AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MENSCHENRECHTE - BPB

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - MENSCHENRECHTE - BPB
70. Jahrgang, 20/2020, 11. Mai 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Menschenrechte
    Anne Peters · Elif Askin            Hannah Birkenkötter · Lisa Heemann
    INTERNATIONALER                           MENSCHENRECHTE
 MENSCHENRECHTSSCHUTZ:                          UND 75 JAHRE
    EINE EINFÜHRUNG                          VEREINTE NATIONEN
       Wolfgang Kaleck                              Claudia Kittel
  FUNDIERTE HOFFNUNG.                          DREI JAHRZEHNTE
      DER KAMPF FÜR                           UN-KINDERRECHTS-
    MENSCHENRECHTE                              KONVENTION
     IN KRISENZEITEN
                                            María do Mar Castro Varela ·
       Stephen Hopgood                            Nikita Dhawan
   MORBIDE SYMPTOME.                          DIE UNIVERSALITÄT
        DIE KRISE                           DER MENSCHENRECHTE
  DER MENSCHENRECHTE                             ÜBERDENKEN

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
Menschenrechte
                                   APuZ 20/2020
ANNE PETERS · ELIF ASKIN                           HANNAH BIRKENKÖTTER · LISA HEEMANN
INTERNATIONALER                                    MENSCHENRECHTE UND 75 JAHRE
MENSCHENRECHTSSCHUTZ:                              VEREINTE NATIONEN
EINE EINFÜHRUNG                                    Wie haben sich seit der Gründung der Vereinten
Was sind Menschenrechte aus völkerrechtlicher      Nationen das Netz menschenrechtlicher
Perspektive? Mithilfe welcher völkerrechtlicher    Normen und sein flankierendes institutionelles
Verfahren und Institutionen werden sie             Gefüge entwickelt? Wie kann das UN-Men-
gefördert und durchgesetzt? Und was können         schenrechtssystem angesichts der zunehmenden
Menschenrechte in der globalen oder gar post-      Abkehr vom Multilateralismus gestärkt werden?
globalisierten Konstellation leisten?              Seite 20–25
Seite 04–10
                                                   CLAUDIA KITTEL
WOLFGANG KALECK                                    DREI JAHRZEHNTE
FUNDIERTE HOFFNUNG. DER KAMPF                      UN-KINDERRECHTSKONVENTION
FÜR MENSCHENRECHTE IN KRISENZEITEN                 Mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1989
Die Praxis der juristischen Menschenrechtsarbeit   wurde völkerrechtlich festgeschrieben: Kinder
der vergangenen Dekaden zeigt: Der Abgesang        sind eigeständige Träger_innen von Rechten.
auf die Menschenrechte kommt verfrüht. Denn        Dieser Grundsatz stellt auch nach drei Jahrzehn-
sie birgt ein großes Potenzial und bietet eine     ten weltweit und in Deutschland immer noch
konkrete Utopie sowie Anknüpfungspunkte für        eine große Herausforderung dar.
eine fundierte Hoffnung.                           Seite 26–32
Seite 11–15
                                                   MARÍA DO MAR CASTRO VARELA ·
STEPHEN HOPGOOD                                    NIKITA DHAWAN
MORBIDE SYMPTOME.                                  DIE UNIVERSALITÄT DER MENSCHENRECHTE
DIE KRISE DER MENSCHENRECHTE                       ÜBERDENKEN
In vielen Staaten des Westens gibt es Anzeichen    Die postkoloniale Theorie untersucht Impli-
einer schleichenden Entliberalisierung. Gleich-    kationen des Kolonialismus für gegenwärtige
zeitig gewinnen auf internationaler Ebene neue     globale Politiken. Insbesondere die ambivalente
Mächte an Einfluss. Mit dem Ende der westli-       Rolle des Rechts wird kritisch beleuchtet. Dies
chen Führung geraten auch die Menschenrechte       umfasst auch eine Auseinandersetzung mit den
unter Druck.                                       internationalen Menschenrechten.
Seite 16–19                                        Seite 33–38
EDITORIAL
Mit der Charta der Vereinten Nationen legten die Unterzeichnerstaaten am
26. Juni 1945 den Grundstein für das moderne internationale Menschenrechts-
schutzsystem: In Artikel 1 bekannten sie sich zu dem gemeinsamen Ziel, „die
Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unter-
schied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und
zu festigen“. Seitdem wurden die Menschenrechte immer weiter präzisiert und
kodifiziert sowie die Strukturen und Mechanismen zur Kontrolle ihrer Umset-
zung inner- und außerhalb der Vereinten Nationen ausgebaut. Als politische
Norm haben die Menschenrechte eine beachtliche Wirkmächtigkeit entfaltet und
gehören heute zu den Leitmotiven des internationalen Diskurses.
   Doch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des interna-
tionalen Menschenrechtsschutzes ist groß, und jüngere Entwicklungen geben
Grund zur Sorge: Armut, humanitäre Katastrophen und Gewalt haben in
den vergangenen Jahren so viele Menschen zur Flucht veranlasst wie seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Autoritäre Regime, die Menschenrechte gering
schätzen, erstarken auf der Weltbühne, während in vielen liberalen Demokratien
die Rechtsstaatlichkeit unter Druck gerät und sich insbesondere die USA unter
Präsident Donald Trump zunehmend vom Multilateralismus abwenden.
   Der gerechtfertigte Krisendiskurs droht, Erfolge der Menschenrechtsarbeit
etwa mit Blick auf die Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, die Ächtung der
Todesstrafe oder die Senkung der Kindersterblichkeit zu verdecken und das
Engagement für Menschenrechte wirkungslos erscheinen zu lassen. Historisch
betrachtet mussten Menschenrechte immer gegen Widerstände erkämpft und
stets aufs Neue gegen Angriffe verteidigt werden. Für diesen fortwährenden
Kampf braucht es auch heute einen langen Atem.

                                                  Anne-Sophie Friedel

                                                                             03
APuZ 20/2020

                    INTERNATIONALER
                 MENSCHENRECHTSSCHUTZ
                                       Eine Einführung
                                     Anne Peters · Elif Askin

Der internationale Menschenrechtsschutz ist der       dern des Globalen Südens leben.04 Und in zahl-
Phönix, der aus der Asche des Zweiten Welt-           reichen Ländern der Welt wächst die private Ver-
krieges aufgestiegen ist, schrieb der Oberste Ge-     schuldung durch Studiendarlehen, medizinische
richtshof Kanadas kürzlich in einem spektakulä-       Verschuldung oder Kreditkartenverschuldung,
ren Urteil gegen ein kanadisches Unternehmen,         was dazu führen kann, dass die Verschuldeten
das eine Mine in Eritrea unter Ausnutzung von         Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wasser oder
Zwangsarbeit betrieb.01 Aber was für ein Wesen        Behausung nicht mehr befriedigen können.05
ist dieser Feuervogel?                                    Die Kluft zwischen den Lippenbekenntnis-
    Auf dem Papier gedeiht er. Kaum ein Staat der     sen der Staaten zu den Menschenrechten und ih-
Welt spricht sich offen gegen Menschenrechts-         rer praktischen Umsetzung ist also groß. Hinzu
schutz aus. Die völkerrechtlichen Instrumente und     kommt ein intellektueller Backlash gegen die Idee
Institutionen werden ausgebaut und verfeinert. Es     der Menschenrechte. Diese Angriffe sind nicht
werden neue Menschenrechte proklamiert, vom           nur strategisch, sondern hängen auch mit Kon-
Recht gegen Korruption über ein Recht auf Inter-      troversen über die philosophischen Grundlagen
net bis hin zu einem Recht auf Klimaschutz. Men-      von Menschenrechten zusammen.06
schenrechte werden für neue Gruppen, etwa Tiere,          Was sind Menschenrechte aus völkerrechtli-
diskutiert und gegen neue Verpflichtete, insbeson-    cher Perspektive? Mithilfe welcher völkerrecht-
dere Wirtschaftsunternehmen, eingesetzt. Immer        licher Verfahren und Institutionen werden sie
mehr Rechtsregime werden im Lichte der Men-           gefördert und durchgesetzt? Und was können
schenrechte Betroffener verändert, etwa die Re-       Menschenrechte in der globalen oder gar post-
geln zum Schutz von Auslandsinvestitionen im          globalisierten Konstellation leisten?
Verhältnis zu Rechten indigener Bevölkerungen.
    Dem stehen anhaltende Menschenrechts-                        SCHUTZ MENSCHLICHER
verletzungen in allen Regionen der Welt gegen-                    GRUNDBEDÜRFNISSE
über.02 Diese reichen von der Missachtung quasi                     UND INTERESSEN
aller Rechte in Ländern wie Venezuela oder Syri-
en über Misshandlung und Diskriminierung von          Menschenrechte sollen grundlegende Interessen
Migranten und Geflüchteten in fast allen Ziellän-     und Bedürfnisse schützen, etwa das Interesse am
dern bis hin zu übermäßigen Eingriffen in die Pri-    Leben und das damit einhergehende Bedürfnis nach
vatsphäre durch internetbasierte Überwachung in       Nahrung; sie sollen die Entfaltung menschlicher Fä-
vielen Staaten des Globalen Nordens. 2019 lebten      higkeiten ermöglichen, etwa das Leben in Gemein-
nur drei Prozent der gesamten Weltbevölkerung         schaft und in Kommunikation mit anderen, und
in Ländern, welche die klassischen bürgerlichen       insgesamt Menschen befähigen, ihr Leben in Wür-
Menschenrechte der Meinungs-, Versammlungs-           de zu gestalten. Das Gegenstück zu den Menschen-
und Vereinigungsfreiheit vollständig gewährleis-      rechten sind die Pflichten des Staates, diese Rechte
ten.03 Bei den wirtschaftlichen und sozialen Men-     zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.
schenrechten, etwa den Rechten auf Nahrung,               Menschenrechte sind sogenannte subjektive
Gesundheit oder Arbeit, sieht es nicht besser aus.    Rechte, anders als rein objektive Schutznormen
Mehr als 820 Millionen Menschen sind weltweit         oder Standards wie Umwelt- oder Tierschutz-
chronisch unterernährt, von denen fast alle in Län-   vorschriften. Weil Menschenrechte juridische

