Transmitter - Freies Sender Kombinat
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/ / / / / / / / a b s e n d e r − a g r a d i o e . V. , V a l e n t i n s k a m p 3 4 a - 2 0 3 5 5 H a m b u r g , p o s t v e r t r i e b s s t ü c k c 4 5 4 3 6 , e n t g e l d b e z a h l t , d p a g / / / / / / / / / transmitter freies Radio im Februar Freies Sender Kombinat 93,0 mhz Antenne 101,4 mhz kabel www.fsk-hh.org/livestream 0221 Ferhat Unvar Hamza Kurtović Said Nesar Hashemi Vili Viorel Păun Mercedes Kierpacz Kaloyan Velkov Fatih Saraçoğlu Sedat Gürbüz Gökhan Gültekin 19. Februar 2020 Hanau
Unterstützt das Freie Sender Kombinat! FSK finanziert sich über Fördermitgliederianer. Die redaktionelle Arbeit im Freien Radio ist zwar unbezahlt, trotzdem kostet die Produktion von Sendungen Geld: Miete, Übertragungsleitungen, Technik, GEMA, Telefon, Büromaterial usw. Eine Vielzahl von Unterstützer_innen kann die die Unabhängigkeit von FSK gewährleisten. Wer beschliesst, das Freie Sender Kombinat zu unterstützen (oder jemand anderen davon überzeugt) bekommt dafür eine der hier abgebildeten Prämien. Aber nur, so lange der Vorrat reicht! Kristine von Soden: »Ob die Möwen manchmal an mich denken?«, Aviva Verlag 1 Mit dem Aufstieg der Seebäder im Wilhelminischen Kaiserreich kam sogleich auch der »Bäder-Antisemitismus« auf. »Judenrein!« lautete die Parole an der deutschen Ostseeküste, lange bevor der NS-Staat Wirklichkeit war. Schon damals drucken jüdische Zeitungen »Bäder- listen« ab, warnen vor Badeorten, in denen jüdische Gäste unerwünscht sind. Als »Juden- bäder« wiederum gelten Orte wie Heringsdorf, wo zunächst noch eine liberale Atmosphäre herrscht. Buch 208 Seiten, gebunden. Andreas Speit (Hg.) | Jean-Philipp Baeck (Hg.): Rechte Egoshooter, Ch. Links Verlag 2 Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat. Weltweit gibt es rechtsterroristische Attentate eines neuen Typs. In Halle (Saale) verhinderte nur eine verschlossene Holztür der Synagoge ein größeres Massaker. Am 9. Oktober 2019 wollte dort ein Rechtsextremist die versammelten Juden hinrichten. Mit selbstgebauten Waffen schoss er auf die Tür und warf eigens hergestellte Sprengsätze. Online konnten Gleichgesinnte zusehen, wie er zwei Men- schen ermordete: Seine Tat verbreitete er per Videokamera auf einem Portal für Comput- erspiel-Videos. Er ahmte damit andere »Egoshooter« nach - wie einen Rechtsextremisten, der in Neuseeland wenige Monate zuvor die Tötung von 51 Menschen live im Internet übertragen hatte. Was treibt Menschen vom Bildschirm zur realen Gewalt auf der Straße? Broschur 208 Seiten, 2,5 x 20,5 cm Stuart Hall – Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln, Argument Verlag 3 Die Autobiografie des Cultural Studies-Begründers STUART HALL verbindet persönliche Erfahrung und Erinnerung mit klugen Diskursen um Race und (Post)Kolonialismus, liefert eine Musik- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und führt in komplexes politisch- kulturelles Denken ein: zugänglich, stellenweise heiter, kohärent und geschmeidig. Das Leben in der Diaspora schärfte Stuart Halls Blick auf Gesellschaft. Seine Erinnerungen zeigen das (post)koloniale Jamaika, das England der 1950er, die Weltpolitik, die Entwick- lung der New Left. Eine bereichernde Lektüre für alle, die politisch interessiert sind, sich mit den Themen Race, Identität, Kolonialismus, Kapitalismuskritik befassen und/oder mit der Aneignung von Kultur und Geschichte. Dieses Buch ist auch ein Einstieg in Stuart Halls Denken und theoretisches Arbeiten. 304 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen abschneiden und an FSK schicken / bei fragen anrufen unter 040 43 43 24 Ich werde Fördermitglied*in des FSK Vor/Nachname und spende monatlich.. Straße/Nr. 5,- 10,- Zahlungsweise: monatlich 20,- 50,- vierteljährlich PLZ Ort ... euro halbjährlich Telefon Ich erteile einen Abbuchungsauftrag. Email Wenn das Konto die erforderliche Deckung nicht aufweist, Fördermitglieder bekommen zum Jahresende eine Spenden- besteht seitens des kontoführenden Geldinstituts keine Ver- quittung zugeschickt. Bitte teilt uns Adress-/Kontoänderungen pflichtung zur Einlösung. Der erteilte Abbuchungsauftrag umgehend mit. Es entstehen sonst zusätzliche Kosten. gilt bis er schriftlich oder telefonisch widerrufen wird. Ich will... IBAN das Buch “Ob die Möwen manchmal an mich denken?” das Buch “Rechte Egoshooter” BIC Das Buch “Stuard Hall - Vertrauter Fremder” Ich möchte die Programmzeitschrift Transmitter zugeschickt bekommen und spende zusätzlich 12,- Euro jährlich für die Nichts. danke. Programmzeitschrift Transmitter. Ort / Datum Ich möchte zum Jahresende bitte eine Spendenquittung zugeschickt bekommen. Adresse bitte mitteilen. Unterschrift
Editorial Kunst ist nicht künstlich; arbeiten nicht Natur des Menschen. Tätig sein, Sein schon. Inhalt FSK unterstützen seite 2 10 Monate Pandemie und kein Ende. Endlich aber werden Fäden und Anfänge Auf das der kontinuierliche Fluss von Strukturen sichtbar, in denen selbstorganisierte kollektive Momente aufscheinen, des Opiums nicht versiegt Seite 4 aufsetzend auf schon vorhandenen Zusammenschlüssen, eine solidarische Gesellschaft wollend. Ein Erfahrungssatz aus Chile war jetzt in der Sendung ¡Despertó! hörbar: “Wir In der Zone Seite 5 hatten das Glück, durch den Aufstand bereits so organisiert zu sein, daß wir unmittelbar umstellen konnten auf kollektive gegenseitige Unterstützungen in den Nachbarschaftshil- Kein Ort,.. Seite 6 fen.” Vor zwei Wochen hatte das FSK die Jahresbilanz von Radio Nordpol aus Dortmund im Programm und auch dort wurde ausführlich über Organisationsfragen im Kontext Radio Nordpol Seite 9 politischer Programmatik gesprochen. Detaillierter ausgeführt hinsichtlich von Lücken und Mängeln, im Sinne eines Erfahrungsabgleichs. Hier sind zwei Momente in Erinne- Für eine neue Strategie-Debatte dritter Teil rung: BioPolitik von oben und eine festgestellte Erschöpfung bei der außerparlamentari- Seite 10 schen Linken. Biopolitik als Gesundheitspolitik, Volksgesundheit im Sinne des Trainings »Keine antisemitische Tat« für Produktion und Herrschaft. Seite 12 Radio Nordpol konstatierte ursächlich zur Erschöpfung das Fehlen von Begriff und Buch Praxis einer “Biopolitik von unten”. Eine eigene kollektive Vorstellung von Gesundheit, Seite 14 welche angstfreies Leben in Wohlbefinden meinen könnte. Daß das System der Lohn- Was läuft den da? arbeit, welches bis auf den heutigen Tag so gar nicht in Frage zu stehen scheint, dazu Seite 15 nicht passt, muß hier nicht ausdrücklich betont werden. Hervorgehoben werden sollte Radioprogramm aber doch, daß der merkwürdige Begriff von Freiheit, der das Leben anderer und auch Seite 16 das Eigene gefährdet, Teil der selbstzerstörerischen Lebens- und Produktionsweise der Impressum & Termine Selbstverwertung des Menschen im kapitalistischen Gesellschaftsmodus ist. Vielleicht letzte Seite zu beschreiben als Widerspiegelung aller Inwertsetzung aller Ressourcen bis zur äußers- ten Erschöpfung. Widerspiegelung im Bewußtsein, in der psychologischen Verdrängung eines Selbst. Nicht umsonst (im Sinne des Wortes) kennt das BWL Studium den Begriff des ‚Humankapitals‘. In diesem Sinne kann alles, was nicht verwertbar ist weg. Und in diesem Sinne funktioniert die Corona Politik von Gauland über Trump bis Bolsonaro und Piñera. In diesem Sinne funktioniert aber auch die herr- schende deutsche Politik. Auch sie sortiert. Auch hier sterben die meisten in Pflegeeinrichtungen, sind Ge- flüchteten Unterkünfte und Massenquartiere für Wohnungslose aber auch Schulen höchstes Infektionsrisiko; 2 Zimmer Wohnungen für sechs Personen nicht zu vergessen. Abgesehen davon, daß entlohnte Arbeit immer auch als Verwertung und Selbstverwertung zu kritisieren ist, bleibt dennoch die Feststellung daß die Höhe des Einkommens auch das Gesundheitsrisiko reguliert. Corona ist der Verwertung entsprungen, der Revolution der Produktivkräfte. Der Kampf gegen Corona sollte sich nicht auf die Verteilung des Werts reduzieren lassen. Es ist also mehr als ein Gerechtigkeitsanspruch, wenn anstelle der Inanspruchnahme der eigenen Tätigkeit als “Systemrelevanz” ganz systemsprengend die Forderung zu erheben ist, der Mensch habe das Ziel des Men- schen zu sein. Aus solcher Grundannahme ergeben sich Programmatiken und Forderungen, die über einen ökonomistischen Ansatz hinausreichen und vielleicht auch hinaustreiben. Wie gut, daß es erste Einrichtungen wie die Poliklinik Veddel gibt. Wenn es auch erstmal als Tropfen auf den heißen Stein scheint, so ist mit z.B. dieser Einrichtung doch eine Perspektive aufgezeigt. Eben: Biopolitik von unten. Soweit der optimistische Teil dieser Zeilen. Nun hat jüngst die Hamburger Staatsanwaltschaft ebenso igno- rant, wie sie im Herbst die Ermittlungen zum Tode im UKE des Studenten William Tonou-Mbobda einstellte, nun auf den Anschlag auf einen Studenten vor der Hamburger Synagoge festgestellt.: „Es gibt keine Hinweise auf ein politisches Motiv“. Ein gezielter Mordversuch an einem willkürlich zuerst getroffenen, als Juden erkenn- baren Menschen ist eindeutig als Vernichtungswille an Juden erkennbar, ist mörderischer Antisemitismus, ist der Staatsanwaltschaft kein politisches Motiv. Im Mai transmitter endeten wir an dieser Stelle: „Die bisheri- gen Ermittlungen lieferten in keiner Hinsicht Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche oder politisch motivierte Tat.“ Im April war „der 15jährige Arkan Hussein Khalaf in Celle von hinten einem messerstechenden deutschen Rasssisten zum Mordopfer geworden“. Staatsanwaltschaften unter sich. Vergessen wir die Schrecken des vergangenen Februar nicht, die Mode von Hanau und die FDP_Kemm- rich Wahl in Thüringen. Zusam- men mit Querdenken & Co treten Schnittmengen des Grauens zu Tage. Jahrzehntelang galt der Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch“ als Warnung. Nun ist er mehr und mehr Tatsa- che geworden wovon das Capitol eher ablenkt, als akute Wachsamkeit gerade in D erzeugt. „Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem war.“ (Chile, zit. Ebenfalls tm 05/2020) tm Redaktion 3
Auf das der kontinuierliche Fluss des Opiums nicht versiegt zur Kulturindustrie in der Krise, Rekapitulation falscher Verhältnisse Im Folgenden wird von der Kunst gesprochen. Anstatt aber die notwendige Korrektur der Damit sind sowohl Bereiche der Musik, des Schau- Maßstäbe zu realisieren, verabschiedeten sich spiels, Theaters und Literatur gemeint als auch die nicht unwesentliche Teile der Kulturszene in ge- Bildende Kunst. Unterschiedliche Bereiche mögen wohnt selbstreferenzielle Diskurse. So phantasiert unterschiedlich von den getroffenen Maßnahmen man über die Bedeutung „digitaler Räume“ und betroffen sein. Den Produzierenden aller Berei- imaginiert ein unstillbares Bedürfnis nach „künst- che aber innewohnend ist das Selbstbildnis der lerischen Erzeugnissen“. Dass die gegenwärtigen frei und kreativ-tätigen Künstlerin (Künstlers). Da und gegebenen Umstände mehr als beschissen auch den Kapitalverhältnissen in letzter Instanz sind, will dabei geflissentlich übersehen werden. eine Unterscheidung in unterschiedliche Kategori- Gleichzeitig wird die verzweifelte Bitte der Gesell- en der Kunst fremd ist, soll auf diese konstruierte schaft an unsere Autoren und Künstler herangetra- Trennung auch hier verzichtet werden. gen, zu berichten, wie sie, im Abgleich zu der Pest, die gegenwärtige Krise interpretieren, auffassen War die Kunst, ihrem Selbstverständnis nach, und künstlerisch darstellen. Das Absprechen der bisher damit beauftragt die Lebenswelt aller Men- Relevanz wird gekoppelt mit der Bitte um Erklä- schen zum Stillstand zu bringen, war es ihre Auf- rung, Interpretation und emotionaler Imprägnie- gabe für den Schock zu sorgen, der die Menschen rung verbunden. im besten Falle in einen Zustand der Reflexion versetzt, so könnte man fälschlicherweise behaup- Das Ausbleiben eines vernehmbaren Wider- ten, hat die Gesellschaft die Kunst nun in einen spruchs oder gar eine Verweigerung gegenüber undurchdringlichen Schockzustand versetzt. Die den Erwartungen und Maßregelungen seitens der Kunst hat ihre Aufgabe verloren. Kunstschaffenden scheint dem Umstand geschul- Sahen sich nicht wenige Kunstschaffende vor det, aus jeder erdenklichen Situation positiv zu dem Ausbruch der Pandemie aktiv und unwider- wendende Erkenntnisse gewinnen zu können. Da ruflich auf das Zeitgeschehen einwirkend, müssen wir fast alle nach wie vor einem fortschrittsorien- sie mit der Fokussierung staatlicher Maßnahmen tierten Denken folgen, wird noch angesichts des realisieren, dass ihr Tätig-sein, nicht selten syno- größten Leids kein Versuch unterlassen positive nym verstanden mit ihrer Identität, als nicht sys- Erfahrungen mitzunehmen. Die Erfahrung, dass temrelevant klassifiziert wird. Entsprechend nar- das Gegebene in keiner Weise ins Positive zu wen- zisstisch gekränkt waren einzelne Äußerungen zu den ist, wird fahrengelassen. Wollte man, im Ange- Beginn des ersten und zweiten Lockdown. Plötz- sicht der vergangenen zwölf Monate, Erkenntnisse lich sah man sich konfrontiert mit der Banalität des aus der gegenwärtigen Situation ziehen, könnten Lebens. Der unbeschwerte Aufenthalt im Grande sie wie folgt aussehen: Hotel Metaphysik war scheinbar vorbei. Das erste worauf diese Gesellschaft fast freiwil- 1. Die Aufgabe der Kunst ist die Unterhaltung. lig und ohne größeren Widerspruch verzichtet ist Die bereits verächtlich vorgetragene Frage nach die vielzitierte Errungenschaft der Kultur. Das es dem Sinn der Kunst scheint, angesichts gegen- sich dabei um einen völlig verkürzten Begriff von wärtiger gesellschaftlicher Bedingungen abschlie- Kultur handelt, und einzig das damit gemeint ist, ßend beantwortet zu sein. Der Selbstzweck der was allgemein als Kulturindustrie zu bezeichnen Kunst und ihre fast schizoide Abgeschlossenheit sein könnte, ist hier zu vernachlässigen. hinsichtlich einer gesellschaftlichen Wirkmächtig- 4
