Lösung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syri- eines Problems zu erwarten. Sie begreifen ihre po- en. Natürlich ist es auch ein Versagen der interna- litischen und juristischen Kämpfe um Menschen- tionalen Institutionen, dass es dort zu Hundert- rechte als politische Prozesse, die sich zum Teil tausenden Toten und Gefolterten gekommen ist. über Jahrzehnte hinziehen. Durch die Entschei- Allerdings hat die internationale Gemeinschaft dung in Indien verbesserte sich dennoch die Lage nicht wie beispielsweise vor zwei oder drei Jahr- zehnten bei vergleichbaren Verbrechen fast nicht reagiert. Vielmehr haben die Vereinten Natio- 07 So etwa die Klage vier pakistanischer Staatsangehöriger gegen KiK vor dem Landgericht Dortmund (Urt. v. 10. 1. 2019, nen eine Untersuchungskommission eingerich- Az. 7 O 95/15). Vgl. dazu Philipp Wesche/Miriam Saage-Maaß, tet und mit dem IIIM einen neuen Mechanismus Holding Companies Liable for Human Rights Abuses Related to Foreign Subsidiaries and Suppliers before German Civil Courts: Lessons from Jabir and Others v KiK, in: Human Rights Law 09 In diesem Sinne auch César Rodríguez-Garavito, Anti-capita- Review 2/2016, S. 370–385. list Human Rights for the 21st Century, 24. 10. 2019, www.openglo- 08 Vgl. Karina Theurer, Globalisierung und „Hunger by Design“: balrights.org/anti-capitalist-human-rights-for-the-21st-century. Der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte. Gespräch mit 10 Vgl. Naomi Roht-Arriaza, The Pinochet Effect, Philadelphia Colin Gonsalves, in: dies./Kaleck (Anm. 6), S. 357–366. 2005. 13
APuZ 20/2020 etabliert,11 die das Material über Menschenrechts- land, Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz verletzungen sammeln, um diese für künftige Ge- mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Fol- richtsverfahren bereitzuhalten. Darauf können ter im irakischen Abu Ghraib und im Gefangenen- bereits jetzt zahlreiche nach Westeuropa geflüch- lager von Guantánamo erstattet – mit dem erklär- tete Oppositionelle und Überlebende zurückgrei- ten Ziel, die doppelten Standards bei der Verfolgung fen, die sich zusammengeschlossen und mithilfe von Völkerstraftaten zu bekämpfen. Die Verfahren von Menschenrechtsorganisationen Strafanzei- führten zwar zu wenigen juristischen Erfolgen, al- gen unter anderem in Österreich, Deutschland, lerdings wurde die Verantwortlichkeit höchster mi- Frankreich, Norwegen und Schweden eingereicht litärischer und politischer Führer*innen nachgewie- haben. Erste Haftbefehle gegen hochrangige Ge- sen.16 In der Folge erließen die Staatsanwaltschaften heimdienstgeneräle sowie Verhaftungen sind be- von München und Mailand Haftbefehle gegen ein- reits erfolgt.12 Im April 2020 begann in Koblenz zelne CIA-Angehörige wegen ihrer Beteiligung das weltweit erste Verfahren zur Staatsfolter der am „Extraordinary Rendition Program“ der CIA, Assad-Regierung. in dessen Zuge Terrorverdächtige ohne juristische Die Praxis der universellen Jurisdiktion ist Grundlage in zum Teil geheime Gefängnisse über- nicht auf westeuropäische Staaten beschränkt. führt wurden. Die Rechtswidrigkeit des genannten 2016 wurden 15 ranghohe Militärs in Buenos Programms wurde implizit in mehreren Entschei- Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlich- dungen des EGMR, namentlich im Fall Khaled El- keit im Rahmen der „Operation Condor“, einer Masri gegen Mazedonien sowie gegen Polen und Li- transnationalen Geheimdienstkooperation zur tauen, festgestellt, der auch Großbritannien in zwei Verfolgung und Ermordung Andersdenkender Entscheidungen verurteilte.17 Zudem untersuchten und politischer Gegner*innen der lateinamerika- britische Institutionen Todesfälle irakischer Kriegs- nischen Diktaturen in den 1970er und 1980er Jah- gefangener sowie Entschädigungszahlungen in ren, verurteilt.13 In dem wichtigsten afrikanischen mehreren Hundert Folterfällen durch Großbritan- Fall gegen den ehemaligen Diktator des Tschad, nien. Vor diesem Hintergrund wurden CIA-intern Hissène Habré, kämpften die Überlebenden von gegenüber betroffenen Mitarbeiter*innen Warnun- Folter vor Gerichten im Tschad, im Senegal, in gen vor Reisen nach Europa und in andere Regio- Belgien und vor dem Internationalen Gerichts- nen ausgesprochen, in denen Strafverfahren wegen hof. In einem historischen Rechtsspruch verur- Folter zu befürchten sind. teilte 2016 schließlich ein eigens gebildetes Son- In Sachen Menschenrechte ist also nicht al- dergericht in Senegals Hauptstadt Dakar Habré les verloren. Wie die Politikwissenschaftlerin Ka- zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.14 thryn Sikkink gezeigt hat, führt die zunehmen- Der häufig kritisierten Tatsache, dass der In- de Zahl von gerichtlichen Untersuchungen und ternationale Strafgerichtshof in Den Haag über- Ahndungen von großen Menschenrechtsverlet- wiegend gegen afrikanische Tatverdächtige und zungen zu einer Wiederherstellung eines gewissen Angehörige besiegter Staaten oder politischer For- Maßes an Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen mationen vorgeht,15 wirken Netzwerke aus der Staaten. Ferner belegt Sikkink in vielen Bereichen ganzen Welt aktiv entgegen. Gegen Angehörige der der weltweiten Menschenrechtslage Verbesserun- Bush-Administration wurden seit 2004 in Deutsch- gen, etwa mit Blick auf die Zahl von Genoziden und Politiziden sowie auf den Rückgang der To- 11 IIIM steht für „International, Impartial and Independent Me- desstrafe und die abnehmende Kindersterblich- chanism to Assist in the Investigation and Prosecution of Persons keit. Man dürfe Fortschritt nicht an einem Ideal- Responsible for the most Serious Crimes under International Law zustand messen, daran könne man nur scheitern. Committed in the Syrian Arab Republic since March 2011“. Demnach müsse man auch solchen Delegitimie- 12 Vgl. Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker, Syrian Torture Investigations in Germany and Beyond: Breathing New Life into rungsversuchen entgegentreten, die die Normie- Universal Jurisdiction in Europe?, in: Journal of International Criminal Justice 1/2018, S. 165–191. 16 Vgl. Katherine Gallagher, Universal Jurisdiction in Practice: 13 Vgl. Francesca Lessa, Operation Condor on Trial: Justice Efforts to Hold Donald Rumsfeld and Other High-level United for Transnational Human Rights Crimes in South America, in: States Officials Accountable for Torture, in: Journal of Internati- Journal of Latin American Studies 2/2019, S. 409–439. onal Criminal Justice 5/2009, S. 1087–1116. 14 Vgl. die Dokumentation des Nebenkläger-Rechtsanwaltes 17 Vgl. Marko Milanovic, European Court Decides Al-Skeini and Reed Brody, Lebenslänglich für Diktator Hissène Habré, Berlin 2017. Al-Jedda, 7. 7. 2011, www.ejiltalk.org/european-court-decides-al- 15 Vgl. Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß, Berlin 2012. skeini-and-al-jedda. 14
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