04
Menschenrechte APuZ

Ansprüche erzeugen, ermächtigen sie Einzelne,                        sicherten Prinzip der Nichteinmischung in inne-
die Beeinträchtigung ihrer Rechte anzuprangern.                      re Angelegenheiten und der Staatensouveränität in
Menschenrechte verwandeln damit Opfer in Bür-                        einem Spannungsverhältnis, das mit dem Ende des
ger (empowerment).                                                   Kalten Krieges zwar abgemildert, aber nicht voll-
    Menschenrechte sind eine historische Antwort                     kommen überwunden wurde. Ein wichtiger Mei-
auf konkrete Bedrohungssituationen. Bereits im                       lenstein war hier die Wiener Menschenrechtskon-
17. Jahrhundert wurde in England die Habeas-                         ferenz von 1993, deren Schlussdeklaration festhält,
Corpus-Beschwerdemöglichkeit geschaffen, mit                         dass der Menschenrechtsschutz eine Sache der in-
der ein verhafteter Mensch eine richterliche Prü-                    ternationalen Gemeinschaft ist und keine inner-
fung seiner Haft verlangen konnte. Habeas Cor-                       staatliche Angelegenheit. Unter der Maxime „alle
pus ist unvermindert wichtig und wurde etwa von                      Menschenrechte für alle“ betonten die damaligen
inhaftierten Terrorverdächtigen in Guantánamo                        Staatsoberhäupter die Universalität, Unteilbarkeit
beansprucht. Da Menschenrechte eine konkre-                          und Interdependenz aller Menschenrechte.
te juristische Antwort auf Bedrohungen sind, die                         Das Fundament des universellen Menschen-
sich stetig verändern, werden immer wieder neue                      rechtsschutzes, die International Bill of Human
Menschenrechte formuliert, etwa das Recht auf                        Rights, bilden neben der AEMR die beiden UN-
Datenschutz oder das Recht auf Schutz vor gene-                      Menschenrechtspakte von 1966. Der Internationale
tischer Diskriminierung.                                             Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivil-
                                                                     pakt) umfasst die klassischen liberalen Freiheits-
          KODIFIKATIONEN NACH 1945                                   rechte beziehungsweise die sogenannten Rechte der
                                                                     ersten Generation wie das Recht auf Leben, Schutz
Menschenrechte waren historisch in erster Linie                      vor Folter, Religionsfreiheit und die Meinungs- und
gegen den Staat gerichtet, weil dieser aufgrund                      Informationsfreiheit. Der Internationale Pakt über
seines Gewaltmonopols ein spezifisches Bedro-                        wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (So-
hungspotenzial aufweist. Die Staaten sind aber                       zialpakt) enthält hingegen die Rechte der zweiten
auch diejenigen Institutionen, welche die Men-                       Generation wie das Recht auf einen angemessenen
schenrechte sichern und gewährleisten. In Situati-                   Lebensstandard einschließlich Nahrung, Gesund-
onen prekärer Staatlichkeit oder in failed states ist                heit oder Wasser, das Recht auf soziale Sicherheit
die Menschenrechtslage schlechter als in stabilen                    und das Recht auf Bildung. Diese Aufteilung der
Staaten. Nachdem in den Staatsverfassungen der                       Rechte in zwei völkerrechtliche Verträge hatte mit
westlichen Welt Menschen- und Grundrechtskata-                       der damaligen ideologischen Auseinandersetzung
loge schon im 18. Jahrhundert aufkamen, wurden                       zu tun: Das westliche Lager hielt die bürgerlichen
zusätzliche überstaatliche Garantien erst nach dem                   und politischen Rechte für die „eigentlichen“ Men-
Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf Nationalsozia-                     schenrechte, im sozialistischen Block war es ge-
lismus und Krieg eingeführt. Der Menschenrechts-                     nau umgekehrt. Heute gelten die Menschenrechte
schutz wurde als Ziel und Aufgabe der Vereinten                      als unteilbar. Dennoch lebt der alte Gegensatz fort:
Nationen in der UN-Charta von 1945 anerkannt.                        China hat nur den Sozialpakt ratifiziert, wohinge-
Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Er-                        gen die USA nur dem Zivilpakt beigetreten sind.
klärung der Menschenrechte (AEMR) als Resolu-                            Tatsächlich unterscheidet sich die Verpflich-
tion der UN-Generalversammlung verabschiedet.                        tungsstruktur beider Gruppen von Menschen-
    Das internationale Menschenrechtsschutzsys-                      rechten: Während der Zivilpakt die darin enthalte-
tem steht mit dem ebenfalls völkerrechtlich abge-                    nen Rechte für sofort und unmittelbar verbindlich
                                                                     erklärt, wird im Sozialpakt lediglich eine allmäh-
                                                                     liche Umsetzung unter dem Vorbehalt des Mög-
01 Vgl. Kanadischer Supreme Court, Nevsun Resources Ltd. v.
Araya, 2020 SCC 5, Urt. v. 28. 2. 2020, Rn. 1.
                                                                     lichen gefordert. Die Rechtsprechungsaktivität
02 Siehe etwa die jährlichen Berichte von Amnesty International.     staatlicher Gerichte hat aber soziale Menschen-
03 Vgl. Civicus, People Power Under Attack 2019, Dezember            rechte in vielen Staaten operationalisiert.07 Die-
2019, https://civicus.contentfiles.net/media/assets/file/GlobalRe-
port2019.pdf.
04 Vgl. FAO, The State of Food and Agriculture, Rom 2019, S. v.      07 Wegweisend das südafrikanische Verfassungsgericht,
05 Vgl. UN Doc. A/HRC/43/45.                                         Government of the Republic of South Africa v. Grootboom, Urt.
06 Vgl. Rowan Cruft/​S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hrsg.),          v. 4. 10. 2000 (CCT11/00) [2000] ZACC 19; 2001 (1) SA 46,
Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford 2015.              2000 (11) BCLR 1169.