keit ist zum akzeptierten Bedeutungshorizont der unter diesen Voraussetzungen. Damit soll kei- Kunst geworden. neswegs den Apologeten einer Meinungsdiktatur das Wort geredet werden. Doch kann eine solche Die scheinbar für alle befriedigende Verein- Kunst an keiner Stelle neue Wege und Möglichkei- barung beläuft sich auf der Stimulation stumpfer, ten der Distribution erproben. Eine Gewerkschaft visueller Bedürfnisse. Aufgabe der Kunst ist die der Kunstschaffenden wäre eine überfällige Ent- Simulation visueller, akustischer oder emotionaler wicklung. Der Generalstreik die einzig denkbare Diversität. Die damit verbundene Triebabfuhr ist Konsequenz. Selbstzweck. Kunstwerk, Medium und Inhalt sind austauschbar. Eine inhaltliche Ausrichtung oder Was heute bereits absehbar ist, ist, dass jene, gar eine den Kunstwerke vermeintlich innewoh- randständigen, marginalisierten oder bereits nende Fragestellungen ist zur Schimäre von Künst- schlicht übersehenen Positionen innerhalb der lerinnen und Publikum verkommen. Kunst, die auch vor der Krise schon um ihre Exis- tenz fürchten mussten, in Zukunft kaum mehr 2. Trotz anders lautender Selbstdarstellungen be- auffindbar sein werden. War das Leben und Pro- findet sich die Kunst keineswegs außerhalb gesell- duzieren bereits vorher eine notwendige Last, so schaftlicher Zustände. So ist es wenig verwunder- wird sich ein wiederhochfahrender Kulturbetrieb lich, dass im Bereich der Kunst nach wie vor keine einzig auf das Alte, Bewährte und Bekannte kon- kontinuierliche Selbstorganisation der Produzie- zentrieren. Die Fokussierung auf bereits vorhan- renden stattfindet. Gesellschaftliche Zustände zu- dene Positionen wird weiter zu nehmen. Die Be- War Kulturbetrieb bereits vor der Krise ein undurchsichtiges und von Korruption durchsetztes Unterfangen, werden diese Tendenzen sich im Zuge der Wiederaufnahme verstärken. spitzend sehen wir uns in der Kunst konfrontiert reitschaft von Kurator*innen, Verleger*innen und mit einem, bis zum Extrem individualisierten Pro- Veranstalter*innen Unbekanntes oder Ungeahntes duktionsprozess. Der Zusammenschluss von Kul- zu buchen wird, unter Berücksichtigung der öko- turschaffenden dient nur in absoluten Ausnahme- nomischen Verhältnisse, auf ein absolutes Mini- fällen der Thematisierung von Arbeitsbedingun- mum reduziert werden. War Kulturbetrieb bereits gen. Ansonsten wird die Kunst durchdrungen von vor der Krise ein undurchsichtiges und von Kor- einem, an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten- ruption durchsetztes Unterfangen, werden diese dem Egoismus und Konkurrenzverhalten. Gerade Tendenzen sich im Zuge der Wiederaufnahme in einem Moment der Krise wird dieser Zustand verstärken. verstärkt und, im Angesicht verschärfter ökonomi- Anstatt jedoch, dass es zu einer Organisierung scher Zwänge wird nicht selten jede letzte Maske- der Kunstschaffenden kommt, ist der verzweifelte rade fallen gelassen. Versuch einer weiteren Teilhabe an einem disfunk- tionalen System zu beobachten. Wider besseren 3. Die Abhängigkeit von staatlichen Strukturen. Wissens wird der erbärmliche Status Quo krampf- Kunst in Deutschland entsteht ausschließ- haft aufrechterhalten. Anstelle einer Selbstveror- lich in absoluter Abhängigkeit von öffentlichen tung innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhän- Geldgeber*innen. Was bereits vor der Krise an ge, einer tatsächlichen Reflexion von Abhängig- vielen Stellen notwendigerweise kritisiert wurde, keitsverhältnissen und Produktionsverhältnissen wird unter den gegenwärtigen Bedingungen um steht die selbstvergewissernde Fortführung der so deutlicher. Der freien und ungezwungenen Er- eigenen Bedeutungslosigkeit. probung der Möglichkeit einer anderen Welt steht die mitunter selbstverschuldete Abhängigkeit im Die Kunst ist ihr eigenes Ende. Sie ist sich selbst Wege. Damit verbunden ist weiterhin immer auch Opium. die Frage nach den Möglichkeiten von Unabhän- gigkeit, Autonomie und freier Meinungsäußerung KI jetzt L 5
IN DER ZONE Drei lose Thesen zur Situation der Kunst in der Corona-Zeit 1. Kunst-Machen funktioniert nicht 3. Das Internet entlohnt grundsätz- ohne Feedback. Das kann entweder lich keine kreativen Arbeiten. Es ent- ein Feedback des Publikums im Aus- lohnt nur Plattformen, die solche Ar- stellungsraum sein, eine spontane Re- beiten bereitstellen, vermitteln oder aktion von Freunden im Atelier, eine Handel mit (kreativen) Produkten Rezension in der Zeitung oder ein Ge- treiben. Die angemessene, d.h. wirt- spräch in der Kneipe. Ohne die Reso- schaftliches Überleben sichernde Be- nanz des Lebensraumes passiert nichts. zahlung kreativer Arbeit wie Musik, Das liegt daran, dass das, was Kunst Bildende Kunst, Fotografie, Journalis- ausmacht, nicht im Objekt allein ent- mus ist im Internet nicht vorgesehen. halten ist, sondern erst in der Rück- kopplung mit dem/r Betrachter/in ent- steht.* Die gesellschaftliche oder ideel- le Bedeutung eines Kunstwerks verän- dert sich über Jahrhunderte drastisch. Kunst entsteht im Überschneidungs- raum zwischen Werk und Rezipient. Letzterer verknüpft die Eindrücke mit seiner eigenen Geschichte. Ein Kunst- werk ist darum kein Unikat, sondern eine endlose Variation: jeder Betrach- ter macht es zu seinem Eigentum. 2. Online-Theater oder Online- Felix Kubin * Anmerk.: Die These, dass Kunst nicht allein im Kunstwerk Konzerte funktionieren nicht, wenn entsteht, sondern in dem „Raum“ zwischen Kunstwerk die Bühne einfach nur abgefilmt (bzw Künstler/in) und Betrachter/in, dass sie also erst wird. Es fehlt die dritte Dimension dort zustandekommt, wo die chemische Verbindung (in Klang und Bild) und die Möglich- zwischen Kunstwerk und Betrachter/in eintritt, möchte ich keit, den Blick schweifen zu lassen, als ausdrücklich hervorheben. Ich empfinde diese Sichtweise als befreiend, weil sie der Deutungstyrannei der Kunst und Betrachter die Position im Raum zu der Herrschaftsposition des Künstlers ein Ende bereitet. verändern. Für ein Online-Konzert Kunst ist nur „so viel“ da, wie sie im Betrachter resoniert. muss eine ganz andere Bildsprache Zu manchen Zeiten funktionieren darum bestimmte gefunden werden, eine intime Spra- Kunstwerke nicht, in anderen haben sich die Lebensbe- che, die sich eher an einer Studioauf- dingungen so verändert, dass missachtete Werke plötzlich relevant werden. Ab dem Moment ihrer Rezeption gehört nahme und am Kino orientiert. Hinzu dem Künstler die Kunst nicht mehr, ihm gehört nur das kommt, dass in einer Online-Wieder- Objekt, das er hergestellt hat. Der Betrachter vervollstän- gabe von Musik die physische Wahr- digt die Kunst, er nimmt aktiv an ihrer Entstehung teil. nehmung der Lautstärke fehlt, ent- Darum kann man Kunst nicht konsumieren wie ein Stück sprechend im Theater das blendende Brot, es ist anstrengend, aber auch erfüllend, sie zu rezipie- ren (diese Überlegung gilt für Musik, Kino usw. genauso) . Licht. 6