                                                                                                                                05
APuZ 20/2020

se sind also nicht nur Programmsätze, deren Ver-              unterschiedliche Auffassungen über den Schutz-
wirklichung ausschließlich eine dem Gesetzgeber               umfang der in diesen Verträgen ausformulierten
obliegende politische Angelegenheit wäre.                     Rechte fort, vor allem mit Blick auf die Familie,
    Weitere universelle Menschenrechtsabkom-                  die Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis
men wurden für bestimmte Themen oder Gruppen                  des Einzelnen zur Gruppe. Beispielsweise werden
geschlossen, beispielsweise die Anti-Rassismus-               sogenannte Ehrenmorde in einigen arabischen
konvention von 1965, die Frauenrechtskonventi-                Staaten und die Genitalverstümmelung von Frau-
on von 1979 und die Anti-Folterkonvention von                 en in einigen Staaten Afrikas von Behörden to-
1984.08 Daneben existieren regionale Menschen-                leriert. Manche asiatischen Gesellschaften halten
rechtsverträge, die jeweils kulturelle Besonderhei-           eine sehr weitgehende Datenerfassung und Perso-
ten aufweisen. Die Europäische Menschenrechts-                nentracking zum Schutz der öffentlichen Gesund-
konvention (EMRK) von 1950 ist ein klassisch                  heit für angemessen. In vielen Bundesstaaten der
liberales Instrument mit bürgerlichen und poli-               USA sowie in anderen Weltregionen gilt die To-
tischen Rechten, enthält aber nicht ausdrücklich              desstrafe als vereinbar mit dem Recht auf Leben.
soziale Menschenrechte. Sozialrechtliche Dimen-                   In der Präambel der UNESCO-Konvention
sionen wurden in den Vertragsstaaten durch die                über den Schutz und die Förderung der Vielfalt
dynamische Rechtsprechung des Europäischen                    kultureller Ausdrucksformen von 2005 wird die
Gerichthofs für Menschenrechte (EGMR) einge-                  kulturelle Vielfalt als gemeinsames Menschheits-
führt, etwa ein Recht auf bezahlten Elternurlaub,             erbe bezeichnet. Zugleich soll niemand die Vor-
abgeleitet aus dem Grundrecht auf Nichtdiskri-                schriften dieses Abkommens anführen dürfen,
minierung.09 Die Afrikanische Charta der Men-                 um die international garantierten Menschenrech-
schenrechte und Rechte der Völker (Banjul-Char-               te einzuschränken oder zu verletzen. Fraglich ist
ta) von 1981 umfasst auch kollektive Rechte der               also, ab wann kulturell verwurzelte Menschen-
dritten Generation wie ein Recht der Völker auf               rechtsbeeinträchtigungen eine Verletzung der
Entwicklung und auf Verfügung über ihre Boden-                universellen Mindeststandards darstellen.
schätze und statuiert ferner Pflichten des Einzel-                Das internationale Menschenrechtssystem stellt
nen gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat.                juristische Instrumente zur Verfügung, die der kul-
Die Arabische Charta der Menschenrechte von                   turellen Vielfalt Rechnung tragen. Da die in den
2004 verankert ein „Menschenrecht“ auf natio-                 Verträgen enthaltenen Rechte sehr vage und weit
nale Souveränität und territoriale Integrität, und            formuliert sind, können kulturelle Besonderheiten
die Gleichberechtigung von Männern und Frauen                 durch Auslegung berücksichtigt werden. Die Ge-
besteht hier unter Vorbehalt der „positiven“ Dis-             richte räumen hier den nationalen Behörden einen
kriminierung von Frauen durch die Scharia.                    besonderen Spielraum ein. So hat der EGMR im
                                                              Kontext des französischen Burkaverbots im öffent-
               UNIVERSALITÄT                                  lichen Raum anerkannt, dass dieses durch das Prin-
           UND KULTURELLE VIELFALT                            zip des Zusammenlebens (vivre ensemble) in der
                                                              französischen Gesellschaft mittels visueller Kom-
Zur Grundidee von Menschenrechten gehört, dass                munikation gerechtfertigt sei.10 Auch können Staa-
sie allen Menschen zukommen, also universell gel-             ten zu einzelnen Vertragsvorschriften Vorbehalte
ten. Aber erst nach Ende der Ost-West-Spaltung                erklären. Deutschland hat etwa das Fakultativpro-
stieg in den 1990er Jahren die Ratifikation und da-           tokoll zum Zivilpakt unter dem Vorbehalt ratifi-
mit die Verbindlichmachung der Verträge in allen              ziert, dass Personen sich nicht auf die allgemeine
Staaten der Welt steil an. Heute haben 80 Prozent             Gleichheitsgarantie (Artikel 26) berufen dürfen,
der Staaten mindestens vier der wichtigsten Men-              wenn Freiheitsrechte betroffen sind, die nicht selbst
schenrechtsverträge ratifiziert. Dennoch bestehen             im Pakt garantiert sind, etwa das Recht auf Eigen-
                                                              tum oder Gesundheit. Islamische Staaten bringen
                                                              sehr oft Vorbehalte zur Religionsfreiheit an.
08 Zu den fünf genannten Abkommen treten die Kinderrechts-        Die Frage bleibt, wo genau der universel-
konvention, die Wanderarbeitnehmerkonvention, die Behinder-
                                                              le Mindeststandard liegt, unter den Staaten trotz
tenrechtskonvention und die Konvention gegen erzwungenes
Verschwindenlassen hinzu.
                                                              kultureller oder regionaler Eigenarten nicht fal-
09 Vgl. EGMR, Konstantin Markin v. Russia, 22. 3. 2012
(Nr. 30078/06).                                               10 Vgl. ders., S. A. S. v. France, Urt. v. 1. 7. 2014 (Nr. 43835/11).

06
Menschenrechte APuZ

len dürfen. Im internationalen Menschenrechts-           se Staatenberichtsverfahren leiden jedoch an zeitli-
schutzsystem gibt es kaum Durchsetzungsinstan-           chen Rückständen bei der Erstellung der Berichte
zen, die verbindliche Entscheidungen zu solchen          und bei der Prüfung durch die überlasteten Aus-
Fragen treffen können. Die Frage des universellen        schüsse. Auch sind die Berichte teilweise oberfläch-
Minimums muss deshalb immer wieder im globa-             lich oder verfälscht. NGOs haben die Möglichkeit,
len Diskurs ausgehandelt werden. Entscheidend            flankierende und zum Teil korrigierende „Schatten-
ist, dass hieran nicht nur die Machthaber, die von       berichte“ zu erstellen, die in das Verfahren einbe-
restriktiven Auslegungen profitieren, teilnehmen,        zogen werden. Die staatliche Umsetzung der Aus-
sondern vor allem die Betroffenen selbst.                schussempfehlungen wird nur schwach überwacht,
                                                         da die Ausschüsse keine Druckmittel besitzen.
                   DURCHSETZUNG                              Individualmitteilungsverfahren, wie sie in
                                                         einigen Menschenrechtsverträgen vorgesehen
Für die Durchsetzung der Menschenrechte sind in          sind, eröffnen Einzelnen die Möglichkeit, sich
erster Linie die Staaten verantwortlich, denn sie sind   direkt an einen Expertenausschuss zu wenden.
kraft ihrer Souveränität verpflichtet, die Menschen-     Vorbedingung ist allerdings, dass der jeweili-
rechte auf eigenem Staatsgebiet zu verwirklichen.        ge Verletzerstaat dieser Möglichkeit grundsätz-
Vor diesem Hintergrund sind Individuen grund-            lich zugestimmt hat. So hat etwa Deutschland
sätzlich angehalten, den innerstaatlichen Rechtsweg      die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschus-
im Verletzerstaat zu durchlaufen, bevor sie sich an      ses zum Zivilpakt zur Prüfung von Individual-
die überstaatlichen Instanzen wenden können. Auf         mitteilungen anerkannt. Der Ausschuss spricht
völkerrechtlicher Ebene werden Menschenrechte            in der Regel eine Empfehlung zur Wiedergut-
zum einen mit dezentralen beziehungsweise bilate-        machung der Menschenrechtsverletzung an den
ralen Mitteln durch die Staaten selbst durchgesetzt,     Verletzerstaat aus. Die das Verfahren abschlie-
etwa mittels Menschenrechtsdialogen oder Wirt-           ßenden Auffassungen des Ausschusses entfalten
schaftssanktionen. Zum anderen bestehen zentrale         jedoch keine rechtliche Bindungswirkung. Die
Durchsetzungsmechanismen. Zu unterscheiden               Verletzerstaaten sind lediglich zu ihrer Berück-
sind hierbei die vertragsbezogenen von den nicht-        sichtigung nach Treu und Glauben verpflichtet.
vertragsspezifischen sowie die universellen von den      2013 wurde das Individualmitteilungsverfahren
regionalen Durchsetzungsmechanismen.                     vor dem UN-Sozial­ausschuss eingeführt.12 We-
                                                         der Deutschland noch die USA noch China ha-
         Universeller Menschenrechtsschutz               ben dieses Fakultativprotokoll ratifiziert. Die
Die vertraglichen Prüfungsorgane der universel-          meisten Individualmitteilungen sind bislang ge-
len Menschenrechtsverträge sind keine Gerichte,          gen Spanien ergangen. Beispielsweise hat Spanien
sondern unabhängige Expertenausschüsse. Diese            das Recht auf Behausung durch fehlende Beteili-
arbeiten mit verschiedenen Durchsetzungsinstru-          gung der Eigentümerin einer Wohnung bei der
menten: Staatenberichtsverfahren, Individualmit-         Vollstreckung einer Hypothek verletzt.13
teilungen und Staatenbeschwerden.                            Staatenbeschwerdeverfahren berechtigen einen
    Regelmäßige Staatenberichte sind alle zwei           Vertragsstaat, gegen eine andere Vertragspartei Be-
bis fünf Jahre obligatorisch. Die Ausschüsse ver-        schwerde wegen Verletzung der Menschenrechts-
fassen zu den Berichten sogenannte Abschließen-          pflichten einzureichen. Da eine Staatenbeschwer-
de Bemerkungen, in denen sie Empfehlungen an             de die Beziehungen zum beklagten Staat erheblich
den überprüften Staat abgeben. Der Ausschuss             beeinträchtigen kann, setzen Staaten dieses Ver-
zum Sozialpakt, der UN-Sozialausschuss, hat bei-         fahren nur selten in Gang.
spielsweise in den Abschließenden Bemerkun-                  Zu den universellen nicht-vertragsspezifi-
gen zum Staatenbericht von Deutschland 2018 die          schen Durchsetzungsinstanzen zählt insbesonde-
Menschenrechtsstandards für Unternehmen als zu           re der 2006 gegründete UN-Menschenrechtsrat.
unverbindlich kritisiert und die Bundesrepublik          Dieser setzt sich aus Vertretern von 47 UN-Mit-
angemahnt, die menschenrechtsrelevanten Auswir-          gliedstaaten zusammen, die turnusmäßig von der
kungen ihrer Handels- oder Investitionspolitik auf       Generalversammlung gewählt werden. Seine Mit-
Individuen im Ausland zu berücksichtigen.11 Die-
                                                         12 Vgl. UN Doc. A/RES/63/117.
11 Vgl. UN Doc. E/​C .12/DEU/CO/6, Rn. 7 ff.             13 Vgl. UN Doc. E/​C .12/55/​D/2/2014.

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APuZ 20/2020

glieder sind also keine unabhängigen Sachver-                         teile diskutiert werden.16 2019 wurden 44 500 Be-
ständigen, sondern weisungsgebunden. Der Men-                         schwerden vorgelegt. Der Gerichtshof entschied im
schenrechtsrat ist dementsprechend ein genuin                         selben Jahr in fast 40 000 Fällen, wobei die meisten
politisches Organ. Er befasst sich unter anderem                      Beschwerden für unzulässig erklärt wurden.17 Ak-
mit groben und systematischen Menschenrechts-                         tuell sind fast 60 000 Beschwerden anhängig. Die
verletzungen durch Abgabe von Empfehlungen.                           häufigsten abgeurteilten Konventionsverstöße be-
Mit Gründung des Menschenrechtsrates wurde                            gehen Russland, die Türkei und die Ukraine. Gegen
auch der Universal Periodic Review (UPR) ein-                         Deutschland wurden 2019 über 500 Beschwerden
geführt. Hiermit überprüfen sich die Staaten ge-                      erhoben, bei acht wurde der Fall sachlich geprüft
genseitig am Maßstab der jeweils für den Staat                        und in keinem Fall eine Konventionsverletzung
geltenden Menschenrechtspflichten. Es kann zu                         festgestellt. In den Jahren zuvor ist Deutschland
Manipulationen bei der Überprüfung kommen,                            verschiedentlich verurteilt worden, beispielsweise
etwa wenn einflussreiche Staaten sich von be-                         wegen Polizeigewalt gegen Hooligans18 oder wegen
freundeten Staaten oder Schein-NGOs loben las-                        der Diskriminierung eines nichtehelichen Kindes.19
sen. Ein UPR endet mit einem Schlussbericht, der                           Im interamerikanischen Men­schen­rechts­schutz­
eine Einschätzung der Menschenrechtssituation                         system existieren zur Umsetzung der Amerikani-
und Empfehlungen enthält. Deutschland wurde                           schen Menschenrechtskonvention (AMRK) von
zuletzt 2018 überprüft und erhielt Empfehlungen                       1969 eine Kommission (IAKMR) und der Intera-
zum Umgang mit Rassismus und Hassrede.14                              merikanische Gerichtshof (IAGMR). Mit der Ra-
                                                                      tifizierung der AMRK erkennen die Staaten die
          Regionaler Menschenrechtsschutz                             Zuständigkeit der Kommission für Individualbe-
Anders als auf der UN-Ebene finden sich auf re-                       schwerdeverfahren automatisch an. Dies gilt ak-
gionaler Ebene Menschenrechtsgerichte. Das eu-                        tuell für 25 Staaten. Die USA haben die AMRK
ropäische Menschenrechtssystem ist am stärksten                       nicht ratifiziert, erkennen jedoch die Amerikani-
entwickelt. Der EGMR in Straßburg ist seit 1998                       sche Menschenrechtserklärung an. Anhand die-
eine ständige Institution. Jeder der 47 Mitglied-                     ser kann die IAKMR auch die USA messen. Der
staaten des Europarates ist automatisch seiner                        IAGMR kann nicht automatisch von Individuen
Gerichtsbarkeit unterworfen. Die Individualbe-                        angerufen werden, sondern wird lediglich nach Be-
schwerde zum EGMR ist das wichtigste Verfah-                          handlung einer Beschwerde durch die Kommissi-
ren. Jede Person, die sich in der Hoheitsgewalt                       on zuständig. Deshalb ist dieser Gerichtshof auch
(Jurisdiktion) eines Konventionsstaates befindet,                     viel weniger ausgelastet als der EGMR. Beide in-
hat ein individuelles Beschwerderecht gegen die-                      teramerikanischen Instanzen behandeln schwerste
sen Staat. Der Konventionsschutz gilt auch hier                       Regimekriminalität und zunehmend auch „alltäg-
nur subsidiär. Geschädigte Individuen müssen                          liche“ Menschenrechtsverletzungen wie Diskrimi-
also zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg                          nierungen gleichgeschlechtlicher Paare in Kolum-
durchlaufen, bevor sie sich an den EGMR wen-                          bien oder moderne Sklaverei in Brasilien.20
den dürfen. Ferner besteht die Möglichkeit, dass                           Auch das afrikanische Menschenrechtsschutz-
ein Staat mittels Staatenbeschwerde stellvertre-                      system ist zweistufig, mit einer Kommission und
tend für seine Staatsangehörigen oder in seiner                       einem Gerichtshof. Unter bestimmten Voraus-
„Wächterfunktion“ der EMRK eine andere Ver-                           setzungen können Nichtregierungsorganisatio-
tragspartei verklagt. Beispielsweise hat Zypern
gegen die Türkei wegen der Besetzung Nordzy-
perns Beschwerde erhoben und die Ukraine ge-                          16 Neuere Reformvorschläge enthält die Kopenhagen-Erklä-
                                                                      rung der Konventionsstaaten vom 12./13. April 2018.
gen Russland nach der Annexion der Krim und
                                                                      17 Vgl. EGMR, Statistics 2019, 2020, https://echr.coe.int/
dem Krieg in der Ostukraine.15                                        Documents/Stats_annual_2019_ENG.pdf. So gab es „nur“ 2187
    Der EGMR ist extrem ausgelastet, sodass in                        Sachurteile. 38 480 Beschwerden wurden für unzulässig erklärt.
jüngerer Zeit Reformen zur Bewältigung des Rück-                      18 Vgl. ders., Hentschel u. Stark v. Deutschland, Urt. v. 9. 11. 2017
staus in der Aburteilung und Umsetzung der Ur-                        (Nr. 47274/​15).
                                                                      19 Vgl. ders., Mitzinger v. Deutschland, Urt. v. 9. 4. 2017
                                                                      (Nr. 29762/​10).
14 Vgl. UN Doc. A/HRC/39/9.                                           20 Vgl. IAGMR, Duquze v. Colombia, Urt. v. 2. 4. 2014, Report on
15 Vgl. EGMR, Cyprus v. Turkey, Urt. v. 12. 5. 2014 (Nr. 25781/94);   Merits, No. 5/14, Case No. 12.841; ders., Workers of the Hacien-
ders., Ukraine v. Russia (Nr. 55855/18), anhängig.                    da Brasil Verde v. Brazil, Urt. v. 20. 10. 2016, Series C No. 318.