Kein Ort, … aktiv erfahren als von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen geprägt Seit einem Jahr leben wir nun in und mit der chen Körpern, die daran zu Grunde gehen können Pandemie. Was – trotz aller Warnungen von Wis- – und einer gesellschaftlichen Struktur verstanden senschaftler_innen und Mediziner_innen – von werden kann, führt zu Erfahrungen, die für die vielen als temporäres, schnell vorübergehendes meisten Bewohner_innen nordeuropäischer Zen- Phänomen angesehen und dargestellt wurde, ist tren der kapitalistischen Weltwirtschaft neu sind. zur prägenden Konstante des Alltags geworden. Diese Erfahrungen sind grundlegend gekenn- Die dabei gemachten Erfahrungen werden dabei zeichnet vom Erleben des Scheiterns der Naturbe- zumeist als – wenn auch millionenfach gemachte herrschung und dem Erleben von Dysfunktionali- - individuelle Erfahrungen des Leides und der Ein- tät staatlicher Verwaltung. Das ein natürlicher Vor- schränkung erzählt und verhandelt. Nun sind Leid gang nicht nur regional und kurzzeitig (wie z.B. ein und Einschränkung alltägliche Bestandteile der Hochwasser mit einhergehenden Überschwem- Lebenswirklichkeit im Kapitalismus, werden als mungen) sich der Kontrolle des Menschen ent- solche häufig jedoch nicht wahrgenommen. Weil zieht und auch mit massivem Ressourceneinsatz die auf der Verwertung des Wertes beruhende Ge- nicht eindämmbar ist, steht im Widerspruch zum sellschaft den meisten als quasi-natürlich gegeben Selbstbild eines modernen Industriestaates und erscheint, leidet man zwar unter dem Zwang zur seiner Bevölkerung. Naturkatastrophen und Seu- Lohnarbeit und den damit einhergehenden Risi- chen gehören stattdessen zum Bild, das sich das all- ken, nimmt diese aber als so unvermeidlich unan- gemeine Bewusstsein vom globalen Süden macht, genehm hin, wie kalten Nieselregen im November. sind Ausweis von Rückständigkeit und Armut. Im Frühjahr war man hierzulande noch stolz darauf, Der Einbruch der Pandemie, der als das Auf- wie gut man die Pandemie managen würde. Mit einandertreffen eines natürlichen, biologischen der üblichen Hochnäsigkeit guckte man auf Itali- Vorgangs – ein Virus vermehrt sich in menschli- ener, Franzosen und Spanier. Insgeheim war man 7
sich sicher, dass die schrecklichen Bilder von über- Kontakte - „lower the curve“ propagiert, das aber füllten Krankenhäusern und sich in den Kühlkam- nicht in vergleichbarer Weise durch Forderungen, mern stapelnden Leichen nur wieder Ausweis der Diskussionen und Aktionen unterlegt, die das Ab- dem Nationalcharakter der Südeuropäer innewoh- senken der Infektionskurve gesellschaftlich erst er- nenden Undiszipliniertheit und Verantwortungs- möglichen, indem sie auf Abschaffung des Arbeits- losigkeit seien. zwangs, Schutz des Menschenlebens und nicht der Wertschöpfung, Ermöglichung handlungsfähiger Dieser Hochmut blamiert sich an der Unfähig- Selbstorganisation etc. zielen. Das Propagieren der keit der eigenen staatlichen Strukturen, die nicht individuellen Einhaltung von Schutzregeln und in der Lage sind, auf Basis von Vorwarnungen vor das Skandalisieren z.B. von falscher Benutzung dem Ausbruch derartiger Pandemien und mit dem von Schutzmasken traf auf Individuen, die derart Vorlauf von mindestens einem halben Jahr (spä- umfassend „neoliberal“ zugerichtet sind, wie es testens seit den Erfahrungen der ersten Welle der sich offensichtlich selbst linke Kritiker_innen des Pandemie) Gesundheitswesen, Bildungswesen, öf- Zwanges zur Selbstoptimierung nur unzureichend fentlichen Transport und allgemeine Verwaltung vergegenwärtigt haben. auf die Erfordernisse der Pandemie einzustellen. Stattdessen ist das Phänomen zu beobachten, dass So leidet man – auch die meisten Linken - in- die Repräsentanten eines politischen Apparates, dividuell an der eigenen Unfähigkeit sich hundert- der daran scheitert eine Gesundheitsverwaltung zu prozentig so zu verhalten, wie es Karl Lauterbach betreiben, die auch nur in der Lage ist, den Verlauf fordert. Eine umfassende Verständigung darüber, der Pandemie statistisch halbwegs genau zu erfas- wie man an der Pandemie – das schließt eben die sen, nach je autoritäreren Mittel rufen, je deutli- Maßnahmen zu deren Bekämpfung mit ein – lei- cher dieses Scheitern wird. Dabei gibt es für den det und ein Gespräch darüber, wie dieses Leiden zu Wunsch nach exekutivem Zwang eine klare Gren- mindern wäre, findet jedoch kaum statt. ze: die Wertschöpfung in den strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen des Standortes Deutschland Das ist kein Phänomen der Pandemiezeit, wird nicht angetastet. macht sich hier nur verstärkt bemerkbar: das Mo- ment des eigenen Eingebundenseins in den Kapita- Die Reaktionen auf dieses Erleben sind bei den lismus, da einem die unpersönlichen Herrschafts- meisten Menschen, so zumindest die Beobachtung strukturen dieser Gesellschaftsordnung in ihrer des Autor* dieser Zeilen, der sich davon gar nicht ganzen Machtvollkommenheit gegenübertreten, ausnimmt, Genervtheit, Frust, sich anstauende ist für viele Menschen – auch die meisten Linken aber leerlaufende Aggression. Dass Pandemie und – kein Ort, den sie aktiv als von gesellschaftlichen Lockdown in beträchtlichem Umfang psychische Aushandlungsprozessen geprägt erlebt haben. Folge zeitigen, dürfte auch und vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die meisten Menschen Dieser Mangel von Erfahrung und das dar- mit der Aufgabe überfordert sind, sich widerspre- aus resultierende fehlende Bewusstsein von und chende Bedürfnisse und Anforderungen in dieser für Gesellschaftlichkeit ist eines der ganz großen Situation allein mit sich selbst auszubalancieren. Hindernisse auf dem Weg, diese Gesellschaftsord- Denn das elementare Bedürfnis nach Kommuni- nung, die sich nicht nur in der Pandemie alltäglich kation, physischem Kontakt, Unterhaltung muss als zerstörerisch erweist, zu überwinden. Dieser gegen das Risiko abgewogen werden, sich selbst Erfahrungsmangel, der ein Mangel an aktivem und andere anzustecken - unter Bedingungen, Wissen ist, lässt sich allerdings nicht durch Pro- unter denen Risikominimierung für viele nur sehr paganda, d.h. durch die Verkündung von Wissen begrenzt möglich ist aber ständig gefordert wird. durch „Eingeweihte“ an die „unwissenden Massen“ überwinden. Soweit derzeit ersichtlich braucht es Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich im dazu alltägliche gemeinsame Reflexion im gemein- Nachhinein ein großer Fehler jenes Teils der Lin- samen Handeln. Dazu zu kommen, scheint eine ken, der staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der dringenden Notwendigkeiten zu sein, will man der Pandemie für nötig und legitim hält, erkennen. den aktuellen Zustand so überstehen, dass man Seit dem Frühjahr 2020 haben diese Linken inten- dannach noch zu besserem in der Lage ist. siv die individuelle Einhaltung von Vorsichtsmaß- nahmen, Hygiene und die Minimierung physischer Sten 8