08
Menschenrechte APuZ

nen oder Einzelne direkt an das Gericht gelangen.               Hinzu kommt, dass sogar langjährige Mitgliedstaa-
Es sind bisher erst einige Hundert Kommissions-                 ten wie das Vereinigte Königreich und die Schweiz
entscheidungen und gut 30 Urteile ergangen. Bei-                die Legitimität des Gerichtshofs in Zweifel ziehen.
spielsweise wurde festgestellt, dass Kenia durch                    Auf nationaler Ebene fällt in immer mehr
die Vertreibung der indigenen Volksgruppe Ogiek                 Staaten eine populistische Unterminierung von
von ihrem angestammten Land im Mau-Wald die                     Menschenrechtserrungenschaften unter Verweis
Konvention verletzt hat.21 Restriktive Zulässig-                auf die angebliche Mehrheitsmeinung in der Ge-
keitsvoraussetzungen für die Einreichung von                    sellschaft auf, die sich für Minderheitenanliegen
Beschwerden sowie Ressourcenmangel erschwe-                     wie die Stärkung der Rechte Homosexueller nicht
ren jedoch den Zugang zu diesen Instanzen.                      interessierte.24 Dies geht häufig einher mit der
    Die Arabische Menschenrechtscharta begrün-                  Dämonisierung der internationalen Menschen-
det keinen Gerichtshof, sondern lediglich eine                  rechtsinstanzen, die solche Rechte ­schützen.
Kommission, die Staatenberichte zu prüfen hat.                      Vielfach sind Einwände gegen Menschen-
Individualbeschwerden sind nicht vorgesehen.                    rechte Schutzbehauptungen lokaler Eliten, die
Eine wirksame Kommissionstätigkeit ist nicht                    ihre Pfründe und Privilegien durch die Forde-
zu verzeichnen. In Asien wurde bislang kein ver-                rungen nach gleicher Freiheit für alle bedroht se-
bindliches Menschenrechtsschutzsystem geschaf-                  hen. Die politisch-strategische Gegenbewegung
fen. Zwar liegen verschiedene Menschenrechts-                   trifft heute mit einer Fundamentalkritik an den
erklärungen vor, wie etwa die von der ASEAN                     Menschenrechten zusammen, die sich aus un-
ausgearbeitete Menschenrechtserklärung von 2012.                terschiedlichen ideologischen Quellen speist.25
Diese Instrumente entfalten allerdings keine                    Kommunitaristen und Tugendethiker befürch-
rechtlichen Bindungswirkungen.                                  ten, dass der Fokus auf Rechte zu einer über-
                                                                mäßigen Verrechtlichung des gesellschaftlichen
                       BACKLASH                                 Zusammenlebens führt und ein Anspruchsden-
                                                                ken zulasten von Verantwortung und Solidari-
Die Urteile der regionalen Menschenrechtsgerichte               tät geht. Demokratietheoretiker sehen eine Kne-
sind rechtsverbindlich, aber es häufen sich die Fälle           belung der Demokratie, wenn zu starke oder
von Nichtbefolgung. So haben Russland oder die                  zu viele Menschenrechte einer Veränderung im
Türkei in den vergangenen Jahren die meisten ge-                politischen Prozess enthoben werden. Für den
gen sie ergangenen Urteile des EGMR nicht voll-                 Neomarxismus und die nahestehende kritische
ständig oder überhaupt nicht umgesetzt, oft un-                 Rechtstheorie dienen Menschenrechte dem Be-
ter Verweis auf die „Politisierung“ des Gerichts.               sitzbürgertum, lenken vom Grundproblem der
2015 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet,                Herrschaft des globalen Kapitals ab und ver-
das die Umsetzung von Urteilen verhindert, wenn                 hindern die wünschenswerte Revolution. Am
diese der russischen Verfassung widersprechen                   anderen Ende des ideellen Spektrums bekla-
würden.22 Um der Nichtumsetzung entgegenzu-                     gen neo- und wirtschaftsliberale Skeptiker ei-
wirken, war schon 2010 ein Urteilsbefolgungsver-                nen Wildwuchs an Menschenrechten, der die
fahren eingeführt worden: Das politische Organ,                 Grundidee abwerte und durch seine Undurch-
das Ministerkomitee, kann seitdem den EGMR mit                  sichtigkeit die Wirksamkeit des Basisschutzes
der Frage befassen, ob der Staat seiner Befolgungs-             elementarer Freiheiten schmälere. Im postkolo-
pflicht nachgekommen ist. Der Gerichtshof kann                  nialen Kontext ist die Skepsis auch eine Reaktion
dann in einem zweiten Urteil feststellen, ob der                auf die historische Erfahrung, dass die ohnehin
Staat durch Nichtbefolgung des Ersturteils Arti-                als westlich geprägt kritisierten Menschenrechte
kel 46 Absatz 1 EMRK verletzt hat. Wegen der ho-                durch westliche Staaten missbraucht wurden, um
hen Hürden ist dieses Verfahren aber sehr selten.23             ökonomische oder sogar militärische Interventi-
                                                                onen in anderen Weltregionen zu rechtfertigen.

21 Vgl. African Court on Human and Peoples’ Rights, African
Commission on Human and Peoples’ Rights v. Republic of Kenya,   24 Vgl. Veronika Bílková, Populism and Human Rights, in:
Urt. v. 27. 5. 2017 (Nr. 006/2012).                             Netherlands Yearbook of International Law 49/2018, S. 143 ff.
22 Siehe auch Venice Commission, Opinion Nr. 832/2015.          25 Vgl. Marie-Bénédicte Dembour, Critiques, in: Daniel Moeckli/​​
23 Erstmals hat EGMR, Mammadov v. Azerbaijan, Urt. v.           Sangeeta Shah/Sandesh Sivakumaran (Hrsg.), International
29. 5. 2019 (Nr. 15172/13) eine Nichtbefolgung bestätigt.       Human Rights Law, Oxford 20173, S. 53 ff.

                                                                                                                             09
APuZ 20/2020

                       AUSWEITUNG                                                                FAZIT

Trotz dieser Gegenbewegungen und der Über-                                Der internationale Menschenrechtsschutz unter-
lastung der Durchsetzungsinstanzen erfahren                               liegt aktuell gegenläufigen Trends. Funktioniert er
Menschenrechte immer mehr Ausweitungen und                                in dieser ambivalenten Situation? Klar ist, dass die
Verfeinerungen. Es werden zunehmend neue                                  völkerrechtlichen Verträge keine harten Durch-
Menschenrechte anerkannt und neue Rechtsträ-                              setzungsmaßnahmen erlauben, um Staaten zu ih-
ger identifiziert. Auch eine örtliche Ausweitung                          rer wirksamen Einhaltung zu zwingen. Zudem
des Anwendungsbereichs der Verträge ist zu ver-                           haben die internationalen Schutzinstanzen durch
zeichnen. Angesichts steigender Polizei- und Mi-                          zunehmende Überlastung und Legitimitätskri-
litäreinsätze im Ausland stellt sich etwa in Europa                       sen an Effektivität eingebüßt. Die Verwirklichung
die Frage, ob Polizeibeamte und Soldaten auch                             der Menschenrechte ist aber ohnehin weniger mit
auf fremdem Territorium an Menschenrechts-                                Druck von außen als vielmehr durch Sozialisie-
verträge gebunden sind. Der EGMR hat vielfach                             rung, also durch gesellschaftliche und politische
die EMRK „extraterritorial“ angewendet, etwa                              Auseinandersetzung im Inneren eines Verletzer-
auf Patrouillen britischer Soldaten im Irak.26 Au-                        staates, zu erreichen. Menschenrechte erlauben
ßerdem können sich wirtschaftspolitische Maß-                             die „Kanalisierung“ von Diskursen in der Spra-
nahmen nachteilig auf Rechte von Individuen im                            che der Rechte und können so von Vertretern der
Ausland auswirken. Beispielsweise erleichtern                             Zivilgesellschaft als Argumente aufgegriffen wer-
EU-Exportsubventionen den Absatz billiger eu-                             den. Allerdings bestehen hier zwei Gefahren: Ers-
ropäischer Agrarprodukte in anderen Kontinen-                             tens sind Menschenrechte nur beschränkt geeig-
ten. Im Extremfall kann das Recht auf Nahrung                             net, jeglichen gesellschaftlichen Anforderungen
afrikanischer Bauern, die dadurch ihre eigenen                            in Zeiten der Globalisierung effektiv zu begegnen.
Produkte nicht mehr für ihren Lebensunterhalt                             Das Vokabular der Menschenrechte sollte nicht
veräußern können, verletzt werden. Solche un-                             zum cheap talk werden und die Menschenrechts-
ter Umständen massiv schädlichen Auswirkun-                               idee überstrapazieren. Zweitens wird nicht selten
gen auf Bevölkerungen anderswo sind aber sehr                             mit zweierlei Maß gemessen, also schwachen Staa-
schwer bestimmbar und rückverfolgbar. Deshalb                             ten menschenrechtliche Pflichten auferlegt, die
ist fraglich, ob Menschenrechte hier eine Lösung                          reiche und mächtige Staaten selbst nicht einhal-
bieten können.                                                            ten. Westliche Akteure sollten sich hier konsistent
     Auch in Richtung der Pflichtenträger werden                          verhalten, um glaubwürdig zu bleiben. Außerdem
Menschenrechte ausgeweitet. Die Frage, wie auch                           ist ein „milder“ Relativismus angemessen, der auf
private Akteure, insbesondere transnationale Wirt-                        verschiedene Regionen und Kulturen der Welt
schaftsunternehmen, für von ihnen mitverursachte                          Rücksicht nimmt, ohne aber ein universelles Mi-
Menschenrechtsprobleme juristisch zur Verantwor-                          nimum zu unterschreiten. Dieses Minimum muss
tung gezogen werden können, wird gegenwärtig                              immer wieder neu definiert werden, und zwar
intensiv diskutiert. Vorstöße wie das französische                        letztlich bottom-up, nach den Wertvorstellungen
Sorgfaltspflichtengesetz und die schweizerische                           der Opfer, nicht der Täter.27 Wenn wir Inflation
Konzernverantwortungsinitative versuchen, die                             und Doppelstandards vermeiden, bleiben die in-
Unternehmen indirekt, über eine schärfere staatli-                        ternationalen Menschenrechte wirkmächtig – als
che Gesetzgebung, in die Pflicht zu nehmen. Und                           „letzte Utopie“ der Menschheit.28
im Rahmen des UN-Menschenrechtsrates wird ge-
genwärtig ein Vertragsentwurf beraten, der Staaten                        ANNE PETERS
dazu verpflichten soll, ihre Unternehmen für Men-                         ist Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländi-
schenrechtsverstöße zu belangen.                                          sches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) in
                                                                          Heidelberg und Professorin an den Universitäten
                                                                          Heidelberg, Freie Universität Berlin und Basel.
26 Vgl. EGMR, Al-Skeini u. a. v. UK, Urt. v. 7. 7. 2011 (Nr. 55721/07).   apeters-office@mpil.de
27 Siehe zur empirischen Ermittlung der Wertvorstellungen
von Menschen weltweit den World Values Survey unter www.
worldvaluessurvey.org/wvs.jsp.
                                                                          ELIF ASKIN
28 Samuel Moyn, The Last Utopia: Human Rights in History,                 ist wissenschaftliche Referentin am MPIL.
Cambridge MA 2010.                                                        askin@mpil.de

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Menschenrechte APuZ

                                                 ESSAY

                      FUNDIERTE HOFFNUNG
            Der Kampf für Menschenrechte in Krisenzeiten
                                         Wolfgang Kaleck

In der Corona-Krise manifestieren sich viele Ent-     rungen und die USA, nicht erst unter Präsident
wicklungen der vergangenen Jahre, die die Lage        Donald Trump, verletzen Völkerrecht und Men-
der Menschenrechte negativ beeinflusst haben:         schenrechte. Damit wenden sich diese Staaten von
ein die Welt umspannender Kapitalismus und eine       jenem Normensystem ab, das sie nach dem Zwei-
unkontrollierte, beschleunigte Digitalisierung, die   ten Weltkrieg mit etabliert haben. Nicht zuletzt
zu immer größerer Ungleichheit weltweit führen;       deshalb machen sich neue Dystopien und eine läh-
die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse; die         mende Hoffnungslosigkeit breit. Dagegen muss
Beschneidung von Sozialsystemen; die Privatisie-      mit dem Philosophen Michel Serres erst einmal
rung und der drastische Abbau der Gesundheits-        gefragt werden: „Was genau war früher besser?“02
versorgung; der Verlust von öffentlichen Räumen;           Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
die verheerenden Auswirkungen des Klimawan-           von 1948 und die beiden großen Pakte für politi-
dels; knapper werdende lebenswichtige Ressour-        sche und bürgerliche sowie für wirtschaftliche, so-
cen wie Energie, sauberes Wasser und Nahrung.         ziale und kulturelle Rechte von 1966 sind zweifel-
    Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach,      los als Meilensteine zu bewerten. Sie formulierten
einer Verkündung der „Endzeit der Menschen-           Ansprüche und Versprechen, an denen alle Staaten,
rechte“01 entgegenzutreten und sich kontrazyk-        gerade auch von ihren jeweiligen Gegnern im Kal-
lisch dem Unbekannten der Geschichte positiv zu       ten Krieg, gemessen wurden. Die vagen Programm-
öffnen. Im Folgenden soll erstens ergründet wer-      sätze wurden in den folgenden Jahrzehnten in kon-
den, ob und – falls ja – warum die Menschenrech-      kretere Rechtsnormen gegossen und entsprechende
te in den vergangenen Jahren in eine Krise geraten    Verfahren und Institutionen geschaffen.
sind, die Anlass für das grassierende dystopische          Dem westlichen Narrativ einer Fortschritts-
Denken böte. Zweitens sollen der Skepsis Erfah-       geschichte der Menschenrechte nach dem Zwei-
rungen aus der Praxis von (juristischen) Kämp-        ten Weltkrieg sind jedoch die Realitäten entge-
fen um Menschenrechte der vergangenen beiden          genzuhalten: Dem aus den Nürnberger Prozessen
Dekaden gegenübergestellt und drittens Ideen für      erwachsenen Anspruch, ein internationales Recht
neue Koalitionen im Kampf für die Menschen-           zu etablieren, mit dem die Verbrechen gegen die
rechte formuliert ­werden.                            Menschlichkeit aller Nationen gleichermaßen ge-
                                                      ahndet werden können, handelten nicht nur das
              MENSCHENRECHTE                          stalinistische Russland und das ebenfalls dem
                IN DER KRISE?                         UN-Sicherheitsrat ständig angehörende China
                                                      zuwider, auch die europäischen Imperialmächte
Die Menschenrechte werden derzeit an vielen Or-       verübten bei der Niederschlagung der Unabhän-
ten der Welt mit Füßen getreten – nicht nur von       gigkeitsbewegungen in ihren Kolonien Kriegs-
den „üblichen Verdächtigen“, den autokratischen       verbrechen, und die USA unterstützten Militär-
Herrschern von China, Russland und der Türkei.        diktaturen etwa in Süd- und Mittelamerika.
Auch aus Indien, Brasilien und Südafrika wer-              Nach dem Mauerfall 1989 erklärte der Politik-
den gravierende Menschenrechtsverstöße und die        wissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der
Erosion von Rechtsstaatlichkeit und Justizwesen       Geschichte“, den Erfolg des westlich-liberalkapi-
berichtet, ebenso aus Polen und Ungarn, insbe-        talistischen Gesellschaftsmodells, zu dem es keine
sondere im Umgang mit Minderheiten und Mi­            Alternative mehr gebe. Doch auch in den 1990er
grant*­innen. Auch die westeuropäischen Regie-        Jahren war es nicht besser um die Menschenrechte