Radio Nordpol - Dortmund Selbstverständnis vom 9.6.2020 Gedenkpolitik, Lyrik und Laberei sollen durch das Radio miteinander in Kontakt kommen können. Unser Ausgangspunkt war das schlagartige Auftau- chen einer neuen Realität, eines Lebens mit dem Weil du auch eine Arbeiter:in bist Virus. Wir sind mit dem Radio Nordpol gestartet, Wichtig ist uns, dass der Schritt von der um in der Infodemie eine kritische Öffentlichkeit zu Zuhörer:in zur Produzent:in ein kleiner ist, indem ermöglichen, damit in den Zeiten der Zwangspause wir eine offene Struktur bleiben und Interessierte zu der (Sub)Kultur- und Politikbetrieb weiterhin agil eigenen Produktionen befähigen.Gegen die Wieder- bleibt. Wir haben dezentrale Aufnahmemöglichkei- kehr des Immergleichen gilt es jener Segregation von ten an die uns nahestehenden kritischen Milieus he- Bereichsthematiken und Schubladeninhalten, die rangetragen. Wir sind immer noch überrascht und nur entfremdete gesellschaftliche Teilungen weiter- gerührt, welche Explosion von kreativer Energie das treiben, ebenso entgegenzuwirken wie der Hierarchie Projekt freisetzt. zwischen Sender:in und Empfänger:in.Wir wollen aus den segregierten Öffentlichkeiten herauskom- Der anfängliche Schock, die Paranoia & Panik, men und Erfahrungen und Sichtweisen der Krise sind mittlerweile einer trügerischen »neuen Nor- kollektivierbar machen. Wir orientieren uns dabei an malität« gewichen. Genauer wäre die Situation als marginalisierten Milieus und begreifen uns als Teil eine Denormalisierung zu bestimmen, die je unter- dieser, die mit je unterschiedlichen Voraussetzungen schiedliche pandemische Bedingungen schafft. Die in die Krise hineingehen und zum Teil stärker den imaginierte deutsche Idylle ohne Lockdown und Folgen dieser Pandemie ausgesetzt werden. Intensivbettenüberlastung ist dem Zufall der Vi- rusausbreitung geschuldet und durch sozialstaatliche Was fehlt dem Radio? – Von der Produzent:innen- Abfederung aufgrund der ökonomisch hegemonia- Plattform zu einem Netzwerk der Diskurse len Stellung in der EU erkauft. So unterscheidet sich Erste Schritte der Hör- und Sichtbarmachung die Situation hierzulande von Norditalien, Belgien, von linken Diskursen, Erfahrungen und Reflexionen, Großbritannien, New York oder Indien. Andere Orte die ansonsten in ihren eigenen Bereichsöffentlichkei- befinden sich erst noch in der dynamischen Phase der ten verblieben wären, sind gelungen. Schwerpunkte Entwicklung. Ihr Verlauf ist nicht planbar – allen Mo- des bisherigen Programms sind Antifaschismus, An- dellrechnungen zum Trotz. Statt einer Welle haben tirassismus, Feminismus, Gesundheits- und Sozial- wir es mit unberechenbaren Wellenbewegungen zu politik, Kunst & Kultur sowie ein Kinderprogramm. tun. So gilt es, solidarische Perspektiven zu entwi- Wir wünschen uns eine sich innerhalb von NRW in- ckeln und für eine gemeinsame Suche nach einem tensivierende, politische wie räumliche Erweiterung Way-Out aus Krisenverwaltung und Kapitalismus lo- des Radius des bisherigen Produzent:innenkreises, kale und globale Prozesse zusammenzudenken. um einen lebendigen Möglichkeitsraum für kritische, pluralistische Debatten und wechselseitige, solidari- … jenseits von corona …Radio Nordpol sche Bezugnahmen zu erhalten. Es geht mit dem Radio nicht mehr (nur) um Welchen Gebrauchswert der Livestream für Corona. Das Ruhrgebiet und NRW brauchen schon Radio Nordpdol haben kann, gilt es weiterhin zu er- länger ein übergreifendes linkes Medium. Als einzi- proben – er entfaltet sich nicht durch die Anhäufung ges Bundesland ohne ein Freies Radio befinden wir von Klicks und Likes, sondern in der Schaffung einer uns vielleicht am Anfang einer nachholenden Ent- dauerhaften Hörstation. Wünschenswert wären in wicklung? – Das hängt auch von Dir ab! Momentan Zukunft eine Musikredaktion sowie der Ausbau von verfolgen wir eine Stabilisierung des Radiobetriebs Veranstaltungsdokumentationen – aber die Voraus- und probieren uns an einer konstruktiven und kol- setzung dafür wäre, dass unsere Redaktion wächst. lektiven, sich erhaltendenden Struktur des Mediums. Wir freuen uns auf die nächste Phase! Dieses hat in der kurzen Zeit politische und kultu- relle, aktivistische und künstlerische Sphären stärker vernetzt. Wir wünschen uns in dieser Perspektive weiterzuarbeiten: Musik- und Kindersendungen, Ge- radio.nrdpl.org sprächsformate und Geschichten, Demoaufrufe und Email: radio@nrdpl.org 9
Für eine neue Strategie-Debatte dritter Teil Organisation (und damit wechselseitig auch Strategie) eine Ausweitung des Massenkonsums erklärt wer- beschreibt Georg Lukács 1923 als Form der Vermittlung den kann, muss die Erklärung für die Zeit danach zwischen Theorie und Praxis: eine andere sein. Auch die Rationalisierung der Carearbeit durch deren Kommodifizierung (Kin- „Und wie in jedem dialektischen Verhältnis erlangen derbetreuung, Pflege) und Technisierung (v.a. im auch hier die Glieder der dialektischen Beziehung Haushalt) hat nicht wesentlich zu einer Reduktion erst in und durch ihre Vermittlung Konkretion und der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit geführt, Wirklichkeit.“1 sondern hat durch die erkämpfte Integration der Frauen* in die Lohnarbeit bei gleichbleibender Ar- Heute scheinen wir genau die dieser dialektischen beitszeit lediglich zu einem Übergang von unbe- Beziehung innenwohnende Frage der Strategie und Or- zahlter zu bezahlter Arbeit geführt. ganisation theoretisch zu vernachlässigen. Es folgt zuge- spitzt formuliert eine unwirkliche Theorie und eine the- Einige Ansatzpunkte für das scheinbare Ver- orielose Praxis. Konkrete praktische Konsequenzen für puffen der Produktivitätssteigerungen und Rati- die Linke heute sind unserer Meinung nach der reaktive onalisierungen der letzten Jahrzehnte lieferte der Charakter der Praxis und Organisationsformen, die sich kürzlich verstorbene David Graeber mit seinem an verschiedenen historischen Formen orientieren, statt Konzept der Bullshit-Jobs: in Wechselwirkung mit der Strategie aus einer umfas- senden Gegenwartsanalyse zu resultieren. „Ein Bullshit-Job ist ein Job, der so sinnlos ist, Wir beschäftigen uns jetzt im dritten Transmit- dass selbst die Person, die ihn ausführt, insge- ter mit dieser Feststellung und den resultierenden heim glaubt, dass er gar nicht existieren sollte.