                                                                                                       11
APuZ 20/2020

bestellt als vorher. Abseits der Metropolen wurden                      der Rechtswissenschaftler Makau Mutua den fast
Völkermorde auf dem Balkan und in Ruanda sowie                          ausschließlichen Fokus auf Menschenrechtsver-
zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit                          letzungen im Globalen Süden nach dem Sche-
verübt, unter anderem in den kurdischen Gebieten                        ma „Wilde-Opfer-Retter“: Die Opfer von Men-
der Türkei, in Kolumbien und in Zentralafrika.                          schenrechtsverletzungen durch unzivilisierte Wil-
    Das Ende dieser Erzählung leiteten die west-                        de müssen gerettet werden, wobei die Staaten und
lichen Staaten schließlich selbst ein: mit dem Ein-                     Akteure des Globalen Nordens die Rolle der Ret-
satz der Nato im Kosovo ohne UN-Mandat 1999,                            ter für sich beanspruchen.05 Zudem kritisiert er,
mit willkürlichen Verhaftungen und Folterungen                          dass die großen zivilgesellschaftlichen Akteure
von Terrorismusverdächtigen nach dem 11. Sep-                           wie Amnesty International und Human Rights
tember 2001 sowie mit dem Irak-Krieg 2003, in                           Watch sich auf politische und bürgerliche Rechte
den die USA und Großbritannien an der Spitze                            sowie auf Individualrechte beschränkten und die
einer „Koalition der Willigen“ ohne UN-Man-                             kollektiven wirtschaftlichen, sozialen und kultu-
dat zogen. Diese Rechtsverstöße signalisierten der                      rellen Rechte vernachlässigten.06
Welt: Wir halten uns an das Völkerrecht, solange                            Befinden sich die Menschenrechte also in der
es unseren Interessen dient. Zeitgleich erstarkten                      Krise? Hat der Politikwissenschaftler Stephen
weitere Akteure auf der Weltbühne wie China,                            Hopgood Recht, wenn er sagt, im Sinne einer ent-
Brasilien, Indien, Südafrika und erneut Russland,                       stehenden neowestfälischen Weltordnung stehen
die in einer nunmehr multipolaren Weltordnung                           die Menschenrechte als säkulares, universelles
diese an den eigenen Interessen orientierte Ein-                        und nicht verhandelbares Normensystem für das
stellung zum Völkerrecht übernahmen.                                    alte Modell Europa, das so nicht mehr existiere?
    Auch in die zurückliegende Dekade fal-                              Sind Menschenrechte als Konzept ­gescheitert?
len viele Menschenrechtsverletzungen. Hinzu
kommt allerdings, dass das seit 1945 entwickel-                                   ERFAHRUNGEN AUS DER
te Menschenrechtsschutzsystem sowie die (Völ-                                  MENSCHENRECHTLICHEN PRAXIS
ker-)Rechtsordnung insgesamt als Referenzrah-
men gerade von jenen Akteuren aufgegeben wird,                          Die Kritik ist in den vergangenen Jahren von
die an ihrer Schaffung entscheidenden Anteil hat-                       Menschenrechtsorganisationen sowohl im Nor-
ten. Nicht nur die USA vollziehen eine Abkehr                           den als auch im Süden rezipiert worden, sodass
vom Multilateralismus, auch in Europa beugt sich                        beispielsweise die Praxis der juristischen Men-
der Europäische Gerichtshof für Menschenrech-                           schenrechtsarbeit der zurückliegenden zwei Jahr-
te (EGMR) insbesondere im Bereich Migration                             zehnte ein sehr viel differenzierteres Bild ergibt.
zunehmend politischem Druck. Ausdruck dafür                             So trägt in weiten Teilen Lateinamerikas ein brei-
sind zwei jüngere Entscheidungen zur Rechtmä-                           tes Spektrum an Organisationen sowohl indivi-
ßigkeit von Lagern im Grenzbereich von Ungarn                           duelle als auch kollektive Kämpfe für Menschen-
und Serbien sowie im Fall von kollektiven Rück-                         rechte aus, zum Teil vor Gericht, zum Teil auf der
schiebungen nach Spanien.03                                             Straße. Vieles von dem, was Kri­ti­ker*­innen for-
    Kritik am Menschenrechtssystem und sei-
nen Institutionen etwa in New York und Genf ist
                                                                        Anne Orford/Florian Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook
durchaus berechtigt, wurde aber auch schon von                          of the Theory of International Law, Oxford 2016, S. 155–172;
postkolonialen Kri­ti­ker*­innen westlicher Men-                        Upendra Baxi, The Future of Human Rights, Delhi 2006; Bhupin-
schenrechtspraxis geäußert.04 So beklagt etwa                           der Chimni, International Law and World Order: A Critique of
                                                                        Contemporary Approaches, Cambridge 2017; Makau Mutua,
                                                                        Human Rights Standards: Hegemony, Law, and Politics, Albany
01 Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, New                   2016.
York 2013.                                                              05 Vgl. Makau Mutua, Savages, Victims, and Saviors: The Me-
02 Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimisti-           taphor of Human Rights, in: Harvard International Law Journal
scher Wutanfall, Berlin 2019.                                           1/2001, S. 201–245.
03 Vgl. EGMR, Ilias u. Ahmed v. Ungarn, Urt. v. 21. 11. 2019            06 Vgl. ders., Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen
(Nr. 47287/15); ders., N. D. u. N. T. v. Spanien, Urt. v. 13. 2. 2020   bei der Rechtserzeugung, in: Karina Theurer/Wolfgang Kaleck
(Nr. 8675/15 und 8697/15).                                              (Hrsg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden
04 Vgl. etwa Antony Anghie, Whose Utopia? Development,                  2020, S. 223–262; Tshepo Madlingozi, On Transitional Justice
Human Rights and the Third World, in: Qui Parle 1/2013,                 Entrepreneurs and the Production of Victims, in: Journal of
S. 63–80; ders., Imperialism and International Legal Theory, in:        Human Rights Practice 2/2010, S. 208–228.

12
Menschenrechte APuZ

dern, etwa den Kampf um die Menschenrechte                       von Millionen Menschen spürbar. Zugleich schrieb
als eine populäre Kultur zu etablieren und einen                 das Urteil globale Rechtsgeschichte, denn es zeigte,
ganzheitlichen politischen Blick zu entwerfen,                   wie mittels des Rechts vermeintlich schwache sozi-
wird von solchen Organisationen, etwa dem Zen-                   ale Menschenrechte durchgesetzt werden können.
trum für Rechts- und Sozialwissenschaften CELS                       Statt bei der Kritik an den Menschenrechten
in Argentinien, längst ­gepflegt.                                den Blick auf die im Globalen Norden angesie-
     Anders als noch vor einer Dekade beschäfti-                 delten Menschenrechtsinstitutionen zu verengen,
gen sich weltweit immer mehr Netzwerke und                       sollte die Wechselwirkung zwischen dem, was dort
Akteure mit dem Themenfeld Wirtschaft und                        und anderswo passiert, betrachtet werden.09 Denn
Menschenrechte. Ablesbar ist dies sowohl an den                  auch dafür gibt es gute Beispiele. So ist etwa mit
Bemühungen um nationale und globale Rege-                        Blick auf die Verhaftung des chilenischen Ex-Dik-
lungen zur Kontrolle und Sanktionierung trans-                   tators Augusto Pinochet im Oktober 1998 in Lon-
nationaler Unternehmen als auch bei Klagen ge-                   don die größte Wirkung nicht in seiner Verhaftung,
gen Menschenrechtsverletzungen. Neben Fällen                     den Klarstellungen zur Immunität, die das House
von Verfolgungen von Ge­werk­schaf­ter*innen                     of Lords vor dem Hintergrund der Anklagepunkte
in Konfliktregionen sowie von Lieferungen von                    Folter und Entführung sowie Pinochets Status als
Waffen, Überwachungstechnologien und ande-                       ehemaliges Staatsoberhaupt formulierte, und dem
ren gefährlichen Gütern an repressive Regime,                    Gerichtsverfahren selbst zu sehen, sondern in der
verfolgten die Klagen zuletzt komplexere Zie-                    Tatsache, dass sich mit der Anklageerhebung gegen
le wie die Herstellung von Verantwortlichkeit in                 Pinochet die Verhältnisse in Chile und vor allem
globalen Lieferketten, etwa am Beispiel der süd-                 auch in Argentinien dynamisierten und politische
asiatischen Textilindustrie.07                                   Hindernisse für die juristische Aufarbeitung der
     Zudem haben sich in vielen Staaten des Glo-                 Diktaturen in beiden Ländern wegfielen.10 Dies
balen Südens Menschenrechtsorganisationen und                    äußert sich bis heute in Hunderten Gerichtsverfah-
Ak­ti­vist*­innenkollektive herausgebildet, um kol-              ren und Verurteilungen gegen zum Teil hochrangi-
lektive Rechte einzuklagen. So argumentierten                    ge Militärs, Ge­heim­diens­tler*innen, Po­li­zist*innen
etwa Anwält*­innen 2001 vor dem Obersten Ge-                     und andere Mit­tä­ter*innen der Diktaturmorde.
richt in Indien, dass das verfassungsmäßige Recht                    Ferner sollten nationale Strafverfahren nach
auf Leben verletzt werde, wenn jährlich Tausende                 dem Weltrechtsprinzip, auch „universelle Juris-
Inder*­innen an Hunger sterben. Das Gericht folgte               diktion“ genannt, stärker in den Fokus rücken.
den Argumenten und diktierte der Regierung Er-                   Dieses ermöglicht, schwerste Verbrechen auch
nährungsprogramme für etwa 300 Millionen Men-                    außerhalb des Staatsgebietes, auf dem sie began-
schen.08 Nun haben infolge dieser Gerichtsent-                   gen wurden, juristisch zu verfolgen und über
scheidung sicherlich nicht alle Menschen in Indien               das traditionelle Mittel des naming and shaming
genügend Nahrung. Allerdings sind die Ini­ti­a­tor*­             von Menschenrechtsorganisationen hinauszuge-
innen solcher Klagen auch nicht so naiv, für den                 hen. Ein aktuelles Beispiel ist die Aufarbeitung
Fall eines Erfolgs vor Gericht die prompte Lösung                von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syri-
eines Problems zu erwarten. Sie begreifen ihre po-               en. Natürlich ist es auch ein Versagen der interna-
litischen und juristischen Kämpfe um Menschen-                   tionalen Institutionen, dass es dort zu Hundert-
rechte als politische Prozesse, die sich zum Teil                tausenden Toten und Gefolterten gekommen ist.
über Jahrzehnte hinziehen. Durch die Entschei-                   Allerdings hat die internationale Gemeinschaft
dung in Indien verbesserte sich dennoch die Lage                 nicht wie beispielsweise vor zwei oder drei Jahr-
                                                                 zehnten bei vergleichbaren Verbrechen fast nicht
                                                                 reagiert. Vielmehr haben die Vereinten Natio-
07 So etwa die Klage vier pakistanischer Staatsangehöriger
gegen KiK vor dem Landgericht Dortmund (Urt. v. 10. 1. 2019,
                                                                 nen eine Untersuchungskommission eingerich-
Az. 7 O 95/15). Vgl. dazu Philipp Wesche/Miriam Saage-Maaß,      tet und mit dem IIIM einen neuen Mechanismus
Holding Companies Liable for Human Rights Abuses Related to
Foreign Subsidiaries and Suppliers before German Civil Courts:
Lessons from Jabir and Others v KiK, in: Human Rights Law        09 In diesem Sinne auch César Rodríguez-Garavito, Anti-capita-
Review 2/2016, S. 370–385.                                       list Human Rights for the 21st Century, 24. 10. 2019, www.openglo-
08 Vgl. Karina Theurer, Globalisierung und „Hunger by Design“:   balrights.org/anti-capitalist-human-rights-for-the-21st-century.
Der Kampf für soziale und wirtschaftliche Rechte. Gespräch mit   10 Vgl. Naomi Roht-Arriaza, The Pinochet Effect, Philadelphia
Colin Gonsalves, in: dies./Kaleck (Anm. 6), S. 357–366.          2005.