“5 Konsequenzen: Graebers Konzept beschreibt sehr treffend die In unserem letzten Debattenbeitrag haben wir subjektive Wahrnehmung einer objektiven gesell- vorgeschlagen, den Begriff revolutionäre Qualitä- schaftlichen Tendenz: Die Zunahme gesellschaft- ten einzuführen, um den gegenwärtigen Stand des lich sinnloser Arbeit. Dazu Graeber: Klassenkampfes und was zu tun wäre begrifflich besser fassen zu können. Eine revolutionäre Qua- „Die herrschende Klasse hat erkannt, dass eine lität zeichnet sich dadurch aus, dass sie gleichzeitig zufriedene und produktive Bevölkerung mit Kampfmittel der Subalternen wie auch kurz- und frei verfügbarer Zeit eine tödliche Gefahr dar- langfristiges Ziel der Kämpfe darstellt. Als Beispiele stellt. […] Andererseits ist der Gedanke, Arbeit dafür haben wir Rosa Luxemburgs Klassenbewusst- sei an und für sich von moralischem Wert und sein2, Bini Adamczaks solidarische Beziehungswei- dass jeder, der nicht willens ist, sich die meiste se3 und Dietmar Daths politische Zeit4 genannt und Zeit der Stunden seines Wachseins irgendeiner auf die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus und Art intensiver Arbeitsdisziplin zu unterwerfen die Gefahr der Kommodifizierung revolutionärer nichts verdiene, außerordentlich zweckdienlich Qualitäten hingewiesen. In diesem Beitrag wollen für sie.“6 wir auf die Zeit als revolutionäre Qualität nochmal vertieft eingehen. In unserem begrifflichen System revolutionä- rer und konterrevolutionärer Qualitäten gefasst Während in den ersten Jahrzehnten der orga- beschreibt Graeber also das materielle Interesse nisierten Arbeiter*innenbewegung zunächst große der Bourgeoisie an Bullshit-Jobs erstens durch die Gewinne bei der Verkürzung erkämpft werden Bekämpfung der revolutionären Qualität „Zeit“ konnten, bleibt die notwendige Lohnarbeitszeit und zweitens die Verstärkung der konterrevolu- seit den (gescheiterten) Revolutionen 1917ff in den tionären Qualität falschen Bewusstseins (hier: kapitalistischen Zentren relativ konstant. Während Arbeitsfetisch). diese Stagnation für den Fordismus noch durch 10
Das materielle Interesse der Bourgeoisie ist wie ein Feudalherr: Man hat jemanden, der notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedin- einem den Schnurrbart zupft und einen ande- gung für die Zunahme von Bullshit-Jobs. Auf der ren, der einem den Steigbügel poliert – nur um Mikro-Ebene, also der Ebene der Einzelkapita- zu zeigen, dass man es kann.“ le, scheinen sinnlose Jobs im Widerspruch zu im Kapitalismus stets angestrebten Rationalisierungs- - Seit dem “Klassenkampfkompromiss“ der und Effizienzsteigerungen zu stehen. Allerdings Nachkriegszeit ist ein hegemoniales Ideologem der sind solche Jobs unter den derzeitigen, d.h. post- bürgerlichen Gesellschaft, dass Unternehmen und fordistischen bzw. „neoliberalen“, Bedingungen für die Bevölkerung einheitliche Interessen hätten. Unternehmen (und manchmal den Staat) durch- Diese für das Gesamtkapital sehr nützliche Ideolo- aus instrumentell vernünftig oder gar notwendig. gie schafft auf Ebene der einzelnen Unternehmen Einige Beispiele: den Zwang, offensichtliche Interessengegensätze zu kaschieren. Beschäftigte in Compliance-Ab- - Unternehmen konkurrieren teilweise nicht teilungen, für Greenwashing, zur Verbesserung mithilfe möglichst guter Preis-Leistungsverhält- des „Workplace Environment“ etc. nennt Graeber nisse miteinander. Unter den Bedingungen fort- Kästchenkreuzer*innen. Auf der Seite der Bevöl- geschrittener Monopolisierung beißen stattdessen kerung zeitigt die Ideologie der Interessengemein- die größeren Unternehmen die kleineren und sich schaft außerdem den Effekt, Degradierungserfah- untereinander weg, indem sie juristisch gegenei- rungen als individuelles und nicht klassenkämpfe- nander aufrüsten, um die Gunst politischer und risches Problem aufzufassen. Das zieht eine ganze wirtschaftlicher Einflussträger*innen konkurrie- Reihe Bullshit von Motivationsseminaren bis ren und aufmerksamkeitsökonomischen Wettbe- Ratgeber*innenliteratur nach sich. werb um Kund*innen führen. Marketingbranche, Wirtschaftsanwält*innen usw. bezeichnet Graeber - Mit der Behauptung, dass Menschen(gruppen) als Schläger*innen. nur unter Konkurrenz und Zwang effizient arbei- ten würden, wurden erkämpfte (sozial)staatliche - Sowohl das Kapital als Ganzes als auch Ein- Institutionen ökonomisiert. Gerade in Bereichen, zelunternehmen zumindest ab einer bestimmten in denen Arbeiter*innen ihre Tätigkeit tendenziell Größe genauso wie staatliche Machtfraktionen als sinnvoll erachten, ist dies eine selbsterfüllende haben ein Interesse daran, ihre Herrschaft zu ver- Prophezeiung, weil diese Menschen erst durch die schleiern. Finanzialisierung, komplexe Unterneh- Ökonomisierung ihre intrinsische Motivation ver- mensstrukturen, ausgelagerte Entscheidungsin- lieren. Dies macht dann immer neue Zwangs- und stanzen (Beratungsgesellschaften u.a.) und di- Kontrollmechanismen notwendig, die zu einer Ex- verse hierarchische Zwischenebenen („mittleres plosion der Bürokratie führen (z.B. Fallpauschalen Management“) sind die Folge. Dies ist nützlich, im Gesundheitswesen, Antragsforschung, als Pisa- um Protesten und Kämpfen Projektionsflächen “Studien“, Bewerbungsmarathons für Arbeitslose zu geben (im Zweifelsfall können problemlos ein etc.) paar Köpfe rollen) und außerdem, um in einem zunehmend neofeudalen Kapitalismus die Illu- Basierend auf den Analysen des Psychologen sion von Aufstiegsmöglichkeiten aufrecht zu er- Groos beschreibt Graeber die Wichtigkeit für die halten. Bei Graeber heißen die so Beschäftigten Selbst- und Weltwahrnehmung, durch die eige- Aufgabenverteiler*innen. nen Handlungen das Gefühl zu haben, auf die un- Solche Beschäftigungen entstehen außerdem mittelbare Umwelt bzw. die gesamte Gesellschaft durch einen weiteren Effekt der fortgeschrittenen einwirken zu können. Die subjektive Erkenntnis, Monopolisierung: Der nach außen geringer wer- eine sinnlose (oder gar Gesellschaft-schädigen- dende Konkurrenzdruck führt zu einem verschärf- de) Tätigkeit auszuüben, führt unter anderem ten Konkurrenzkampf im Inneren des Unterneh- zu Gefühlen der Ohnmacht, Selbstzweifeln und mens. Graeber: Depressionen. „Innerhalb der Firma baut man sich ein Impe- Auch außerhalb von Bullshit-Jobs machen rium auf. Verschiedene Managerinnen und Ma- viele von uns die Erfahrung, dass die herrschen- nager treten in Wettbewerb darüber, wie viele de Klasse uns Zeit raubt – unabhängig davon, ob Leute unter ihnen arbeiten. […] Das ist ähnlich der Effekt von der Bourgeoisie beabsichtigt ist oder 11
als für sie Kollateralnutzen aus zweckrationalen Erfahrungen bürokratischen Zeitraubs (z.B. Dritt- Eigenlogiken von Staat und Kapital entsteht. Sei mittelanträge, Studieninformationssystem-Strugg- es als Frau* durch den Gender Care Gap, es als le, Greenwashing, …) der Studis und Beschäftigten Migrant*in oder Arbeitslose*r im Kampf mit der beschreiben. feindlich gesonnenen Bürokratie, als Pendler*in in unfassbar rückständigem ÖPNV oder als Studi in der Mühle des Bologna-r(d)eformierten Systems. Literatur: Dennoch muss eine Strategie, die den Klassen- 1 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbe- kampf um die Frage, wer wie die gesellschaftliche wusstsein, Neuwied 1968[1923]. Arbeit organisiert, auch oder insbesondere als 2 Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Ge- Kampf um Zeit auffasst, nicht nur das feindliche werkschaften. Hamburg 1906. Interesse der Herrschenden identifizieren, sondern 3 Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution - auch die systeminhärenten Logiken spezifischer 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017. nachvollziehen, gegen die gerichtet wir uns die 4 Dietmar Dath, Klassenkampf im Dunkeln, Hamburg 2014. Selbstbestimmung über unsere Lebenszeit aneig- 5 Jacobin Magazin: David Graeber über Bullshit-Jobs, abrufbar nen wollen. unter: https://jacobin.de/artikel/david-graeber-bullshit-jobs/ 6 David Graeber: Über das Phänomen unsinniger Jobs, Dafür wollen wir im nächsten Beitrag die Situ- abrufbar unter: https://www.strike.coop/unsinniger-jobs ation an der wettbewerbsförmigen Hochschule, die uns umgibt, als Summe subjektiver Bullshit(job)- Maulwurf der Vernunft »Keine antisemitische Tat« Die Hamburger Staatsanwaltschaft kommt bei ihren rend des jüdischen Laubhüttenfests. Drinnen, in der Ermittlungen zum Anschlag vor der Hamburger Sy- Synagoge sollte kurz nach dem Tatzeitpunkt die Feier nagoge zum Schluss: Ein antisemitisches Motiv habe dazu beginnen. der psychisch erkrankte Tatverdächtige nicht gehabt. Der Hamburgische Landesrabbiner Shlomo Bis- Noch spät am Abend des 4. Oktobers letzten Jah- tritzky, der wenige Minuten nach der Tat an der Syn- res sicherten Polizist:innen mit Maschinenpistolen agoge ankam, fragte später vor der Presse: „Wie kann weiträumig den Tatort und Ermittler:innen in wei- das nochmal, ein Jahr nach Halle, passieren?“ Der an- ßen Overalls die Spuren, erste dort abgestellte Ker- tisemitische Anschlag von Halle, bei dem ein Rechts- zen flackerten bereits vor den Absperrbänden: Einige extremist mit Maschinengewehr in eine Synagoge Stunden zuvor war es vor dem Eingangstor zur Ham- einzudringen versuchte, jährte sich beinahe auf den burger Synagoge Hohe Weide in Eimsbüttel zu einem Tag genau zum ersten Mal. Auch die Hamburger Po- Anschlag gekommen. Ein Mann, bekleidet in Militä- lizei ging nach der Tat davon aus, dass es einen poli- runiform, hatte mit einer Schaufel einen 26-jährigen tischen Hintergrund gibt. „Aufgrund der derzeitigen Studenten attackiert. Der erlitt schwere Kopfverlet- Einschätzung der Gesamtumstände ist bei der Tat zungen und musste vorübergehend auf der Intensiv- von einem antisemitisch motiviertem Angriff auszu- station behandelt werden. Der mutmaßliche Täter gehen“, sagte im Oktober ein Sprecher der Polizei. war unmittelbar nach der Tat festgenommen worden. Mal wieder ein antisemitischer Anschlag? Die Kein Zweifel herrschte nach der Tat daran, Hamburger Staatsanwaltschaft ist heute, knapp vier dass es sich um eine antisemitische Attacke gehan- Monate nach der Tat, in dieser Hinsicht anderer delt hatte. Neben der Militärkleidung fanden die Meinung. Sie hat nun ihre Ermittlungen zu dem Fall Ermittler:innen in den Taschen des Angreifers einen abgeschlossen und sieht in der Tat einen versuchten Zettel mit einem aufgemalten Hakenkreuz. Das Mord und schwere Körperverletzung. Doch ist sie Opfer, das eine eine Kippa trug, wollte gerade die Sy- der Ansicht, dass der Tatverdächtige nicht aufgrund nagoge betreten. Auch geschah der Anschlag wäh- eines politischen Motivs handelte. 12
Der Tatverdächtige befindet sich seit seiner Fest- wenn jemand psychisch krank ist, müsse dessen Tat nahme in einer psychiatrischen Einrichtung. Er habe politisch betrachtet werden. „Zu denken, dass eine den Ermittler:innen zufolge bei der Festnahme einen solche Tat unpolitisch und nicht antisemitisch sei, ist „extrem verwirrten Eindruck“ gemacht. hanebüchen.“ „Wir gehen von einer Schuldunfähigkeit aus“, sagt Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nana From- Beck (Grüne) empfahl seiner Parteikollegin und ak- bach. Das Motiv für die Tat, so sieht es die Staatsan- tuellen Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina, sie waltschaft, liege in dessen psychischer Erkrankung. solle der ihr unterstellten Justiz eine Weiterbildung in „Es gibt keine Hinweise auf ein politisches Motiv“, sagt Antisemitismus verordnen. Frombach. Der Hass auf Jüd:innen sei in dessen psy- chischer Erkrankung zu finden, sodass der Anschlag Ob bei dem Beschuldigten vor der Erkrankung nicht als eindeutig politisch motiviert zu bewerten auch ein antisemitisch-politisches Weltbild vorge- sei. Er hätte, will man der Staatsanwaltschaft folgen, legen haben könnte, schließt die Staatsanwaltschaft auch Hass auf eine beliebig andere Menschengruppe nicht aus. Wegen der Erkrankung hat sie kein Straf- im Zuge seiner Erkrankung entwickeln können und verfahren beantragt, sondern ein Sicherungsverfah- eben diese dann angegriffen. ren. In den kommenden Wochen muss das Hambur- ger Landgericht über die Zulässigkeit entscheiden. Diese Sicht auf den Täter ist für viele eine Über- Das Verfahren dürfte dann in diesem Jahr noch star- raschung. Philipp Stricharz, den Vorsitzenden der ten. Allerdings, wegen der Erkrankung des mutmaß- Jüdischen Gemeinde in Hamburg, kann die Ein- lichen Täters, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. schätzung der Staatsanwaltschaft kaum nachvollzie- hen. „Es klingt sehr fernliegend, dass es sich nicht um Da die Staatsanwaltschaft aber kein vorrangig eine antisemitische Tat gehandelt hat“, sagt Stricharz. politisches Motiv sieht, dürfte es im Verfahren auch Wie solle man antisemitische Taten in Zukunft ver- kaum um die politische Sozialisation des Tatverdäch- hindern, wenn man sie nicht einmal als antisemitisch tigen gehen. Auf die Fragen, wie und woher er sei- benenne, fragte er. nen Antisemitismus entwickelte, wird damit kaum noch ein Licht geworfen werden können. Sollte der Auch bundesweit gibt es kritische Reaktionen. 29-Jährige verurteilt werden, käme er damit nicht ins „Solche Taten geschehen nicht aus dem Nichts heraus“, Gefängnis, sondern in die Psychiatrie. Unterm Strich sagt Levi Salomon, Sprecher des Jüdischen Forums stünde dann, wieder einmal: Ein Einzeltäter, psy- für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA). chisch krank und ohne jegliche politische Agenda. Für ihn ist es unerklärlich, wie der der Tat zugrunde- liegende Antisemitismus beiseite geräumt wird. Auch André Zuschlag FSK Film Im Rahmen des rc3 wurde das freie sender kombinat in einem kleinen Film Porträtiert, der ganze Film lässt sich hier anschauen: https://media.ccc.de/v/rc3-15-freies_sender_kombinat_hamburg Freies Radio kurz erklärt Eine schon seit über zwei Jahrzehnten bestehende Struktur bleibt beständig in der Veränderung. Die antiquierte Art des Aussendens von Informationen und Geräuschen aller Art hält sich immer noch wacker - und bleibt relevant im Nischendasein. Radio is not dead =) Es gibt viel zu hören - und in diesem Ausnahmefall auch was zu sehen dazu. Danke an die ChaosTrawler! 13