                                                                                                                                 13
APuZ 20/2020

etabliert,11 die das Material über Menschenrechts-                    land, Spanien, Frankreich, Belgien und der Schweiz
verletzungen sammeln, um diese für künftige Ge-                       mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Fol-
richtsverfahren bereitzuhalten. Darauf können                         ter im irakischen Abu Ghraib und im Gefangenen-
bereits jetzt zahlreiche nach Westeuropa geflüch-                     lager von Guantánamo erstattet – mit dem erklär-
tete Oppositionelle und Überlebende zurückgrei-                       ten Ziel, die doppelten Standards bei der Verfolgung
fen, die sich zusammengeschlossen und mithilfe                        von Völkerstraftaten zu bekämpfen. Die Verfahren
von Menschenrechtsorganisationen Strafanzei-                          führten zwar zu wenigen juristischen Erfolgen, al-
gen unter anderem in Österreich, Deutschland,                         lerdings wurde die Verantwortlichkeit höchster mi-
Frankreich, Norwegen und Schweden eingereicht                         litärischer und politischer Führer*innen nachgewie-
haben. Erste Haftbefehle gegen hochrangige Ge-                        sen.16 In der Folge erließen die Staatsanwaltschaften
heimdienstgeneräle sowie Verhaftungen sind be-                        von München und Mailand Haftbefehle gegen ein-
reits erfolgt.12 Im April 2020 begann in Koblenz                      zelne CIA-Angehörige wegen ihrer Beteiligung
das weltweit erste Verfahren zur Staatsfolter der                     am „Extraordinary Rendition Program“ der CIA,
Assad-Regierung.                                                      in dessen Zuge Terrorverdächtige ohne juristische
    Die Praxis der universellen Jurisdiktion ist                      Grundlage in zum Teil geheime Gefängnisse über-
nicht auf westeuropäische Staaten beschränkt.                         führt wurden. Die Rechtswidrigkeit des genannten
2016 wurden 15 ranghohe Militärs in Buenos                            Programms wurde implizit in mehreren Entschei-
Aires wegen Verbrechen gegen die Menschlich-                          dungen des EGMR, namentlich im Fall Khaled El-
keit im Rahmen der „Operation Condor“, einer                          Masri gegen Mazedonien sowie gegen Polen und Li-
transnationalen Geheimdienstkooperation zur                           tauen, festgestellt, der auch Großbritannien in zwei
Verfolgung und Ermordung Andersdenkender                              Entscheidungen verurteilte.17 Zudem untersuchten
und politischer Gegner*innen der lateinamerika-                       britische Institutionen Todesfälle irakischer Kriegs-
nischen Diktaturen in den 1970er und 1980er Jah-                      gefangener sowie Entschädigungszahlungen in
ren, verurteilt.13 In dem wichtigsten afrikanischen                   mehreren Hundert Folterfällen durch Großbritan-
Fall gegen den ehemaligen Diktator des Tschad,                        nien. Vor diesem Hintergrund wurden CIA-intern
Hissène Habré, kämpften die Überlebenden von                          gegenüber betroffenen Mit­ar­beiter*­innen Warnun-
Folter vor Gerichten im Tschad, im Senegal, in                        gen vor Reisen nach Europa und in andere Regio-
Belgien und vor dem Internationalen Gerichts-                         nen ausgesprochen, in denen Strafverfahren wegen
hof. In einem historischen Rechtsspruch verur-                        Folter zu befürchten sind.
teilte 2016 schließlich ein eigens gebildetes Son-                         In Sachen Menschenrechte ist also nicht al-
dergericht in Senegals Hauptstadt Dakar Habré                         les verloren. Wie die Politikwissenschaftlerin Ka-
zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.14                              thryn Sikkink gezeigt hat, führt die zunehmen-
    Der häufig kritisierten Tatsache, dass der In-                    de Zahl von gerichtlichen Untersuchungen und
ternationale Strafgerichtshof in Den Haag über-                       Ahndungen von großen Menschenrechtsverlet-
wiegend gegen afrikanische Tatverdächtige und                         zungen zu einer Wiederherstellung eines gewissen
Angehörige besiegter Staaten oder politischer For-                    Maßes an Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen
mationen vorgeht,15 wirken Netzwerke aus der                          Staaten. Ferner belegt Sikkink in vielen Bereichen
ganzen Welt aktiv entgegen. Gegen Angehörige der                      der weltweiten Menschenrechtslage Verbesserun-
Bush-Administration wurden seit 2004 in Deutsch-                      gen, etwa mit Blick auf die Zahl von Genoziden
                                                                      und Politiziden sowie auf den Rückgang der To-
11 IIIM steht für „International, Impartial and Independent Me-       desstrafe und die abnehmende Kindersterblich-
chanism to Assist in the Investigation and Prosecution of Persons     keit. Man dürfe Fortschritt nicht an einem Ideal-
Responsible for the most Serious Crimes under International Law       zustand messen, daran könne man nur scheitern.
Committed in the Syrian Arab Republic since March 2011“.
                                                                      Demnach müsse man auch solchen Delegitimie-
12 Vgl. Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker, Syrian Torture
Investigations in Germany and Beyond: Breathing New Life into
                                                                      rungsversuchen entgegentreten, die die Normie-
Universal Jurisdiction in Europe?, in: Journal of International
Criminal Justice 1/2018, S. 165–191.                                  16 Vgl. Katherine Gallagher, Universal Jurisdiction in Practice:
13 Vgl. Francesca Lessa, Operation Condor on Trial: Justice           Efforts to Hold Donald Rumsfeld and Other High-level United
for Transnational Human Rights Crimes in South America, in:           States Officials Accountable for Torture, in: Journal of Internati-
Journal of Latin American Studies 2/2019, S. 409–439.                 onal Criminal Justice 5/2009, S. 1087–1116.
14 Vgl. die Dokumentation des Nebenkläger-Rechtsanwaltes              17 Vgl. Marko Milanovic, European Court Decides Al-Skeini and
Reed Brody, Lebenslänglich für Diktator Hissène Habré, Berlin 2017.   Al-Jedda, 7. 7. 2011, www.ejiltalk.org/european-court-decides-al-
15 Vgl. Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß, Berlin 2012.              skeini-and-al-jedda.

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