Buch - Eine Wiederentdeckung: „Patience geht vorüber“ von Margaret Goldsmith Mein großes Faible für Literatur der 1920er und Schriftstellerin Vita Sackville-West bekannt. Ab 1928 1930er Jahre und für interessante Frauen spiegelt verfasste sie sechs Romane und mehr als zwanzig sich deutlich in meinem Verlagsprogramm wider, Biografien und Sachbücher und übersetzte eben- in dem Bücher von weitgehend unbekannten und so viele Bücher aus dem Deutschen ins Englische. vergessenen, meist jüdischen Schriftstellerinnen Goldsmith wurde 1895 in Milwaukee geboren und einen Schwerpunkt bilden: Bücher von Autorinnen wuchs in Berlin auf. Nach einem Studium in Illi- wie Lili Grün, Ruth Landshoff-Yorck, Maria Leitner nois kehrte sie 1921 wieder nach Berlin zurück und oder Lessie Sachs, um nur einige von ihnen zu nen- wurde stellvertretende US-Handelskommissarin. nen. Die neueste Wiederentdeckung im AvivA-Pro- Als Korrespondentin war sie mit ihren Berichten gramm ist der erstmals 1931 veröffentlichte Roman aus Deutschland in englischen und amerikanischen „Patience geht vorüber“ von Margaret Goldsmith. Zeitungen präsent. 1931 ging sie nach London und wurde dort eine wichtige Vermittlerin deutscher Patience hat eine englische Mutter und einen Literatur. 1970 starb die Schriftstellerin, Übersetze- deutschen Vater und lebt in Berlin. Während an der rin und Journalistin im Alter von 75 Jahren in ihrer Front gekämpft wird, feiert sie mit ihrer Freundin Wahlheimat London. Grete im April 1918 in einer kleinen Konditorei in Berlin ihr bestandenes Abitur. Beide sind froh, dass Der Roman „Patience geht vorüber“ ist der ihnen bei der Prüfung kein Bekenntnis zur Nation Künstlerin Martel Schwichtenberg gewidmet, mit abverlangt wurde, stimmen sie doch schon lange der Goldsmith befreundet war und von der auch nicht mehr in den patriotischen Überschwang ihrer die Umschlagillustration stammt, die das Original Umgebung mit ein: Grete ist Sozialistin und Patience wie auch die Neuausgabe schmückt. Ich finde den wurde von den Mitschülerinnen ständig daran erin- Bezug zur Malerin und Bahlsen-Gestalterin Martel nert, dass sie nicht dazugehört: »Ihr allzu englischer Schwichtenberg auch deshalb sehr spannend, weil Vorname hatte ihr als Kind schon große Schwierig- diese bereits in einem meiner ersten Bücher port- keiten gemacht. ›Sprich Peeschens‹, hatte sie ihren rätiert war, das vor über 20 Jahren erschienen (und Mitschülerinnen vorbuchstabiert, als sie zum ersten auch immer noch lieferbar) ist: „Wie eine Nilbraut, Mal in die Schule ging.« die man in die Wellen wirft“ über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen des Expressionismus. Ich liebe Voller Witz schildert Goldsmith die Lebensent- diese Entdeckungen und freue mich sehr darüber, würfe, Brüche und Neuanfänge ihrer »neusachli- wenn sich immer wieder neue Querverbindungen chen« Heldin Patience. Zwischen den Klassen, den ergeben! Nationen, aber auch den Geschlechtern stehend, lotet die selbstbewusste junge Berlinerin die Unter- schiede der Nachkriegskulturen, der Sexualmoral und der Rollenbilder in Deutschland und England Britta Jürgs aus. Aus der Sicht einer selbstbewussten jungen Frau (Die Autorin ist Verlegerin des Berliner AvivA Verlages) entsteht dabei ein dichtes Zeitbild vom Ende des Ers- ten Weltkriegs und der Novemberrevolution bis ins Margaret Goldsmith Jahr 1930 – mit immer wieder überraschend aktuel- Patience geht vorüber len Zügen. Ein Roman Herausgegeben und mit einem Nach- Margaret Goldsmith (oder Goldsmith-Voigt, wort von Eckhard Gruber nach dem Journalisten Frederick Voigt, mit dem AvivA Verlag, 2020 sie von 1926 bis 1935 verheiratet war) ist heute fast 224 S., 19 € nur noch durch ihre Liebesaffäre mit der englischen 978-3-932338-94-6 14
Was läuft denn hier?! RADYO AZADI! Es ist Sonntag. Ich nutze die Zeit und produzie- Wahrscheinlich genau Thema eurer Sendung, re meine Sendung vor. Kurze Pause. Ich brauche eine solidarische Öffentlichkeit... Oder? Wor- Kaffee. Während ich die Tür des Studios öffne, über redet ihr so? geht die Tür des anderen Studios ebenfalls auf. Stimmengewirr. Ich bin neugierig. Und frage Wir reden natürlich viel über Politik und Inhalte. nach: Die kurdische Bewegung hat da die derzeitig bes- ten Praxiskonzepte und Ansätze, von denen gera- de die deutsche Linke viel lernen kann. Da geht es Was für eine Sendung macht ihr? viel über demokratischen Konföderalismus und Frauenbefreiung. Über die Situation im Nahen Wir machen Radyo Azadi. Und gehen gleich um Osten geht es natürlich auch viel. 17 Uhr auf Sendung, wie jeden Sonntag. Radyo Azadi, was bedeutet der Name? Und spielt ihr auch kurdische Musik? Azadi bedeutet Freiheit auf kurdisch. Also das Klar! Wir spielen viele kurdische Revolutions- Radio zur Freiheit, für die Befreiung. lieder, die sich oft mehr an traditioneller Musik orientieren. Wir hatten aber auch mal einen In Deutschland leben 1,2 Millionen kurdisch- Studiogast, die so Ambient-Noise-mäßige Sa- stämmige Menschen. Von der Öffentlichkeit chen macht. Das war eine echt schöne, politische wenig wahrgenommen. Habt ihr deshalb eine Musiksendung. kurdische Sendung im FSK? Genau! In Hamburg stellen kurdischstämmige Wird heute bestimmt wieder eine schöne Sen- Menschen eine große Bevölkerungsgruppe. Die dung, denke ich. Hole mir einen Becher Kaffee kurdische Sprache und Kultur ist in der Öffent- und drehe den Livestream an. lichkeit jedoch kaum vertreten, weil gerade Kur- dischstämmige mit Wurzeln in der Türkei von der dortigen Repressionspolitik geprägt sind. In den Familien wird kein Kurdisch mehr gespro- chen und der Zugang zur eigenen Kultur droht so verloren zu gehen. Außerdem wird das Projekt in Rojava, wo Basisdemokratie, Geschlechterge- rechtigkeit und Pluralismus gelebt und umgesetzt werden, durch die Türkei und andere Staaten an- gegriffen und benötigt Unterstützung durch eine weltweite solidarische Öffentlichkeit, die auch aus Hamburg kommen muss natürlich. Radyo Azadi läuft jeden Sonntag von 17 bis 19 Uhr. 15
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